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ОглавлениеDie Koryphäe
Wie in der Unterhaltungsindustrie gibt es auch im Kommunikationsdesign Stars, die durch spektakuläre Projekte Vorbilder für viele Designer und Studierende sind. Der Typus der Koryphäe tritt in den unterschiedlichsten Varianten auf. Allen gemeinsam ist das Vorhandensein eines prägnanten „Wiedererkennungsmerkmals“ – seien es markante Brillenmodelle, auffallende Kleidung oder rote Schuhe. Die Haare trägt die männliche Koryphäe – wenn sie noch welche hat – gerne etwas länger, um ihren freien Geist zu betonen. Die weibliche Koryphäe mag es auf dem Kopf ebenfalls ausgefallen, gern auch asymmetrisch. Ihre Extravaganz unterstreicht sie mit betont buntem, geometrischem Schmuck.
Die Koryphäe ist ständig weltweit unterwegs zu Ta- gungen, Konferenzen oder wichtigen Kunden. Bei ihren Auftritten stellt die Koryphäe gern gewisse Marotten zur Schau, wie zum Beispiel eine demonstrative Zerstreutheit, gemäß dem Motto „Wo bin ich denn hier? … Na, dann erzähl’ ich jetzt einfach mal was aus meinem Leben …“ oder das ständige Springen zwischen winzigen Details und der Weltformel. Der Beweis für das kreative Können der Koryphäe sind ihre Erfolge bei Designwettbewerben und die zahlreichen Publikationen. Auch das Büro ist ein Teil der Gesamtinszenierung und daher „extravagant“ eingerichtet, auf jeden Fall ganz anders als ein normales Büro. Die jungen Mitarbeiter sind oft Jahrespraktikantinnen und -praktikanten, die glücklich sind, bei „ihrem“ Star arbeiten zu dürfen. Für die Koryphäe hat das zum einen den Vorteil, dass Praktikanten kostengünstig sind und zum anderen, dass die eigene „Linie“ nicht zu sehr durch andere selbstbewusste Köpfe verwässert wird. Denn die Auftraggeber wollen die Koryphäe ja gerade wegen ihrer typischen „Handschrift“. Den Zugriff auf die jungen Talente sichert sich die Koryphäe durch eine Lehrtätigkeit. Diese unterstreicht als Nebeneffekt zusätzlich den hohen intellektuellen Anspruch. Dazu bietet eine Professur bei entsprechender Besoldung eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit und damit die Chance, sich ausschließlich auf „spannende“ Jobs zu konzentrieren. Denn die Koryphäe liebt Projekte mit der Möglichkeit, spektakuläre Dinge zu realisieren – und anschließend auf Konferenzen davon berichten zu können. Anfragen, die nicht zu diesem Profil passen – zum Beispiel weil der Auftraggeber ein langweiliges Produkt oder kein besonders gutes Images hat – mag sie weniger. Überhaupt nicht mag sie es, dauernd von Studierenden nach Praktikumsplätzen gefragt zu werden (Dafür gibt es doch die Website). Die Fragerei schmeichelt zwar der Eitelkeit der Koryphäe, gehört aber zu den lästigen Schattenseiten ihres Ruhms. Denn: Sich den guten Ruf zu erarbeiten und zu erhalten, ist keine leichte Aufgabe. Die ganzen Wettbewerbe kosten sehr viel Zeit und Geld. Tolle Projekte, die richtig gut bezahlt werden, sind rar und die Konkurrenz ist groß und schläft nicht.
Es braucht viel Talent, Hartnäckigkeit und eine ganze Menge Glück, es bis zur Koryphäe zu bringen. Diesen Weg erfolgreich zu gehen und dann dauerhaft „oben“ zu bleiben, gelingt nur wenigen, wirklich außergewöhnlichen Persönlichkeiten.
Stärken
Profundes Wissen
Um überhaupt in den Status der Koryphäe aufzurücken braucht es – neben Haltung und Detailverliebtheit, siehe unten – vor allem einen Fundus an Fachwissen und Allgemeinbildung, der deutlich über das Normalmaß hinausgeht. Jederzeit zu (fast) jedem Thema etwas beitragen zu können, ist essentiell, um mit möglichen Auftraggebern ins Gespräch zu kommen und zu bleiben.
Klare Kante
Eine bewusste Haltung, nicht nur zu gestalterischen Fragen, ist ein entscheidender Faktor auf dem Weg zum Ruhm. Die Koryphäe wird ihre Meinung daher jederzeit dezidiert vertreten. Stellen Sie sich als Auftraggeber darauf ein, dass sich die Koryphäe viel weniger als Dienstleister sieht, als Sie es vielleicht gewöhnt sind oder wünschen.
Akribische Abwicklung
Ohne handwerklich perfekte Realisierung nützt die bestimmteste Haltung jedoch wenig. Die Koryphäe muss also – auch wenn sie inzwischen vieles machen lässt, statt selber zu machen – über gestalterisches, typografisches, kunsthistorisches und popkulturelles Wissen sowie solide Produktionskenntnisse verfügen und mit Argusaugen darü-ber wachen, dass alle Details stimmig sind. Denn sie weiß: Der Zauber steckt immer im Detail (Theodor Fontane).
Schwächen
Ausgeprägter „Hausstil“
Die Koryphäe hat einen eigenen Stil, den sie ganz bewusst pflegt und herausstellt. Denn Wiedererkennbarkeit ist ein wesentliches Erfolgskriterium. Wenn Sie genau diesen Stil möchten – kein Problem. Eine gänzlich andere Ästhetik oder Gestaltung nach dem Motto „Design ist unsichtbar“ sollten Sie jedoch nicht erwarten. Versuchen Sie, sich bereits vor der Beauftragung einen Eindruck der stilistischen Bandbreite zu verschaffen. Arbeitsbeispiele auf der Homepage oder in Publikationen vermitteln in der Regel einen guten Einblick.
Schwierige Kommunikation
Die Koryphäe vereint umfangreiches Wissen (siehe links) und unternehmerischen Elan. Das macht es manchmal schwer für andere ihr zu folgen. Gerade schwebt sie weit oben und bezieht sich auf die gesamte Geschichte des Abendlands, um sich kurz darauf ausführlichst zu Details zu äußern (natürlich unter Aufbringung unzähliger Fachwörter). Haben Sie Geduld und Vertrauen. Sie müssen nicht immer alles verstehen.
Der Name muss bezahlt werden
Die Koryphäe hat viele laufende Kosten, dazu kommen Wettbewerbe, Reisen und gestalterische Experimente. Und sie muss anders kalkulieren als jemand, der über laufende Kundenbetreuung für regelmäßiges „Grundrauschen“ sorgen kann. Die Koryphäe muss sich ihre wenigen, ausgesuchten Projekte also gut bezahlen lassen. Von Ihnen.
Chancen
Autorität und Ruf
Mit der Beauftragung der Koryphäe signalisieren Sie Ihren eigenen Anspruch. Die Koryphäe kann ihre Entwürfe in der Regel sehr gut „verkaufen“. Sie findet die passenden Argumente, um neue Ideen sowie hohe Qualität der Geschäftsführung und den Gremien Ihres Unternehmens überzeugend zu vermitteln.
Impulse durch eine Lehrtätigkeit
Die Koryphäe liebt die Nähe zu Hochschulen, sei es durch Vorträge oder Lehraufträge, am liebsten aber durch eine Professur. Der Austausch mit jungen Leuten und ihren Ansichten hält frisch und schärft den Blick für Moden und Trends. Die Bewertung unterschiedlicher Ansätze vertieft die Fähigkeit, über Gestaltung zu kommunizieren und Lösungen hinterfragen zu können. Und nicht zuletzt findet sie hier die junge Talente, die sich als Arbeitskräfte rekrutieren lassen und neue Ideen einbringen können.
Prominenz färbt ab
Bereits die Ankündigung der Zusammenarbeit mit einer – unter Umständen sogar über die Branche hinaus bekannten – Koryphäe kann für Aufmerksamkeit sorgen und so zu einem positiveren Image für Ihr Unternehmen beitragen. Allerdings sollte Ihr bisheriger Auftritt bereits eine gewisse Designaffinität von Seiten Ihres Unternehmens erkennen lassen, damit dieser Schritt glaubwürdig ist und nicht nur als plumpe Marketingaktion wahrgenommen wird.
Risiken
Theorie und Praxis
Nicht immer passen die Ideen und Vorstellungen der Koryphäe mit der Realität zusammen. Produktionstechnik, Material, Termine, Juristisches und und und … vieles kann die schönen Ansätze unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Bereiten Sie die Koryphäe rechtzeitig auf Ihre Wünsche und die Rahmenbedingungen durch ein exaktes Briefing vor.
Inszenierungswut
Die Koryphäe liebt die große Geste und steht gerne im Mittelpunkt. Ihr Projekt ist dabei unter Umständen nur Mittel zum Zweck der Selbstdarstellung. Sie können davon profitieren, wenn Sie sich rechtzeitig darauf einstellen. Falls Sie es lieber eine Nummer zurückhaltender wollen, äußern Sie dies lautstark. Und mehrmals.
Die beste, nicht die günstigste Lösung
Gutes Design kostet. Auch in der Umsetzung. Es ist richtig, dass erstklassiges Papier, Veredelungen und besondere Produktionsmethoden zu herausragenden Ergebnissen führen können – leider auch bei den Kosten. Der Koryphäe wird es immer in erster Linie um ein erstklassiges und einzigartiges Ergebnis gehen. Hier die richtige Balance zu finden, ohne die Gestaltung kaputtzusparen, erfordert Fingerspitzengefühl und Verhandlungsgeschick.