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Siebentes Kapitel.
Die Nächte zwischen den Strömen

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Inhaltsverzeichnis

Alexander war über die Brüstung des Spielplatzes gebeugt und jauchzte dem Makedonischen Knaben zu, der mit der Fackel im hocherhobenen Arm wie ein Vogel dem Ziel entgegenflog.

Der Sand spritzte von den Zehen des Jünglings. Die fast wagrecht liegende Flamme der Fackel schien der stürmischen Bewegung entgegenzuwirken, und wie die Sandkörner von den Füßen des Läufers, sprühten die Funken von ihr in die Nacht. Dicht hinter dem Makedonier folgten zwei junge Griechen, dann andere, die für den Wettkampf gar nicht mehr in Betracht kamen.

Die Gesichter der Zuschauer tauchten in die Halbnacht, und die geöffneten Lippen formten schon den Schrei, mit dem sie den Sieger begrüßen wollten. Noch drei Spannen, – noch eine, – der Makedonier hatte gewonnen. Aufseufzend wie ein Sterbender brach er in die Kniee, die Fackel flog verlöschend von ihm zu Boden, mit beiden Händen umklammerte er den Pflock, und während die Griechen, über seinen Körper stolpernd, gleichfalls niederstürzten, erschallte das betäubende Beifallsgeschrei der Makedonier. Sie klatschten in die Hände, stampften auf den Boden, warfen Blumen und Kränze über den Sieger, dessen Körper von einer dicken Staubkruste überzogen war.

Da drängte sich ein Mann durch den Schwarm um Alexander. Es war Lamachos. »Höre mich, Alexander,« rief er mit durchdringender Stimme. »Hephästion stirbt soeben.«

Alexander schaute den Mann an. Sein Gesicht wurde schlohweiß und die Arme, schon zum Schritt bewegt, fielen wie Blei am Körper herab.

Es wurde ringsum ein wenig stiller.

Lamachos machte eine zur Eile drängende Bewegung. Mit beiden Händen fuhr sich Alexander an den Hals, als wehre er sich gegen eine erdrosselnde Faust. Er packte den Boten am Arm und zog ihn fort. »Mein Pferd,« ächzte er. Verwundert und ängstlich folgten einige Leute.

Den Weg weisend, flog Lamachos auf seinem Pferd voran, Alexander, fast auf dem Hals des Tieres kauernd, ihm nach. In kurzer Zeit waren sie am Ziel. Aufschreiend wichen die den Schauplatz Umdrängenden zur Seite, als die Reiter ohne Zuruf in sie hineinsprengten.

Man hatte Hephästion in ein großes Doppelzelt getragen. Ein Arzt kniete neben ihm und horchte, ob das Herz noch schlug.

Lautlos warf sich Alexander hin. Mit zitternder Hand befühlte er die Stirn, die Wangen, den Hals des Bewußtlosen und drückte seinen Mund auf die ersterbenden Lippen. Hephästion regte sich, die Schultern hoben sich und preßten sich im Krampf gegen den Hals, der Bauch wölbte sich empor, die Hüften erbebten, die Knie schoben sich auseinander. Er empfand Alexanders Gegenwart, tastete blind nach seiner Hand und wollte sprechen. Da kam ein neuer Fieberschauer über den machtlosen Körper, gleichwie der Sturm den schon entwurzelten Baum noch einmal wütend ergreift und vor sich herwälzt.

Regungslos lag Alexander und hielt Hephästions kalte, steinschwere Hand in der seinen. Sein Äußeres war gänzlich zugeschlossen. Die Augenlider waren herabgefallen, der zusammengekauerte Rumpf rührte sich nicht. Stunde auf Stunde verging. Die Ärzte entfernten sich, ihnen folgten die anwesenden Makedonier, einer verschwand nach dem andern. Alexander war ihnen unheimlich in seiner Versteinerung. Der Letzte löste die Goldschnur von dem aufgebundenen Zeltvorhang, und sie ließen ihn allein mit dem Leichnam.

War die Vergangenheit etwas Wirkliches? War diese Gegenwart wahr? Warum bewegte sie diesen Körper nicht, warum öffnete sie nicht Hephästions Augen? Gab es ein Nachdenken, das die Züge so entstellen konnte? Und dies Schweigen verbarg ein Geheimnis, diese bläulichen Lippen waren das Siegel eines unerforschlichen Geheimnisses. Zitterte nicht das Haar? Es war kalt wie Steppengras in der Nacht. Den Hals durchzogen blaue, marmorstille Adern, und die offene Brust ließ die schöne Nacktheit des schlanken Körpers ahnen.

Wer hätte das Antlitz des Todes besser kennen sollen als Alexander? Aber die auf den Schlachtfeldern lagen, unbeseelte Wesen, schienen nichts verloren zu haben als ein zufälliges Merkmal der Freude oder des Schmerzes. Blut rann von ihren Stirnen oder ihr Leib war zerschnitten oder ihre Glieder zertrümmert. Von einer letzten sekundenkurzen Furcht waren die Lippen verzerrt, und der Greis wie der Jüngling bohrten die Finger in die Erde, die sie noch nicht verlassen wollten. Und trotzdem, ihr Leib ist Erde, die menschliche Form verwischt, sie haben auch nichts mit hinübergenommen, sie leben weiter in den Lebendigen, vollzählig sind die Stimmen bei der neuen Schlacht, es fehlt keine.

Und nun spürte Alexander, daß eine Stimme fehlte. Sein Wille verließ zum erstenmal das verschlossene Gehäuse und strebte zu einer fremden Seelenwohnung hinüber und sah, daß sie leer stand und konnte nicht wieder umkehren und blieb frierend im Raum, beschaute die schwankenden Kreise des Lebens. Und als er jetzt auf Hephästion blickte, da erst erkannte er ihn für tot. Da fühlte er, noch nicht mit ganzer Sicherheit, noch trüb und weit fühlte er, was es mit dem Tod sei und was es mit den Menschen sei und mit der Liebe von Mensch zu Mensch. Es war, als ob die festen Stützen eines Weges unter ihm geborsten wären, alle Begriffe waren entkleidet, Nacht war nicht mehr Nacht wie sonst, sondern Verhängnis, Zwiespalt, Ende, Furcht. Schlaf nicht mehr Schlaf, sondern Dürftigkeit, Erliegen, Schwäche, Ausgeliefertsein. Der Schmerz vermehrte sich durch die Erkenntnis, die Empfindung der Unwiderbringlichkeit zerstörte das Gefühl der Macht, des Erfolgs, der Wichtigkeit, alles …

Um die Dämmerungsstunde hörten die vor dem Zelt Versammelten ein so gräßliches Jammergetön, daß die Luft sich zu sträuben schien, es weiterzutragen. Eumenes stürzte in das Zelt, ihm folgten andere.

Etwas entfernt von der Leiche kniete Alexander mit ausgestreckten, gleich Pendeln sich auf und ab bewegenden Armen. Die Haare hingen ihm so über das Gesicht, daß nur der geöffnete Mund sichtbar war. Er rutschte auf den Knien und drehte sich dabei um sich selbst und heulte wie ein Tier und schlug in der Verzweiflung die Hände klatschend zusammen und sein Rumpf wand sich vor Schmerz hin und her wie der Rumpf eines Vergifteten. Die Gewänder hatte er aufgerissen, die Haut der Brust war blutig, und während die Eingetretenen von Entsetzen gelähmt noch dastanden, fiel er ohnmächtig hin und die Stirn schlug gegen einen Pfosten des Totenlagers.

Eumenes kniete nieder, packte Alexander an den Schultern und suchte ihn emporzuheben. Zwei halfen ihm. Sie trugen den Bewußtlosen auf ein Ruhebett. Eumenes kehrte zurück und öffnete den Eingang, damit die Luft den Leichen-und Fiebergeruch hinaustreibe. Draußen standen die Mazedonier, eine unbewegliche schwarze Masse, hinter ihnen begann der Osten gelb zu lohen.

Alexander erwachte aus der Betäubung. Mit Gebärden des Ekels wies er jeden ab, der in seine Nähe kam. Er verweigerte Speise und Trank. Er redete nicht, selbst sein Blick war stumm. Er rührte sich nicht, als der Leichnam gewaschen und geschmückt wurde. An. Abend gab er zu verstehen, daß er niemand mehr sehen wolle; das Zelt wurde verschlossen. In den Kupferschalen erlosch das brennende Rauchwerk. Alexander erhob sich und ging umher. Weißer als die weißen Blüten der Myrten leuchtete das Gesicht des Toten. Er konnte es nicht ertragen und warf ein Tuch darüber. Stundenlang dauerte sein Auf-und Abgehen, doch im Innern der Brust war es stille. Der Geist lechzte nach Finsternis, nach Gedankenlosigkeit, nach Erinnerungslosigkeit. Je mehr die Nacht vorrückte, je mehr fürchtete er den Leichnam. Doch ließ es ihn nicht, er mußte Gewißheit haben, ob die Züge sich verändert hatten. Es zog ihn hin und stieß ihn wieder weg. Wenn er sich niederließ, um zu ruhen, trieb ihn das Bild eines verwesten Antlitzes wieder auf. Endlich rief er mitten in der Nacht Leute herbei, die den Leichnam hinausschaffen sollten. Erst in ihrer Gegenwart, als sie mit Fackeln ihn umstanden, wagte er, das Tuch wieder von Hephästions Gesicht zu ziehen. Mit halb gegen die Stirn erhobenen Armen wandte er sich ab. Fremd war ihm, was er schaute. Doch auch sich selbst gegenüber, seinen eigenen Handlungen gegenüber hatte er plötzlich dasselbe Gefühl der Fremdheit. Er nahm einem der Männer die Fackel aus der Hand und leuchtete damit verwirrt und verstört umher. »Alle Feuer sollen ausgelöscht werden,« sagte er, »auch die heiligen Feuer der Perser. Musik und Tanz und Lustbarkeit sind verboten. Die Mauer von Opis soll geschleift werden. Drei Tage lang dürft ihr keinen Toten begraben, und wenn ein Weib rasend wird, dann erwürgt sie. Laßt es still und finster werden in Asien.«

Am Morgen war sein Zelt verschlossen. Umsonst kamen die Verschnittenen, die Sklaven, Mundschenken, Köche und Schreiber. Umsonst klagten die Mager laut um ihre geschändeten Heiligtümer, umsonst warteten die Eilboten, die Führer, die Gesandten. Die Zeit ging einen andern Schritt. Aufwiegler trieben ihr dunkles Handwerk. Wer nicht dem Fieber, dem Spiel, der Wollust, dem Wein verfiel, der gehörte ihnen. Wenn ein Makedonier von Alexander sprach, geschah es mit einer verhaltenen Gewalt des Hasses, der seine Nahrung nicht aus Gründen empfing, eine düstere, mystische Lüsternheit half ihn gebären. Sie haßten ihn wie die Notwendigkeit, sie haßten ihn mit geschlossenen Augen, sie haßten ihn so lange, bis sie ihn vor sich sahen. Das totenstille Lager brachte sie um allen Verstand. Warum das alles? War denn der Mensch etwas so Kostbares für Alexander? und seit wann? Freche Reden wurden gewechselt, aber hätten sie nicht gewußt, daß alle ihre Vorsätze und Abmachungen eitel Wind und Wortwitz seien, so hätten sie sich zahmer benommen.

Die bestürzten Bewohner von Opis rüsteten sich, um anderswohin, um mit dem Heer nach Babylon zu ziehen, denn in einer mauerlosen Stadt, mitten in der unermeßlichen Ebene konnten sie nicht bleiben. Der Oberpriester Rammans stand vor seinem Tempel und die Faust gegen das Lager Alexanders geballt, rief er in prophetischer Ekstase: »Ihm sei der Tag Seufzen, die Nacht Weinen, das Jahr Trauer!«

Am dritten Tag gerieten die Leibwächter auf einen wunderlichen Einfall. Sie wählten den jüngsten Edelknaben aus, um ihn ins Zelt Alexanders zu schicken. Der Knabe stand noch im zartesten Alter und war von rührender Schönheit. Alles an ihm war von der höchsten Vollendung, sein schlanker Leib, sein schlanker Hals, sein süßes und unschuldiges Gesicht mit den großen Augen; nur seine Stimme war häßlich und krächzend, und deshalb lag über seinen Gesichtszügen eine seltsame animalische Schwermut, und wer den Knaben ansah, wurde davon ergriffen und weich gestimmt. Die Führer hofften, daß Alexander durch seinen Anblick bewegt werden, daß ihm der Knabe wie die verkörperte und belebte Bitte des ganzen Heeres erscheinen würde. Sie schärften ihm ein zu schweigen; stumm solle er vor Alexander hintreten und flehend die Hände erheben. Und nachdem sie sein schwarzgelocktes Haupt mit Efeu und Veilchen und vielen Bändern geschmückt hatten, öffneten sie eigenmächtig den Eingang des Zeltes und der melancholische Knabe trat zitternd hinein.

Alexander lag auf dem Ruhebett, das Gesicht nach unten zwischen den Armen verwühlt. Als er das Geräusch von Schritten hörte, warf er sich auf.

Der Edelknabe rührte sich nicht, bloß die flehenden Hände bebten. Alexander hatte kein Auge für seine Schönheit. Doch sah er ihn an, als wollte er fragen: wer bist du? woher kommst du? wie hast du den Weg zu mir gefunden? Er kämpfte mit einem Entschluß, ging unsicheren Schrittes an dem Knaben vorbei zum Eingang und schob die Vorhänge auseinander.

Die Makedonier wollten ihm zujauchzen, aber eine schwere und widerwillige Bewegung seines Armes machte sie schweigen. Sein Anblick verursachte ihnen Grauen. Das Haar war glatt abgeschoren, die schönen braunen Locken fielen nicht mehr auf die Schultern, und dadurch erhielt der Kopf etwas Barbarisches, Düsteres und Lebloses. Geisterhaft huschte sein Blick über die Versammlung, und alle bemerkten, wie das Auge verändert war. Kühn war es noch, aber kalt. Die Glut war fort, der Schmelz war hin, der Traum, in dem es stets leuchtend geruht, war zu Ende.

Kaum hatte er mit Perdikkas zu reden begonnen, so ertönte irgendwo weit drüben die Heertrompete. Es waren die jetzt erst abziehenden Scharen Meleagers. Alexander zuckte zusammen, und geraume Zeit verging, bevor er fortfuhr, seine Anweisungen zu geben. Perdikkas, der an Hephästions Stelle den Befehl über die Edelscharen erhalten hatte, sollte in der folgenden Frühe nach Babylon ziehen und Hephästions Leiche geleiten. Dort sollte die Totenfeier stattfinden. Das ganze übrige Heer sollte sich am zweitfolgenden Tag unter der Führung von Seleukos und Ptolemäos in Bewegung setzen und ihn, Alexander, bei der Stadt Kis am Euphrat erwarten.

Dann verhandelte er mit Eumenes. Er wollte mit wenigen Getreuen das Lager verlassen und über den Tigris setzen. Es klang geheimnisvoll. Eumenes war still. Seine Klugheit, stark im Schweigen, bewahrte ihn vor übereilten Fragen.

Wenige Stunden später standen die Erwählten bereit: Eumenes selbst, drei Führer der Leibscharen und fünf Hauptleute mit zweihundert erprobten Makedoniern. Schweigend warteten sie bei ihren Pferden und Packtieren, bis Alexander kam. Als die Sonne unterging, waren sie schon weit vom Lager entfernt.

Bei einer Furt setzten sie über den Strom. Sie kamen in ein Hügelland, wo Ölbäume wuchsen, nicht üppig, nicht so silbrig grün belaubt wie an den Gestaden Griechenlands, sondern karg und ärmlich. Weite Gebiete tauchten auf, wo noch die Mandelbäume in rosiger und weißer Blüte standen, und unendliche Grasflächen, auf denen die wilden Pferde wie Vogelschwärme dahinflogen. Sie ritten über ein Schlachtfeld, wo die fahlen Gebeine von Menschen und Tieren lagen.

In der Nacht konnte Alexander nicht schlafen. Er saß schweigend und grübelnd vor dem Zelt. In der heißen Glut des Mittagslagers vergnügten sich bisweilen einige Soldaten, von Langeweile gefoltert, heimlich am Wachtelspiel. Viele wurden von Besorgnis ergriffen, wohin der Weg sie führe. Einmal erzählte ein Hauptmann die Sage vom persischen König Kaikhosrav, der, des Lebens und des Thrones müde, Stadt und Land verließ und mit wenigen Getreuen in die Gebirge wanderte, um von dort in den Himmel zu ziehen. Immer höher kamen sie, Bäume und Gräser hörten auf, Schnee begann zu fallen. Tag und Nacht fiel der Schnee, einer nach dem andern sank hin, begrub sich sterbend selbst oder wurde von einer Lawine fortgerissen. Schließlich war nur noch der König übrig, aber niemand weiß, ob er das Tor des Himmels erreicht hat.

Während der Erzählung war Alexander herzugetreten und hatte aufmerksam zugehört. Und da sie sein Interesse wach glaubten, erzählte ein anderer auch eine Geschichte. Zwanzig starke Helden irrten einmal in der Finsternis herum. Da kam ein Derwisch und führte sie zu einer Stadt und sagte, in dieser Stadt sei der Tod etwas Unbekanntes. Nur von Zeit zu Zeit erschalle in der Nacht eine Stimme über die Mauern und Dächer und rufe den Namen eines Mannes; dieser müsse dann der Stimme folgen und müsse für immer Abschied nehmen. Die zwanzig Helden beschlossen, ehe sie die Stadt betraten, daß keiner von ihnen der Stimme gehorchen solle, auch wenn sie noch so laut rufe. Dabei hofften sie wohl zu fahren und glaubten, nichts sei leichter, als sich jener unheimlichen Macht zu entziehen. Doch kaum waren sie da, schon in der ersten Nacht, wurde einer unter ihnen gerufen. Es durchfuhr ihn schauerlich, er konnte nicht widerstehen, Bitten und Beschwörungen konnten ihn nicht halten, er ging und kam nicht wieder. In der folgenden Nacht geschah es ebenso mit dem zweiten und dann mit dem dritten und so bis zum letzten. Der aber nahm alle seine Seelenkräfte zusammen und widerstand dem Ruf und ging nicht; mit Ketten hatte er sich an sein Lager angebunden, und als am Morgen seine Sklaven kamen, da fanden sie zu ihrem Entsetzen statt einer menschlichen Gestalt ein Skelett an das Ruhebett geschmiedet.

Als der Erzähler geendet hatte, stand Alexander auf, erdfahl im Gesicht, und entfernte sich.

Die Ebene lag in der vollen Pracht des endenden Sommers. Bis an den Bauch wateten die Pferde im Blütenflor. An einem Tage schimmerte die blumenübersäte Fläche goldgelb, über Nacht wurde es wie durch Zauberei in tiefes Scharlachrot verwandelt, und wieder über Nacht durch das Aufbrechen anderer Knospen in dunkel strahlendes Blau. Dann ein Tag, wo nur das smaragdne Grün des Grases übrig blieb und darüber das blendende Geflimmer des morgendlichen Taues; da kamen sie auf das weite Ruinenfeld einer seit Jahrtausenden verfallenen Stadt.

Es waren zerstörte Mauern, hohe Tore, von denen die Schwibbögen abgestürzt waren und durch die man auf ein Trümmerfeld sehen konnte, so wüst und grausig, als ob Titanen die Steine durcheinandergeschüttelt hätten. Schlingpflanzen überwucherten die Blöcke, an verfallenen Treppen und geborstenen Säulen reifte die assyrische Zitrone, der Efeu kletterte über zerfetzte Tempelwände, und inmitten der gestorbenen Welt dehnte sich ruhig ein Wasserbecken. Allerlei Gevögel wimmelte auf dem stillen Teich und raschelte im Schilfrohr.

Hier wurde das Lager aufgeschlagen.

Noch war die Zeit der brennenden Südwinde. Kaum standen die Zelte, so strich es über die baumlose Ebene wie der feurige Atem aus dem Maul eines Drachen. Im Zenit des Himmels zogen sich Wolken in einem großen Kreis zusammen, der sich bewegte und um sich selbst drehte wie ein ungeheures Rad. An seinem Rand zuckten Hunderte von violett leuchtenden Blitzen. In der Tiefe des Horizonts stiegen ebenfalls von allen Seiten Wolken auf, und sie wurden im Nu in den furchtbaren Strudel emporgerissen.

Alexander verließ das Zelt und sah die hingestreckten Körper der Söldner und zwischen ihnen die Leichen kleiner Vögel, die scharenweise aus der Luft gefallen waren. Bedächtigen Schrittes wanderte er in das Ruinenfeld. Die Nacht kam. In dem sumpfigen Wasserbecken quakten die Frösche, in den hohen Gräsern verursachte der Abendwind ein träumerisches Geraschel. Im Lager flammten die Feuer auf und aus der Ferne schallte das Stöhnen der Büffel herüber, der helle Ruf der Schakale, der heisere Schrei des wilden Ebers und der Warnpfiff der Antilopen. Über all dem brannten sanft die Sterne.

Aus den verfallenen Wandelgängen und eingestürzten Toren blickten die Schatten längstvergangener Geschlechter. Alexander hörte die Zeit rinnen; aus der Ewigkeit strömte sie in die Ewigkeit wie der dunkle Wein von einer Schale in die andere herabfließt und nur in der kurzen Spanne zwischen Becherrand und Becherrand sprühend in der Sonne aufleuchtet.

Der Viertelsmond sank in die dunstige Luft des Westens wie die glühende Braue eines schwarzen Auges, dessen Blick Alexander magisch auf sich ruhen fühlte. Es war das Auge der Einsamkeit. Was hatte ihn hierhergetrieben? Was ging in ihm vor? Weshalb war die Welt so nah, die Dinge so deutlich? War es nicht eine andere Dunkelheit als je, ein anderer Sternenhimmel, kälter, entschleierter? Ehedem hatte er es wie ein lebendiges Band gespürt zwischen sich und Gott, den Tiefen und den Höhen, nun fand er sich allein, losgelöst, mit Verantwortungen beladen. Ehedem hatte er sein eigenes Dasein kaum anders gespürt als wie der Vogel im Rausch des Fluges sich spürt. Jetzt sah er sich selbst Schritt für Schritt dahinkriechen, und er fürchtete sich vor dem aufgewachten andern Wesen in seiner Brust.

Unergründliche Trauer umkrampfte das Herz. Auf einem Erdhügel legte er sich zu kurzem Schlummer hin, und bei Tagesanbruch begab er sich ins Lager zurück und blieb allein im Zelt bis wieder der Abend kam. Sobald die nächtlichen Feuer wieder brannten, wanderte er in die Ebene hinaus. Keiner durfte es wagen, ihm seine Begleitung anzubieten oder ihm aus der Ferne zu folgen.

Jede Nacht zeigte ihm die Natur ein neues Antlitz und jedes Mal glaubte er, in ihren ruhigen oder stürmischen Zügen entziffern zu können, was ihn selbst bewegte. Er sah sich von allen menschlichen Wesen verlassen. Er suchte einen Gott und er fand keinen, nicht den Griechengott in seiner Herrlichkeit, nicht Ahuramazda, der den Ring der Zeiten hält, nicht Mithra, den Strahlenden, nicht Belmarduks grauenhafte Majestät, keinen von den Dämonen, die in Bäumen, Wassern, Steinen, in den Winden, in der Erde wohnen, nicht das hohe Wesen, das die Inder verehren, das einen Dunst berauschender Milde um sich trägt und wandellos das Weltall so innig umfaßt, daß keine Mücke seiner Beachtung entschlüpfen kann. Er verfolgte die Bahn eines fallenden Sternes und reckte sich auf, um die Hand zu ergreifen, die ihn in den Raum geschleudert. Oder war diese Wölbung nur ein Hirngespinst, an die der leuchtende Punkt geheftet schien? Wer schenkte Wissen und wer raubte Wissen in rasender Laune? wer konnte jegliches Geschöpf zu jedem beliebigen Augenblick in den Staub treten, mühelos, gedankenlos, wahllos spielend? Ungreifbar und unbegreiflich!

Stunde häufte sich auf Stunde, bis der Tag entstand, die Nacht sich vorbeischleppte und die Sonne sich prahlerisch entzündete und vom Morgen bis zum Abend fruchtlos ihren Bogen zog. Was beginnen, wenn nicht Schlaf die Glieder fesselte? Ein Grabesfrieden lag über der Welt. Alexander mußte zurückblicken. Dies Gefühl war ihm neu und erstaunlich, dies Hineinstarren in die Vergangenheit, dies Nachhallen längst vergessen geglaubter Töne, dies Erschaudern vor andern Möglichkeiten als denen, die ihm in seiner Lebenstrunkenheit so selbstverständlich erschienen waren. Er schloß die Augen, um diese Gesichte loszuwerden, er wollte sich gewaltsam wieder hineinträumen in das schäumende Meer, aber umsonst, die Wogen regten sich nicht, es blieb alles still, sein eigenes Herz schlug matt und langsam, das Blut war kühl, das Auge klar, der Traum zu Ende, die riesige Wolke, in der er so götterhaft geschritten und die ihm den Anblick der unabsehbaren Kette von Ursachen und Wirkungen entzogen, war von ihm abgeglitten. Wie alle andern Sterblichen schwerbeladen, mußte er weiterziehen. Doch was war es, was war dies Schwere?

Die Makedonier jagten Füchse, wilde Esel und schossen nach den Vögeln; oder sie lagen am Wasserbecken in den Ruinen und schnitten neunläufige Flöten aus dem Rohr des Schilfes. Düsterruhend horchten sie auf das Weben der Nacht, und wenn ein Schrei in der Luft erschallte, langgezogen und wunderbar menschlich, dachten sie erschreckt an den Vogel Asterias, der die Menschensprache versteht. Ihr Schlaf war aufgeregt wie der von kranken Kindern. Ängstlich legten sie einander ihre Träume aus. Sie waren verzagt in der Einsamkeit der Natur, gelähmt durch das ereignislose Vorübergleiten der müßigen Stunden. Sie wurden blaß, schlichen gesenkten Kopfes herum oder lagen faul im Gras, gewiß, daß ihnen ein sonderbarer Tod bevorstehe.

Da entschloß sich Eumenes, mit Alexander zu sprechen.

Es war ein klarer Mondabend. Alexander hatte das Zelt noch nicht verlassen. Er lag auf dem Ruhebett; auf silberner Schale neben ihm befand sich eine aufgeschnittene Melone, und bisweilen nahm er ein Stück in den Mund und saugte den Saft heraus. Das Mondlicht floß wie ein blaues Band vor den Eingang des Zeltes hin. Feierlich tönte der Schritt und Zuruf der Wachen. Ein auftauchender Schatten, ein Gruß mit schwacher Stimme, und Eumenes stand vor Alexander, der unwillig überrascht den Kopf erhob.

Langsam, die Silben der Worte weit auseinanderdehnend, fragte Eumenes: »Wie lange noch, Alexander?«

Alexander antwortete nicht.

Eumenes, dessen scharfes langes Gesicht stets von innerer Wachsamkeit angespannt war, fuhr fort: »Wenn du auch alle vergessen hast, die dich lieben, so denke wenigstens an die, die dich hassen.«

Alexander stand auf, schritt zu Eumenes, legte beide Hände auf die Schultern des Mannes und raunte: »Wo bin ich, Freund? wo bin ich hingeraten?«

»Zwischen den Strömen sind wir,« erwiderte Eumenes etwas bestürzt.

Alexander nickte und lächelte fatal. Seine Stirne erschien durch die abgeschorenen Haare doppelt groß; tiefe Furchen gruben sich hinein, als er sagte: »Ich brauche Sicherheit, Eumenes.«

»Sicherheit?«

»Wie viel Zeit ist verflossen? Zieh dein Schwert heraus und laß uns sehen, ob es rostig geworden ist.«

Eumenes trat zurück. Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Besinnend stand Alexander da. Wie ein Schlafender den Mörder zu ahnen vermag, der mit erhobenem Messer an seinem Bett steht, so war sein Inneres unruhig und voll dumpfer Bewegung.

Er ließ sein Pferd vorführen und ritt in die Mondnacht hinaus. Wunderliche Töne schallten aus der Ferne, ein leises Singen und Surren; oft klang es, als ob Menschen unter der Erde um Hilfe riefen. Der Himmel überzog sich jetzt mit Wolken. Da und dort klaffte es wie eine Wunde, aus der das Licht des unsichtbaren Mondes rann. Die Lagerfeuer waren verschwunden, zermalmend war die Einsamkeit.

Plötzlich spürte er, wie das Pferd, das er sich selbst überlassen hatte, über und über erschauderte. Es stieß einen scharfen gellenden Schrei aus und rannte mit weitgestreckten Füßen in die Dunkelheit. Weder Zuruf noch Zügel vermochten etwas. Seine Hufe zerschnitten wie Sensen das Gras. Die Schenkel gegen die Rippen des Tieres gepreßt, Kopf und Oberleib weit vorgebeugt, die Augen ruhig in die Nacht geheftet, so saß Alexander unbeweglich. Die Raserei des vernunftlosen Geschöpfes schien ihm wohlbegründet. Es wollte die versäumten Tage einholen, die Augenblicke zurückbringen, die nutzlos hinabgetropft waren in das Meer der Ewigkeit. Der schmerzliche, weit durch die Lüfte schallende Aufschrei des Rosses, die tolle Geschwindigkeit seines Laufes benahmen Alexander den Atem, stachelten seine Seele auf, erfüllten ihn mit einer trügerischen Wollust des Handelns, mit einer freudigen Angst des Eilens, und als er den Schaum, der aus dem Maul des Tieres drang, auf den Nüstern leuchten sah, beugte er sich herab und berührte mit den Lippen den Scheitel des Pferdes. Die Lagerfeuer tauchten aus der Ebene empor: Riesenfackeln. Dort war das Geschrei vernommen worden, man glaubte Alexander von wilden Tieren überfallen, und die aus dem Schlaf geschreckten Söldner rannten mit ihren Speeren in die Finsternis. Das Pferd Alexanders wirbelte sausend an ihnen vorüber. Noch einmal schrie es schmetternd, herzzereißend auf, dann brach es zusammen.

Auf seiner Lende hatte sich ein ellenlanger Skorpion festgeklammert.

Alexander ließ unverzüglich das Lager abbrechen. Sein flackerndes Auge spornte jeden stumm zur Eile. Vor Sonnenaufgang begann der Ritt gegen Süden.

Nach Babylon!

Der bloße Name versetzte die Söldner in Entzücken. Der weiß nichts von irdischer Glückseligkeit, hieß es unter ihnen, der nichts von Babylon weiß. Dort war Leben, Freude, Taumel, Vergessen, beständiges Verzehrtwerden vom Augenblick. Babylons Nähe war den Menschen gefährlich wie der Magnetberg den Schiffen. In den Raststunden standen sie am Rand des Lagers und spähten südwärts, ob ein Turm sichtbar würde oder eine Zinne der fabelhaften Stadt. Oft während des Rittes winkten zwei Freunde stillverstehend einander zu, und beim Aufbruch am Morgen sagten sie lächelnd statt des Grußes: Nach Babylon.

Gesammelte historische Romane von Jakob Wassermann

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