Читать книгу "Issue Does Not Exist"],"errors":{ - Jakob Wassermann - Страница 9

Fünftes Kapitel

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Doktor Maspero hatte gut lachen; er wusste, wo die Bücher hingeraten waren. Nicht ganz ein Komplott und mehr als ein Einfall trug die Schuld. Das kleine Männchen mit dem Alleswissergesicht versuchte sich gern in der Seelenheilkunde. Auch der Apotheker und der Schulrat hatten Teil daran. Diese behördliche Person billigte das Treiben des Lehrers nicht. Obwohl von Pflichtversäumnissen bislang keine Rede sein konnte, — hinter stummen Bücherdeckeln erhebt sich oft ein unheilvoller Geist. Niemand konnte das gründlicher bestätigen als der Baron. „Verderblich ist das Wort,“ lautete sein gebildetes Orakel. Der Doktor seinerseits mischte sich mit Leidenschaft in fremde Angelegenheiten. Er war ein Schnüffler und misstraute allen Leuten, bei denen er Geheimnisse vermutete. Er hasste die Schweigenden, hasste die Leute, die anspruchslos ihres Weges gehen und in sich verschliessen, was sie im Innern beschäftigt. Er hasste jene, die sich für irgend etwas mit wahrem Gefühl einsetzen und hielt sie für Lügner. Jeder Einsame galt ihm als Verräter an einem öffentlichen Wohl. Seine Zwerggestalt war der Grund eines wunderlichen, giftigen Ehrgeizes. War er den andern körperlich unterlegen, so wünschte er doch brennend, sonstwie zu herrschen. Daher sein penetranter Witz, seine angebliche Verachtung der Frauen; daher seine seltsame Eifersucht auf alles Grosse, was immer in der Welt geschah; daher seine Freude, sogenannte Wahrheiten zu sagen, seine unermüdliche Geschwätzigkeit, seine Gier, zu verurteilen, gehört zu werden, belacht zu werden, zu glänzen. Er war der erste gewesen, der Unternehmungen gegen die Bücherwut des Lehrers geplant hatte. Seine Motive waren menschenfreundlich; er sagte es. Aber es waren Worte geblieben bis zum Tag der Feuersbrunst. Da hatte er das Herausschleppen der Kiste beobachtet und war zum Bäcker geeilt, der für einen guten Spass alles Brot im Ofen schwarz werden liess. Alsbald war die Kiste unter dem Ladentisch verschwunden, und der Bäcker drückte sein gründliches Missfallen an der Studierwut des Lehrers aus, vermutete Schwarzkunst und teuflische Zauberei dahinter. Der Doktor empfahl ihm, die Bücher ordentlich zu bewahren, und verhielt sich so, als ob ein reformatorischer Gedanke jeden Schritt in dieser Angelegenheit vorbestimmt habe.

Auf dem Heimweg empfand Doktor Maspero ein verwickeltes System zu der Tat, die er gegen Philipp Unruh unternommen, ein System, welches zugleich philosophischer und pädagogischer Natur war. Als er sich der letzten Konklusion nahte, bemerkte er die Gestalt des Provisors Siebengeist, die am Zaun des Kasinogartens lehnte, als ob sie steif gefroren wäre, und die Augen des jungen Mannes beobachteten gespannt den Mond am klaren Himmel. Erschrocken blieb der Doktor stehen und sagte mit unsicherer Bosheit: „Sie sind mir ein gespenstischer Herr da.“

Siebengeist senkte den Kopf und blickte den Doktor von der Seite an. „Dieser Kerl ist mein Feind,“ erwiderte er langsam, die Faust gegen den Mond ballend. „Ich kann nicht schlafen, so lang er am Himmel steht.“

„Also ein Romantiker,“ meinte der Doktor, spöttisch in den Ton des Arztes verfallend, „ein Romantiker mit kalten Füssen also.“

Siebengeist begleitete schweigend den Doktor die Strasse hinab. Der Herr Adjutant kam ihnen entgegen, grüsste schreiend und lachend, als ob er eben von einer Amerikareise zurückgekehrt wäre und verschwand lautlos in der Nacht. Selten sind die Schlauen auch im Schweigen schlau. Der Doktor erzählte Siebengeist mit geheimnisvollem Wesen die Geschichte von den geraubten Büchern, und das philosophische System enthüllte sich in Beweiskraft. Siebengeist hatte nichts darauf zu antworten. Er nahm Schnee in die Hand und drückte ihn gegen seine Stirne. „Der Mond ist mein Feind,“ murmelte er. „Mich verdriesst sein Grinsen, seine Klarheit, sein erborgtes Licht, seine anspruchsvolle Nutzlosigkeit. Er steht da droben und hat sein Amüsement von der Welt. Und ich, ich muss mir den Kopf im Schnee kühlen, fiebernd vor Überdruss.“

Sie standen vor dem Turmbogen, und der Doktor blickte verdutzt sein Haustor an, wusste nichts zu entgegnen als: „Sie sind verliebt, junger Freund.“ Er hatte bei den Redereien des Provisors ein Gefühl wie jemand, den man aus dem ersten Schlaf weckt, um ihm die Anfangsgründe der Eskimosprache beizubringen. Doch tat er verständnisvoll aus Furcht vor einer möglichen Überlegenheit des andern.

„Richtig: eine meisterhafte Vermutung!“ rief Siebengeist, mit dem Stock an das morsche Tor schlagend, dass es drinnen dumpf widerhallte.

„O, ich bin ein geriebener Hund, was die Weiber betrifft,“ sagte der Doktor. „Ich kenne alle Schliche darin. Wie sieht sie aus, was ist sie, wie ist sie?“

„Wie sie aussieht? Je nun, das ist schwer. Eine gut funktionierende Nase, zwei erfahrene Augen, ein redseliger, lügnerischer Mund. Wie sie ist? Ebenso feig wie dumm, ebenso habgierig wie eitel, ebenso frech wie leer, ebenso gestorben wie die andern Leute hier herum. Aber Sie denken, ich spiele deshalb den Verschmäher? Ei, Doktor da irren Sie sich. Der Rock ist alles, es lebe der Rock. Genug davon. Zuviel Wucht für die taube Nuss.“

Unter dem Torbogen des Turms schallte ein leichter Schritt. Es ging da ein junges schwarzgekleidetes Mädchen, dessen Kopf mit einem Schal verhüllt war. Es sah nicht aus, als ob sie Eile hätte, denn sie ging mehr für sich hin, verloren und abgekehrt, den Kopf leicht vorgeneigt, und in ihrem Schritt war sowohl Müdigkeit als auch Verträumtheit enthalten. Siebengeist folgte ihr mit den Blicken, als ob sich sein Schatten in Bewegung gesetzt hätte, denn es war schon etwas Ungewöhnliches, dass zur Schlafenszeit in offener Gasse jemand ging, der nicht Eile zeigte, schlafen zu gehen.

Des Doktors Schlüssel kreischte im verrosteten Schloss. Herr Maspero, Siebengeist beobachtend, gab seine liebenswürdige Nachsicht durch ein Lächeln kund, einem Veteranen gleich, der beim Anblick der Spielflinte eines Knaben an die grossen Schlachtenkanonen denkt. Dann verabschiedete er sich in der akademischen Steifheit, die ihm eigen war. Er betrat den öden Flur seines Hauses, in dessen Hintergrund bei der Treppe eine nimmermüde Stehuhr ihr schläfriges Ticken seit Jahrzehnten ertönen liess. Sechstausend Nächte und mehr noch lief das Werk im stummen Pflichtgefühl, und wenn es abends zehn Uhr war, kreischte der Schlüssel im verrosteten Schloss, und der Zwergdoktor sagte irgend einem gute Nacht, der vor dem Tore stand, riegelte sich ab von der Welt, machte die alten Dielen durch seine kleinen Füsse knarren, hob an der Treppe das Kerzchen gegen das Zifferblatt, wobei in seinen grauen, unruhigen Augen etwas Fragendes aufblitzte, das unbehaglich und ängstlich den Fortschritt der Zeit wahrnahm. Die akademische Steifheit verlor sich, das leutselige oder sarkastische Lächeln verschwand. Unsichtbare Schatten der Zukunft schienen in dem Stillen Haus emporzuwachsen, vom Flur bis in die Bodenkammer, und wehe, wenn sie einmal so weit gelangten, die beiden geschäftigen Zeiger der Doktorsuhr stehen bleiben zu heissen. So wird den Masperos allmählich die ganze Welt zu einer Uhr: die Hausmauern, von denen der Kalk abbröckelt; der Nachtwächter, dessen Stimme zitternder und leiser die Stunden ruft; der Wald, von dessen Bäumen die Blätter fallen; die Erde, die sich mit Schnee bedeckt: die Sonne, die hinter Frühjahrsnebeln blutet; ja, sogar die Kinder, denen der Schuster von Jahr zu Jahr grössere Stiefeln machen muss.

Am nächsten Tag wussten die Sechsundsechzig von komischen Sachen zu wispern, die sie in der Schule gehört. Von zehn bis elf war Geschichtsstunde gewesen, ein Fach, das bisher aus einigen Namen und Zahlen bestanden hatte, mühsam und überflüssig zu lernen. Heute war der Lehrer, die Hände auf dem Rücken, hin- und hergegangen und hatte unaufhörlich geredet. Ungerechtigkeit sitze auf dem Thron der Erde. Die Geschichte sei nichts anderes als die Wissenschaft von der Ungerechtigkeit. Was ein Edler unternehme, werde hundert Unwürdigen preisgegeben, und ist es Gott, welcher das Glück eines Einsamen bewacht, so seien seine Augen matt, seine Sinne erschöpft vom Anblick der Zerrüttung und des Übels. So sprach der Unbesonnene zu Kindern: Dinge, die weitab vom Kreis seines Amtes lagen, und sein Mund zitterte unter dem buschigen, herabhängenden Schnurrbart. Als das Schulzimmer leer war, setzte er sich vor den Globus, und so traf ihn Doktor Maspero, der beim Bäcker gewesen war und nun aus freundschaftlicher Besorgtheit auch den Lehrer besuchte. Philipp Unruhs Blicke waren fest auf einen Punkt in der Wüste Saharah gerichtet, dann liefen seine Augen meridianaufwärts über Hellas und den Hellespont, durchsegelten das Schwarze Meer und blieben stumpfsinnig nach rascher Landwanderung in der Nähe Sibiriens liegen. „Sie werden sich erkälten bei solchem Klimawechsel,“ scherzte der Doktor.

„Überall da leben Menschen,“ erwiderte der Lehrer, mit einem vertieften Ausdruck emporblickend. „Lauter fremde Menschen.“

Der Doktor geriet vor dem grabenden Blick Unruhs in Verlegenheit. Er fragte sich umsonst, was er sagen solle.

Die Pausestunden verflossen, und die kurze Schulzeit des Nachmittags verging. Der Lehrer wandelte betrübt zwischen den Bänken umher, und beruhigte so den ängstlichen Geist der Kinder wieder. Gegen Abend klopfte es an die Türe von Unruhs eigenem Zimmer und Apollonius Siebengeist trat ein, warf den Hut irgendwohin und den Mantel nach, rieb sich am Ofen die Hände wie jemand, der einträgliche Geschäfte gemacht hat. und achtete kaum auf die erstaunten Mienen des Lehrers. „Eine gemütliche Stube haben Sie da,“ sagte er, sich fröhlich umschauend. „Ich komme zu Ihnen, weil ich niemand hier weiss, mit dem sichs plaudern lässt. Die meisten Leute, mit denen man redet, hören gar nicht, sondern besinnen sich nur auf die Antwort. Heute brauch ich aber partout einen Zuhörer und ein warmes Öfchen. Aber Schulmeister! Onkelchen! Sie sehen aus wie der selige Griesgram.“

„Alle meine Bücher sind mir gestohlen worden,“ murmelte der Lehrer klagend.

Siebengeist kratzte seinen Kopf und pfiff leise in die Ofennische. Dann machte er ein pfiffiges Gesicht, das ihm ausserordentlich gut stand, trat dicht vor den Lehrer hin und legte beide Hände auf dessen Schultern. „Und wenn ich Ihnen nun verspreche, dass Sie Ihren Schatz wiederhaben sollen?“ fragte er lächelnd.

Philipp Unruh sprang auf. „Sie wissen? Was verlangen Sie dafür?“ rief er mit überraschender Leidenschaftlichkeit.

Siebengeist lachte und errötete. In seinen Augen war ein so merkwürdiges, verlorenes Glänzen, dass es wohl jeder bemerkt hätte, der sich besser auf Menschen verstand als dieser Philipp Bücherwurm. „Allerdings verlange ich etwas dafür,“ sagte Siebengeist, und sein Lächeln kehrte wieder, das jetzt etwas Durstiges und Gedankenfernes hatte. „Sie kennen doch den Theaterdirektor, den Herrn, der mit dem Kleister so königlich hantiert? Sie erinnern sich doch? Gut. Gehen Sie heute ins Theater. Man gibt die erste Vorstellung. Und wenn das Stück aus ist, suchen Sie auf irgend eine Weise zu dem majestätischen Herrn zu kommen, knüpfen ein Gespräch an, indem Sie sich entzückt stellen über seine Leistung als Graf oder General oder Bettler, was er eben in dem Stück vorstellt. Der Mann wird butterweich werden, oder ich kenne die Komödianten nicht. Dann fangen Sie an, von seiner Truppe zu sprechen, laden ihn vielleicht zu einer Flasche Wein ein und kommen so auf Myra zu sprechen. Das ist eine von den Schauspielerinnen. Schreiben Sie sich den Namen auf: Myra. Einen andern hat sie momentan nicht.“

„Myra,“ redete Philipp Unruh nach, nicht begreifend, was er solle.

Siebengeist schritt erregt auf und ab, legte die Hand auf die Stirn und fuhr etwas leiser und eintöniger fort. „Wenn der würdevolle Schuft nicht reden will, so schieben Sie ihm Geld in die Hand. Ich gebe Ihnen, was Sie brauchen. Fragen Sie also nach Myra. Wie sie lebt, woher sie kommt, weshalb sie sich beim Theater aufhält, ob sie... ob sie Liebschaften hat oder gehabt hat, — nun, jetzt wissen Sie ja genug. Heiliger Himmel!“ Er lachte überstürzt, setzte sich am Ofen nieder und schaute in die Glut. Dann, als verstünde er das Schweigen des Lehrers, begann er wieder und redete in das Ofenloch hinein: „Fürchten Sie nicht, dass Sie etwas Unehrenhaftes tun. Sie retten dabei nur mein irdisches Heil. Ich selbst kann es nicht übernehmen. Ich kann den Namen dieser Person nicht aussprechen, ohne etwas zu spüren, — eine innere Feuersbrunst! Und müsste ich hören, wovor mir schon in Gedanken graut, ich erschlüge den Kleisterbaron, so wahr ich bin. Die Leute beim Theater reden wasserklar einer über den andern. Nun, Schulmeister, wollen Sie das unternehmen für mich? Hier ist das Billett; alles ist vorbereitet.“

Der Lehrer zauderte, fremdartig berührt durch das Wesen des jungen Mannes. Die Versprechung mit den Büchern erschien ihm plötzlich märchenhaft, wie alles, was der Provisor tat und sagte. Aber auch das erriet Siebengeist mit der sicheren Gabe des von seinen Zwecken ganz erfüllten Menschen. „Ihre Bücher, meine Hand darauf, sollen Sie wieder haben!“ rief er und fügte mit übertriebenem Pathos hinzu: „Es sind da infame Ränke im Spiel, die ich zerstören werde.“

Philipp Unruh reichte dem jungen Mann seine Hand, schüchtern und voller Zweifel. Siebengeist lächelte freudig und unbefangen und zeigte seine weissen Zähne. „Ich vertraue Ihnen darum das alles,“ sagte er nun wieder in seiner natürlich gewinnenden Weise. „Sie sind ein Stiller, ein stiller Freund. Wenn Sie mehr Zutrauen zu sich hätten, könnten Sie weiter oben stehen in der Welt. Berichten Sie mir nur alles, was Sie da erfahren, und merken Sie sichs mit dem Herzen. Sie wissen nicht, was für mich davon abhängt. Beobachten Sie jedes Augenzwinkern, jeden Gedankenstrich in der Rede. Die Leute sagen vieles ohne Worte. Helfen Sie mir heute, und ich will Sie als meinen liebsten Freund betrachten.“

Siebengeist sagte das mit einer Herzlichkeit, die auch kühle Seelen erwärmt hätte. Der Lehrer hörte verwundert zu und beinahe mechanisch fragte er: „Warum nur? Warum?“

Siebengeist setzte sich an den Tisch, drehte ein wenig an dem Docht der Lampe, lächelte zart und erinnerungsvoll, wobei seine Augen strahlend und weit wurden. Dann sagte er, als ob er zur Lampe rede: „Da trifft man irgend einen Wanderer auf der Strasse, in der Nacht, im Schnee und gleich schmieden sich Schicksale zusammen. Und man geht mit dem sonderbaren Wesen, spricht kaum, erfährt kaum einen Namen, nichts als einen lumpigen Theaternamen. Myra! Was für eine unverständliche Zusammenstellung von Buchstaben? Bis gestern noch etwas so unbekanntes wie der eigene Todestag, heute ein Ereignis, von dem alle Stunden schwer sind. Ich begreif’ es nicht, was die Leute Erleben nennen. In einem Geheimnis schlendern wir herum.“

Voll Teilnahme, Sympathie und aufrichtiger Gesinnung blickte der Lehrer sein Gegenüber an. Er ahnte, dass ihm etwas wie ein wirklicher Mensch begegnet sei.



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