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Neuntes Kapitel

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Samuel Elasser hockte zusammengekauert, die Knie fast bis zur Brust emporgezogen, im Winkel eines schmutzigen Kanapees. Er hatte mit beiden Händen das Gesicht so vollständig bedeckt, dass darunter nur der braune Bart hervorquoll. Auf dem Kopf trug er ein altes, hintübergeschobenes Seidenkäppchen mit einer Quaste. Um ihn herum standen wie in einem abgemessenen Halbkreis sechs Kinder und blickten regungslos auf die kauernde Gestalt ihres Vaters. Eines von zwei Jahren kroch halb spielend, halb winselnd über die Dielen, und ein Neugeborenes lag eingehüllt in bunte Lappen, die wiederum durch einen grünen Gürtel zusammengehalten waren, auf einer breiten Bank neben dem Ofen. Die Frau stand vor dem Fenstersims und bewegte betend die Lippen und den Oberkörper. Ausser dem Gelalle des kleinen Halbnackten war kaum ein deutlicher Laut vernehmbar. Auf dem Tisch standen acht blecherne Kaffeetassen, an einem Strick vom Ofen zur Wand hingen rote Windeln zum Trocknen, und der Türe gegenüber nahm ein uralter Schrank den fünften Teil des Raumes ein.

Nachdem Arnold einige Minuten ruhig auf der Schwelle geblieben war, trat er ins Zimmer. Sogleich drängten sich die sechs Kinder in einen Knäuel zusammen. Glasser liess die Hände vom Gesicht fallen und blickte den Fremdling mit glasigen Augen an. Arnold war etwas verdutzt über die gepresste Trauer und düstere Niedergeschlagenheit, die hier herrschten. Er forschte unter den Gesichtern der Kinder, und als er das ihm bekannte der kleinen Jutta nicht erblickte, fragte er: „Ist sie noch nicht zurück aus dem Kloster?“

Die Frau drehte sich um und heftete aus ihren hervorquellenden, ermüdeten Augen einen ungewissen und furchtsamen Blick auf Arnold. „Weiss der Herr nicht, dass unsere Jutta geschleppt worden ist mit Gewalt ins Nonnenkloster?“ rief sie mit einer überscharfen Stimme. Ihre Züge, obwohl alt und hässlich, entbehrten nicht des Reizes, den das Leiden in jeder Form zu erteilen vermag.

Arnold blickte die Frau aufmerksam an. „Ja ja,“ erwiderte er, „aber das ist doch gegen das Recht.“

„Sehn Sie nur an,“ fuhr die magere Jüdin fort und hob sibyllenhaft den Kopf, „wie es bestellt ist mit dem Recht. Für die armen Leute gibts kein Recht, für arme Juden gibts kein Recht. Und mit was kann ich dienen? Mit wem hab’ ich das Vergnügen?“

„Es ist der gnädige Herr Ansorge“, klärte Elasser auf, mit einer Gebärde, die ebensowohl für ehrfürchtig als für kummervoll gelten konnte. „Der Herr kommt nicht in schlechte Absichten, Mutter. Erinnern Sie sich, gnädiger Herr, wie ich meine Jutta hab’ gesucht Sonntag? Wir haben gewartet und gewartet, und wer nicht gekommen is, war unsere Jutta. Und der ganze Abend ist geflossen, und endlich gegen elf is gekommen der Gehilf vom Uravar und klopft da draussen und meint, wir sollen doch einmal nachfragen im Kloster. Und ich denk’ mir noch und denk’ mir noch, ’s ist wahr, sie kann sein gegangen mit die Bänderchen zu die Nonnen, denn sie ist allein hausieren gegangen, und solche Sachen sind schon bereits vorgekommen, und der Gehilfe, der ’s Fleisch bringt ins Kloster, kann sie dort gesehn haben. Gnädiger Herr, meine Tochter ist eine gute Jüdin, warum soll sie bei den Nonnen geblieben sein? Und es war Mitternacht, bin ich noch gegangen, und der Herr Wachtmeister, ein freundlicher Herr, ist mit mir gegangen ins Kloster. Und wir verlangen die Oberin zu sprechen, aber die Schwester Pförtnerin sagt, wir sollen kommen in der Früh und meine Jutta wäre da. Und der Herr Wachtmeister sagt, warten wir bis in der Früh. Gut. Sie können sich denken, dass wir kein Aug’ zugemacht haben die ganze Nacht, und in der Früh um sechs bin ich abermals wieder gegangen mit dem Herrn Wachtmeister und verlang’ zu sprechen die Oberin. Un sie kommt, und ich verlang’ zu haben mein Kind. Und, gnädiger Herr, glauben Se mir, mein Herz is still gestanden, sie sagt, ich soll kommen in fünf Tagen, bis sich das Mädchen besser gewöhnt haben wird an die neue Umgebung.“

Elasser wand sich, als ob ihn die Eingeweide brennten. „Un so bin ich fortgegangen“, schloss er und atmete tief.

„Und der Wachtmeister?“ fragte Arnold, dessen Gesicht sich verfärbt hatte.

„Der Herr Wachtmeister is ein freundlicher Herr, aber er hat gesagt, leider, es ist vorläufig nichts zu machen. Man muss warten. So wart’ ich.“

Der Säugling auf der Ofenbank erwachte und begann ein dünnes Geheul, bis die Mutter hinging und ihm ein in Honig getauchtes, kugelartiges Leinwandstück in den Mund steckte. Auch das auf dem Boden kriechende Kind fing an zu weinen. Die Frau blickte gleichgültig herab, gab ihm mit dem Bein einen leichten Stoss, und als es platt auf der Erde lag, rollte sie es mit dem Fuss gleich einem Fässchen hin und her. Das Kind lachte, während die Mutter leise summte und mit der Hand den Säugling wieder in Schlaf schüttelte.

Elasser erhob sich, nachdem er lange vor sich hingebrütet hatte, und blickte Arnold ohne jede Schüchternheit mit funkelnden Augen an. „Was soll ich tun, lieber Herr?“ sagte er dumpf, und sein demütiger Tonfall wirkte sonderbar im Gegensatz zu seinem Aussehen. „Kann ich mir helfen, sagen Sie selber? Wenn sie sagt, ich soll kommen in einem Jahr, kann ich mir helfen? Und wenn ich keine Nacht mehr schliess’ ein Auge, kann ich mir helfen, lieber Herr?“ Er ging auf und ab.

Arnold verfolgte ihn mit den Blicken. Er begriff nicht, begriff nichts. Diese Verzweiflung schien ihm unverständlich.

„Papa,“ rief jetzt der älteste Knabe mit finsterer Entschlossenheit, „hör’ auf zu reden, bitt’ dich, vor dem Soi.“

„Keine Ruh’ will ich haben, keine ruhige Stunde, bis sie mir nicht mein Kind gegeben haben!“ rief Elasser mit scheuer Leidenschaftlichkeit. „Und wenn ich bis Wien zum Herrn Kaiser gehen muss, un wenn ich hungern un dürsten muss.“

„Und sollen Weib und Kinder gleichfalls hungern?“ fragte die Frau mit streng zusammengezogenen Brauen.

„Schämen Sie sich doch,“ sagte Arnold laut und blickte verdriesslich von einem zum andern, „gibt es denn kein Gericht? Jeder Richter muss Ihnen das Kind zurückgeben, sobald es das Gesetz verlangt.“

Draussen wurden Schritte laut, und drei jüdische Männer betraten den Raum, wobei sie Gebete murmelten.

Arnold ging. Er war kaum bis zur Ecke des Hauptplatzes gelangt, als ihm Specht begegnete. Der Lehrer schien die grösste Eile zu haben, blieb aber doch bei Arnold stehen, fing von der Klostergeschichte an und meinte, es sei sonderbar, dass sie beide gerade gestern abend vor dem Kloster geweilt hätten. „Und was sagen Sie zu alledem? Klingt es nicht fabelhaft, dass dergleichen noch vorkommt?“ Leise und geheimnisvoll fügte er hinzu: „Ich berichte alles an eine Wiener Zeitung. Übrigens könnten wir eine halbe Stunde miteinander plaudern; kommen Sie mit ins Wirtshaus.“

Arnold folgte zögernd, nahm schweigend neben Specht Platz und nickte, als der Wirt ein Glas Bier vor ihn hinstellte.

Niemand war hier ausser den beiden. Ein kleiner Rattenpinscher lag neben Specht auf der Bank, erhob den Kopf, knurrte und schlief bald weiter. Specht schien lange innerlich zu kämpfen, endlich sagte er: „Heute ist es mir schlimm ergangen; heute hab’ ich was Schlimmes erfahren. Hören Sie nur . . . Vielleicht bereu’ ich einmal, dass ich schwatzhaft war, aber der Teufel kann ewig schweigen.“

Arnold horchte hoch auf und schaute erwartungsvoll auf den Mund des Lehrers.

„Sie kennen doch Beate?“

Arnold wandte den Kopf ab und nickte gleichgültig. Specht legte seine Hand auf Arnolds Schulter und sagte beschwörend und schmerzlich: „Ich übertreibe nicht, mein Lieber, aber wenn es eine verkörperte Ruchlosigkeit gibt, ist es diese siebzehnjährige Hexe. Was ich gelitten habe! Doch es ist vorbei; anderes liegt vor mir.“ Er bedeckte die Stirn mit der Hand; seine Lippen zitterten, und in seinen Augen lag schon jetzt Reue über seine Mitteilsamkeit. Seine Miene wurde plötzlich kalt, und das Gesellschaftliche in seinem Wesen trat mit auffallender Schärfe hervor, als er sagte: „Ich hoffe, Sie können schweigen. Wir dürfen die Frauen nicht einmal ins Gerede bringen, während sie uns ungestraft zum Wahnsinn treiben.“ Er lächelte und zupfte an seinem schmalen blonden Schnurrbart.

Arnold, der für solche Schmerzen keinerlei Verständnis besass, hatte zerstreut zugehört. Jenes unbedeutende Frauenzimmer erschien ihm keines Wortes wert. Er schämte sich für Specht.

Über eine Viertelstunde sassen sie schweigend beisammen. Der Wirt hatte die Lampe angezündet. Endlich fragte Arnold, indem er den Kopf ein wenig vorstreckte und das Kinn mit zwei Fingern der linken Hand drückte: „Wann wird man denn befehlen, das Mädchen freizulassen?“

„Welches Mädchen?“ entgegnete Specht aufschreckend. „Die Glasser meinen Sie? Ich weiss nicht.“ Specht fühlte sich beleidigt, dass Arnold einer so fernen Angelegenheit mehr entgegenbrachte als seiner, Maxim Spechts, persönlich nahen. „Wer, glauben Sie denn, dass hier befehlen wird?“ fragte er ironisch.

„Das Gericht, denk’ ich“, entgegnete Arnold und wandte sich dem Lehrer völlig zu.

„Sie ahnen offenbar nicht, um welche Mächte es sich hier handelt?“ Specht lächelte boshaft vor sich hin, als ob er mit diesen Mächten im Bunde sei.

Mit lachendem Mund und höchst erstauntem Ausdruck sagte Arnold: „Es handelt sich um ein Unrecht.“

Specht meckerte. „Unrecht hin oder her. Leben wir denn im Paradies? Findet denn jedes Unrecht einen Richter? Und wenn es schon einen Richter findet, findet es dann auch Gerechtigkeit?“

„Das ist mir zu dumm, was Sie da schwätzen, Sie wollen mich wohl zum Narren halten“, erwiderte Arnold, erhob sich mit blitzenden Augen und schob den Tisch mit dem Oberschenkel von der Bank weg. Der Hund fuhr aus dem Schlaf empor und bellte wütend. Bestürzt blickte der Lehrer Arnold an, der schweigend sein Geld auf den Tisch legte und die Wirtsstube verliess.

Specht seufzte. Er schloss grübelnd die Augen. Bald machte auch er sich auf den Weg, schlenderte die finstere Dorfstrasse entlang und kam bis zum Hankaschen Zaun. Er lehnte sich an das Gartentor und begann melancholisch zu pfeifen, scheinbar ohne Absicht und nur in sich selbst versinkend. Seltsame Menschen gibt es, dachte er, indem er weiterpfiff, mit Beziehung auf Arnold. Was ficht ihn an? Für ihn ist das Leben ein warmer Pfannkuchen; er braucht sich nur hinsetzen, um zu essen. Will er Rechenschaft haben über die Unbescholtenheit der Henne, von der die Gier kommen?

Im Haus würde ein Fenster geöffnet, und eine helle Stimme rief: „Specht! Herr Specht! Kommen Sie doch herein! Was stehen Sie denn und pfeifen!“

Specht folgte der Einladung. Beate und Agnes sassen bei Tisch und schienen soeben mit dem Abendessen fertig geworden zu sein. Beate blickte Specht hochmütig und höhnisch an. Specht verbeugte sich, lächelte flüchtig, nahm Platz und fragte höflich nach Agnes Hankas Befinden. Freundlich und eilfertig bot ihm Agnes von den Überresten der Mahlzeit, und obwohl er hungrig war, schüttelte Specht den Kopf und deutete scherzhaft auf seine Magengegend. Beate hatte nicht aufgehört, den Lehrer fest anzublicken. Sie spielte mit einem Zeitungsblatt und sagte plötzlich vor sich hin, ohne Furcht, dass sie von der halbtauben Agnes gehört werden könne: „Wenn du nicht vernünftig bist —“ . . . mit einer kategorischen und deutungsvollen Bewegung riss sie das Blatt mitten entzwei.

„Erlauben Sie, ich nehme mir doch ein Stückchen Käse!“ rief Specht, zu Agnes gewandt, die ihm erfreut Butter, Brot, die Weinflasche und den Wurstteller hinschob. Sie klagte dem Lehrer, dass sie Sorge um ihren Bruder Alexander habe; sie fürchte für seine Gesundheit, er sehe so schlecht aus. Übrigens habe er heute in einem Brief versprochen, gegen Weihnachten längere Zeit in Podolin zuzubringen.

Specht fragte, was Alexander Hanka eigentlich treibe.

Agnes besann sich, ob es nicht doch vielleicht etwas gab, das Hanka „trieb“. „Nichts“, erwiderte sie endlich scheu.

Der Lehrer lächelte sarkastisch.

„Er lebt von seinem Seld“, sagte Beate stirnrunzelnd. „Er ist reich genug. Ist das vielleicht nicht erlaubt?

„Es ist leider nicht nur erlaubt, es wird gern gesehen“, antwortete Specht.

Agnes gab dem Lehrer ihres Bruders Brief zu lesen. Es war, als suche sie über etwas Beunruhigendes in Hankas Leben Aufschluss und Trost, naiv dem Fremdesten vertrauend. Specht betrachtete zerstreut die ungefügen Schriftzeichen; unter dem Tisch suchte er Beates Hand zu ergreifen.

Der Moloch

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