Читать книгу Die deutschen Auswanderer - Jakob - Страница 4
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Kapitel 1. Migrationsprozesse in Europa und Deutschland im 18. Jahrhundert
1.1. Entstehung von Migrationstraditionen
1.2. Populationskonzept und Kolonisationspolitik Preußens
1.3. Wesentliche Strömungen der Migration ins Ausland
Kapitel 2. Massenemigration nach Südosteuropa
2.1. Transsilvaniendeutsche
2.2. Donauschwaben
2.3. Besonderheiten und Bedingungen der
Massenemigration nach Südosteuropa
Kapitel 3. Deutsche Kolonisten in Russland
3.1. Geschichte der Beziehungen
3.2. Kolonisationsprojekte zurzeit von
3.3. Zarin Elisabeth
3.4. Aggressives Anwerben und wachsende Proteste
3.5. Bewertung der Zusammensetzung der ersten
Kolonisten
Kapitel 4. Wesentliche Ursachen und Motive für die
Massenemigration
4.1. Politische Ursachen
4.2. Ökonomische Ursachen
4.3. Religiöse Ursachen
4.4. Persönliche Ursachen
4.5. Globale Ursachen der Massenemigration
im 18. Jahrhundert
Kapitel 5. Wege der deutschen Kolonisten in die Fremde
5.1. In die Länder Ost- und Südosteuropas
5.2. Die Ankunft in Russland und der Weg an
die Wolga
5.3. In eine neue Zukunft jenseits des Ozeans
Kapitel 6. Schwieriger Anfang in Russland
6.1. Schwierigkeiten beim Aufbau einer Existenz
an der Wolga
6.2. Pugatschew-Aufstand und Nomadenüberfälle
6.3. Eingeständnis von Problemen
6.4. Besonderheiten der Entstehung und Probleme
der Kolonien zur Zeit Alexanders I
Kapitel 7. Flucht und Rückkehr der Kolonisten
Kapitel 8. Die blühenden Jahre der deutschen Kolonien
in Russland
8.1. An der Wolga
8.2. In Südrussland
8.3. Im Kaukasus und bei Sankt Petersburg
Kapitel 9. Wachsende Probleme in Russland
9.1. Bevölkerungswachstum und Landmangel
9.2. Umsiedlung nach Sibirien und Mittelasien
Kapitel 10. Der Anfang vom Ende. Schrittweise Zerstörung
10.1. Antideutsche Hysterie
10.2. Emigration aus dem russischen Imperium
und der UdSSR
10.3. Die Jahre des landesweiten Terrors,
der Repressionen und Deportationen
Kapitel 11. Entstehung und Entwicklung der deutschen
Kolonien in den Ländern Südosteuropas
11.1. Schwierige Jahre auf dem Weg zum Wohlstand
11.2. Politik der „Magyarisierung“ und Emigration
aus Ungarn
11.3. Zerfall von Österreich-Ungarn und Vertrag von Trianon
Kapitel 12. Untergang und Vernichtung der deutschen
Ethnie in Zentral- und Südosteuropa
12.1. Heim ins Reich
12.2. Verfolgung und Repressionen während des
Zweiten Weltkriegs
12.3. Маssenweise Zwangsvertreibungen
Kapitel 13. Exodus. Der lange Weg nach Hause
13.1. Massenexodus der ethnischen Deutschen nach Deutschland
13.2. Besonderheiten der Emigration aus den
Ländern Zentral- und Südosteuropas.
Operation „Heimlicher Kanal“
13.3. Auswanderung aus den Ländern der
ehemaligen UdSSR
Kapitel 14. Der Kreis der Geschichte schließt sich
14.1. Dynamik der deutschen Bevölkerung des Aufenthalts in den europäischen Emigrationsstaaten
14.2. Dynamik der deutschen Bevölkerung und
Bewertung des Aufenthalts im zaristischen
Russland und in den Ländern der früheren
UdSSR
14.3. Bewertung der durch den Exodus der
ethnischen Deutschen verursachten
ökonomischen und sozialen Verluste
14.4. Heutige Situation der Bürger deutscher
Abstammung in den Emigrationsländern
Epilog
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Personenverzeichnis
Einführung
Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte begonnen. In Europa war eben erst der Siebenjährige Krieg zu Ende gegangen, in dem der preußische König Friedrich II. in einer Allianz mit England gegen Frankreich, Österreich, Schweden und Russland verloren hatte. Nur der plötzliche Tod von Zarin Elisabeth, in dessen Folge der Friedrich wohlgesonnene Petr III. den Thron bestiegen hatte, rettete Preußen vor einer endgültigen Niederlage. Petr III. ordnete den Rückzug der bereits in Berlin stationierten Truppen an und bereitete dem sinnlosen Krieg damit ein Ende. Nach der Weigerung Österreichs, die von ihm besetzten Gebiete zurückzugeben, drängten die Russen in der nun entstandenen Allianz mit den preußischen Streitkräften die Österreicher aus Schlesien und Sachsen zurück und zwangen sie, einen Friedensvertrag mit Preußen zu unterzeichnen.
Zu jener Zeit war Deutschland noch kein einheitlicher Staat. Mehrere hundert unabhängige Fürstentümer nahmen zwar ein zusammenhängendes Gebiet in Zentraleuropa ein, waren jedoch nur schwach miteinander verbunden und gehörten zum „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“. Der soeben zu Ende gegangene Siebenjährige Krieg und der Dreißigjährige Krieg, der zuvor in Europa gewütet hatte, führten zu einer abrupten Verarmung des Volkes, zur Erschöpfung seiner Lebenskraft und dazu, dass sich bei weiten Teilen der Bevölkerung ein Gefühl der Ausweg- und Perspektivlosigkeit eingestellt hatte.
Mit Beginn des 18. Jahrhunderts bildete sich in Europa zunehmend ein stabiles Migrationssystem mit festen Migrationstraditionen bei der Bevölkerung heraus. Diese verlegte ihren Wohnsitz sowohl innerhalb der eigenen Länder als auch in jenseits der jeweiligen Staatsgrenzen gelegene Gebiete und legte auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben große Entfernungen zurück. An der Entstehung dieser europäischen Migrationssysteme waren die Bürger der voneinander getrennten deutschen Staaten und Fürstentümer besonders aktiv beteiligt. In großer Zahl zogen sie aus den überbevölkerten Gebieten in weniger dicht besiedelte Regionen um. Somit war die deutsche Bevölkerung gegen Mitte des 18. Jahrhunderts bereits in wesentlichem Maße auf die Emigration in weit entfernte und unbekannte Länder vorbereitet. Im Zusammenspiel mit einer Reihe weiterer Faktoren, die im vorliegenden Buch detailliert behandelt werden, war eine solche Mobilität der Bewohner der deutschen Ländereien die Hauptursache für deren Massenemigration, die hinsichtlich ihrer Größenordnung und ihrer Strömungen einzigartig war. Die hauptsächliche Strömung bewegte sich dabei nach Osten und Südosten und stand im Vergleich zur nordamerikanischen Strömung an erster Stelle. Verschiedene Schätzungen gehen davon aus, dass sich damals etwa 400.000 bis 500.000 deutsche Kolonisten auf den Weg nach Ost- und Südosteuropa machten und sich mehrheitlich im damaligen Ungarn und in Russland niederließen.
Die Monarchen dieser Länder folgten dem Beispiel des preußischen Königs Friedrich der Große, der nach seinen Vorgängern eine aktive Populationspolitik (Peuplierungspolitik) verfolgte und den Umsiedlern zahlreiche Privilegien gewährte, wodurch er ausländische und vor allem deutsche Staatsangehörige ins Land zu locken versuchte. Er befreite die ersten drei Generationen der ankommenden Kolonisten vom Kriegsdienst, senkte die Steuern und übernahm die Kosten für die Umsiedlung, die Bodenmelioration und den Bau von Wohnhäusern für sie. Für diese Ziele wandte er immense Mittel auf und bewies eine für jene Zeit einzigartige religiöse Toleranz, indem er den Neuankömmlingen materielle Unterstützung und die staatlich geschützte freie Religionsausübung zusicherte. Die aktive preußische Peuplierungspolitik, die bereits im 17. Jahrhundert mit dem Potsdamer Edikt begonnen hatte, dauerte ungefähr 150 Jahre und endete im 19. Jahrhundert mit dem Beginn der deutschen Industrialisierung.
Seit Beginn des 19. Jahrhunderts bildet die Emigration der deutschen Bevölkerung über den Ozean in die Länder Nord- und Südamerikas die wesentliche und beherrschende Strömung. Die Auswanderer aus Deutschland stellten auch zu dieser Zeit den Hauptanteil der Massenemigration, welche die Bevölkerung zahlreicher europäischer Staaten ergriffen hatte. Expertenangaben zufolge kehrten etwa 52 Millionen Menschen von 1824 bis 1924 in den Jahren der Massenemigration in die jenseits des Ozeans gelegenen Gebiete Europa den Rücken. In dieser Zeit entschieden sich von 1920 bis 1928 auch 5,9 Millionen deutsche Bürger für diese Richtung der Emigration. 89,8 % davon ließen sich in den USA nieder. Die deutsche Emigration in die jenseits des Ozeans gelegenen Gebiete vollzog sich in mehreren Phasen und dauerte ebenfalls ungefähr 150 Jahre bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts.
In diesem Buch wird der lange und gefahrenreiche Weg der deutschen Kolonisten in verschiedene weit entfernte Länder beschrieben. Die Zeit unterwegs war für sie durch Hunger, Kälte und zahlreiche Krankheiten gekennzeichnet. Die Beharrlichkeit und Besessenheit vieler tausend Menschen, die monatelang, ja manchmal jahrelang unterwegs waren, dabei Kinder, Angehörige und nahestehende Menschen verloren und dennoch ihre heißersehnten Ländereien erreichten, auf denen sie sich den Beginn ihres neuen Lebens erträumten, ruft schlichtweg Begeisterung hervor.
Die massenweise Emigration der deutschen Kolonisten hatte damals viele Ursachen. Das vorliegende Buch beruht auf dem Wesen dreier globaler Ursachen der Massenemigration. Diese lauten wie folgt:
• politische und ökonomische Schwäche der zahlreichen voneinander getrennten deutschen Staaten und Fürstentümer, Fehlen eines vereinigten Staates mit gemeinschaftlich organisierter Sicherung der Außengrenzen und einheitlichen Emigrations- und Zollgesetzen;
• fehlende koloniale Besitztümer aufseiten Deutschlands zu jener Zeit (während mehrerer anderen europäischen Staaten solche besaßen) und damit fehlende Möglichkeiten, diese für die Umsiedlung der eigenen „überschüssigen“ Bevölkerung zu nutzen;
• vergleichsweise später Beginn der industriellen Revolution im Land. Infolgedessen war die Möglichkeit, der schnell wachsenden ländlichen Bevölkerung eine Anstellung in den verschiedenen Industriebranchen zu bieten, nicht gegeben.
Diese globalen Ursachen bestimmten in wesentlichem Maße das Wirken und die Bedeutung der Ursachen zweiten Grades, zu denen verschiedene politische, religiöse, ökonomische und persönliche Auswanderungsmotive zu zählen sind. Die massenweise Ausreise der Deutschen nach Russland nahm mit Veröffentlichung der Manifeste der russischen Zarin Katharina II. (der Großen) in den Jahren 1762 und 1763 ihren Anfang. Darin rief sie ausländische Staatsangehörige zur Übersiedlung nach Russland auf. Sie garantierte ihnen das Recht auf freie Berufs- und Standortwahl, die Zuteilung fruchtbarer Ländereien, freie Religionsausübung und den Erhalt der eigenen Sprache, die Befreiung vom Kriegsdienst, Selbstverwaltung, finanzielle Unterstützung und Steuervorteile. Die Kolonisationspolitik Katharinas II. wurde von ihrem Sohn Pavel I. und insbesondere von ihrem Enkel Alexander I. fortgesetzt. Die Übersiedlung deutscher Staatsangehöriger nach Russland dauerte etwa 100 Jahre lang an. In dieser Zeit entstanden deutsche Siedlungen in den wilden Steppen des Wolgagebiets, in der Nähe von Sankt Petersburg und Woronesch, im Schwarzmeergebiet, in Bessarabien, in der Walachei, am Don, im Nordkaukasus und im Hinterland des Kaukasus, am Ural, in Sibirien, Kasachstan und Mittelasien. Die deutschen Siedlungen nannte man damals Kolonien, ihre Bewohner Kolonisten. Durch ihren langen und unablässigen Einsatz verwandelten sie die einst öden Steppengebiete und die wenig bis gar nicht erschlossenen Landstriche in wirtschaftlich entwickelte Gebiete mit blühenden Siedlungen und trugen insgesamt in erheblichem Maße zur allgemeinen Entwicklung Russlands bei, welches für sie zur Heimat geworden war.
Die gleichzeitig erfolgende, gesamtheitliche Auseinandersetzung mit Fragen, die die Übersiedlung der deutschen Kolonisten betreffen, ermöglichte es, allgemeine Merkmale und Besonderheiten dieses unter geografischen (in den Ländern Mittel-, Südost- und Osteuropas) und zeitlichen (sich in mehreren Etappen vollziehenden) Gesichtspunkten einzigartigen historischen Phänomens aufzuzeigen und darzustellen.
Das Buch stellt die These auf, dass zu jener Zeit ein harter Konkurrenzkampf um die deutschen Kolonisten stattfand, von dem die Bedingungen, zu denen sie von den Monarchen und Regierungen verschiedener Länder eingeladen wurden, direkt abhängig waren. Diese boten ihnen zahlreiche Vergünstigungen und Privilegien an. Dasselbe galt für die nicht immer legalen Vorgehensweisen und Methoden der zahlreichen Anwerber dieser Länder, welche die deutschen Übersiedler mit erlogenen Geschichten vom Paradies auf Erden und dem Land, wo Milch und Honig fließen, zu ködern versuchten. Aus heutiger Sicht und im Wissen um das tragische Schicksal, das viele Generationen der deutschen Kolonisten erlitten haben, kann man nur bedauern, dass Deutschland zu jener Zeit aufgrund des Fehlens eines einheitlichen Staates mit einheitlichen Dienstvorschriften und Emigrationsgesetzen nicht dazu in der Lage war, der eigenen Bevölkerung, die von den Monarchen vieler Länder gelockt und auseinandergetrieben wurde, selbst eine Perspektive zu bieten und sie zu verteidigen.
Eine wesentliche Besonderheit der untersuchten Massenemigration stellt die Tatsache dar, dass die deutschen Kolonisten nicht als Eroberer in den Zielländern auftauchten, sondern als Bauern, die von Monarchen und Regierungen zwecks der Erschließung und Verteidigung öder Landstriche eingeladen worden waren. Auf ihren Fuhrwagen und Flussschiff en führten sie keine Schusswaffen mit sich, sondern Pflüge, Saatgut, reinrassiges Vieh und Pferde. Als Waffe dienten ihnen die zumeist vorhandenen Kenntnisse und Erfahrungen im Ackerbau und das riesige Verlangen, das Ödland in fruchtbare Ländereien zu verwandeln, auf denen sie ein glücklicheres Leben beginnen wollten.
Die Aufgaben, mit denen die Kolonisten sich konfrontiert sahen, wurden nach vielen Jahren harter Arbeit und zahlreichen Prüfungen schließlich erreicht. Sie verwandelten die Sümpfe Preußens und Ungarns in fruchtbare Ländereien und erschlossen in Russland die öden Landstriche an der Wolga, am Schwarzmeerufer, im Kaukasus, in Sibirien und in Mittelasien. Sie befreiten riesige Territorien wilder Dschungelgebiete, die daraufhin zu fruchtbaren Ländereien Brasiliens wurden, von Steinen und Bäumen, sie bauten Straßen und Bewässerungskanäle und erschlossen neue Landstriche in Argentinien. In all diesen Ländern entstanden Tausende blühender, komfortabel eingerichteter und wirtschaftlich erfolgreicher deutscher Siedlungen. Allgemeine Faktoren in den Zielländern waren eine schwierige Anfangszeit, der Tod zahlreicher Kolonisten aufgrund von Krankheiten
und das durch Angriffe, Mord, Plünderungen und Verschleppung erlittene Leid, das ihnen ansässige feindselige Banden zufügten. Im Wolgagebiet wurden die deutschen Kolonisten von kirgisischen und baschkirischen Nomaden beraubt, erschlagen, versklavt und auf den Sklavenmärkten von Buchara verkauft. Die Siedlungen schwäbischer Kolonisten in Ungarn waren zahlreichen Angriff en und Plünderungen serbischer Banden und der ständig wiederkehrenden türkischen Truppen ausgesetzt. Für die Angriff e, Plünderungen und den Mord an deutschen Kolonisten im Kaukasus waren kurdische, persische, türkische und tatarische Reiterbanden verantwortlich.
Letztendlich trugen die deutschen Kolonisten nach sämtlichen bitteren Erfahrungen und Prüfungen der Anfangszeit durch ihren selbstlosen Einsatz in wesentlichem Maße zur wirtschaftlichen und allseitigen gesellschaftlichen Entwicklung in ihren neuen Ländern bei. Mit Nachdruck stellten sie ihre Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und das Fehlen jeglicher Wünsche oder Absichten, ihre neue Heimat irgendwann einmal verlassen zu wollen, unter Beweis. Ihre schöpferische Tätigkeit wandte das Leben der Übersiedler selbst und die ökonomische Situation in den Ländern ihres Aufenthalts Schritt für Schritt zum Besseren. Gemeinsam mit anderen Völkern trugen sie entscheidend zur
Entwicklung der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion und zur Verbesserung der Infrastruktur und des äußeren Erscheinungsbildes städtischer und ländlicher Siedlungen bei.
Mit Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und einhundert Jahre nach Ankunft der ersten Kolonisten in den Ländern Ost- und Südosteuropas zogen allerdings erstmals schwarze Gewitterwolken am Himmel der deutschen Bevölkerung auf. Die schnell wachsende Bevölkerung führte zu einem akuten Mangel an Grund und Boden in Russland, Ungarn und anderen Ländern. Deren Machthaber wollten nichts mehr davon wissen, dass sie die deutschen Kolonisten, die
ihnen Hunderte von Jahren treue und ergebene Untertanen gewesen waren, einst eingeladen hatten. Nun, nachdem die deutschen Kolonisten die ihnen anvertrauten Aufgaben erfüllt und die einstmals öden Landstriche in blühende Ländereien verwandelt hatten, begannen die Machthaber und ein Teil der politischen Elite damit, in ihren Gesellschaften antideutsche Ressentiments zu schüren. Gegenüber den deutschen Kolonisten, deren wachsender Wohlstand und Erfolge in der
landwirtschaftlichen und industriellen Produktion Neid und wahllose Anschuldigungen im deutschen Einflussgebiet hervorriefen, setzte sich zunehmend eine ablehnende Haltung durch.
Ein besonders schweres Schicksal erwartete die Kolonisten in Russland, wo sie eine wesentliche Verschlechterung ihrer gesellschaftlichen, materiellen und sozialen Lage über sich ergehen lassen mussten. Im Zuge der Reformen Alexanders II. wurde ihnen 1871 ihr privilegierter Sonderstatus als Kolonisten genommen, und ab 1874 wurde auch der verpflichtende Kriegsdienst für sie eingeführt. So wurden die wichtigsten Privilegien aus der Zeit Katharinas II. aufgehoben, welche diese ihren Vorfahren auf ewig zum Geschenk gemacht hatte. Zudem hatten die auf sie folgenden Zaren Pavel I., Alexander I. und Nikolaj I. diese Privilegien durch mehrfachen Zarenerlass fortwährend bestätigt.
Es bedarf keiner Beweise, dass es eben jene Vergünstigungen und Privilegien der herrschenden Monarchen waren, die seinerzeit den Ausschlag zugunsten einer Übersiedlung der deutschen Bauern nach Russland gegeben hatten. Nicht alle Kolonisten wollten nun den Weck fall ihrer Privilegien in ihrem Leben hinnehmen, und viele von ihnen kehrten Russland den Rücken und ließen die zivilisierten heimatlichen Gegenden und Ländereien genauso zurück wie die Gräber ihrer Vorfahren, die ein Jahrhundert zuvor auf der Suche nach einem besseren Schicksal und einer neuen Heimat nach Russland gekommen waren.
Die Deutschen, die weiterhin in Russland blieben und nun den russischen Bauern gleichgestellt waren, setzten ihre ehrliche Arbeit fort, sorgten für eine erfolgreiche Weiterentwicklung des Ackerbaus und der Viehzucht, der industriellen Produktion, der Bildung, der Kultur und glaubten weiterhin an eine bessere Zukunft. Allerdings rief eine solch dynamische und erfolgreiche Entwicklung der deutschen Kolonien als gemeinsamer Teil der gesamten russischen Wirtschaft bei einem bestimmten Teil der Gesellschaft eine zutiefst ablehnende Haltung gegenüber den deutschen Kolonisten hervor. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte dabei die Tatsache, dass das vereinigte Deutschland 1871 auf der Weltbühne auftauchte, denn nun sah Russland in Deutschland seinen wichtigsten politischen und ökonomischen Gegner in Europa. Die Anstrengungen der nationalistischen und chauvinistischen Presse sorgten dafür, dass die sichtbaren Erfolge der deutschen ethnischen Minderheit Neid weckten und Gründe genannt wurden, weshalb ihre riesigen Landgüter und sonstigen Besitztümer beschlagnahmt werden sollten. Die ständige Verschärfung der antideutschen Ressentiments verwandelte sich zu Beginn und während des Ersten Weltkrieges in eine antideutsche Hysterie, in Pogrome und den Kampf der zaristischen Machthaber gegen den „deutschen Einfluss“. Genau zu dieser Zeit nimmt auch die Massenemigration der Russlanddeutschen aus dem Land ihren Anfang. Deren wesentliche Phasen und ihre zahlenmäßige Bewertung anhand vorhandener statistischer Materialien werden im vorliegenden Buch detailliert dargestellt.
Die Beziehungen zwischen diesen beiden Ländern stellten damit zum ersten, jedoch bei Weitem nicht zum letzten Mal die Hauptursache für die wesentliche Verschlechterung der Situation der Kolonisten und der übrigen Deutschen in Russland dar. Nach der Revolution im Jahre 1917 und dem Untergang der zaristischen Autokratie verhielt sich die neue Sowjetmacht, die auf revolutionäre Veränderungen in Deutschland und auf der ganzen Welt hoffte, zunächst loyal gegenüber den deutschen Kolonisten und schuf 1918 das autonome Gebiet der Wolgadeutschen. Aus diesem wurde 1923 die Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen. Dieser Umstand bewahrte die Kolonisten im Wolgagebiet und in anderen Regionen Russlands allerdings nicht vor Erschütterungen, die ihre gewohnte Lebensweise endgültig zerstörten. Bereits in den dreißiger Jahren wurden alle Kolonisten genauso wie die russischen Bauern gewaltsam in Kolchosen getrieben, und anschließend zog über sie wie über das gesamte Land eine Welle der Repressionen hinweg.
Der Beginn des Zweiten Weltkriegs hielt neues Leid in bisher unbekanntem Ausmaß und mit einer beispiellosen Dimension der Ungerechtigkeit für die deutsche Ethnie bereit. Der Faschismus in Deutschland brachte vielen Völkern in Europa und in Russland unbeschreibliche Armut, Trauer und Tod. Besonders die wahllosen Schuldzuweisungen an die ethnische deutsche Minderheit für die Verbrechen Nazideutschlands hatten tragische Folgen. Dadurch, dass sich die Nachkommen der deutschen Kolonisten und die übrigen Gruppen der deutschen Bevölkerung Hunderte von Jahren weit von Deutschland entfernt aufgehalten hatten, konnten sie unmöglich an der Machtergreifung und den Verbrechen des Naziregimes beteiligt gewesen sein. Der Flächenbrand, den der Zweite Weltkrieg ausgelöst hatte, verwandelte das Leben von Millionen Nachkommen der deutschen Kolonisten, welche gemeinsam mit anderen Völkern in diesen Ländern gelebt hatten, zu Asche, indem er sie zu Geächteten machte, die die Schuld für nicht von ihnen begangene Verbrechen zu tragen hatten. Massenweise Gewaltanwendung, Diskriminierungen und Völkermord an der eigenen deutschen Bevölkerung wurden zu schwarzen Kapiteln in der Geschichtsschreibung zahlreicher Länder und blieben im genetischen Gedächtnis der ethnischen deutschen Minderheiten zurück.
Mit einer besonderen Situation hatten es die Russlanddeutschen zu tun, die sich mit dem Höhepunkt ungerechten und unmenschlichen Verhaltens ihnen gegenüber konfrontiert sahen. Als schuldlos Schuldige mussten sie wahllose Anschuldigungen als Verräter, die Abschaffung ihrer Autonomie, den Verlust ihrer erwirtschafteten Besitztümer, die Deportation nach Sibirien und Kasachstan und Hunger und Tod in den Arbeitslagern über sich ergehen lassen. Dabei handelte es sich um mehrjährigen staatlichen Völkermord an einem seiner fleißigen und gesetzestreuen Völker, das nicht im Geringsten an der Machtergreifung der Nazis im fernen Deutschland beteiligt war. Für die Russlanddeutschen hatte das Leid auch nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs kein Ende, ihnen wurde auf ewig das Recht aberkannt, an ihre vormaligen Aufenthaltsorte zurückkehren zu dürfen, zudem befanden sie sich an den Orten ihrer Verbannung weitere zehn lange Jahre unter Aufsicht der Kommandantur.
Das politische und militärische Vorgehen Nazideutschlands vor und während des Zweiten Weltkriegs hatte auch unmittelbaren Einfluss auf das Schicksal der ethnischen deutschen Bevölkerung in den Ländern Südosteuropas. Den Anfang vom Ende bildete hierbei das Jahr 1939, in dem die massenweise Umsiedlung eines Teils der deutschen Ethnie im Zuge der Hitlerschen Doktrin „Heim ins Reich“ begann. Diese fand in der Flucht und Evakuierung der bürgerlichen deutschen Bevölkerung, die gemeinsam mit der Armee Hitlers den Rückzug antrat, ihre Fortsetzung. Die zurückgebliebene deutsche Bevölkerung war nach dem Ende des Krieges grausamer Verfolgung und Gewalt, Plünderungen, Massenerschießungen und der Deportation in die Zwangsarbeitslager der UdSSR ausgesetzt. Der Hunger, zahlreiche Erkrankungen, grausame Gewalt und Verhöhnungen waren bei vielen Zurückgebliebenen die Todesursache.
Die nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges massen- und zwangsweise einsetzende Vertreibung der ethnischen Deutschen aus ihren Wohngebieten in Tschechien, Polen, Ungarn und Jugoslawien führte zum endgültigen Ende des jahrhundertelangen Aufenthalts einer deutschen Ethnie in dieser Region. Im Buch werden die Besonderheiten dieser und der darauffolgenden Phase, die durch die massenweise Rückumsiedlung der Zurückgebliebenen mit deutscher Abstammung nach Deutschland gekennzeichnet ist, anhand der Verwendung zahlreicher statistischer Materialien ausführlich dargestellt. Die in den 50er Jahren einsetzende Rückkehr der deutschen Ethnie nach Deutschland, dass zunächst nur unwesentliche Ausmaß hatte, sich nach dem Zerfall der Sowjetunion und des Ostblocks jedoch radikal verstärkte, bildete praktisch das Ende der Geschichte der deutschen Übersiedler in den Ländern Ost-, Zentral- und Südosteuropas.
In der Sowjetunion begann die Bewegung, die sich für eine freie Ausreise der Russlanddeutschen in die historische Heimat einsetzte, in den 70er Jahren. Diese Bewegung dauerte trotz administrativer und strafrechtlicher Verfolgung bis zum Beginn demokratischer Reformen im Land an. Diese Reformen erlaubten die Emigration, wenn eine familiäre Wiedervereinigung nachgewiesen werden konnte. Dieser historische und schicksalhafte Moment in der Geschichte der Russlanddeutschen ist eng mit dem Namen M. S. Gorbatschow und dem von ihm eingeschlagenen Kurs hin zu einer Liberalisierung und Demokratisierung des öffentlichen Lebens der Völker der UdSSR verknüpft. Dieser bildete den Anfang der massenweisen Ausreise der Russlanddeutschen nach Deutschland. Durch das geöffnete Fenster verließen Russland nun Jahr für Jahr Hunderttausende Menschen. Erneut ließen sie ihre Häuser und die von ihnen erwirtschafteten Besitztümer zurück, um in der historischen Heimat einen Neuanfang zu wagen. Die massenweise Ausreise der Russlanddeutschen konnten die leeren Versprechungen der russischen Machthaber, in der Folge sämtliche Probleme der Russlanddeutschen zu lösen, genauso wenig beenden wie die Bekräftigungen der deutschen Regierung, die Tore seien für sie auf ewig geöffnet und es bestünde kein Grund zur Eile.
Im Buch werden die Besonderheiten der massenweisen Emigration und des endgültigen Exodus der deutschen Bevölkerung aus verschiedenen Ländern Ost-, Zentral- und Südosteuropas anhand der Verwendung umfangreicher statistischer Materialien analysiert. Diese Länder verloren nicht nur eine wichtige Komponente ihres kulturellen Reichtums, sondern auch einen Teil ihrer fleißigen und ökonomisch erfolgreichen christlichen Bevölkerung und damit auch wesentliches Potenzial ihrer gegenwärtigen und künftigen wirtschaftlichen Entwicklung. Im Buch wird der Versuch unternommen, eine näherungsweise ökonomische Bewertung der diesen Ländern durch die Konfiszierung und das Zurücklassen des Grundbesitzes und sonstigen Vermögens der ethnischen Bevölkerung entstandenen materiellen Verluste und Errungenschaften vorzunehmen. Dabei ist anzumerken, dass keine Summe die Millionen Toten, den Verlust der Heimat und der erschlossenen Ländereien, die auch in der Folge ausgiebig mit dem Blut vieler Generationen deutscher Kolonisten getränkt wurden, aufwiegen kann. Einen anderen Lauf nahm das Leben der deutschen Kolonisten in den Ländern Nord- und Südamerikas, in denen sie im Unterschied zu den Deutschen in den zum ehemaligen Ostblock gehörenden Ländern blieben und sich dort praktisch vollständig assimilierten. So belegen die US-Bürger deutscher Abstammung hinsichtlich ihrer zahlenmäßigen Bedeutung den ersten Platz und übertreffen damit sämtliche weiteren ethnischen Bevölkerungsgruppen des Landes wie die Iren, die Engländer, die Italiener und auch die schwarzen und mexikanischen Amerikaner.
Das Buch liefert Gründe für die Annahme, dass die wesentliche Ursache eines derart unterschiedlichen Verhaltens der deutschen Übersiedler in verschiedenen Ländern weniger im Entwicklungsstand der diese Länder bewohnenden Völker als in der unterschiedlichen Einstellung gegenüber der ethnischen deutschen Bevölkerung und in der Assimilationspolitik dieser Länder zu sehen ist. Fand diese in den Ländern Ost-, Zentral- und Südosteuropas Zunehmend gewaltsam und zwangsweise statt, was sich in Diskriminierungen und Repressionen gegenüber der deutschen Bevölkerung, in Deportationen und dem Entzug seiner kompakten Wohngebiete äußerte, so fand in den USA, in Kanada und in den Ländern Südamerikas insgesamt eine tatsächliche Assimilation statt. In den Ländern Lateinamerikas waren in einzelnen Phasen auch Zwangsmethoden Bestandteil der Politik einer tatsächlichen Assimilation. Diese fanden allerdings ohne massenweise Repressionen, Diskriminierungen, wahllose Anschuldigungen und ohne „Ernennung“ der eigenen Bürger deutscher Abstammung zum inneren Feind statt. Schlussendlich führten diese Verschiedenheiten zu vollkommen unterschiedlichen Prozessen, Tendenzen, Geschwindigkeiten und abschließenden Resultaten der Assimilation der deutschen Bevölkerung in diesen Ländern.
Zum Abschluss der Darstellung der jahrhundertelangen Geschichte der deutschen Kolonisten werden Gründe dafür angeführt, dass sämtliche Aspekte der Vergangenheit nicht verschwiegen, sondern off en und kritisch diskutiert werden sollten. Das Eingeständnis der stattgefundenen Verbrechen stellt die alleinige Voraussetzung für eine neue und blühende Zukunft der heutigen Generationen in den Ländern dar, in denen einst eine ethnische deutsche Minderheit lebte.
Es bleibt festzuhalten, dass die Zeit der deutschen Kolonisten in Europa unwiederbringlich der Vergangenheit angehört und dass das Fenster der Geschichte dieser einzigartigen Erscheinung geschlossen ist. Die heutige neue historische und ökonomische Realität schließt einen ernsthaften Anspruch eines so bedeutenden Teiles der deutschen Bevölkerung, in die ihm noch immer am Herzen liegenden Länder zurückkehren zu wollen, quasi aus. Die Nachkommen der ehemaligen deutschen Kolonisten, die der deutschen Ethnie Ost-, Zentral- und Südosteuropas angehörten, sind nach langer Wanderschaft in ihre historische Heimat zurückgekehrt und wiederholen nun nicht mehr das tragische Schicksal ihrer Vorfahren, die sich einst auf der Suche nach freien Ländereien und einem besseren Los in fremde, weit entfernte Länder aufgemacht hatten.
Abschließend bleibt zu betonen, dass beim Verfassen des Buches einzigartige Archivmaterialien und statistische Daten in erheblichem Umfang zum Einsatz kamen. Deren Auswertung wird in 17 Originaltabellen präsentiert. Es wurden zahlreiche historische Quellen, Bücher und Artikel unterschiedlichen Erscheinungsdatums studiert, die teilweise im 289 Quellen umfassenden Literaturverzeichnis aufgeführt sind. Das Buch enthält fünf Zeichnungen als Illustration, die vom Autor anhand kartografischer Materialien und literarischer Quellen aus dem 18. und 19. Jahrhundert erstellt wurden. Diese dienen einem besseren Verständnis der von den deutschen Kolonisten eingeschlagenen Wege und ihrer kompakten Wohngebiete.
Möge der Leser bei der Beschreitung des Pfades der einzigartigen Geschichte der deutschen Kolonisten, die immenses Risiko, erstaunliche Kühnheit, harte Arbeit, verdiente Erfolgserlebnisse und tragische Ereignisse bereithält, für sich viele neue und interessante Informationen entdecken.
Jakob Maul
Kapitel 1.
Migrationsprozesse in Europa
und Deutschland im 18. Jahrhundert
1.1. Entstehung von Migrationstraditionen
Das Europa des 18. Jahrhunderts, so seltsam dies von unserem heutigen Standpunkt aus auch erscheinen mag, war relativ mobil und verfügte über ein stabiles Migrationssystem mit festen Migrationstraditionen. Auf seinem Territorium legten Migrantengruppen jedweder Art große Entfernungen zurück: Bauarbeiter und Schreiner, Architekten, landwirtschaftliche Arbeitskräfte, Künstler und umherziehende Schauspieler, die allesamt auf der Suche nach einer saisonalen oder festen Arbeit waren. Die Menschen verließen Regionen mit schnell wachsender und überschüssiger Bevölkerung, die von Dürre und jahrelangen Missernten geplagt waren, und zogen an Orte innerhalb und außerhalb des Landes, die in dieser Hinsicht angenehmere Bedingungen versprachen.
Genaue statistische Angaben über die Migrationsprozesse und sonstigen Prozesse, die Mitte des 18. Jahrhunderts abliefen, liegen uns heute nicht vor. Dieser Umstand lässt uns keine andere Möglichkeit, als uns auf veröffentlichte historische Auswertungen aus jener Zeit zu stützen. So führt Klaus J. Bade in seinem Buch „Europa in Bewegung“ Daten des Historikers J. Lucassen an, der die Befragungsbögen von ins Land einreisenden Migranten analysierte, die noch von Präfekten aus der Zeit Napoleons für den französischen Innenminister Graf de Montalivet ausgefüllt worden waren. Diese gehen zum Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts von etwa 20 Migrationssystemen in Europa aus, wovon sieben große Systeme darstellten, in denen jedes Jahr mehr als 300.000 Menschen 250 bis 300 Kilometer auf der Suche nach Arbeit zurücklegten und dabei zum Teil auch die Grenzen ihrer Staaten überquerten.1
Identische Migrationsströme fanden auch zwischen Händlern aller Art statt, die ständig oder nur in der landwirtschaftlichen Zwischensaison große Entfernungen zurücklegten, welche sie auf der Suche nach Absatzmöglichkeiten für ihre Waren und Dienstleistungen nicht selten auch in naheliegende Länder führten. Die Einwohner der deutschen Fürstentümer waren die wesentlichen Beteiligten an diesen Migrationsströmen. Besonders aktiv begannen diese sich gegen Mitte des 19. Jahrhunderts während der europäischen Transformation von einer Agrargesellschaft zu einer Industriegesellschaft und des schnellen Wachstums der kapitalistischen Wirtschaft zu entwickeln. So entstanden in Frankreich und insbesondere in Paris sogenannte „subproletarische“ deutsche Kolonien mit einer Bevölkerung von über 100.000 Menschen. Mit einem solchen Terminus wurde eine bestimmte Gruppe von Menschen bezeichnet, die weder über Grundbesitz noch über sonstiges Vermögen verfügten und in schlimmen sozialen und ökonomischen Verhältnissen lebten. Zu dieser Gruppe gehörte in der Regel die aus fremden Staaten zugewanderte Bevölkerung.
Der ständig wachsende Bedarf an Arbeitskräften für die sich rasch entwickelnden industriellen Zentren führte zu einer massenweisen Migration der Bevölkerung, welche sich aus ländlich geprägten Gebieten in die Städte und aus den Agrarstaaten in Staaten mit einer sich entwickelnden Industrie vollzog. Die Migration aus Ländern mit begrenzten Bodenressourcen und sehr hoher ländlicher Bevölkerung in wenig dicht besiedelte Länder, die über zu erschließende freie Ländereien verfügten, stach dabei besonders hervor. In dieser Zeit kam es zu einem wesentlichen Anstieg der Bevölkerung in Europa, die laut den Einschätzungen von Historikern und Demografen im 15. Jahrhundert etwa 80 bis 85 Millionen, im 16. Jahrhundert 100 bis 110 Millionen, im 17. Jahrhundert 110 bis 120 Millionen und im 18. Jahrhundert bereits 190 Millionen betrug. Anders verliefen diese Prozesse in Deutschland, welches im düsteren 17. Jahrhundert aufgrund von Klimaverschlechterungen, Hungersnot, Epidemien und infolge des Dreißigjährigen (1618 – 1648) und des Neunjährigen Krieges (1688 – 1697) durchschnittlich ein Drittel, in einzelnen Regionen gar bis zu zwei Drittel seiner Bevölkerung verloren hatte. Danach begann wie auch in Europa insgesamt der Prozess der landesweiten Restauration und des beschleunigten Bevölkerungswachstums. So erreichte die Gesamteinwohnerzahl innerhalb der Grenzen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation gegen Mitte des 18. Jahrhunderts wieder das Niveau aus der Anfangszeit des 17. Jahrhunderts, stieg weiterhin an und betrug 1700 21 Millionen, 1750 23 Millionen, 1790 25 Millionen und 1816 29,6 Millionen Menschen.3
Der Bevölkerungsanstieg in Deutschland wie auch in den Ländern Europas insgesamt geht auf eine sinkende Anzahl zerstörerischer Kriege und Massenepidemien, eine sinkende Kindersterblichkeit und auf eine Verbesserung der Ernährung und der hygienischen Bedingungen im Alltag der Bevölkerung zurück. Nachdem das Heilige Römische Reich 1806 zerfallen und 1815 der Deutsche Bund unabhängiger deutscher Staaten und freier Städte entstanden war, begann die zweite Phase des Bevölkerungsanstiegs, welcher sich ständig beschleunigte und in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts die Form einer demografischen Explosion annahm. Der bundesweite Bevölkerungsanstieg vollzog sich ungleichmäßig und hing von den Besonderheiten der Entwicklung des zum Bund gehörenden Österreichischen Kaiserreichs, seiner Königreiche (Preußen, Bayern, Württemberg, Sachsen, Hannover), zahlreicher Herzog- und Fürstentümer und von vier Städten (Frankfurt, Hamburg, Bremen und Lübeck) ab, die den Status von Stadtstaaten erhalten hatten. Die unterschiedlichen Entwicklungsvoraussetzungen und Geschwindigkeiten des Bevölkerungsanstiegs innerhalb des Bundes hatten eine bedeutende innere Migration und den Umzug großer Bevölkerungsmassen aus übervölkerten Orten in Gebiete mit geringerer Bevölkerungsdichte zur Folge.
Wie wir also sehen, hatten sich im 18. und 19. Jahrhundert in Deutschland und einer Reihe weiterer europäischer Staaten Bedingungen herausgebildet, bei denen ein wesentlicher Teil der Bevölkerung aktiv an verschiedenen Formen der inneren Migrationsprozesse beteiligt und somit bereits auf die Emigration in ferne unbekannte Länder vorbereitet war.
1.2. Populationskonzept und Kolonisationspolitik Preußens
Bereits in der Mitte des 17. und im darauffolgenden 18. Jahrhundertkam es zur Entwicklung und breiten Anerkennung der Bevölkerungstheorie, welche die Umsetzung einer Peuplierungspolitik vorsah. Ihr Wesen bestand in demografischen Maßnahmen, die auf die Besiedlung öder oder kaum besiedelter Gebiete durch Anwerben fremder Staatsangehöriger abzielte, denen verschiedene Privilegien und Freiheit versprochen wurden. Dabei ging man von der Annahme aus, die Umsetzung einer solchen Politik würde zum Bevölkerungswachstum, einer Verbesserung des Lebensstandards der gesamten Bevölkerung, erhöhten Steuereinnahmen und einer ökonomischen Entwicklung des gesamten Staates führen. Die Populationskonzepte waren sowohl unter Wissenschaftlern als auch unter Schriftstellern der damaligen Zeit weit verbreitet und bildeten später auch die Grundlage der realen Bevölkerungspolitik vieler Monarchen europäischer Staaten. Dies hatte in vielerlei Hinsicht mit den großen Bevölkerungsverlusten im Zuge zahlreicher europäischer Kriege zu tun, die mit religiöser Verfolgung, Hungersnöten, Epidemien und auch mit der Unterdrückung und unmenschlichen Lebensbedingungen des einfachen Volkes einhergingen.
Nicht zufällig führt die Mehrheit der Forscher Preußen und seinen König Friedrich II. (den Großen, 1712-1786) als Beispiel an, wenn es um die Peuplierungspolitik geht. Gerade in Preußen wurden die Konzepte dieser Theorie, deren praktische Umsetzung bereits früher und lange vor der Herrschaft Friedrichs II. begonnen hatte, vollständig und in riesigem Umfang umgesetzt. Die erste große Kolonisation Ostpreußens hatte sich bereits vor 1300 vollzogen, als der auf diesem Gebiet wohnende baltische Volksstamm der Preußen durch die Ritter des Deutschen Ordens assimiliert wurde. Diese warben dafür aktiv Deutsche, Skandinavier und Schweizer an und schritten auch nicht gegen die Übersiedlung von Franzosen, Polen, Russen, Tschechen und Litauern auf ihre Ländereien ein.
Nach den Bevölkerungsverlusten, die die Kriege des 15. Jahrhunderts verursacht hatten, wurde die Übersiedlung dieser Völker bereits stimuliert, und man ließ selbst die Ansiedlung von Flüchtlingen zu, die nie zuvor an die sie verfolgenden Staaten ausgeliefert worden waren. So kam es im Laufe der Jahrhunderte zur Bildung eines neuen Volkes, das nicht der Abstammung nach deutsch war, sondern durch die freiwillige Annahme des Glaubens, der Sprache, der Erziehung und der anerkannten Herrschaft. Die Rechte und Freiheiten dieses Volkes im Deutschen Ordensstaat waren zu jener Zeit beispiellos und nirgendwo sonst anzutreffen. Nach der Auflösung des Deutschen Ordens wurde Ostpreußen 1525 zum Zentrum des entstandenen Königreichs Preußen, welches sich durch eine gemischte Bevölkerung, freie Glaubensausübung und Toleranz gegenüber seinen Bewohnern, zu denen Protestanten, Katholiken, Calvinisten, Hussiten und Hugenotten zählten, von anderen Staaten unterschied. Diese Toleranz wurde später auch auf die Juden ausgeweitet. Preußen war damals progressiver und toleranter als sämtliche anderen bekannten Staaten. Mit Beginn des 18. Jahrhunderts nimmt die bis dahin weitgehend spontane Kolonisation planmäßigen Charakter an und wird zur grundlegenden Bevölkerungspolitik des preußischen Staates. Der Anfang einer solch planmäßigen Stimulierung der Immigration ist eng mit dem Namen des Urgroßvaters Friedrichs II., dem großen preußischen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1620-1688) verknüpft. Als Antwort auf den Erlass des französischen Königs Ludwig XIV. vom 18. Oktober 1685, welcher die Reformationskirche verbot und das Edikt von Nantes abschaffte, nach welchem die Hugenotten (Calvinisten) das Recht auf freie Religionsausübung hatten, veröffentlicht Friedrich Wilhelm genau 11 Tage später (am 29. Oktober 1685) sein Edikt von Potsdam. Er nutzt den Moment, um seine Glaubensbrüder, die in Frankreich wegen ihres Glaubens verfolgt werden, zur Übersiedlung nach Brandenburg einzuladen und gewährt ihnen umfangreiche Privilegien wie freie Glaubensausübung, das Recht auf freie Standortwahl, die Befreiung von Steuern und Zöllen, die Zuteilung von Ländereien und Baumaterialien, Subventionen für Unternehmen, die Bezahlung der Pastoren durch das Fürstentum u. a.
Dadurch gelang es Friedrich Wilhelm, der im Unterschied zur mehrheitlich protestantischen Bevölkerung Brandenburgs Calvinist war, nicht weniger als 20.000 französische Hugenotten zur Übersiedlung nach Brandenburg zu bewegen. Von diesen siedelten sich etwa 6.000 in Berlin an. Die neuen Siedler trugen wesentlich zur Belebung der brandenburgisch-preußischen Wirtschaft bei, da viele von ihnen Wissenschaftler, Lehrer, Bankkaufleute, Händler oder Handwerker waren und die Elite der Gesellschaft bildeten. Es kam zur Öffnung von Handelshäusern, neuen Fabriken und Gewerben und zur Entwicklung zahlreicher Strömungen in Kunst und Bildung. Das Vorgehen Friedrich Wilhelms hatte positiven Einfluss auf das Bevölkerungswachstum und führte zu einer Stärkung der staatlichen Wirtschaft.
Nach seinem Tod wird sein Sohn Friedrich III. (11.7.1657 — 25.2.1713) Kurfürst von Brandenburg. Dieser krönte sich 1701 selbst zum preußischen König und setzte die Politik der Immigration ins Land fort, wobei vor allem Hugenotten aus Frankreich und Calvinisten aus der Schweiz ins Land einreisten, die zu großen Teilen hochqualifi- zierte Handwerker waren. Während seiner Herrschaft wütete von 1709 bis 1711 eine Choleraepidemie, der 200.000 Menschen oder fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung Preußens zum Opfer fielen. Die in diesem Zusammenhang gesunkenen Steuereinnahmen und die maßlosen Ausgaben für den Unterhalt des königlichen Hofes führten dazu, dass die Staatsschulden nach dem Tod Friedrichs III. 20 Millionen Taler betrugen, was einem Zehntel der Gesamteinkünfte entsprach.4
Sein Sohn, der neue König Friedrich Wilhelm I. (14.8.1688 – 31.5.1740), in der Geschichte als „Soldatenkönig“ bekannt, begann seine Amtsgeschäfte mit Einsparungen und Kürzungen der Ausgaben für den Unterhalt des Hofes und einer starken Erhöhung der Aufwendungen für die Armee, welche nun ein Fünftel der gesamten Staatseinnahmen ausmachten.
In seiner Rolle als Asket zog er das Schlachtfeld und die Soldatenpritsche den königlichen Annehmlichkeiten vor und widmete all seine Gedanken und Taten der Stärkung der Armee, der Schaffung einer entsprechenden Finanzierungs- und Versorgungslogistik und ihrer zahlenmäßigen Vergrößerung. Dafür war er auf ein Wachstum der Bevölkerung, welche nach den Choleraepidemien zurückgegangen war, angewiesen. Er führt eine ganze Reihe wichtiger Reformen durch, welche auf eine aktive Peuplierungspolitik abzielen, sieht in den Menschen den größten Reichtum des Staates und siedelt in Ostpreußen zwischen 17.000 und 20.000 Protestanten aus Salzburg an, die aus religiösen Motiven zum Verlassen ihres Landes gezwungen waren. Nachdem Friedrich Wilhelm am 2. Februar 1732 die unter dem Namen „Preußisches Einladungspatent“ bekannte Einladung verkündet hatte, kamen die Protestanten vor dem Ende des Jahres 1733 auf dem Wasser- und dem Landweg in Königsberg an. Beachtung verdient auch die von ihm durchgeführte Austrocknung von Sumpfgebieten im Jahre 1732, auf denen er anschließend ein Zentrum zur Aufzucht und Vergrößerung einer Herde verschiedener Dragonerpferderassen schuf, und daneben die Einladung und Ansiedlung protestantischer Flüchtlinge aus Salzburg in der Nähe von Berlin.
Eine derart aktive Peuplierungspolitik ermöglichte es Friedrich Wilhelm I., seinem Sohn Friedrich II. ein blühendes Ostpreußen zu hinterlassen, welches erneut eine Bevölkerung von etwa 600.000 Menschen zahlreicher Nationalitäten hatte, die zu einem Viertel aus Emigranten bestand.4 Auch der Staatshaushalt war wieder gefüllt und die vom Vater hinterlassenen Schulden beglichen. Die Armee wurde hinter dem Russland, Österreichs und Frankreichs zur viertgrößten in Europa, wobei Preußen hinsichtlich seiner Fläche den 10. und hinsichtlich seiner Einwohnerzahl lediglich den 13. Platz belegte.5
Ihren höchsten Entwicklungsstand erreichte die Peuplierungspolitik in Preußen allerdings zur Regierungszeit Friedrichs II. (des Großen), der die Amtshandlungen seiner Vorgänger nicht nur fortsetzte, sondern auch auf andere Bereiche ausweitete und ihre grundlegenden Annahmen und ihre Anwendungspraxis weiterentwickelte. Seine Erfolge auf diesem Gebiet versuchten viele andere europäische Länder zu kopieren. Im Bemühen, möglichst viele ausländische Staatsbürger in seinen Staat zu locken, hielt er nicht nur an den von seinen Vorgängern gewährten Privilegien und Vergünstigungen für Kolonisten fest, sondern weitete sie auch auf andere Bereiche aus. Der Staat befreite die Kolonisten über drei Generationen hinweg vom Kriegsdienst und übernahm die Kosten für die Umsiedlung, die Bodenmelioration, den Hausbau, die Holzzuteilung usw. Er senkte die Steuern und weitere für die Übersiedler anfallende Zahlungen deutlich. Diese hatten nur ein Zehntel der gewöhnlichen Summe zu erbringen, die von der ansässigen Bevölkerung bezahlt werden musste. Allein zur Regierungszeit Friedrichs II. wurden etwa 25 Millionen Taler für die Kolonisation ausgegeben, was durchschnittlich zwischen 400 und 600 Talern pro Familie entsprach.6
Einen äußerst wichtigen Faktor für die Attraktivität seiner Peuplierungspolitik stellte die von ihm verkündete und für jene Zeit einzigartige Glaubenstoleranz dar, die von ihm verteidigt und materiell unterstützt wurde. Dies hatte mit der religiösen Intoleranz in vielen Ländern zu tun, welche deren Staatsbürger zur Emigration veranlasste, aber auch mit der Notwendigkeit, diese Staatsbürger im Rahmen der Integration in den durch ihn eroberten neuen Gebieten Schlesiens und Polens zu verteidigen, deren Bevölkerung größtenteils katholischen Glaubens war. Friedrich II. kontrollierte häufig persönlich, ob die wesentlichen Vorschriften und Projekte der preußischen Politik des Bevölkerungswachstums bestimmungsgemäß umgesetzt wurden. Er bemühte sich um die Entwicklung neuer oder schwach entwickelter Industriezweige im Land und forderte von seinen Beamten nicht einfach eine wachsende Anzahl von Immigranten, sondern Kolonisten, die über Wissen und Erfahrung in bestimmten Tätigkeitsbereichen verfügten und zur Entwicklung progressiver landwirtschaftlicher Anbaumethoden und der Industrie beitragen konnten. Zur Entwicklung der Milchwirtschaft wurden Kolonisten aus Holland eingeladen, Kolonisten aus der Pfalz für den Gartenbau und den Obstanbau, Kolonisten aus Württemberg für den Getreideanbau, Spinner und Weber wurden in Sachsen und Thüringen angeworben. Die ankommenden Übersiedler mussten auf freie Ländereien verteilt werden, wobei nicht nur öde und wenig besiedelte Landstriche zum Einsatz kamen, sondern auch Gebiete, die bereits durch Meliorationsmaßnahmen für die landwirtschaftliche Nutzung erschlossen worden waren. Eine wichtige Besonderheit der Peuplierungspolitik Friedrichs II. stellten zahlreiche Agrarprojekte dar, die die landwirtschaftliche Erschließung zuvor ungeeigneter Ländereien ermöglichten.
Das in diesem Rahmen größte Projekt war die Austrocknung von Sumpfgebieten im Oderbruch. Die Arbeiten daran stellten die zu jener Zeit größten und technisch erfolgreichsten Meliorationsmaßnahmen in Europa dar. Mit der Austrocknung der Sümpfe hatte bereits sein Vater Friedrich Wilhelm I. begonnen. Diesem war es gelungen, einen Teil der Ländereien auszutrocknen und sie für die Versorgung seiner Kavallerie mit Nahrungsmitteln nutzbar zu machen. Allerdings wurden diese Ländereien im Frühjahr ständig überschwemmt, und die schwierigen und kostspieligen Arbeitsmaßnahmen erlaubten es ihm nicht, diese zum Abschluss zu bringen. Friedrich II. war sich dessen bewusst und beauftragte 1740 den anerkannten Spezialisten Simon Leonard von Haerlem damit, eine neue Expertise durchzuführen und ein Konzept zur Trockenlegung der Sumpfgebiete an der Oder auszuarbeiten. 1747 wurde mit den von ihm geplanten Arbeitsmaßnahmen begonnen. Sie sahen die Absperrung zahlreicher Arme der Oder, die Errichtung von Dämmen und den Bau eines neuen Kanals vor, welcher das Flussbett verkürzen und die Fließgeschwindigkeit des Flusses erhöhen sollte. Dies ermöglichte die Austrocknung der entlang der Oder überschwemmten Ländereien. Trotz zahlreicher Verzögerungen, die u. a. auf den Widerstand der ansässigen Bevölkerung zurückzuführen waren, wurden die Projektarbeiten 1753 abgeschlossen. Die Umsetzung dieses Projektes ermöglichte die Trockenlegung von etwa 69.000 Hektar Sumpfgebiet, auf dem sich ungefähr 7.000 Kolonisten in 50 neu entstandenen Siedlungen niederließen.
Die Worte Friedrichs II., die er nach Abschluss dieses Projektes von sich gab, sind weit bekannt und wurden vielfach zitiert: „Hier habe ich im Frieden eine Provinz erobert“. Auf sämtlichen Ländereien, die im Zuge der Umsetzung zahlreicher Meliorationsmaßnahmen für die Landwirtschaft nutzbar gemacht worden waren, wurden angeworbene Übersiedler aus Polen, Sachsen, Mecklenburg, Thüringen, der Pfalz, aus Anhalt, Österreich und anderen Ländern angesiedelt. Während der Regierungszeit Friedrichs des Großen von 1740 bis 1786 wurden etwa 100.000 Hektar Sumpfgebiete und ungenutzte Ländereien erschlossen.7 In dieser Zeit kamen ungefähr 284.000 Übersiedler in Preußen an, von denen sich 208.600 in Dörfern und 75.000 in Städten niederließen. Sie machten 7,5 % der Gesamtbevölkerung Preußens aus, welche 1740 2,24 Millionen, und 1786 6 Millionen betrug.8Insgesamt siedelten von 1640 bis zum Ende der Regierungszeit Friedrichs II. mehr als 500.000 Kolonisten nach Preußen über und machten damals ein Zehntel der Bevölkerung aus. 9
Die Peuplierungspolitik Friedrichs II. beschränkte sich nicht auf Maßnahmen, die dem Bevölkerungswachstum dienten, sondern schloss auch ein System von Gesetzgebungsakten und entsprechenden Reformen im Bereich der Medizin, Bildung, Hygiene, Wirtschaft und Sozialpolitik ein, die zu jener Zeit überaus progressiv waren. Auf Friedrich den Großen folgte sein Neff e Friedrich Wilhelm II. (1744 –1797) als preußischer König. Dieser war für eine passive Peuplierungspolitik verantwortlich, die sich auf die Sicherung der zuvor von seinen Vorgängern erreichten Ergebnisse beschränkte. Allerdings wurden bereits während der Regierungszeit des darauffolgenden Königs Friedrich Wilhelm III. (1770 – 1840) erneute Anstrengungen zur Verlängerung der Kolonisationspolitik in Preußen unternommen, insbesondere in seinen südlichen Provinzen. Somit dauerte die aktive Peuplierungspolitik Preußens, die schon 1685 mit der Verkündung des Potsdamer Edikts durch den Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm begonnen hatte, ungefähr 150 Jahre lang, erstreckte sich über das 17., 18. und 19. Jahrhundert und endete mit der auf den deutschen Staatsgebieten einsetzenden Industrialisierung.
Dem Beispiel Preußens folgten im 18. Jahrhundert andere Länder Ost- und Südosteuropas, die ebenfalls mit der Durchführung einer aktiven demografischen Peuplierungspolitik begannen und damit ihre Bevölkerung durch fremde Staatsbürger zu vergrößern versuchten.
1.3. Wesentliche Strömungen der
Migration ins Ausland
An dieser Stelle beginnen wir mit der Untersuchung der wesentlichen Strömungen der Massenemigration deutscher Kolonisten und der ausschlaggebenden Motive, die eine derart schicksalsträchtige und riskante Entscheidung hunderttausender Menschen zur Folge hatten. Eine Entscheidung, die nicht nur für die ersten Übersiedler, sondern auch für deren Nachkommen in folgenden Generationen alles von Grund auf änderte. Die Bewohner der deutschen Ländereien begannen bereits im 17. Jahrhundert, ihre Heimat auf der Suche nach einem besseren Leben zu verlassen, ihre massenweise Emigration nimmt jedoch im 18. Jahrhundert ihren Anfang. In diesem stellen Südost- und Osteuropa bis zum Beginn des darauffolgenden Jahrhunderts die hauptsächlichen Auswanderungsziele dar, die nordamerikanische Strömung steht an zweiter Stelle. Zu jener Zeit waren hauptsächlich Ungarn und Russland Ziel der deutschen Kolonisten. Historiker gehen davon aus, dass sich zwischen 400.000 und 500.000 Menschen in dieser Richtung auf den Weg machten, während 100.000 deutsche Übersiedler die nordamerikanischen Länder als Emigrationsziel wählten.10
Mit Beginn des 19. Jahrhunderts ändert sich das Bild abrupt, denn von nun an dominiert die Emigration in jenseits des Ozeans gelegene Länder und insbesondere in die USA, welche in dieser Hinsicht weit vor Kanada lagen. Das Ausmaß der europäischen Emigration in Länder jenseits des Ozeans ruft Erstaunen hervor. Experteneinschätzungen zufolge kehrten in hundert Jahren massenweiser Emigration von 1824 bis 1924 etwa 52 Millionen Menschen Europa den Rücken. Von diesen ließen sich 37 Millionen in Nordamerika, elf Millionen in Südamerika und 3,5 Millionen in Australien und Neuseeland nieder.11
Die Auswanderer aus Deutschland waren Teil dieser europäischen Massenemigration. Bis 1820 waren etwa 150.000 Deutsche in Amerika gelandet, danach stieg ihre Anzahl sprunghaft an und von 1850 bis 1890 stellten die deutschen Emigranten bereits die größte nationale Gruppe der gesamten europäischen Emigration nach Amerika dar. Insgesamt machten sich im Zeitraum von 1820 bis 1928 5,9 Millionen deutsche Bürger auf den Weg ans jenseitige Ozeanufer. Von diesen ließen sich 89,8 % oder 5,3 Millionen in den USA, 200.000 in Brasilien, 145.000 in Kanada und 120.000 in Argentinien nieder.12
Die Historiker, die die deutsche Migration in Länder jenseits des Ozeans untersuchen, unterteilen diese in mehrere zeitlichen Phasen. Der Meinung der einen zufolge gab es zwei solcher Phasen, wobei die erste vom Anfang bis zum letzten Viertel des 18. Jahrhunderts dauerte und die zweite das gesamte 19. Jahrhundert und den Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs umfasst. Andere vertreten die Ansicht, die erste Phase habe zu Beginn des 17. Jahrhunderts begonnen, und fügen noch eine dritte Phase hinzu, die vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges bis in die Gegenwart dauert.
Wie dem auch sei, die deutsche Emigration in jenseits des Ozeans gelegene Länder dauerte etwa zwei Jahrhunderte und vollzog sich in Wellen. In bestimmten Zeiträumen kam sie zum Erliegen, danach nahm sie wieder an Fahrt auf und spiegelte die mannigfaltigen sozialen, ökonomischen, politischen, natürlichen und sonstigen Probleme des deutschen Staates und seiner Gesellschaft wider.
In den folgenden Kapiteln des vorliegenden Buches werden die wesentlichen Strömungen der Emigration deutscher Kolonisten ins Ausland detaillierter behandelt.
Kapitel 2.
Massenemigration nach Südosteuropa
2.1. Transsilvaniendeutsche
Die ersten deutschen Siedlungen in Ungarn und dem Karpatenbecken entstanden bereits im 9. Jahrhundert zur Zeit Karls des Großen. Diese Zeit wird allgemein als erste Epoche der deutschen Ostsiedlung bezeichnet. Die zweite Epoche erstreckt sich vom 11. bis ins 14. Jahrhundert. Die dritte Epoche der deutschen Übersiedlung nach Südosten vollzog sich im 17. und 18. Jahrhundert und ist unter der Bezeichnung „Große Schwabenzüge“ bekannt. Dabei sollte man nicht vergessen, dass hier vom historischen Ungarn die Rede ist, von welchem viele Regionen mit deutscher Besiedlung später an Österreich, Rumänien, Tschechien, die Slowakei und die Länder des früheren Jugoslawiens fielen. Vorab soll an dieser Stelle betont werden, dass die kompakten Wohngebiete der deutschen Übersiedler in historischer Hinsicht mehrfach von einem Staat an einen anderen fielen. Die im 9. Jahrhundert in Ungarn entstandenen ersten deutschen Siedlungen wurden zu Beginn des 10. Jahrhunderts durch Angriffe der Maritser und der Ungarn zerstört. Nachdem Fürst Stephan im Jahr 1000 den katholischen Glauben angenommen und den magyarischen Stammesbund in den ungarischen Staat verwandelt hatte, änderte sich die Einstellung gegenüber der Übersiedlung deutscher Staatsbürger, und man nahm diese mit offenen Armen auf. Erneut siedelten sich Ritter, Geistliche, Mönche und Bauern in großer Zahl als Gäste im Karpatenbecken an und spielten eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Christentums in Ungarn und für die Entstehung und Entwicklung des militärischen, politischen, kirchlichen und ökonomischen Umfelds des Landes.
Insbesondere die in großer Zahl stattfindende Übersiedlung der Deutschen, die die Bezeichnung „Transsilvaner Sachsen“ erhielten, nahm mit dem Aufruf des ungarischen Königs Geisa II. (1141 — 1161) zu Beginn des 12. Jahrhunderts ihren Anfang. Dieser rief die Deutschen dazu auf, sich niederzulassen, die öden Landstriche zu erschließen und ihre Grenzen gegen äußere Feinde zu verteidigen. Dabei setzte er große Hoffnungen auf die Kenntnisse der Übersiedler und ihre führende und effiziente Vorgehensweise im Handwerk, der Bodenbearbeitung und im Ackerbau, was letzten Endes zu höheren Steuereinnahmen führen musste. So kommt es gegen Mitte des 12. Jahrhunderts im Zuge der Ansiedlung der Transsilvaner Sachsen und der Zipser Sachsen in Ungarn zur Entstehung zweier großer und geschlossener deutscher Siedlungsgebiete, die die Bezeichnungen „Transsilvanien“ und „Zips“ erhielten. Dabei ist zu betonen, dass die Bezeichnung „Sachsen“ nicht die Herkunft der Neuankömmlinge widerspiegelt. Die Transsilvaniendeutschen kamen vom linken fränkischen Rhein- und Moselufer, und ihr Dialekt ist dem Dialekt der Einwohner Triers, Luxemburgs und der daran angrenzenden Regionen ähnlich. Die Übersiedlung der Deutschen nach Ungarn dauerte auch im darauf-folgenden Jahrhundert an. Die deutschen Siedlungen in Transsilvanien breiteten sich insgesamt bis zum 14. Jahrhundert aus, und dieser Prozess dauerte etwa 150 Jahre. Die deutschen Kolonisten nannten Transsilvanien Siebenbürgen, was auf sieben Burgen zurückgeht, die von ihnen auf dem Gebiet Transsilvaniens erbaut wurden.
1211 lud König Andreas II. (1205-1235) den Deutschen Ritterorden zur Verteidigung seiner Grenzen ein und siedelte ihn im südöstlichen Teil Transsilvaniens an. Dieser errichtete innerhalb kurzer Zeit ein mächtiges System aus Burgen und Festungen. Daneben lockte der König weitere deutsche Siedler an und ließ neue Siedlungen deutscher Kolonisten auf dem Territorium des Ordens im Gebiet Burzenland (Barcaság) gründen. Allerdings musste der Deutsche Ritterorden infolge seines Versuchs, die Region von Ungarn abzuspalten und einen eigenständigen Ordensstaat unter dem Schutz der Kirche auszurufen, das Land verlassen.
1224 garantierte Andreas II. in seinem Andreanischen Freibrief den deutschen Übersiedlern Rechte und Freiheiten, die später im 14. und 15. Jahrhundert auch auf weitere deutsche Siedlungen in Transsilvanien und 1486 auf die gesamte Bevölkerung der Transsilvaner Sachsen ausgeweitet wurden. Diese schlossen ein Dreinationenbündnis mit den Magyaren und den Szeklern und erhielten einen autonomen Status im Königreich Ungarn, den sie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wahren konnten. Sie wurden als eigenständige Nation anerkannt, erhielten über mehrere Jahrhunderte ihren eigenen Gesetzeskanon, das Recht, eigene Richter und Priester auszuwählen, und verfügten über ein eigenes oberstes Verwaltungs- und Rechtsprechungsorgan, welches die Bezeichnung „Sächsische Nationsuniversität“ erhielt. Dabei handelte es sich nach allgemeinem Verständnis um eine besondere und beispiellose Form der Selbstverwaltung, und die Rechte und Garantien der Bewohner Transsilvaniens befanden sich auf einem Niveau, welches von keiner anderen Bevölkerungsgruppe Osteuropas erreicht wurde.
Die darauffolgenden Jahrhunderte (14. und 15. Jahrhundert) waren durch eine rasante ökonomische Entwicklung der Städte und ländlichen Siedlungen der Sachsen in Transsilvanien gekennzeichnet. In diesem Zeitraum kam es zur wechselseitigen Bereicherung und Blüte der deutschen und ungarischen Kultur und Sprache und zu einer aktiven Entwicklung der Handelsbeziehungen mit den süddeutschen Städten. Im 16. Jahrhundert nahm die überwältigende Mehrheit der Deutschen den evangelisch-lutherischen Glauben an. Von da an wird Transsilvanien zu einem Hort des evangelischen Glaubens in Südosteuropa, was ebenfalls zu seiner politischen Eigenständigkeit beitrug. Ab dem 14. Jahrhundert entstanden die ersten Grundschulen in Transsilvanien, und im 16. Jahrhundert gab es bereits in jeder Dorfgemeinschaft eine Schule. 1541 wurde das erste Gymnasium in Südosteuropa gegründet, und 1722 wurde die allgemeine Schulpflicht für alle Bevölkerungsschichten eingeführt.1
Die noch vor dem Ende des 14. Jahrhunderts beginnenden Angriffe der Türken auf ungarische Städte gingen mit der Schlacht bei Mohatsch am 29. August 1526 zu Ende. Dabei erlitten die Truppen der
europäischen Koalition, in der sich Ungarn, Kroaten und Tschechen vereinigt hatten, eine vernichtende Niederlage gegen die Truppen des Osmanischen Reiches. Der daraufhin folgende Fall der Stadt Buda (Ofen) führte zum endgültigen Zerfall des Königreiches Ungarn. Es kam zur Gründung Türkisch-Ungarns, welches bis 1699 Bestand hatte. In dieser Zeit konnte Transsilvanien, obwohl es sich unter türkischer Schutzherrschaft befand und infolge der Kriege Zerstörungen, Epidemien und Hungersnöte erlitten hatte, über zwei Jahrhunderte hinweg seine Städte und Siedlungen erhalten und vor einer Besiedlung durch Menschen nicht-siebenbürgischer Abstammung bewahren.
Den mittelalterlichen deutschen Siedlungen in Zentralungarn wurde ein ganz anderes Schicksal zuteil. Sie verschwanden bereits im 16. Jahrhundert infolge ständiger Angriff e und Verwüstungen und auch aufgrund der zerstörerischen Agrarpolitik des Osmanischen Reiches von der Landkarte.
2.2. Donauschwaben
1683 erlitten die Türken eine vernichtende Niederlage gegen die vereinigten Truppen der Deutschen und Polen, die dem belagerten Wien zu Hilfe kamen. Nachdem sie den Großteil ihrer Streitkräfte, Artillerie und Nachschubkolonnen verloren hatten, zogen sich die Türken eilig zurück. Die im darauffolgenden Jahr auf Betreiben des Papstes gegründete „Heilige Liga“, zu der das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Polen und Venedig gehörten, ergriff die militärische Initiative und fügte dem Osmanischen Reich in vielen weiteren Schlachten eine Niederlage nach der anderen zu und befreite das gesamte Gebiet der Zentraldonau von den Türken. Im September 1686 wurde Buda befreit, im September 1688 Belgrad und 1691 Transsilvanien. Der daraufhin am 26. Januar 1699 geschlossene Frieden von Karlowitz besiegelte den endgültigen türkischen Verlust Ungarns, Transsilvaniens und Slawoniens und stellte den Beginn einer neuen Etappe der massenweisen Übersiedlung deutscher Kolonisten in verwüstete, öde und entvölkerte Landstriche dar, die sich über 160 Jahre (1552-1716) unter der Herrschaft des Osmanischen Reiches befunden hatten.
Auf Einladung der österreichischen Monarchen siedelten im Laufe des 18. Jahrhunderts etwa 200.000 deutsche Kolonisten in diese Regionen über und ließen sich in folgenden Regionen nieder: Banat (85.000), Batschka (35.000), Satmar (7.000), Syrmien-Slawonien (15.000), Schwäbische Türkei (30.000) und Mittelgebirge (35.000). Eine solche massenweise Übersiedlung deutscher Kolonisten führte zu einem sprunghaften Anstieg der ungarischen Bevölkerung und einer grundlegenden Änderung seiner nationalen Struktur. So stieg die Bevölkerung des Königreiches Ungarn vom Ende des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts von 3,5 auf 9,2 Millionen an, während der Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung 1,3 Millionen erreichte. Darüber hinaus sprachen noch 200.000 Juden Deutsch, die aus Galizien und den Karpaten hierher umgezogen waren.2
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts beschränkte sich das österreichische Königshaus der Habsburger im Wesentlichen auf die Umsiedlung deutscher Kolonisten auf das Privatgelände von Großgrundbesitzern. Erst später, ab dem Jahr 1718, wurden sie auch auf staatliche Ländereien umgesiedelt. Das hauptsächliche Siedlungsgebiet war das Banat, welches am Fuße der Karpaten zwischen den Flussläufen der Donau, der Theiß und der Maros liegt. Für die Banatdeutschen hat sich die Bezeichnung „Schwaben“ durchgesetzt – dies entspricht wie auch im Falle der Transsilvaner Sachsen nicht ihrem früheren Herkunftsgebiet, welches am linksseitigen Ufer der Pfalz, Hessens und Lothringens, aber auch in Schwaben, Bayern und Österreich liegt. So nahmen die in der Geschichte weit verbreiteten „Schwabenzüge“ ihren Anfang. Darunter versteht man drei große Übersiedlungsperioden deutscher Kolonisten, die jeweils nach dem zu dieser Zeit regierenden österreichischen König benannt wurden.
Der erste große Schwabenzug (der karolinische Schwabenzug) ist mit dem Namen des Königs Karl VI. (1685-1740) verknüpft. Er dauerte von 1722 bis 1726 und fand unter der Leitung von Claudius Florismund Graf von Mercy (1685-1740) statt. In seiner Funktion als erster Gouverneur der Stadt Temeschburg gründete er 50 Siedlungen deutscher Kolonisten im Banat, wobei zu jener Zeit nur katholischen Übersiedlern eine solche Möglichkeit eingeräumt wurde. Unter seiner unablässigen Führung und Aufsicht wurden die Planung und Umsetzung umfangreicher Meliorationsmaßnahmen zur Trockenlegung wilder Sumpfgebiete durchgeführt. So stellt der Bau des die Sumpfgebiete durchquerenden Entwässerungskanals der Bega eine der größten Errungenschaften der damaligen Zeit dar und ermöglichte die Entstehung neuer, fruchtbarer und für die Besiedlung geeigneter Ländereien auf den vormaligen Sümpfen. Graf von Mercy betrachtete die Maßnahmen im Zusammenhang mit der Trockenlegung der Sümpfe nicht nur vom ökonomischen Standpunkt der strategisch-wirtschaftlichen Entwicklung des Banates aus, sondern auch als notwendige Maßnahmen zur sanitären Gesundung der Kolonisten, die auf über Jahrtausende mit Sümpfen übersäten, über Jahrhunderte unbestellten und mit dichtem Gestrüpp überwuchertem Gelände angesiedelt wurden, welches gerade erst trockengelegt worden war.
Allerdings hielt das friedliche Leben der deutschen Kolonisten nicht lange an, denn schon zwei Jahrzehnte später brach der nächste Krieg (1736-1739) zwischen dem Osmanischen Reich und Russland aus, dessen Bündnispartner der österreichisch-habsburgische König des Heiligen Römischen Reiches war. Anfang 1738 waren die Truppen des österreichischen Königs nicht in der Lage, den Süden des Banat zu verteidigen, und gaben die Festungen Alt-Orsowa und Mehadia auf. Die Kolonisten waren den vorrückenden türkischen und serbischen Truppen, die sich auf die Seite der Türken geschlagen hatten und einen Großteil der deutschen Siedlungen entlang der Donau anzündeten und zerstörten, schutzlos ausgeliefert.
Nach Beendigung dieses Krieges wurden neue Versuche unternommen, deutsche Übersiedler zum Wiederaufbau der zerstörten Siedlungen und Befestigungsanlagen und zum Bau neuer Städte ins Land zu locken, was sich dieses Mal schwieriger als im Jahr 1722 gestaltete. Zu Beginn der 40er Jahre des 18. Jahrhunderts ließen sich in diesen Gebieten Rumänen und Serben aus Nordserbien nieder, die sich die erhaltenen deutschen Siedlungen zunutze machten. Nichtsdestotrotz kamen weiterhin deutsche Übersiedler im Banat an (wenngleich in überschaubarer Zahl) und ließen sich auf den vom Krieg verschonten Landstrichen nieder. Die Übersiedler erholten sich rasch vom Schock des Türkenkrieges und ihre Einwohnerzahl stieg u. a. aufgrund des natürlichen Bevölkerungswachstums schnell an und betrug um das Jahr 1754 ungefähr 25.000 Menschen.3
Der zweite große Schwabenzug begann nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges. Er vollzog sich während der Regierungszeit der österreichischen Königin Maria Theresia (1717-1780), dauerte von 1763 bis 1772 und erhielt die Bezeichnung „Theresianischer Schwabenzug“. Im Zuge der zweiten großen Umsiedlungswelle ins Banat wurden die bereits bestehenden Siedlungen ausgebaut und neue gegründet. Wie beim ersten Schwabenzug erhielten auch diesmal katholische Übersiedler den Vorzug. Um sie anzulocken, wurden wie zuvor Werber engagiert und in die deutschen Fürstentümer entsandt. Die Werber nahmen ihre Arbeit zunächst in den süddeutschen Regionen an der Grenze zu Österreich auf. Daher waren die ersten Übersiedler zu jener Zeit tatsächlich Schwaben. Im Laufe des zweiten Schwabenzuges wurden etwa 30 neue Siedlungen im Banat gegründet und 27 bestehende Siedlungen ausgebaut, in die ungefähr 50.000 deutsche Kolonisten übersiedelten.4 Deren überwiegende Mehrheit ließ sich auf trockengelegten ehemaligen Sumpfgebieten nieder, in deren Umgebung, wie bereits erwähnt, das Sumpffieber grassierte. Dieser Umstand zwang die Machthaber dazu, die Arbeiten zur Trockenlegung von Sumpfgebieten durch Rekonstruktion und Erweiterung des bereits zuvor von 1728 bis 1733 erbauten Begakanals wieder aufzunehmen. Zur selben Zeit siedelten sich im Banat unter der Leitung des österreichischen Königreiches aktiv Rumänen und Serben an, deren Anzahl die der deutschen Übersiedler um das Fünffache überstieg. Insgesamt hatte sich die Einwohnerzahl des Banats gegen Ende der Regierungszeit Maria Theresias verfünffacht und betrug ungefähr 450.000 Menschen.
Der dritte und letzte große Schwabenzug trägt die Bezeichnung „Josephinischer Schwabenzug“ und vollzog sich von 1781 bis 1787 während der Regierungszeit des Königs Joseph II. Er bestieg 1765 den Thron des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und regierte Ungarn zu Beginn gemeinsam mit seiner Mutter Maria Theresia und nach ihrem Tod im Jahr 1780 allein. Er war Zeitgenosse des preußischen Königs Friedrich II. und der russischen Zarin Katharina II. und wie diese ein Verfechter des aufgeklärten Absolutismus. Daher fand der dritte große Schwabenzug im Unterschied zu den beiden vorhergehenden Zügen ohne konfessionelle Einschränkungen statt. Neben den Katholiken waren zahlreiche Protestanten unter den Übersiedlern, die sich hauptsächlich auf den königlichen Ländereien in den Gebieten Batschka, Slawonien und im Banat niederließen. Insgesamt kamen in dieser Periode ungefähr 45.000 deutsche Kolonisten an und ließen sich in 14 neuen, zum Großteil jedoch in bereits bestehenden Siedlungen nieder.
Der nächste türkische Krieg in den Jahren 1788 und 1789 stellte eine neue Bedrohung für die sich rasant entwickelnde und blühende Region dar und brachte den ins Rollen gekommenen dritten großen Schwabenzug zum Stillstand. Die türkischen Truppen gelangten bis vor die Tore Temeschburgs und plünderten erneut 130 Siedlungen. Die deutschen Kolonisten stellten ihren Mut bei der Verteidigung ihrer Siedlungen heldenhaft unter Beweis. Bekannt ist der Fall des Schmieds
Jakob Johann Hennemann, der die türkischen Angriff e gemeinsam mit 75 treuen Mitstreitern abwehren und seine Stadt Werschetz und deren Bevölkerung so vor der Plünderung und dem Untergang bewahren konnte. Für den heldenhaften Mut, den er bewiesen hatte, wurde er von König Joseph II. zum Adligen ernannt.5
Innerhalb kurzer Zeit wurden die Städte und Siedlungen der Übersiedler, die durch den Ansturm der Türken zerstört und geplündert worden waren, erneut wiederaufgebaut und gelangten durch den eifrigen Einsatz der Kolonisten ein weiteres Mal zu Wohlstand und Reichtum. Die Übersiedlung deutscher Kolonisten nach Ungarn setzte sich auch in späteren Perioden fort, so etwa zur Regierungszeit der Könige Leopold II. und Franz I., welcher bis 1806 der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war und nach Ablegen dieses Titels bis zu seinem Tod der erste Kaiser Österreichs blieb. Die Zeiten der massenweisen Übersiedlung, der sogenannten großen Schwabenzüge, waren allerdings vorüber und gehörten der Vergangenheit an.
Die gesamte Besiedlungsperiode des Banats dauerte ungefähr 100 Jahre. In dieser Zeit kamen etwa 150.000 Kolonisten an, von denen sich 115.000 auf staatlichen Ländereien und 35.000 auf privatem Grundbesitz niederließen. Aufgrund des schnellen natürlichen Bevölkerungsanstiegs betrug die Gesamtbevölkerung des Banat 1840 bereits 1.082.550 Menschen. Davon waren 207.720 Deutsche, 566.230 Rumänen, 202.216 Serben, 59.342 Magyaren, daneben auch 10.112 Schokatzen (eine römisch-katholische ethnische Gruppe aus Nachkommen der ivakischen Kroaten und serbischen Flüchtlinge aus den Gebieten Bosnien-Herzegowinas), 12.000 Bulgaren, 6.150 Franzosen, 4.316 Juden, 2.830 Slowenen, 1.400 Kroaten und 800 Griechen. Zudem lebten noch 250.485 Menschen (davon 26.155 Deutsche) in den militarisierten Grenzgebieten Ungarns.6
Ungeachtet der bisweilen auftretenden Konflikte entstanden im Banat insgesamt tolerante, Nationalitäten übergreifende Beziehungen zwischen verschiedenen Völkern, die sich hier niedergelassen hatten. Die deutschen Kolonisten brachten ihre Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen in der Landwirtschaft, der Industrie und dem Bauwesen in ihren kompakten Siedlungsgebieten gewinnbringend ein, worauf sie mit der Zeit auch von anderen Völkern übernommen wurden.
2.3. Besonderheiten und Bedingungen der
Massenemigration nach Südosteuropa
Im 18. Jahrhundert schlugen die deutschen Kolonisten im Zuge ihrer Massenemigration auch andere Richtungen ein, besiedelten Ländereien in Nord- und Südamerika, den Provinzen Ostpreußens, der baltischen Herzogtümer, Polens und Südrusslands und machten diese nutzbar. Doch lediglich die Übersiedlung nach Südosten, bei der die ungarischen Ländereien besiedelt und erschlossen wurden, vollzog sich auf Einladung und unter der Leitung der österreichischen Monarchen auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Auch wenn diese Übersiedlung von einer zentralen Macht organisiert und finanziert wurde, was die Ausreise in vielerlei Hinsicht erleichterte, waren der Transport, die Unterbringung an den Siedlungsorten und ihre Bedingungen in verschiedenen Zeiträumen in hohem Maße unterschiedlich. Tabelle 1 unten zeigt die wesentlichen, für Kolonisten bei der Übersiedlung ins damalige Ungarn geltenden Bedingungen in verschiedenen Phasen des 17. Jahrhunderts. Dabei wurde auf die Daten historischer Quellen zugegriffen, die im Forum birda.de veröffentlicht sind und weiter oben in Kapitel 1 angeführt werden. 3-6
Tabelle 1
Ermäßigungen und Privilegien der deutschen Kolonisten zu Zeiten der massenweisen Übersiedlung deutscher Kolonisten im 18. Jahrhundert
Zeitraum der Übersiedlung | Wegzoll | Steuerermä-ßigungen | Zugeteiltes Land und Privilegien |
Karl VI. (1722-1726) | Verheiratete Erwachsene - 12 Kreuzer Unverheiratete Erwachsene – 6 Kreuzer Je Kind – 2 Kreuzer | 3 Jahre Befreiung von Steuerzahlungen. Nach 3 Jahren -12 Gulden Steuern. Nach 6 Jahren - 18 Gulden Steuern. Nach 12 Jahren - 24 Gulden Steuern. | 1 Joch - Hofgelände 24 Joch - Ackerland 6 Joch - Wiese Haus holz. Landwirtschaftliche Geräte. Haustiere. |
Maria Theresia (1763-1772) | Erwachsene – 6 Kreuzer Je Kind – 2 Kreuzer | 6 Jahre Steuerbefreiung | 1 Joch - Hofgelände 24 Joch - Ackerland 6 Joch - Wiese 6 Joch - Weidefläche Landwirtschaftliche Geräte. Haustiere. Haus holz. Vorauszahlung für den Hausbau. Später Hausbau auf Kosten des Staates |
Joseph II. (1781-1787) | Erwachsene – 6 Kreuzer Je Kind – 2 Kreuzer | 10 Jahre Steuerbefreiung | 32 Joch allgemeines Land und 4 Joch allgemeine Weidefläche. Landwirtschaftliche Geräte und Haustiere. Hausbau auf Kosten des Staates. |
1. Ein Joch entspricht ungefähr 0,57 ha
2. Ein Gulden entspricht 60 Kreuzern
Wie aus den Daten der Tabelle hervorgeht, wurden die Übersiedlungsbedingungen aus ökonomischer Perspektive mit jedem Folgezeitraum vorteilhafter und attraktiver: Wurden die Kolonisten zu Beginn des Jahrhunderts während der Regierungszeit Karls VI. über einen Zeitraum von drei Jahren und in der Mitte des Jahrhunderts während der Regierungszeit Maria Theresias über einen Zeitraum von sechs Jahren von der Steuerzahlung befreit, so waren sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts während der Regierungszeit Josephs II. 10 Jahre lang vollständig von der Steuerlast befreit. Genauso verbesserten sich auch die Finanzierungsbedingungen für den Wohnungsbau und die Bedingungen für den Erwerb von landwirtschaftlichem Inventar und Haustieren.
All das geschah nicht zufällig und infolge einer Laune der plötzlich gutmütig gewordenen österreichischen Monarchen, vielmehr ging die Verbesserung der Einladungs- und Siedlungsbedingungen für die Übersiedler auf eine ganze Reihe von Faktoren zurück. So war bereits Maria Theresia auf die Konkurrenz des preußischen Königs Friedrich II. und der russischen Zarin Katharina II. gestoßen, die sich ebenfalls aktiv um die Anwerbung und Übersiedlung deutscher Kolonisten in ihre Länder bemühten. Gerade aus diesem Grund sah sich Maria Theresia gezwungen, die Bedingungen für den Zuzug von Kolonisten zu verbessern. Für diese wurde der Zeitraum, in dem keine Steuern erhoben wurden, verdoppelt, daneben erhielten sie eine umfangreichere staatliche Unterstützung beim Bau ihrer Höfe und Wohnungen.
Dennoch blieben die Zahlen derer, die nach Ungarn übersiedelten, hinter den Erwartungen zurück, was insbesondere auf die religiösen Einschränkungen zurückzuführen war. Bekanntermaßen gab Maria Theresia durch ihre Bedingungen katholischen Übersiedlern den Vorzug, während Friedrich II. und Katharina II. Übersiedler unabhängig von deren Glaubenszugehörigkeit nach Preußen und Russland einluden. Dieser Fehler wurde später mit den Einladungsbedingungen von König Joseph II. aufgehoben. Dieser brachte 1781 einen speziellen Erlass (das Toleranzpatent) heraus, welcher alle Einschränkungen aufhob und den Protestanten den Umzug in katholische Länder der Habsburger-Dynastie gestattete.
Kapitel 3.
Deutsche Kolonisten in Russland
3.1. Geschichte der Beziehungen
Kontakte zwischen den Bewohnern deutscher Fürstentümer und der Kiewer Rus werden erstmals gegen Ende des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung erwähnt, und bereits im Mittelalter luden russische Monarchen fremde Staatsangehörige nach Russland ein. Diese wurden für den Kriegsdienst angestellt oder waren als Händler, Mediziner, Apotheker, Bauarbeiter und Meister verschiedener Gewerbe tätig. Sie ließen sich hauptsächlich in Moskau und später im 16., 17. und 18. Jahrhundert in Sankt Petersburg, Woronesch, Saratow und anderen Städten in den sogenannten „deutschen Vorstädten“ nieder.
Während der Regierungszeit Peters I. (des Großen, 30.5.1672 – 28.1.1725) brach für Russland ein neuer Entwicklungsabschnitt an. Die Veränderungen betrafen alle Bereiche des alltäglichen Lebens, die Armee wurde verstärkt und perfektioniert, die Handelsbeziehungen wurden verbessert, Werke und Fabriken wurden erbaut, die staatliche Verwaltung und die internationalen Beziehungen wurden optimiert und die ökonomische und kulturelle Rückständigkeit Russlands wurde überwunden. Dabei machte sich Peter I. die Erfahrung der westeuropäischen Länder und der dort ansässigen Spezialisten zunutze, die Russland durch die Möglichkeit anlockte, ihre Kenntnisse einbringen und schnell Karriere machen zu können. In seinem speziellen Manifest vom 16. April 1702 („Über die Ansiedlung von Ausländern in Russland beim Versprechen freier Religionsausübung“) versprach er den ausländischen Spezialisten einen hohen Lohn, gute Lebens- und Arbeitsbedingungen und freie Religionsausübung, verlangte jedoch auch nach Lehrlingen und der Ausbildung russischer Fachkräfte, die die ausländischen Spezialisten ersetzen sollten. Die Einladung Peters I. und seine Reformen führten zu einer erheblichen Intensivierung des Zustroms von Ausländern nach Russland. Bei diesen bildeten die Auswanderer zahlreicher deutscher Fürstentümer die Mehrheit. Für viele von ihnen wurde Russland zur zweiten Heimat, welcher sie selbst und ihre Nachkommen ergeben dienten, und zu deren Wohl sie ihr Wissen, ihre Seele und Erfahrung einbrachten. Bei allen Initiativen und Reformen Peters I. kamen ausländische Spezialisten zum Einsatz, die erheblichen Anteil an der Entwicklung und Optimierung des Staatsapparates, der Wissenschaft, Kunst, Architektur, Medizin, Wirtschaft, Armee, Flotte und der Kultur in Russland hatten.
Besonderes Augenmerk wurde auf die Entwicklung des Außenhandels gelegt. Den ausländischen Kaufleuten, die ins Land eingeladen wurden, wurden bestimmte Vergünstigungen gewährt. Unter den etwa 8.000 Ausländern, die zur Zeit Peters I. in Russland ankamen, waren etwa 500 Kaufleute, die Waffen, Metalle, Stoffe und andere Bedarfsgüter ein- und in Russland hergestellte Waren ausführten.1
Trotz der bedeutenden Zahl an Ausländern, die zur Zeit Peters I. nach Russland kamen, hatte ihre Übersiedlung noch keinen organisierten und planmäßigen Charakter. Sie ließen sich in der Regel in der Hauptstadt und anderen russischen Großstädten nieder.
3.2. Kolonisationsprojekte zur Zeit
von Zarin Elisabeth
Das Erscheinen deutscher Kolonisten in Russland im 18. Jahrhundert wird normalerweise mit dem Namen Katharinas II. (der Großen) in Verbindung gebracht, der deutschen Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst. Diese wuchs im Haus ihres Vaters, des Herzogs von Anhalt-Zerbst, auf, welcher unter Friedrich II. den Preußen diente. Durch diesen Umstand konnte sie sich bereits in jungen Jahren mit der Populationstheorie und ihrer praktischen Umsetzung in Preußen vertraut machen, und es ist wenig verwunderlich, dass sie zu einem aktiven Verfechter derselben wurde, als sie den russischen Thron bestieg.
Allerdings war sie nicht die erste, die diese Ideen in Russland verwirklichte. Schon zur Regierungszeit Elisabeths (Elisabeth Petrovna) gestattete die russische Regierung Auswanderern aus Serbien die Übersiedlung in die Ukraine und siedelte sie am rechten Dnjepr Ufer entlang der damals verlaufenden Grenze zu Polen an. Aus den 16.000 serbischen Siedlern, die sich an diesen Orten niedergelassen hatten, wurden ein Husaren- und ein Infanterieregiment gebildet. Diese hatten die Aufgabe, die russischen Grenzen zu schützen, und ihr kompaktes Siedlungsgebiet erhielt die Bezeichnung Neuserbien. In der Folge siedelten sich in Russland nochmals mehrere Tausend Serben an, denen Ländereien in der Provinz Bachmutsk am linken Flussufer des Severskij Donez, einem großen Zulauf des Don, zugewiesen wurden, und ihre Siedlungen erhielten die Bezeichnung Slawjanoserbien.2 Im Jahr 1764 gehörten diese Gebiete dem erneut geschaffenen Neurussischen Gouvernement an, seine Bewohner wurden als staatliche Bauern registriert, und die Offiziere erhielten den Adelstitel und Ländereien.
Die ersten Projekte im Zusammenhang mit der Einladung ausländischer Staatsangehöriger nach Russland, die die Kolonisation öder Landstriche zum Ziel hatten, wurden ebenfalls noch zur Regierungszeit Elisabeths ausgearbeitet. Die russische Regierung, die sich unter dem Eindruck der erfolgreichen Peuplierungspolitik Preußens befand, setzte sich intensiv mit dem Projekt von Francois de Lafont auseinander, der vorgeschlagen hatte, die noch in Frankreich verbliebenen Protestanten nach Russland umzusiedeln. In seinem Projekt schlug er vor, dem Beispiel des preußischen Königs zu folgen und eine Einladung in Form eines Manifests der russischen Kaiserin unter Angabe der für Übersiedler geltenden Rechte und Privilegien in französischen Zeitungen zu veröffentlichen. Man schlug vor, die Franzosen in der Ukraine entlang des Dnjepr oder an den Wolgaufern und in der Nähe Moskaus anzusiedeln. Das Projekt sah vor, dass die russische Regierung den Übersiedlern die freie Religionsausübung und eine 15-jährige Befreiung von Steuern und Abgaben zusichern, die Kosten des Umzugs und der für die Betriebseröffnung notwendigen Materialien, Gerätschaften, Tiere und Werkzeuge übernehmen, den Nachkommen das Recht auf den Besitz der Ländereien und die freie Ausreise aus dem Land gewähren und den Fabrikbesitzern verschiedene Vergünstigungen garantieren sollte, zu denen auch das Recht auf russische Bauern als Leibeigene gehörte.
Das Projekt wurde vom Kollegium für Auslandsangelegenheiten geprüft, welches zwar einzelne Vergünstigungen einschränkte, dabei jedoch die Steuerbefreiung auf 20 Jahre ausweitete und der Übergabe von Bauern als Leibeigene zustimmte. Die Instruktion, anhand derer Franzosen für den Umzug nach Russland angeworben werden sollten, wurde bestätigt, in den Küstenstädten wurden Sammelpunkte eingerichtet und die Bedingungen und das Verfahren für den Transport der Übersiedler festgelegt. Nachdem das Kollegium für Auslandsangelegenheiten alle Bedingungen und das Anwerbe-, Transport- und Ansiedlungsverfahren der Franzosen in Russland in einem Sonderbericht dargelegt hatte, schickte es diesen am 14. Januar 1753 an Kanzler Bestuschew-Rjumin, der es der Kaiserin zur Bestätigung überreichen sollte. Dies hatte allerdings keine Resolution der Kaiserin zur Folge, erst im darauffolgenden Jahr ordnete sie mündlich die Übergabe des Berichts an den Senat an. Diesem wurde das Recht eingeräumt, zu allen Fragen, die den Siedlungsort und die den Übersiedlern zugesprochenen Vergünstigungen betrafen, eine Lösung zu finden.
Die extrem langsame Senatsarbeit und der Ausbruch des Siebenjährigen Krieges verhinderten letztendlich eine Bestätigung des Projekts von De Lafont. Ein nicht weniger trauriges Schicksal wurde auch dem Projekt des sächsischen Generals Weißbach zuteil, welcher vorgeschlagen hatte, sich die durch unzählige Kriegsquartiere, die Einberufung von Rekruten und die harten Strafen Friedrichs II. im Zuge des Siebenjährigen Krieges entstandene Emigration aus Preußen in angrenzende polnische Gebiete zunutze zu machen. Die aus Pommern, Preußen und Schlesien stammenden Flüchtlinge, die mehrheitlich Protestanten waren, erhielten nicht nur keinerlei Unterstützung von der polnischen Regierung, sondern wurden auch von der katholischen Kirche unterdrückt. Weißbach wollte mit seinem Projekt insbesondere die militärische Macht Friedrichs II. schwächen und die massenweise Desertation aus seiner Armee noch weiter verstärken. Er schlug vor, die deutschen Flüchtlinge in Südrussland anzusiedeln und ihnen eine ganze Reihe von Vergünstigungen und Privilegien zu gewähren.3
3.3. Kolonisationspolitik und Manifeste
Katharinas der Großen
Wir sehen also, dass die Frage, wie ausländische Staatsangehörige zur Eroberung öder und zurückeroberter russischer Gebiete angelockt werden sollten, zur Zeit Elisabets von der russischen Regierung bereits untersucht und im Hinblick auf das Treffen praktischer Entscheidungen Vorbereitungsmaßnahmen getroffen worden waren. Anhand dieser umfangreichen Vorbereitungsmaßnahmen lässt sich auch erklären, weshalb Katharina II. ihr erstes Manifest vom 04. Dezember 1762 innerhalb kurzer Zeit verabschiedete – es wurde nämlich lediglich fünf Monate nach ihrer Krönung am 28. Juni 1762 veröffentlicht. Dieses Dokument lud Ausländer verschiedener Nationalitäten (Juden ausgenommen) dazu ein, sich in Russland anzusiedeln, und gestatteten Flüchtlingen die Rückkehr in ihre Heimat, die sie zuvor aus verschiedenen Gründen verlassen hatten. Mit ihrem Manifest setzte Katharina II. die Projekte fort, die bereits unter Elisabeth Petrovna begonnen worden waren, ihr Schwerpunkt lag dabei jedoch nicht mehr in der Schaffung neuer Fabriken und Manufakturen in den Städten, sondern in der Entwicklung des Ackerbaus und der damit verbundenen Gewerbe. Obwohl das Manifest in verschiedenen Sprachen gedruckt und in den Ländern Europas verteilt wurde, zog es keine praktischen Folgen nach sich. Dies hatte damit zu tun, dass es keine konkreten Bedingungen und Vergünstigungen für Übersiedler enthielt.
Eine solche Reaktion auf das erste Manifest Katharinas II. stellt einen sehr wichtigen Punkt dar, der klar aufzeigt, dass in der europäischen Bevölkerung zu jener Zeit keine potenziellen Migranten existierten, die ohne wesentliche und genau definierte Bedingungen, Vergünstigungen und Garantien dazu bereit waren, in andere Länder wie Russland überzusiedeln.
Darüber war sich auch die russische Regierung im Klaren, weshalb sie aktiv an der Vorbereitung eines neuen, grundlegenden Dokuments arbeitete. Dieses stellte schließlich das weit bekannte Manifest Katharinas II. vom 22. Juli 1763 dar: „Über die allen nach Russland einreisenden Ausländern erteilte Erlaubnis, sich in Gouvernements ihrer Wahl niederzulassen, und über die ihnen gewährten Rechte“. Am selben Tag wurden von ihr der „Erlass an den regierenden Senat über die Einrichtung einer Vormundschaftskanzlei für Ausländer“ und die „Instruktion der Vormundschaftskanzlei für Ausländer hinsichtlich ihrer Pflichten bei der Organisation der Aufnahme ausländischer Übersiedler in Russland“.4
Zum Präsidenten der Kanzlei wurde Graf Orlow ernannt, der von diesem Moment an sämtliche Vollmachten erhielt, welche für die Aufnahme und Ansiedlung der Ausländer und die praktische Lösung aller Fragen notwendig waren, die mit der Verwaltung, Finanzierung und Entwicklung der Kolonisten Siedlungen zusammenhingen. Dabei ist anzumerken, dass die im Manifest aufgelisteten Vergünstigungen und Privilegien keine prinzipielle Neuerung der damals in Europa vorherrschenden Kolonisationspolitik darstellten und in vielerlei Hinsicht aus entsprechenden Dokumenten Preußens, Dänemarks, Österreichs und Englands übernommen wurden, welche bereits unter Elisabeth Petrovna untersucht worden waren. Allerdings waren sie für potenzielle europäische Übersiedler vorteilhafter und attraktiver und wurden zu einer äußerst wichtigen Grundlage der gesamten russischen Kolonisationspolitik im 18. und 19. Jahrhundert.
Bereits in den ersten Zeilen des Manifests Katharinas II. aus dem Jahr 1763 ist von einer nicht geringen Anzahl „unbebaut liegender“ und ungenutzter Ländereien innerhalb des Imperiums die Rede, die „mit vorteilhafter Bequemlichkeit zur Bevölkerung und Bewohnung des menschlichen Geschlechtes nutzbarlichst könnten angewendet werden“. Diese „halten in ihrem Schoose einen unerschöpflichen Reichtum an allerley kostbaren Erzen und Metallen verborgen; und weil selbiger mit Holzungen, Flüssen, Seen und zur Handlung gelegenen Meerung gnugsam versehen, so sind sie auch ungemein bequem zur Beförderung und Vermehrung vielerley Manufacturen, Fabriken und zu verschiedenen Anlagen.“ Damit wird die allen ausländischen Staatsangehörigen erteilte kaiserliche Erlaubnis begründet, frei ins Land einreisen und sich in allen Gouvernements des Russischen Imperiums niederlassen zu dürfen.
In den ersten fünf Paragrafen des Manifests werden die für Ausländer geltende freie Einreise, die Vorgehensweise und die bei entsprechendem Ersuchen zu durchlaufenden Instanzen, die Bezahlung der Umzugskosten im Falle fehlender finanzieller Mittel, das Recht auf freie Berufs- und Standortwahl, die verpflichtende Annahme der russischen Staatsangehörigkeit und die Leistung des Treueschwurs auf die Kaiserin verkündet, die folgenden Paragrafen verkünden die für Übersiedler geltenden Privilegien und Vergünstigungen. Deren Darstellung beginnt mit dem für die Mehrheit der Ausländer äußerst wichtigen Recht auf freie Religionsausübung, welches in den meisten Fällen den Ausschlag für die Entscheidung zur Emigration gegeben hatte. Das Manifest gestattete nicht nur die „freie Religions-Übung nach Kirchen-Satzungen und Gebräuchen“, es erteilte auch „die Freyheit, Kirchen und Glocken-Türme zu bauen und dabey nöthige Anzahl Priester und Kirchendiener zu unterhalten“. Der Bau von Klöstern war hingegen nicht erlaubt, daneben war es unter Androhung der Strenge der Gesetze verboten, andere russische Staatsangehörige zum eigenen Glauben zu bekehren, wovon „dem Mahometanischen Glauben zugethane Nationen“, die an den Grenzen des Imperiums lebten, ausdrücklich ausgenommen waren.
Die Ausländer, die sich in Russland niedergelassen hatten, wurden von sämtlichen Abgaben und Steuerzahlungen, der Übernahme außerordentlicher Dienste und von Unterhaltsleistungen an Militärquartiere befreit. Dies galt an den Siedlungsorten der Kolonisten für einen Zeitraum von 30 Jahren, in Sankt Petersburg, Moskau und den Städten Livlands, Estlands, des Ingermanlands, Kareliens und Finnlands für einen Zeitraum von fünf Jahren und in Provinzstädten und sonstigen Städten für einen Zeitraum von 10 Jahren.
Allen, die „Manufacturen, Fabriken und Anlagen“ errichten wollten oder „zum Kornbau“ geneigt waren, wurden nötige Hilfsleistungen und Unterstützung zugesagt. Für den Hausbau, die Viehaufzucht und die Anschaffung von Produktionsmaterialen, Produktionsgeräten und Werkzeugen wurden benötigte Kredite zinsfrei zur Verfügung gestellt. Diese mussten nach Ablauf von zehn Jahren in drei gleichen Teilen innerhalb von drei Jahren zurückgezahlt werden. Den Übersiedlern wurde gestattet, Eigentum für den Eigenbedarf zollfrei nach Russland einzuführen, darüber hinaus war auch die Einfuhr von Waren, die für den Verkauf bestimmt waren, im Wert von maximal 300 Rubel pro Familie erlaubt. Dabei waren im Falle einer erneuten Ausreise innerhalb von weniger als zehn Jahren sowohl die Einfuhr- als auch die Ausfuhrzölle zur Zahlung fällig. Die Mehrheit der Übersiedler war arm und verfügte über keinerlei Mittel für die abgabenfreie Wareneinfuhr. Dies machten sich recht häufig „private Werber“ zunutze, die ihre Waren mithilfe der Übersiedler für den Weiterverkauf abwickelten.
Alle Ausländer, die in den Grenzstädten ankamen, hatten die Möglichkeit, kostenfrei an die Siedlungsorte weiterzureisen, wobei ihnen Geld für Nahrungsmittel, Fuhren und sonstige Fortbewegungsmittel zur Verfügung gestellt wurde. An den kompakten Siedlungsorten der Übersiedler wurden ihnen interne Selbstverwaltung und Rechtsprechung, die Veranstaltung eigener Gottesdienste und die Organisation von Märkten und Jahrmärkten gestattet, „ohne an Unsere Cassa die geringsten Abgaben oder Zoll zu erlegen“.
Eines der wichtigsten Stimuli für die Übersiedlung nach Russland stellte die dauerhafte Befreiung der Übersiedler vom Kriegsdienst und jeder sonstigen Form ziviler Dienste unter Ausnahme des Landdienstes dar, welcher nach Ablauf der privilegierten Jahre geleistet werden musste. Dieser Punkt des Manifests war von besonderer Bedeutung für die Mennoniten, deren Religion den Kriegsdienst und das Halten einer Waffe untersagte. Wer jedoch freiwillig Kriegsdienst leisten wollte, dem wurden 30 Rubel als zusätzliches Honorar ausbezahlt.
Ausländern, die Werke und Fabriken erbauten und Waren herstellen ließen, die in Russland zuvor nicht existierten, wurde das Recht eingeräumt, diese zehn Jahre lang ohne „Erlegung irgend einigen inländischen See- oder Gränze-Zolles frey zu verkaufen“.
Es wurde verkündet, dass nicht nur die angekommenen Ausländer selbst, sondern auch ihre bereits in Russland geborenen Kinder und Nachkommen die gewährten Privilegien und Vergünstigungen in Anspruch nehmen dürfen. Nach Ablauf der privilegierten Jahre, die vom Einreisezeitpunkt der Vorfahren an gezählt wurden, waren alle in Russland ansässigen Ausländer „gleich Unsern anderen Unterthanen“ zur Zahlung gewöhnlicher Abgaben und zur Leistung des Landdienstes verpflichtet.
Das Manifest garantierte allen Übersiedlern, die die russische Staatsangehörigkeit angenommen und von einem bis zu fünf Jahren im Land gelebt hatten, das Recht auf freie Ausreise unter der Bedingung, dass sie den fünften Teil ihres erwirtschafteten Vermögens an die Staatskasse zu entrichten hatten, während diejenigen, die von fünf bis zehn Jahren im Land gelebt hatten, den zehnten Teil ihres erwirtschafteten Vermögens entrichten mussten. Danach war es „jedem erlaubt ungehindert zu reisen, wohin es ihm gefällt“.
Ein Register mit der Beschreibung freier und für die Übersiedlung geeigneter Ländereien in den Gouvernements Tobolsk, Astrachan, Orenburg und Belgorod bildete den Abschluss des Manifests.
Das Manifest des Jahres 1763 wurde zu einem epochalen Ereignis und war in vielerlei Hinsicht für den Erfolg und Charakter der gesamten russischen Kolonisationspolitik maßgeblich, welche ein ganzes Jahrhundert lang dauerte. Dennoch wurden nicht alle Bedingungen des Manifests erfüllt. Es fing damit an, dass nahezu alle Kolonisten der Anfangszeit trotz der zugesicherten freien Fortbewegung und freien Wahl des Siedlungsortes gezwungen waren, sich ins Wolgagebiet aufzumachen und sich dort niederzulassen. Dort sahen sie sich mit der Aufgabe konfrontiert, neue Landstriche zu erschließen und auf unbewohntem Terrain landwirtschaftliche Kolonien aufzubauen. Wie bereits zuvor erwähnt, waren jedoch nicht alle Übersiedler Bauern, und sie hatten damit gerechnet, wie versprochen einen Beruf in ihrem Fachgebiet ausüben zu können.
Die Anzahl der Kolonien, das Verfahren bei der Ansiedlung der Kolonisten und die jeweilige Größe ihrer individuellen Grundstücke waren im Kolonialgesetz verankert, das am 19. März 1764 als Anlage zum Manifest herausgegeben wurde.5 Das Gesetz schrieb folgende Punkte vor: a) Zuteilung von Land für jeweils 1000 Familien, dessen Fläche einem Kreis mit einem Durchmesser von 60 bis 70 Werst entspricht* (ein Werst entspricht 1,067 Km); b) Gründung von jeweils 52 Kolonien am rechts- und linksseitigen Wolgaufer; c) Zuteilung von 30 Deßjatinen Land für jede Einzelfamilie. Dieses Land wurde ihr für immer als unantastbares und vererbbares Eigentum übergeben. Dabei blieb es jedoch Allgemeineigentum, das weder verkauft, geteilt noch verpachtet werden durfte. Von den jeder Familie zugeteilten 30 Deßjatinen entfielen 15 auf die Ackerfläche, fünf auf Wiesen- und Weideflächen, fünf auf den Hof und das angrenzende Grundstück und die restlichen fünf Deßjatinen waren Wälder.
Der Hof wurde dem jüngsten Sohn vererbt, falls dieser jedoch nicht geschäftsfähig war, fiel das Erbrecht an den zweitjüngsten Sohn oder einen anderen Verwandten. Das Familienoberhaupt war dazu verpflichtet, die übrigen Kinder, denen kein Hof vererbt wurde, in einem beliebigen Handwerk auszubilden. In den Kolonien wurde eine gemeinsame Selbstverwaltung eingerichtet, deren Gesetze und Anordnungen für jeden Kolonisten verpflichtend waren.
Die russische Regierung arbeitete aktiv daran, die Erlasse Katharinas II. umzusetzen, ihre Manifeste der Jahre 1762 und 1763 wurden in englischen, dänischen, schottischen und irischen Zeitungen und auch in Holland für französische und deutsche Zeitungen abgedruckt. Das erste Manifest wurde zudem auch in österreichischen und schwedischen Zeitungen gedruckt, und das zweite konnte sogar in Form einer separaten Beilage zu den deutschen Versandzeitungen in deutscher Sprache herausgegeben werden.6
Mit dem Anwerben deutscher Kolonisten wurde ein ganzer Apparat russischer Gesandter und Residenten betraut, die die Einladung der russischen Zarin an den zahlreichen großen und kleinen Höfen der deutschen Fürstentümer verteilten. In ganz Deutschland wurden spezielle Kommissare ernannt, deren Aufgabe im Anwerben deutscher Bürger und der Organisation ihres Transports an die Sammelpunkte lag. Für das Großprojekt, mit dem deutschen Kolonisten nach Russland gelockt werden sollten, standen umfangreiche finanzielle Fördergelder bereit. Dennoch entsprachen die Ergebnisse der Arbeit der russischen Regierungsvertreter gegen Ende des Jahres 1764 nicht den Erwartungen, die Zahl der angeworbenen Kolonisten lag weit unter den Planzahlen. Um die Sachlage erfreulicher zu gestalten, wurden weitere Maßnahmen ergriffen. Ab dem Jahr 1765 traf man den Entschluss, die Agitation und Überzeugungsarbeit der potenziellen Übersiedler nicht nur staatlichen Beamten zu überlassen, sondern auch Privatunternehmer damit zu betrauen. Die russische Regierung schloss Verträge mit den privaten Werbern, aus denen ein Interesse am Anwerben einer möglichst großen Anzahl von Kolonisten hervorging, da das Honorar und bestimmte Rechte auf die Zuteilung von Ländereien an ihrem Siedlungsort davon abhingen. Man ging davon aus, dass ausländische Werber großes Vertrauen bei potenziellen Auswanderern genießen, darum waren die Werber mehrheitlich Franzosen mit Namen wie Le Roh, Munni, Pictet, Baron Beauregard, Precour und De Boffe.
Der Vertrag zwischen der russischen Regierung und Baron Beauregard wird im bekannten Buch Pisarevskijs als Beispiel angeführt. Dies bietet uns heute die Möglichkeit, nicht nur das Honorar und die Vergünstigungen der privaten Werber detailliert unter die Lupe zu nehmen, sondern auch Einblick in wichtige Daten zu den durch das Anwerben und den darauffolgenden Transport eines Kolonisten anfallenden Ausgaben zu erhalten. Um seine Tätigkeit aufnehmen zu können, erhielt Baron Beauregard 15.000 Rubel, mit denen er 300 Kolonisten Familien anwerben sollte. Von den 50 Rubel, die auf eine Familie entfielen, waren 40 Rubel für Nahrungsmittel und sonstige Bedürfnisse während der Reise und zehn Rubel für die Transportkosten vom jeweiligen Wohnort nach Hamburg oder Lübeck geplant.
Überstiegen die tatsächlichen Ausgaben diese vertraglich vereinbarten Summen, so wurden die Zusatzausgaben von den Kolonisten selbst nach Abschluss der gesamten Übersiedlung erstattet. Die für den Seeweg der Kolonisten aus den Hafenstädten Hamburg oder Lübeck anfallenden Transportkosten wurden von Regierungskommissaren bezahlt, die sich in diesen Städten aufhielten, und von diesem Moment an übernahm die russische Regierung alle Ausgaben und die Verantwortung für den Transport der Kolonisten an die Siedlungsorte in Russland.
Um sein Unternehmen vor Ort ansiedeln zu können, erhielt der Baron vom Staat 4000 Rubel als zinsloses zehnjähriges Darlehen und jeweils 350 Rubel für 100 Übersiedlerfamilien, mit denen der Hausbau finanziert werden sollte. Dabei waren die Kosten für Baumaterialien nicht in dieser Summe inbegriffen – diese wurden komplett von der Regierung übernommen. Es bleibt anzumerken, dass dem Baron für dessen Tätigkeit keine festgelegte Summe direkt ausbezahlt wurde, und auch die Hoffnung, an den oben genannten Auszahlungen der Regierung für die Übersiedlung der Kolonisten etwas einzusparen, war eher gering. Laut Vertrag erhielt er lediglich nach Abschluss der Übersiedlung eine Prämie für seine Tätigkeit. Ihm stand Land mit einer Fläche von mindestens drei Prozent der Fläche zu, die jeder von ihm angeworbenen Familie zugeteilt wurde. Er hatte das Recht, Arbeitskräfte zur Bearbeitung dieses Landes anzuwerben, denen dasselbe Land zugeteilt wurde wie den übrigen Kolonisten, die sich dabei jedoch als Hilfsarbeiter zur Bearbeitung seines Landes verpflichteten. Außerdem erhielt er das Jagdrecht und das Recht auf Fischfang auf dem Gebiet der von ihm angesiedelten Kolonisten und durfte mit ihnen bestimmte Privatverträge abschließen, die ihm eventuell zusätzliche Vorteile verschafften. Die Regierung machte es zur Bedingung, dass Privatverträge den russischen Gesandten in Deutschland vorgelegt werden mussten. Diese waren dazu verpflichtet, sie zu bestätigen und darauf zu achten, dass den Kolonisten in solchen Verträgen keine Möglichkeiten und Rechte versprochen wurden, die über das hinausgingen, was das Manifest vorsah.
Neben der Arbeit privater Werber setzten auch Vertreter des russischen Staates ihre Tätigkeit fort. Alle in diesem Zusammenhang anfallenden Koordinations- und Organisationsaufgaben wurden von Johann Simolin geleitet, einem russischen Gesandten am Regensburger Reichstag. Dieser beauftragte zwei seiner Kommissare mit dem Anwerben deutscher Kolonisten. Der erste war Karl Friedrich Meixner aus Augsburg, der zweite Johann Facius aus Hanau. Sie hatten der russischen Regierung die Treue geschworen und in Russland den Beamtenstatus erlangt. Meixner eröffnete seine Büros, in denen Kolonisten angeworben werden sollten, in Ulm, Facius in Frankfurt am Main, und die Büros wurden offiziell als städtische Behörden anerkannt.
Im Unterschied zu den privaten Werbern erhielten die Kommissare eine feste Bezahlung in Höhe von 400 bis 500 Rubel. Die staatlichen Werber nutzten die Dienste einer großen Anzahl privater Agenten, die für jede angeworbene Familie eine Prämie von drei bis vier Dukaten erhielten oder je nach Vereinbarung für die Anreise einer bestimmten Anzahl von Kolonisten Familien bezahlt wurden. Die staatlichen Kommissare waren dazu verpflichtet, finanzielle Rechenschaftsberichte anzufertigen und sämtliche durch das Anwerben und den Transport angefallenen Kosten durch entsprechende Quittungen und Dokumente zu belegen.
Eine derart aktive, zweidimensionale Vorgehensweise beim Anwerben führte sehr rasch zu den benötigten Resultaten. Die Anzahl deutscher Staatsbürger, die nach Russland umziehen wollten, wuchs auf ungefähr 25.000 Menschen an. Dabei bleibt festzustellen, dass die schlechten Lebensbedingungen dieser Leute im damaligen Deutschland eine nicht unwesentliche Rolle bei der Tatsache spielten, dass eine so große Anzahl deutscher Staatsbürger sich für das Verlassen des eigenen Landes entschied. Daher war der Zeitpunkt sehr günstig, um deutsche Staatsbürger für die Übersiedlung nach Russland anzuwerben.
3.4. Aggressives Anwerben und wachsende Proteste
Der zentrale und der südliche Teil Deutschlands befanden sich infolge der französischen Kriege des 18. Jahrhunderts und des eben zu Ende gegangenen Siebenjährigen Krieges in einer wirtschaftlichen Rezession. Die despotischen Herrscher zahlreicher kleiner deutscher Fürstentümer sorgten sich wenig um die Lebensbedingungen ihrer Untergebenen, die Not und zuweilen auch Hunger litten. Einzelne Herrscher waren sogar froh darüber, so einen Teil des verarmten Volkes loswerden zu können.
Währenddessen riefen die zunehmende Aktivität und das Ausmaß, in dem die russische Regierung Kolonisten anwarb, Aufmerksamkeit hervor und führten dazu, dass der progressive Teil der Landesbevölkerung nachzudenken begann. Selbst in jener fernen Zeit kam es zur Entstehung einer akademischen Auseinandersetzung mit der damals in den großen und kleinen deutschen Staaten existierenden Siedlungs- und Steuerpolitik und der ungerechten Beziehung vieler Herrscher zu ihren Untergebenen, was in der Summe zu einem Wachstum der Auswanderungsbereitschaft im Volk führte. Insoweit führte die provozierende Tätigkeit der russischen Agenten, deren Aufgabe im Anwerben von Teilen der Bevölkerung bestand, zu einer Gegenreaktion vonseiten eines Teils der Regierungen der deutschen Staaten. Zunächst erging der Erlass der pfälzischen Regierung vom 27. Januar 1764, in dem ein allgemeines Verbot der Auswanderung und der Tätigkeit der russischen Werber verkündet wurde. Im selben Jahr wurde die Emigration in Bayern verboten, und am 21. April 1765 auch in der unabhängigen (freien) Stadt Frankfurt, in der auch der „Verweis“ des russischen Kommissars Facius aus dem Stadtgebiet verkündet wurde. Diesen Emigrationsverboten schlossen sich auch andere deutsche Staaten an.
Anders war es in dieser Hinsicht um die Dinge in Preußen bestellt, welches die Annahme eines entsprechenden Verbots hinauszögerte und dafür besondere Gründe hatte. Der preußische König Friedrich lockte selbst erfolgreich Angehörige fremder deutscher Staaten an und siedelte sie in Preußen an, daher erließ er erst am 01. Mai 1766 ein Emigrationsverbot, nachdem er eingesehen hatte, dass die russischen Anwerber in dieser Sache ernstzunehmende Konkurrenten für ihn darstellten. Allerdings wussten die russischen Anwerber die Zersplitterung der deutschen Staaten zu nutzen und umgingen das Tätigkeitsverbot ohne Schwierigkeiten, indem sie ihre Büros in das Gebiet anderer Staaten verlegten, die ihre Tätigkeit noch nicht für gesetzeswidrig erklärt hatten. Dabei griffen sie recht häufig auch auf illegale und gesetzeswidrige Anwerbemethoden zu. Man warb Leute an, die aufgrund verschiedener Ursachen kein Recht auf Emigration hatten, und brachte sie heimlich hinter die Grenze. Mit finanziellen Prämien wurden Bauern, die bereits Übersiedlungsverträge nach Ungarn oder Nordamerika unterschrieben hatten, abgeworben, indem man ihnen nichtexistierende Vergünstigungen und Bedingungen bei der Übersiedlung nach Russland versprach.
Nicht selten kam auch der entgegengesetzte Fall vor, in dem angeworbene Übersiedler, die bereits Geld für den Umzug nach Russland erhalten hatten, im letzten Moment vor der Abreise davonliefen. Als Beispiel soll hier ein Rapport des russischen Gesandten A. Musin-Puschkin aus Hamburg dienen, welchen er am 14. Oktober 1763 an die Kaiserin sandte. Darin teilt er mit, dass sich vier Junggesellen, denen bereits Verpflegungsgeld für die Reise ausgezahlt worden war, trotz der eingesetzten Wache und ihrer freiwillig abgegebenen eidesstattlichen Versicherung vor der Einquartierung auf dem Schiff von der Gemeinschaft entfernten und heimlich davonliefen. In seinem Schreiben merkt er an, dass „...der Verdacht auf die um ganz Lübeck herum stationierten preußischen Anwerber fällt, die den Flüchtlingen Unterschlupf gewährten, wobei es durchaus sein kann, dass sie Grund und Anlass zur Flucht gegeben hatten...“.7 Schon bald war der zivile Frieden auf deutschem Boden tatsächlich bedroht, besonders wenn man berücksichtigt, dass die Arbeitsmoral Tausender bereits lange vor der Abfahrt merklich nachließ, da sie ausschließlich mit organisatorischen Problemen wie dem Verkauf ihres Vermögens und der Kapitalbeschaffung für die Reise zu kämpfen hatten, während ihre Gedanken sich nur noch um die Übersiedlung ins ferne reiche Russland drehten. Dabei befanden sie sich in ständigem Austausch mit ihren zurückbleibenden Verwandten, Nachbarn und Freunden, denen sie die Richtigkeit ihrer Entscheidung und die negativen Aspekte des Lebens in Deutschland aufzeigen wollten, was bei einem wesentlich größeren Teil der deutschen Bevölkerung zu einem Gärprozess führte.
Unter diesen Umständen war es unabdingbar, ein gemeinsames und einheitliches Emigrationsverbot aller deutschen Staaten und freien Städte zu erlassen. Mit einem solchen Vorschlag traten zunächst der bayrische König und der Erzbischof von Salzburg an die Öffentlichkeit. Dabei sollte noch einmal darauf hingewiesen werden, dass sich zu jener Zeit nicht nur Russland aktiv um die Bevölkerung der deutschen Staaten warb. Auch die Monarchen Preußens, Frankreichs, Englands und selbst Joseph II., der König des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, versuchten, ihre internen Probleme dadurch zu lösen, dass sie die fleißige deutsche Bevölkerung in ihre Länder lockten. Joseph II. warb aktiv Kolonisten zur Erschließung von Ländereien in Ungarn an, die im Krieg gegen die Türken befreit worden waren.
Die Tätigkeit der Werber und verschiedener Eilboten dieser Länder, die auf der Jagd nach deutschen Staatsbürgern waren, führte zu einem aktiven Wettbewerb zwischen diesen, was wiederum zahlreiche Beschwerden und Gegenmaßnahmen vonseiten der Herrscher deutscher Länder insbesondere aus dem südlichen Teil Deutschlands zur Folge hatte. In der Folge gelang es ihnen, die österreichischen Werber ernsthaft in die Enge zu treiben und ein gewisses Gleichgewicht zwischen ihnen und den russischen Fängern deutscher Bauernseelen zu erreichen. Dies war in vielerlei Hinsicht auf die aktive Tätigkeit des Fürsten Golizyn in Wien und auf die Eröffnung eines russischen Anwerbebüros durch Meixner in Ulm zurückzuführen. Mit dem Ziel, die nicht immer legalen Vorgehensweisen im entbrannten Konkurrenzkampf zwischen österreichischen und russischen Werbern einzustellen, trafen sie die Vereinbarung, das erneute Werben um Kolonisten zu unterlassen, die sich bereits für eine der beiden Parteien entschieden hatten.
Allerdings konnte ein derart schwacher Widerstand gegen das Werben der Agenten vonseiten Josephs II. die deutschen Kurfürsten nicht zufriedenstellen, weshalb diese eigenen Maßnahmen ergriffen. 1766 untersagten zwei der zehn deutschen Reichsbezirke (die Bezirke Kurrhein und Oberrhein) jegliche Werbemaßnahmen ausländischer Agenten auf ihrem Gebiet, wobei sich der letztgenannte Bezirk erneut mit der Forderung nach entschlosseneren Maßnahmen gegen die Emigration der Angehörigen deutscher Fürstentümer und Reichsstädte an den König wandte. Letzten Endes sah sich Joseph II. gezwungen, den nachdrücklichen Forderungen zahlreicher Fürstentümer des Reiches Folge zu leisten und im Jahr 1768 das Edikt gegen die Auswanderung im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation herauszubringen.
Auf die russische Werbekampagne hatte dieses Edikt allerdings keinerlei praktischen Einfluss mehr. So hatte Russland infolge der für den Transport der deutschen Kolonisten, die in der Hafenstadt Lübeck scharenweise auf ihre Abfahrt warteten, nicht ausreichenden Anzahl von Schiffen Anfang 1766 selbst verboten, deutsche Bauern anzuwerben. Zudem waren in Russland zahlreiche Fragen, die die Aufnahme der Kolonisten an den für sie bestimmten Siedlungsorten im Wolgagebiet betrafen, nicht rechtzeitig gelöst worden. Dazu gehörten unter anderem die Zuteilung von Ländereien und der Bau einer benötigten Anzahl von Wohnhäusern.
Währenddessen war die Werbekampagne um die deutschen Kolonisten bereits ins Rollen gekommen, und viele deutsche Bauern hatten ihre Häuser und ihr Vermögen verkauft und warteten in ihren Siedlungen auf die Abreise. Ein großer Teil von ihnen war unterwegs oder bereits als Teil einer Kolonne an den Sammelpunkten angekommen. Die Reaktion der ratlosen russischen Beamten, die für den Empfang und die Weiterreise der Kolonisten verantwortlich waren, war zu jenem Zeitpunkt mehr als verantwortungslos.
Ohne jede Vorwarnung verweigerten sie den bereits angeworbenen und nun in Panik und Verzweiflung verfallenen Menschen den Empfang und die Weiterreise nach Russland. Die Lage wurde dadurch weiter verschärft, dass keine finanziellen Mittel für die Ernährung und Unterbringung der Menschen vorhanden waren, die sich bereits an den Sammelpunkten befanden, denn die hierfür benötigten Gelder kamen mit großer Verspätung aus Russland an. Diese Umstände riefen Empörung bei den bereits angeworbenen Menschen hervor und führten zu einer drastischen Verschlechterung ihrer Beziehung zu den russischen Werbern und Agenten.
Nur dem preußischen König Friedrich dem Großen gelang es, der vielschichtigen und aggressiven Vorgehensweise der russischen Regierung beim Anwerben deutscher Kolonisten zu widerstehen. Aus Preußen reiste lediglich eine unbedeutende Zahl an Kolonisten aus, was sich über die anderen deutschen Landstriche und insbesondere über die kleinen Fürstentümer, deren Auswanderungsverbote bei den eigenen Staatsangehörigen keine Wirkung zeigten, nicht behaupten lässt. So stellt Gerhard Bonwetsch in seinem knappen, doch äußerst erkenntnisreichen Buch „Geschichte der deutschen Kolonien an der Wolga“ aus dem Jahr 1919 fest, die Machthaber hätten sich nicht dazu entscheiden können, die Wurzel des Problems zu beseitigen und die Tätigkeit der russischen Werber komplett zu verbieten. Indem sie die Auswanderung verboten und die Werber lediglich hinter die Grenzen ihrer Einzelstaaten verwiesen, bekämpften sie nur die Folge, nicht jedoch die Erstursache, da es den Werbern möglich war, ihre Kontore unverzüglich in ein anderes Fürstentum zu verlegen und die eigene Tätigkeit dort fortzusetzen.
Bezeichnend ist in dieser Hinsicht das Verhalten von Friedrich August von Anhalt-Zerbst, des Herrschers des Fürstentums Anhalt-Zerbst, dessen Prinzessin Katharina II. war. Aus heutiger Sicht lässt sich nur schwer sagen, ob sich Friedrich August nur von Verwandtschaftsgefühlen leiten ließ, als er der Schaffung eines Sammelpunktes für angeworbene deutsche Kolonisten, die nach Russland weiterreisen sollten, zustimmte, dabei jedoch die eigene Regierung damit beauftragte, darauf zu achten, dass sich diesen keine Bewohner seines Bewohner seines Fürstentums anschlossen.
Ein solches unpatriotisches Verhalten der Herrscher kleiner Fürstentümer ermöglichte es den ausländischen Staaten, sich zu Lasten deutschen Blutes zu stärken, wie Bonwetsch sehr passend formuliert hatte („...dem Ausland die Möglichkeit gab, sich durch Zufuhr deutschen Blutes zu stärken…“).8
Nach all diesen Ereignissen im Zusammenhang mit der Weigerung der russischen Regierung, weitere deutsche Kolonisten aufzunehmen, geriet die Tätigkeit ihrer Agenten ins Stocken, kam jedoch nie vollständig zum Erliegen und erreichte während der Regierungszeit Alexanders I. einen weiteren Höhepunkt, da dieser deutsche Kolonisten für die Erschließung und Verteidigung der Ländereien in Südrussland benötigte.
3.5. Bewertung der Zusammensetzung
der ersten Kolonisten
Wer waren aber die Leute, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts auf Einladung Katharinas II. den Werbern ins Netz gingen, nach Russland befördert und zu deutschen Kolonisten an der Wolga wurden? Die Mehrheit der Autoren, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, stützen sich auf Christian Gottlob Züges Buch „Der russische Colonist oder Christian Gottlob Züges Leben in Rußland“).9
Dabei handelt es sich wohl um das einzige bekannte Buch, dessen Autor das gesamte Auf und Ab der Reise und des Lebens eines deutschen Kolonisten an der Wolga am eigenen Leib erfahren hat. Als junger Mensch voller Tatendrang und Entdeckergeist bereitete er sich auf die Emigration nach Amerika vor, geriet nach seiner Ankunft in Lübeck jedoch wie viele andere Übersiedler in die Fänge der russischen Werber. Er kapitulierte vor der Beschreibung der Güter, Schönheiten und Bekanntschaften mit zahlreichen Völkern, die ihn angeblich erwarteten, und machte sich mit einer angeworbenen Gruppe nach Russland auf. Detailliert und aufmerksam beschreibt er sämtliche Etappen der Schiffsreise nach Kronstadt, der Weiterreise auf Pferdewagen in der Kolonne und auf Flussschiffen über die Wolga bis zum Siedlungsort der deutschen Kolonisten im Gebiet Saratow. Während der langen Wartezeit in Lübeck lernt er die Menschen an seiner Seite gut kennen. In seinem Buch stellt er fest, dass die meisten von ihnen einen Zufluchtsort in dem fernen und bis dahin unbekanntes Land suchten, da ihre Heimat ihnen den Rücken zugekehrt hatte. Seiner Einschätzung nach waren Verbrecher und Betrüger darunter, die möglicherweise einer Verfolgung und ihrer gerechten Bestrafung aus dem Weg zu gehen versuchten. Er merkt an, dass die meisten von ihnen Abenteurer oder leichtgläubige und unerfahrene Menschen waren, die den ihnen erzählten Lügenmärchen Glauben schenkten und keinerlei Zweifel an einem leichten und glücklichen Leben in der Ferne hatten.10 Vielen von ihnen war die Arbeit auf dem Feld nicht vertraut, und mitunter wussten sie nicht einmal, wie man ein Pferd spannt und von welcher Seite man sich einem Pflug nähert.11
Auf die Bewertungen der ersten deutschen Kolonisten, die Züges Buch vornimmt, gehen wir etwas später ein, an dieser Stelle soll lediglich betont werden, dass es naiv wäre anzunehmen, die Elite der deutschen Bauernschaft sei auf die Überredungskünste der russischen Werber hereingefallen und habe sich nach Russland aufgemacht. Vielmehr handelte es sich dabei um verarmte Bauern, Handwerker und Händler, die hohe Schulden aufgenommen und ihr Gewerbe eingebüßt hatten, um gescheiterte Unternehmer und Friseure, ausgediente Soldaten erfolglose Künstler, Lehrer und Menschen ohne jeden Beruf. Unter ihnen befanden sich sogar ruinierte oder auf die schiefe Bahn gekommene Adlige. Im Buch wird von einem solchen Baron berichtet, der in Russland ankam, aus Feigheit eine Karriere im Militärdienst ablehnte und aufgrund seiner Faulheit keinen Pflug in die Hand nehmen und den Boden bearbeiten wollte. Schließlich verdingte er sich in seiner Siedlung als Viehhirte, passte auf die Kühe und Stiere auf und grüßte jeden freudig zurück, der ihm entgegenkam und ihn mit „Herr Baron“ ansprach.12
Allerdings hatte keiner der Menschen, die nichts mit der Landwirtschaft zu tun hatten, tatsächlich vor, Bauer zu werden. Sie alle suchten ihr Glück und waren weiterhin in verschiedenen russischen Städten und Siedlungen in ihrem Fachgebiet tätig. Eine solche Möglichkeit war ihnen im Manifest Katharinas II. und von den russischen Werbern versprochen worden. Es war nicht ihre Schuld, dass sie alle nach ihrer Ankunft in Russland unter Zwang in die Wolgaregion geschickt und zur Landarbeit verpflichtet wurden. Hierbei ist anzumerken, dass die russische Regierung später versuchte, eine Änderung der Dinge herbeizuführen, sie sandte ihren Kommissaren und Agenten in Deutschland verschlossene Formulare, in denen sie diese dazu verpflichtete, ausschließlich aus dem Kreis der Landarbeiter Leute anzuwerben. Allerdings war eine Verkündigung dieser neuen Anforderungen auf breiter Front nicht zulässig, da sie dem Wortlaut des Manifests widersprachen und die Werber sie auf ihrer Jagd nach schnellem Geld einfach ignorierten.
Autoren, die vom panslawischen Standpunkt aus die verfehlte Kolonisationspolitik Russlands zu beweisen versuchen, bewerten die Zusammensetzung der Kolonisten aus dem Buch des Kolonisten Züge häufig wenig schmeichelhaft. Unter diesem Gesichtspunkt bleibt festzuhalten, dass auch Züge selbst die Eigenschaften der angeworbenen Kolonisten nicht unbedingt schmeichelhaft beschreibt, wobei dieser seine Schlüsse aus der Bewertung einer einzigen Gruppe zieht, mit der er nach Russland angereist war.
Es gelang, ihn in den Aufzeichnungen der Übersiedler aus den Kolonisten Siedlungen ausfindig zu machen. Diese Aufzeichnungen wurden im Zuge einer Revision erstellt, die auf Anordnung der Vormundschaftskanzlei für Ausländer am Ende des Jahres 1767 erstellt wurde. An zehnter Stelle ist er neben weiteren Übersiedlern der Kolonie „Potschinnaja“ registriert, deren deutsche Bezeichnung „Kratzke“ lautet. Die im Zensus angeführten Informationen „Züge Christian Gottlieb, 22, Schuhmacher aus Sachsen, ledig, Ankunft am 7.08.1766, hat von der Voevodsker Kanzlei in Saratow 150 Rubel erhalten, hat zum Jahr 1768 eine Deßjatine aufgepflügt, ist als Leiharbeiter tätig“,13 entsprechen voll und ganz seiner Erzählung über sich selbst. Letzteres dient auch als Beweis seiner Autorenschaft, die von einzelnen Historikern angezweifelt wird, wie sich den Fakten im Nachwort zu seinem Buch entnehmen lässt. Alle Übersiedler der Kolonie „Potschinnaja“ wurden der Anwerbemannschaft der Privatkolonie De Boffes zugerechnet. Deren Mitglieder wendeten im Bemühen, so viel Geld wie möglich zu verdienen, beliebige legale und illegale Vorgehensweisen an, machten auch vor offensichtlichem Betrug keinen Halt und warben alle und jeden an, unter anderem auch Kolonisten, die für die Landarbeit ungeeignet waren. Die damals unter den Anwerbemannschaften vorkommende „schmutzige“ Praxis beim Anwerben deutscher Kolonisten erwähnt auch Georgij Pisarevskij in seinem Buch: „... das allgemeine Niveau der Kronskolonisten war weitaus höher als das der Privatkolonisten, bei denen Vertreter des städtischen Proletariats keine Seltenheit waren – Menschen, die jeder Arbeit aus dem Wege gingen, Trinker und Vagabunden“.14
Die hier für die Kolonie „Potschinnaja“ durchgeführte Analyse des Übersiedlerverzeichnisses aus der Revision von 1767, in dem auch der Kolonist Züge geführt wird, zeigt, dass unter den 54 registrierten Übersiedlern 33 verheiratete und zehn verwitwete Personen (davon acht Männer), ein Waisenkind, zwei Stiefkinder und acht Junggesellen waren, und zu ihren Familien gehörten 32 Kinder. Bei elf registrierten Personen, von denen vier erwachsene Männer, zwei Witwen und fünf Stief- und Waisenkinder waren, war keine Berufsbezeichnung angegeben. Diese Daten lagen nur für 43 offiziell registrierte Kolonisten vor, von denen lediglich sechs Ackerbauern bzw. Personen waren, die über Erfahrung in der Landwirtschaft verfügten. Unter den Übrigen waren sechs Schuhmacher, fünf Weber, drei Schneider und jeweils zwei Gerber, Schmiede, Weinbrenner, Steinmetze, Soldaten und Tischler. Nur einmal waren folgende Berufe anzutreffen: Maler, Jäger, Instrumentenbauer, Schlosser und Schreiner. Je einmal waren auch so seltene Fachgebiete wie Salzsieder, Kupferschmied, Schiffbauer, Silberschmied, Sattler und Buchbinder vertreten.
Wir sehen also, dass lediglich 14% der in der Kolonie „Potschinnaja“ registrierten Kolonisten über Erfahrungen in der Landwirtschaft verfügten. Die Übrigen, die den Überredungskünsten und der Hartnäckigkeit der Beamten nachgegeben hatten, wurden gegen ihren Willen gezwungen, einer landwirtschaftlichen Beschäftigung nachzugehen, obwohl sie auf ganz andere Bereiche spezialisiert waren. Eine solche professionelle Zusammensetzung konnte auch Züge beobachten, und die daraufhin folgende Beschreibung in seinem Buch fiel nicht unbedingt positiv aus.
Nicht nur er, sondern auch andere Autoren übertrugen die negativen und subjektiven Einschätzungen hinsichtlich der professionellen Eignung der Übersiedler, die meist durch Agenten anwerbender Privatkolonien rekrutiert wurden, auf alle deutschen Kolonisten im Wolgagebiet, was bei weitem nicht immer den tatsächlichen Gegebenheiten entsprach. Um keine leeren Behauptungen aufzustellen, werden an dieser Stelle die Ergebnisse der bereits erwähnten Revision von 1767 angeführt. Diese lagen dem Rapport des Grafen Orlov vom 14. Februar 1769 zugrunde, der von ihm an Katharina II. gesendet wurde. Die einzigartigen Materialien dieses Rechenschaftsberichts sind in Anhang №38 der monumentalen Arbeit Grigorij Pisarevskijs aufgeführt. Der Anhang enthält eine zahlenmäßige Charakteristik der Kolonisten („(...) wie viele ausländische Familien in den bei Saratow gegründeten Kolonien zum Ackerbau in der Lage bzw. nicht in der Lage sind, und auch die Anzahl der Männer und Frauen...“) und gibt auch den Viehbestand, den Bestand an Saat- und Dreschgut und die Anzahl der gebauten Häuser und Anbauten an.15
Das vorliegende Buch beschäftigt sich später in den entsprechenden Abschnitten detaillierter mit der Bewertung dieser Daten, an dieser Stelle bewerten wir hingegen die Zusammensetzung der Kolonisten im Rahmen ihrer Fähigkeit und Eignung für den Ackerbau. Dabei werden die sogenannten „Kronskolonien“ und die „Privatkolonien“ getrennt voneinander behandelt. Insgesamt wurden im Wolgagebiet 41 Krons- und 61 Privatkolonien gegründet. Es soll daran erinnert werden, dass neben russischen Gesandten und Residenten auch von der Regierung ernannte spezielle Kommissare mit dem Anwerben der Kronskolonisten betraut waren. Deren Bezahlung hing nicht von der Anzahl der angeworbenen Personen ab. Die Bildung der Privatkolonien verlief hingegen anders. Deren Werber und ihre Agenten waren wenig um die qualitative Zusammensetzung besorgt, da ihre Bezahlung direkt von der Anzahl der angeworbenen Kolonisten abhing.
Laut den im Rapport des Grafen Orlov gemachten Angaben lebten 2.946 Kolonisten Familien in den Kronkolonien. Von diesen waren 2.747 oder 93% zum Ackerbau fähig, bei 199 war dies nicht der Fall. Dabei waren in Kolonien wie Panovka, Elshanka, Jagodnaja Poljana, Talovka und Bujdakov Bujarak alle 100% der Familien für die Arbeit in der Landwirtschaft geeignet. Im Falle der Privatkolonien wurden folgende Zahlen genannt: Bei De Beauregard waren 1.357 von 1.523 oder 89% der Familien für den Ackerbau geeignet, bei De Boffe 403 von 434 oder 92,8% der Familien. Ein wenig niedriger war der Anteil der für den Ackerbau geeigneten Familien in den Privatkolonien Lerois' und Pitets., der bei 1.347 von 1.530 Familien lag (88%). Von allen 6.433 Familien der Krons- und Privatkolonien wurden 5.854 oder etwa 91% als für den Ackerbau geeignet geführt.
Wie wir also sehen, wird im Rapport Orlovs eine recht hohe Eignung der Kolonisten Familien für die landwirtschaftliche Produktion genannt, die sich in keinster Weise mit den existierenden negativen Bewertungen einzelner Autoren vereinbaren lässt. Dabei ist anzumerken, dass die Bewertung der Eignung eines Kolonisten für den Ackerbau ohne Angabe seines vormaligen Fachgebiets erfolgt. Man kann davon ausgehen, dass ein bestimmter Anteil der Übersiedler nichts mit der Landwirtschaft zu tun hatte, sich gegen den eigenen Willen zum Erlernen des Ackerbaus gezwungen sah und sich erst später daran gewöhnte und Fortschritte in dieser Tätigkeit machte.
Ganz anders entwickelten sich die Dinge beim Anwerben von Kolonisten, die in anderen Staaten, in denen Russland ebenfalls Kolonisten anzulocken versuchte, für den Umzug dorthin gewonnen werden sollten. Die russische Regierung forderte 1763 ihre diplomatischen Gesandten und Agenten dazu auf, das Manifest Katharinas II. in vielen Ländern Europas zu veröffentlichen und zu verteilen und in diesen aktiven Kolonisten anzuwerben. Allerdings blieb ihre Tätigkeit in diesen Ländern beinahe ergebnislos. Dies hatte mit einer ganzen Reihe von Ursachen und insbesondere damit zu tun, dass die bedeutenden europäischen Staaten selbst Interesse an einem Zustrom fremder Staatsangehöriger hatten, die Einwanderung auf jede erdenkliche Art und Weise zu stimulieren versuchten und die Auswanderung aus ihren Ländern untersagten. Im Hinblick darauf ergriffen viele von ihnen alle möglichen Maßnahmen gegen Versuche, ihre Staatsangehörigen über die großzügigen Vergünstigungen und Privilegien für Übersiedler nach Russland, die im Manifest verkündet worden waren, zu informieren. Eine Reihe von Ländern sah sich zudem dazu gezwungen, äußerst hart gegen die Tätigkeit der russischen Werber vorzugehen.
So untersagte die österreichische Königin Maria Theresia durch ihren Erlass vom 16.11.1763 nicht nur die Verbreitung des Manifests von Katharina II., sondern auch die Auswanderung aus ihrem Land. Die erstmalige Zuwiderhandlung wurde mit fünf Jahren Gefängnis und Zwangsarbeit bestraft, die erneute Zuwiderhandlung mit zehn Jahren Gefängnis und Zwangsarbeit und die dritte Zuwiderhandlung mit der Todesstrafe durch Erhängen. Dabei drohten dieselben Strafen bis hin zur Todesstrafe auch den ausländischen Werbern und eigenen Staatsangehörigen, die sie in ihrer Arbeit unterstützten. Mit Zwangsarbeit
und Gefängnis wurde die Aufnahme angeworbener Personen im eigenen Haus und die Unterlassung von Auskünften darüber geahndet. Wer den Staatsbehörden beliebige Informationen über Anwerbevorfälle mitteilte, hatte Anspruch auf eine finanzielle Belohnung. Mit Arrest wurden auch diejenigen bestraft, die aus verschiedenen Gründen zurückkehrten, wenn sie das Land zuvor ohne die benötigte Genehmigung verlassen hatten.
Erhebliche Schwierigkeiten hatten die russischen Gesandten bei der Verbreitung des Manifests und der Ausübung ihrer Tätigkeit als Werber in Spanien, welches aufgrund der hohen Anzahl an Übersiedlern nach Amerika ebenfalls ein Ausreiseverbot erlassen hatte.
Noch weniger Erfolgschancen hatte die Werbekampagne, die sich um Übersiedler aus England und den Niederlanden bemühte. Die Bevölkerung dieser Länder war relativ wohlhabend, zudem besaßen die Länder eigene reiche Kolonien. England hatte seine Kolonien in Nordamerika, wohin ein Teil seiner Staatsangehörigen, die auf der Suche nach Abenteuern oder einem neuen und noch besseren Leben waren, übersiedeln konnte und wohin das Land auch selbst aktiv deutsche Kolonisten zu locken versuchte. Zudem hatte gegen Mitte des 18. Jahrhunderts in England bereits die industrielle Revolution begonnen, und die Städte mit einer entwickelten Industrie, welche die überschüssige ländliche Bevölkerung aufzunehmen vermochte, wuchsen an – ganz anders in Deutschland, wo dieser Prozess erst Jahrzehnte später begann.
Aus diesen Gründen waren die Möglichkeiten Russlands, in England Kolonisten anzuwerben, äußerst gering. Pisarevskij geht in seinem Buch näher auf die Tätigkeit des russischen Botschafters A. P. Voronzov in London ein, dem es nur mit großer Mühe gelang, 200-300 Menschen anzuwerben. Sie erhielten Verpflegungsgeld, und dem Schiffskapitän wurde eine entsprechende Vorauszahlung für ihre Überfahrt nach Russland ausbezahlt. Ein großer Teil der Übersiedler trat die Überfahrt nicht an, da sie ein weiteres Mal von englischen Agenten für deren Kolonien in Amerika angeworben wurden. Das Schiff, auf dem die restlichen Übersiedler sich auf den Weg machten, geriet in einen heftigen Sturm und musste an der Küste der Niederlande anlegen. Beim
Warten auf ein Ende des Unwetters an Bord des Schiffes brach nach einem Trinkgelage ein Streit zwischen der Mannschaft und den Kolonisten aus, woraufhin diese an Land gingen. Zwar gelang es dem Kapitän, sie zur Fortsetzung der Schifffahrt zu überreden, doch das Schiff geriet erneut in einen Sturm und wurde schwer beschädigt. Daraufhin kam es unter den Kolonisten zu einer Meuterei, in deren Folge sie sich entschieden weigerten, die Reise auf dem Seeweg fortzusetzen. Letzten Endes gestattete man ihnen, ihren weiteren Weg selbst auszuwählen.
Größere Hoffnungen setzte man auf Frankreich, wo eine bedeutende Anzahl russischer Werber ihre Tätigkeit aufgenommen hatte. Allerdings wurde auch hier in den Jahren 1682 und 1685 die Flucht der Hugenotten verboten. Wer sie bei der Flucht unterstützte, wurde mit einer Strafe von 3.000 Livres belegt, und bei wiederholtem Vergehen wurde der Verbrecher eingesperrt. Schon bald wurden noch härtere Strafen eingeführt, durch die für Beihilfe oder Absicht zur Auswanderung die Todesstrafe drohte, während denjenigen, die ihren Verdacht einer Ausreise bestimmter Personen aus dem Land rechtzeitig mitteilten, die Hälfte des Vermögens des Emigranten versprochen wurde.16 Letzten Endes gelang es den russischen Werbern lediglich, 235 französische Familien hinter die Grenze zu schaffen. Eine weitere Ursache dieses Misserfolges bestand im entschiedenen Vorgehen des französischen Geheimdienstes, der die russischen Werber rasch und ohne große Worte festnahm und in der Bastille einsperrte.
Aus heutiger Sicht kann man nur bedauern, dass Deutschland damals aufgrund des Fehlens eines einheitlichen Staates und entsprechender einheitlicher Dienstvorschriften und Gesetze nicht in der Lage war, seine eigene Bevölkerung zu schützen, welche in fremde Länder zerstreut wurde. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Tatsache, welch tragisches Schicksal Generationen deutscher Kolonisten Hunderte von Jahren nach der Auswanderung ihrer Vorfahren erleiden mussten. Bedauerlicherweise kennt die Geschichte bekanntermaßen keinen Konjunktiv.
Kapitel 4.
Wesentliche Ursachen und Motive
der Massenemigration
Die wesentlichen Ursachen, die im 18. Jahrhundert Hunderttausende und im 19. Jahrhundert bereits Millionen Bewohner der voneinander getrennten deutschen Fürstentümer zur massenweisen Emigration veranlassten, werden in zahlreichen Publikationen zu diesem Thema genannt und mehrfach wiederholt, häufig ohne Angabe von Quellen. Heute ist es äußerst schwierig festzustellen, wer sie zuerst formuliert hat und wann dies geschah. Der hier vorliegenden Schilderung liegt die besonders weit verbreitete und logische Systematisierung der Emigrationsursachen zugrunde, die Karl Stumpp in seinem Buch „Die Auswanderung aus Deutschland nach Rußland in den Jahren 1763 bis 1862“ anführt.1 Darin schlägt er völlig zurecht vor, die Ursachen, welche die einladenden Länder zum Anwerben und Ansiedeln von Kolonisten auf ihren Ländereien und die deutschen Kolonisten zum Verlassen ihrer Heimat und zur Suche ihres Glücks in fernen und fremden Gegenden veranlassten, müssten getrennt voneinander untersucht werden.
In den vorhergehenden Kapiteln wurden die wesentlichen Ziele, die Preußen, Österreich und Russland verfolgten, bereits dargestellt. Dabei setzten sie ihre Peuplierungspolitik und die von ihnen angewandten Annahmen und Methoden beim Anwerben deutscher Übersiedler in die Tat um. Wir kommen an späterer Stelle dieses Kapitels noch einmal auf dieses Thema zurück und versuchen, einige allgemeine und kennzeichnende Merkmale dieser Politik in den genannten Ländern zu formulieren. Den Anfang bildet die Darstellung der wesentlichen Motive und Ursachen der Massenemigration, die von Karl Stumpp in vier Gruppen zusammengefasst wurden: in politische, ökonomische, religiöse und persönliche Ursachen.
4.1. Politische Ursachen
Zu den politischen Emigrationsursachen müssen die zwangsweise Rekrutierung von Soldaten, die zahlreichen Abgaben und Steuern zu Kriegszeiten und die Raubzüge und Kontributionszahlungen gezählt werden, die Teil der schrecklichen Folgen der vielen Kriege waren, welche auf den Gebieten der voneinander getrennten deutschen Staaten und kleinen Fürstentümer gewütet hatten. Schon die alleinige Aufzählung aller Kriege des 17. und 18. Jahrhunderts – der Dreißigjährige Krieg (1618-1648); der Holländische Krieg (1672-1679); der pfälzische Erbfolgekrieg (1688-1697); der Spanische Erbfolgekrieg (1701-1714); der Polnische Thronfolgekrieg (1733-1738). Im Anschluss daran: der Siebenjährige Krieg (1756-1763) und der damit eng verbundene Englisch-Französische Krieg um die Vorherrschaft in Nordamerika (1755-1762); die französische Besatzung am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Und nicht zuletzt die zwangsweise Teilnahme an den napoleonischen Feldzügen im Jahre 1806 gegen Preußen, 1807 gegen Österreich, 1812 gegen Russland und daraufhin 1812 gegen Preußen, Russland und Österreich – gibt dem Leser heute eine Vorstellung des extremen Elends, von dem die Bewohner der deutschen Ländereien heimgesucht wurden.
Nach dem Siebenjährigen Krieg, die zahlreichen negativen ökonomischen Folgen in Form überzogener Abgaben und Steuern hatte, kam es infolge abnehmender Ernteerträge zu einem Preisanstieg bei den Grundnahrungsmitteln. Die völlig unangemessenen Abgaben an die Herrscher, welche durch Raub an ihren Untergebenen ihren ausschweifenden Lebenswandel finanzierten, führten lediglich zu einer Verschärfung der nach dem Krieg entstandenen Depression der Bevölkerung. Weit bekannt ist etwa die auch in Stumpps Buch aufgeführte Tatsache, dass der hessische Landgraf Friedrich II. 17.000 seiner Staatsangehörigen an die englische Armee verkaufte, die sich mit den Franzosen um die Vorherrschaft in Nordamerika im Krieg befand. Wir sehen also, dass die Bevölkerung der deutschen Ländereien nicht nur unter den politischen Folgen der ausländischen Besatzung litt, sondern auch unter der Rechtlosigkeit, die mit den ungerechten Entscheidungen ihrer Herrscher in Zusammenhang stand. Daher ist es wenig verwunderlich, dass viele Bewohner der deutschen Ländereien, die unter den militärischen Konflikten der zahlreichen Kriege gelitten hatten, einen Ausweg aus dieser Lage in der Auswanderung sahen.
Zu den politischen Ursachen gehört auch die Auswanderung der Mennoniten aus Westpreußen, die begonnen hatte, nachdem der preußische König Friedrich Wilhelm II. 1787 die Privilegien der Mennoniten, die diesen von seinem Vorgänger Friedrich II. (dem Großen) gewährt wurden, trotz seiner Bestätigung dieser Privilegien dahingehend eingeschränkt hatte, dass diese keine neuen Grundstücke mehr kaufen konnten. Damit machte er den Erwerb neuer Höfe und Grundstücke für die zahlreichen Kinder der Mennoniten unmöglich. Diese waren größtenteils durchaus vermögend und hätten eine solche Möglichkeit wahrnehmen können. Die eingeführten Einschränkungen hinsichtlich einer Ausweitung der genutzten Ländereien führten zu einer steigenden Zahl von Höfen der Mennoniten, welche vom Kriegsdienst befreit waren. Dies wiederum hatte eine abnehmende Anzahl von Rekruten für die auf einem Kantonsystem basierende preußische Armee zur Folge.
4.2. Ökonomische Ursachen
Die ökonomischen Ursachen der Massenemigration gehen insbesondere auf die Zeit des langfristigen Bevölkerungswachstums zurück, welches in Deutschland das gesamte 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts andauerte. Wie bereits zuvor erwähnt, erreichte die Bevölkerung nach einer signifikanten Abnahme infolge zahlreicher Kriege und Epidemien bereits gegen Mitte des 18. Jahrhunderts wieder das Niveau der Anfangszeit des 17. Jahrhunderts und betrug 1750 23 Millionen Menschen, stieg bis 1790 auf 25 Millionen und bis 1816 bereits auf 29,6 Millionen Menschen an. Das Bevölkerungswachstum ging mit einem Mangel an landwirtschaftlicher Nutzfläche, einer ständig wachsenden Zahl an Betrieben und einer abnehmenden Größe ihrer Flächen einher. Die Bauern, deren Grundbesitz fortwährend abnahm, waren nicht dazu in der Lage, landwirtschaftliche Güter im für die Ernährung ihrer Familien nötigen Umfang zu produzieren, geschweige denn einen Anteil davon zu verkaufen, um dadurch die für die Bezahlung der zahlreichen und unangemessenen Abgaben und Steuern nötigen Gelder zu erhalten.
Werfen wir am Beispiel des Bistums Würzburg einen genaueren Blick auf das Problem, das sich damals durch den steigenden Druck der schnell anwachsenden Bevölkerung auf die zur Verfügung stehenden landwirtschaftlichen Nutzflächen und die in diesem Zusammenhang entstandenen Emigrationsprozesse ergeben hatte.
Würzburg war damals das Zentrum eines Bistums, welches Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war und von einem Fürstbischof regiert wurde, der nicht nur priesterliche Funktionen ausübte, sondern auch die säkulare Macht über das von ihm verwaltete Gebiet innehatte. Das Bistum Würzburg stellte ein besonderes und wichtiges geistliches Zentrum des Heiligen Römischen Reiches dar. Laut historischen Quellen lebten 1600 135.000 Staatsangehörige im Fürstentum, zu welchem 29 Städte, 575 Dörfer und 59 einzelne Höfe und Mühlen gehörten. Ihre Zahl stieg 1704 auf 170.100 und in den letzten 50 Jahren vor der 1803 in Bayern durchgeführten Säkularisierung auf 250.000 - 280.000 Menschen an. Die Fläche des Bistums betrug 1802 5.290 Quadratkilometer.2 Ähnliche Daten über das Bevölkerungswachstum gehen auch aus einer anderen Quelle hervor, der zufolge 1700 30 Bewohner auf einem Quadratkilometer lebten, 1750 47 Bewohner und 1812 bereits 60 Bewohner.3
Wie wir also sehen, kam es im Fürstentum zu einem sprunghaften Bevölkerungsanstieg, in welchem die wesentliche Ursache für die übermäßige Teilung und Verkleinerung des Grundbesitzes einzelner Familien und die sich in der Bevölkerung ausbreitende Armut und Hungersnot zu sehen ist. In Tabelle 2 werden Berechnungen angeführt, die eine solche negative Tendenz eindrucksvoll belegen. Als Grundlage dienen die Fläche der bearbeiteten Ländereien (Ackerland, Wiese und Weingärten), die 235.708 Hektar betrug, die Bevölkerungsdynamik und die durchschnittliche Familiengröße von 4,5 Menschen.4
In der Region Würzburg musste eine Familie fünf bis acht Hektar Land mit qualitativ hochwertigen Böden bearbeiten, um sich ernähren und die zahlreichen Steuern und Abgaben bezahlen zu können.3
Таbelle 2
Änderung der landwirtschaftlichen Nutzfläche im Fürstentum Würzburg
Jahr | 1680 | 1700 | 1730 | 1750 | 1790 | 1812 |
Einwohner | 140.000 | 160.000 | 210.000 | 250.000 | 290.000 | 310.000* |
Hektar pro Einwohner | 1,44 | 1,27 | 0,96 | 0,80 | 0,72 | 0,66 |
Hektar pro Familie | 6,48 | 5,71 | 4,32 | 3,60 | 3,24 | 2,97 |
*Anmerkung. 1812 lag die Bevölkerung im Großherzogtum Würzburg bei 353.775 Menschen, die Fläche betrug 6.183 Km2. Die in der Tabelle angegebenen Einwohnerzahlen stellen Näherungswerte innerhalb der alten Grenzen des Herzogtums vor der Säkularisierung und dem Anschluss an Bayern dar.4
Wie aus der Tabelle hervorgeht, verfügten die deutschen Bauern im Fürstentum bereits 1730 nicht über genügend Nutzfläche, um ihren Familien eine normale Existenz zu ermöglichen. In den Folgeperioden verschlimmerte sich ihre Lage weiterhin dramatisch. Die ihnen zur Verfügung stehenden Ländereien hatten in der Mitte des 18. Jahrhunderts nur die Hälfte der Fläche, die sie für ein Leben ohne Hunger benötigten, zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es sogar noch weniger. Dabei verbergen sich hinter den angeführten Durchschnittswerten sowohl Teile der Bauernschaft, die über Land im Überfluss verfügten, als auch eine noch wesentlich größere Anzahl von Dorfbewohnern, deren Nutzflächen zu klein waren oder die überhaupt keine Nutzflächen besaßen. Zudem mussten sich die Bauern mit den Folgen der Jagdlust ihres Bischofs und seiner Entourage anfreunden – diese konnte nämlich dazu führen, dass Hunderte Wildschweine und Hirsche über ihre Wiesen getrieben wurden. Der Kampf mit dem herrschaftlichen Wild, welches über ihre landwirtschaftlichen Nutzflächen lief und diese als Weide nutzte, war Teil des Alltags. Dabei war den Bauern der Kampf mit dem Wild, welches ihre Felder zerstörte, untersagt, galt doch die Jagd als alleiniges Recht und vornehmster Zeitvertreib des Herrschers. Wie auch in anderen Ländern waren die Bauern zur Bezahlung zahlreicher Steuern für den Unterhalt des Bischofs und seines Hofes und zur Abgabe eines Zehntels ihrer Feldfrüchte, ihres Weins, ihrer Kartoffeln, ihres Heus, Tabaks, Fleisches, ihrer Milch und weiterer Nahrungsmittel verpflichtet, außerdem mussten sie acht bis 156 Tage im Jahr umsonst für ihren Gutsherren arbeiten. Zum bäuerlichen Frondienst gehörten Arbeiten wie die Bestellung und Ernte der Felder, der Hausbau, die Teilnahme am Treiben des Wildes während der Jagd und viele weitere Aufgaben. Die schwere und oftmals ausweglose Situation wurde durch die in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden ertragsschwachen Jahre und das Viehsterben weiter verschärft. All das zwang die Bauern dazu, in hoffnungsloser Armut zu leben, Hunger zu leiden und führte zu einem ständigen Anstieg der Verschuldung und letztendlich zum Verlust der eigenen Höfe.
Zu einer solchen Lage der Dinge trug in vielerlei Hinsicht auch das damals in Deutschland geltende Erbrecht der Bauernhöfe bei, welches die Erbfolge nach dem in östlichen und nördlichen Regionen geltenden „Anerbrecht“ oder der in den südlichen und westlichen Landesteilen verbreiteten „Realerbteilung“ vorsah.
Die Erbfolge nach dem Prinzip der “Realerbteilung“ sah die Aufteilung des Landes und Vermögens eines Bauernhofes auf alle gesetzlichen Erben vor. Dies führte zu einer ständig wachsenden Zahl bäuerlicher Betriebe und zu deren Verkleinerung. Je kleiner jedoch der Betrieb wurde, umso stärker wurde jede flächenmäßige Einheit mit verschiedenen Steuern, Zahlungen und Dienstleistungen belastet, was die Wirtschaft und deren Stabilität zerstörte. In Regionen, in denen das „Anerbrecht“ verbreitet war, gab es nur einen Haupterben, der den Bauernhof samt den dazugehörenden Ländereien erbte. Dies ermöglichte es, die Größe eines Hofes zu erhalten und seine Nutzfläche nicht aufzuteilen. Der Haupterbe musste seinen Brüdern und Schwestern ihren Erbteil ausbezahlen, was in der Regel in Teilen und über viele Jahre hinweg geschah, und seinen Eltern eine Unterkunft bereitstellen. Die Erben, die keine Ländereien erhielten, konnten auf den Kauf eines neuen Bauernhofes hoffen, wenn die Familie ein gutes Auskommen besaß, durch Eheschließung in einen fremden Bauernhof einziehen oder in Gegenden umziehen, in denen Ländereien neu erschlossen wurden. Dies war allerdings aufgrund des Mangels an freien und fruchtbaren Ländereien äußerst selten der Fall. Daher mussten sie sich meistens als Knecht oder Magd bei vermögenden Bauern verdingen oder versuchen, Arbeit als Geselle zu finden und trugen so zur steigenden Anzahl verarmter Dorfbewohner ohne Grundbesitz bei.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren schon etwa zwei Drittel der Dorfbevölkerung nicht mehr in der Lage, durch ihren landwirtschaftlichen Grundbesitz ihre Ernährung und Existenz zu sichern. Die steigenden Lebensmittelpreise und der damit verbundene Hunger verschärften die Armut breiter Bevölkerungsmassen weiter. Diese sah in der Auswanderung nach Russland und in andere Länder einen möglichen Ausweg aus der entstandenen Situation.
Unter diesem Aspekt waren die geschönten Versprechungen der Werber Friedrichs II., der österreichischen Könige und Katharinas II., allen Übersiedlern große, fruchtbare Ländereien zuzuteilen und ihnen darüber hinaus eine ganze Reihe von Privilegien zu gewähren, für die deutschen Kolonisten durchaus attraktiv. Sie verlockten sie und riefen sie dazu auf, sich in diese fernen Länder aufzumachen.
Auf der wirtschaftlichen Ebene sind auch die Ursachen der Auswanderung der Mennoniten aus Westpreußen nach Russland in den Jahren 1788 und 1789 zu suchen. Diese waren schon im 17. Jahrhundert im westlichen Preußen angekommen. Zunächst mussten sie die Sumpfgebiete durch den Bau zahlreicher Dämme und Deiche austrocknen, diese brachen jedoch ständig ein, was zu einer Überschwemmung ihrer Felder und Wiesen führte. Die dadurch entstandenen Missernten und die Notwendigkeit, diese Verluste durch andere Finanzierungsquellen zu kompensieren, machten ihre enormen Anstrengungen und ihren Eifer häufig zunichte.
Die Bevölkerung der Mennoniten in Westpreußen wuchs genauso schnell an wie in Deutschland insgesamt. Allein von 1783 bis 1787 stieg ihre Anzahl von 10.490 auf 13.573 Menschen,5 was einem jährlichen Bevölkerungswachstum von 6,6% entspricht, und der dadurch ständig steigende Bedarf an landwirtschaftlichen Nutzflächen wurde zum nächsten entscheidenden ökonomischen Faktor, auf den die Gemütslage der Mennoniten, Preußen zu verlassen und nach Russland überzusiedeln, zurückzuführen war.
Dabei ist anzumerken, dass die Mennoniten im Wesentlichen landwirtschaftliche Güter produzierten und durchaus erfolgreich im Getreideanbau und der Viehzucht waren. Ihr Wissen, ihre Erfahrung und ihr Fleiß waren allseits bekannt und wurden in den Ländern Europas sehr geschätzt. Daher war es nicht von Zufall, dass 1786 Georg von Trappe, der Gesandte Katharinas II., in Danzig auftauchte – dieser war mit der Aufgabe betraut, die Mennoniten zur Emigration nach Russland zu bewegen. Doch auch die Mennoniten kannten ihren Preis. Bevor sie sich auf den Weg an unbekannte Orte begaben, entsendeten sie zwei ihrer Abgeordneten (Jakob Höppner und Johann Bartsch) nach Südrussland. Diese hatten den Auftrag, einen Ort und die Bedingungen einer möglichen Übersiedlung auszuhandeln. Die mennonitischen Abgeordneten aus Danzig hatten glücklicherweise die Möglichkeit, Katharina II. während ihrer großen Reise auf die Krim persönlich zu treffen. Sie konnten die Übersiedlungsbedingungen aushandeln und erhielten ein Garantieschreiben mit Auflistung der Privilegien, welches von Fürst Potemkin, dem Gouverneur der Krim, unterzeichnet wurde. Diese Privilegien wurden anschließend von Katharina II. bestätigt. Den Mennoniten wurden freie Religionsausübung, Befreiung vom Kriegsdienst und weitere wesentliche Privilegien zugesichert, die im Manifest des Jahres 1763 dargelegt sind. Dabei wurden jeder Familie schon 65 Deßjatinen (etwa 71 Hektar) Land zur Verfügung gestellt, was die Größe der den Kolonisten an der Wolga zugeteilten Ländereien um das Zweifache und die Größe ihrer vorhandenen Nutzflächen in Westpreußen um ein Vielfaches übertraf. Dort waren ihre Möglichkeiten, neue Ländereien zu erwerben, von Friedrich Wilhelm II. stark beschränkt worden.
Allerdings wurden die ersten 228 in Russland angekommenen Familien (etwa 1.000 Mennoniten) nicht auf den ihnen versprochenen, fruchtbaren Schwarzerden Borislavs angesiedelt, sondern zu den sandigen Böden am Ufer des Dnjepr gesandt. Diese lagen auf der Insel Chortitz in der Wildnis, waren von Waldflächen überwuchert und von zahlreichen Bächen durchschnitten. Daher wurde die Entstehung der ersten mennonitischen Kolonie in Südrussland von Enttäuschungen und großen Schwierigkeiten begleitet. Daraufhin kamen 1797 weitere 118 mennonitische Familien in diesen Kolonien an und ließen sich dort nieder. Ihre Gesamtbevölkerungszahl begann schnell zu wachsen, 1819 lag sie bei 560 Familien oder 2.888 Menschen, um 1910 bereits bei 2.000 Familien oder 12.000 Menschen. Zunächst wurden den Mennoniten 33.000 Deßjatinen Land zugeteilt, auf denen 15 Siedlungen entstanden. Später führte die ständig wachsende Bevölkerung dazu, dass von der Regierung weitere etwa 40.000 Deßjatinen Neuland für Tochterkolonien zugeteilt werden mussten. Das Vermögen und der Wohlstand der mennonitischen Familien wuchsen rasch an und ermöglichten es ihnen schon bald, weitere etwa 39.960 Deßjatinen Land selbständig zu erwerben. Wurden die Flächen gepachteter Ländereien und privaten Gutsbesitzes nicht mitgerechnet, so betrug die Fläche der mennonitischen Ländereien in den Bezirken Chortizy zu jener Zeit ungefähr 150.000 Deßjatinen. Auch die folgende, größere Übersiedlung von Mennoniten nach Südrussland in den Jahren 1803 und 1804 ging auf ökonomische Ursachen zurück, die von den oben bereits erwähnten politischen Ursachen ergänzt wurden. Eine bedeutende Rolle bei der Übersiedlung der Mennoniten in diesem Zeitraum spielten dabei besondere Privilegien, die ihnen vom russischen Zaren Pavel I. gewährt wurden. Im Unterschied zur ersten Übersiedlung befand sich unter den damals mehr als 2.000 umziehenden Mennoniten eine nicht unbedeutende Anzahl wohlhabender und reicher Bauern, die ihr Vieh, landwirtschaftliche Gerätschaften und verfügbares Kapital mitführten. Den angekommenen Mennoniten wurden Ländereien zugeteilt, die in der Provinz Tavrida am linken Ufer des Flusses Molotschna lagen und auf denen die ersten zehn Kolonien gegründet wurden.
Der während der napoleonischen Kriege zum Stillstand gekommene Übersiedlungsprozess setzte sich in den Jahren 1819 und 1820 erneut fort, in dieser Zeit kamen weitere 254 Familien auf diesen Ländereien an. Insgesamt hatten sich bis zum Jahr 1835, in dem die Übersiedlung eingestellt wurde, im auf diesen Ländereien gegründeten mennonitischen Bezirk Molotschansk 1.200 Familien oder etwa 6.000 Mennoniten niedergelassen, die auf einer Fläche von etwa 120.000 Deßjatinen 57 ländliche Siedlungen gegründet hatten.6
In Preußen wollte man die eigenen Untergebenen nicht einfach so verlieren, und nach mehreren erfolglosen Versuchen, ihre Ausreise zu verbieten und einzuschränken, bot man den Mennoniten die Erschließung neuer Ländereien in den Gebieten Kalisch und Gnesen an, die infolge der zweiten polnischen Teilung an Preußen gefallen waren. Allerdings konnte dieser verspätete Vorschlag den bereits ins Rollen gekommenen Prozess der massenweisen Übersiedlung von Mennoniten nach Südrussland nicht mehr aufhalten.7
Auch die klimatischen Bedingungen hatten Auswirkungen auf die steigende Anzahl ökonomischer Ursachen für die massenweise Emigration der Bauern aus den europäischen und insbesondere aus den deutschen Ländern. So begann das zweite Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts in Deutschland mit ertragsschwachen Jahren, besonders schlimm in dieser Hinsicht waren die Jahre 1816 und 1817. Der Ausbruch des Vulkanes Tambora auf der Insel Sumatra in Indonesien führte dazu, dass 115 Millionen Tonnen Staub und Asche in einer Höhe von mehr als 50 Kilometern in die Atmosphäre geschleudert wurden, was eine Verdunklung der Sonne und Änderungen des weltweiten Klimas verursachte. Die Folgen dieses Vulkanausbruchs waren katastrophal. In Zentraleuropa stellten sich über einen längeren Zeitraum Wetteranomalien und demzufolge sinkende Temperaturen und endlose Regengüsse ein, viele Flüsse traten über die Ufer und überschwemmten die Ackerböden. Infolgedessen kam es in vielen Ländern Europas zu riesigen Ernteverlusten, wodurch der Weizenpreis erheblich anstieg. In den Jahren 1816 und 1817 stiegen die Preise im Vergleich zum Jahr 1815 in den folgenden Ländern jeweils folgendermaßen an: in England auf das 1,17- bzw. 1,46-fache; in Frankreich auf das 1,45- bzw. 1,85-fache; in den Niederlanden auf das 1,33- bzw. 2,21-fache und in der Schweiz auf das 1,62- bzw. 2,35-fache. Noch stärker stieg der Weizenpreis in manchen deutschen Ländern an, zum Beispiel in Bayern auf das 1,90- bzw. 3,01-fache, in Württemberg auf das 1,69- bzw. 2,39-fache, in Baden auf das 1,71- bzw. 2,68-fache und in Hamburg auf das 1,11- bzw. 1,67-fache.8
Besonders stark wurden die Regionen Elsass, die deutschsprachige Schweiz, Württemberg, Bayern und Vorarlberg in Westösterreich getroffen, wo die Preise an einzelnen Orten auf das 3- bis 4-fache anstiegen. Ein solch starker Einbruch der Kornerträge und der rasante Preisanstieg führten zu einer schweren Hungersnot, die breite Massen der Bevölkerung ergriff. Diese suchte und fand in der Emigration einen Ausweg aus ihrer Armut.
Dabei ist zu betonen, dass Zar Alexander I. der östlichen Schweiz zu jener Zeit humanitäre Hilfe leistete, indem er 100.000 Rubel für Weizenlieferungen aus Russland in die vom Hunger heimgesuchten Regionen bereitstellte. Genau zu jener Zeit, im Jahr 1817 nämlich, siedelten 3.000 Einwohner der Schweiz nach Nord- und Südamerika und teilweise nach Russland über. Der Höhepunkt der Auswanderungswelle aus der Schweiz fällt auf die Jahre 1882 und 1883, in denen 13.500 Einwohner dem Land den Rücken kehrten. Von diesen ließen sich 83% in den USA, 11% in Argentinien, 4% in Kanada und 2% in Brasilien nieder. Insgesamt wanderten von 1820 bis 1880 etwa 89.000 Menschen aus der Schweiz aus.9
4.3. Religiöse Ursachen
Die auf gesundem Menschenverstand und dem Kampf gegen Vorurteile basierenden Ideen der Aufklärung und die Weiterentwicklung der Bildung, der Wissenschaft, der bürgerlichen und persönlichen Menschenrechte und der religiösen Toleranz wurden im 18. Jahrhundert zunehmend aktiv in Europa verbreitet. Die Denker, die Literatur und die Kunst dieser Zeit, und ebenso die Revolutionen der Jahre 1776 in Amerika und 1789 in Frankreich sorgten für grundlegende Änderungen in der Politik der damaligen europäischen Machthaber. Schon der 1555 in Augsburg geschlossene „Augsburger Religionsfrieden“ erkannte das Luthertum als dem Katholizismus gleichgestellte, offizielle Religion des Heiligen Römischen Reiches an. Nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges und Abschluss des westfälischen Friedens im Jahre 1648 wurde auch der Calvinismus den offiziellen Religionen zugerechnet. Allerdings wurde die Möglichkeit einer freien Religionsausübung in der deutschen Praxis bei weitem nicht immer angewendet, vielmehr kam es häufig zu ökonomischen Einschränkungen, Verfolgung oder gar Vertreibung derjenigen, die einer anderen Religion angehörten als der Machtinhaber oder Herrscher eines bestimmten Landes.