Читать книгу Rost - Jakub Małecki - Страница 9

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Getöse. Alles begann zu beben: der Schrank, die schimmernde Uhr, die Teller in der Kredenz und das Bett, auf dem sie lag. Sie träumte vom ersten und letzten Tag in der Schule. Ein bisschen müde, schläfrig und ein bisschen stolz saß sie da, denn es war schon die zweite Klasse; plötzlich sagt die Lehrerin, sie sollten alle wieder nach Hause gehen, am besten zusammen, sofort. Sie schlug die Augen auf, aber in ihrem Kopf war alles noch verworren, und sie wusste nicht, ob sie gerade die Schule verließ oder bei Familie Nagórny lag. Dann erinnerte sie sich: In der Schule war sie vor ein paar Tagen gewesen, doch jetzt lag sie da, schlief, hatte geschlafen – das Bett, ein bisschen Spucke auf dem Kissen und ein heißer Streifen Sonne auf der entblößten Wade. Und dieser Lärm. Sie drehte sich auf den Rücken, es krachte zum zweiten Mal. Beim dritten Mal lief sie schon: über das große, weiche Federbett, dann durchs Zimmer und die nach Pfannküchelchen duftende Küche, weiter über die Treppe, durchs Gras, quer über den Schatten des Hauses der Nagórnys. Neben dem Brunnen blieb sie stehen und reckte den Hals.

Gleichmäßig zogen sie über den Himmel, eines neben dem anderen, schön, glänzend. Mindestens ein Dutzend. Aus Kłodawa Richtung Stadt. Sie sah, wie sich von einem ein kleines Komma ablöste. Langsam fiel es herunter und verschwand hinter Bäumen. Es schien den Hof der Familie Drews getroffen zu haben. Sie hielt sich die Ohren zu und wartete. Diesmal war es still. Lange presste sie die Hände gegen den Kopf. Sie hörte nur ihren schnellen Atem.

Jemand schrie, ein Stück weiter wieherten Pferde. Kurz darauf kamen die Nagórnys angelaufen, wieder krachte es.

»Na komm«, sagte Frau Nagórna und drückte sie an ihre nach Räucherspeck riechende Schürze. »Alles ist gut.«

Tosia dachte über diesen Satz nach, der in letzter Zeit so oft wiederholt wurde. Am ersten Schultag hatte man sie nach Hause gejagt, dann hatte ein Bombensplitter den jungen Cabała im Garten getötet, Mama hatte in der Küche zweimal geweint, und Papa hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, und trotzdem hörte sie seit ein paar Tagen überall, alles sei gut. Sie drückte sich enger an den Bauch der Nachbarin.

Schweigend, unbewegt blickten sie zum Himmel. Herr Nagórny schirmte die Augen mit der Hand ab. Er sagte, sie wollten den Bahnhof bombardieren.

»Aber den Bahnhof haben sie doch schon am Samstag bombardiert.« Seine Frau strich Tosia über den Hals, ihre Hand war hart und trocken.

Herr Nagórny antwortete nicht, denn in diesem Moment waren wieder Flugzeuge zu sehen. Sie kamen aus der Stadt zurück, wurden immer größer. Nagórny nahm Tosia hoch und lief mit ihr ins Haus, die Frau ihnen nach. Als sie die Tür schlossen, ging eine Erschütterung durch das Gebäude. Die Küchenwand barst in einer Zickzacklinie, von der Decke senkte sich eine Staubwolke herab. Im Zimmer stürzte der Schrank zu Boden. Holz knirschte, dann wieder Getöse von draußen. In der Stille zwischen den Explosionen hörten sie, wie draußen jemand schrie, der Teufel sei gekommen, man solle beten. Tosia kam zu dem Schluss, es musste Herr Budzikiewicz oder der alte Duszny sein, von dem ihr Vater sagte, er sei verrückt. Noch einmal bebte das Haus, und danach war es still. All das dauerte nur wenige Minuten.

Mama kam mit Michaś an, unter Tränen, wie bei Mama üblich, und drückte sie gleich – wie konnte ich dich nur hierlassen, Kind – auf der Schwelle an sich, schob sie wieder weg, drückte sie wieder. Kommt, wir müssen Vater finden, ob ihn in der Schmiede nicht was getroffen hat, Jesses Maria, gehen wir.

Vater stand schon auf der Straße, zusammen mit den anderen. Völlig zugestaubt, und das Pferd wie ein fremdes – statt weiß plötzlich grau. Die meisten Leute schauten zu den Ochyras hinüber, wo die Scheune brannte und Geschrei ertönte. Bugaj sah zum Himmel und lief los. Vater lief auch los, zusammen mit einigen anderen.

Tosia erinnerte sich an die Leute, die in der Scheune schliefen. Sie waren am Morgen desselben Tages von der Landstraße abgebogen. Sie war hinausgelaufen, um zu gucken. Es waren viele Leute gewesen, sie kamen von der Stadt her, sechs Wagen, beladen mit Menschen und mit allem, was man auf einen Wagen laden kann. Vor dem Haus der Ochyras hielten sie, und ein paar sprangen herunter. Derjenige, der am meisten sprach, war sehr jung. Sie sprachen lange mit dem alten Ochyra und sagten, sie müssten sich ausruhen, schlafen, bräuchten ein Dach über dem Kopf; am nächsten Morgen wären sie nicht mehr da, das versprachen sie. Sie seien schon den dritten Tag auf der Flucht vor den Deutschen. Zur Familie in der Nähe von Warschau, dort sei es sicher. Ochyra sagte, sie könnten bleiben, so lange sie wollten. »Man muss sich jetzt helfen, verdammt noch mal.«

Sie hatten Felle, Decken, Pelze von den Wagen geholt und in der Scheune ausgebreitet. Einer der Männer, ein Alter mit Star im Auge, dankte Ochyra auf Knien. Ochyra kratzte sich am Kopf und schnitt Grimassen, wie es so seine Art war. Es war noch keine Stunde vergangen, da hatten schon fast alle Ankömmlinge geschlafen.

Jetzt sah Tosia zu, wie das Dach der Scheune einstürzte und Flammen herausschlugen. Das Tor war durch ein großes Stück des qualmenden Strohdachs versperrt. Immer weniger Leute schrien, doch diejenigen, die noch schrien, schienen lauter zu schreien. Wörter konnte Tosia nicht unterscheiden, das waren keine Wörter mehr, das Feuer schoss durch die Löcher im Dach und verbreitete sich nach allen Seiten, der Hühnerstall und die meisten Wagen im Hof brannten schon, es stank nach etwas Scharfem, Süßlichem.

Sie ging zu Mama und nahm sie bei der Hand. Mama war wie ein Stein, sie sah sie nicht einmal an. Als wieder ein Stück Dach krachend in die Scheune fiel, schmiegte sie sich fester an Tosia.

Auf dem Hof wurde es immer heißer, die Glut schlug in die Gesichter. Vater stand in der Grätsche am Brunnen, zerrte an der Kette und zog Wasser heraus. Er füllte es in einen anderen Eimer, und Herr Ochyra lief zur Scheune und goss das Wasser direkt ins Feuer, wobei er viel verschüttete. Bugaj und andere versuchten mit Stöcken, das schwere Stück Strohdach wegzuräumen. Frau Ochyra stand hinter ihrem Mann und betete laut.

Etwas stemmte von innen das verrammelte Tor auf. Niemand schrie mehr. Die dunkle Gestalt eines Menschen schwankte heraus und fiel neben einem der Wagen auf die Knie. Vater ließ die Kette los, es platschte. Herr Ochyra, über den Eimer gebeugt, erstarrte. Die Gestalt schwieg. Sie hielt die Hand an die Stelle, wo das Gesicht sein musste. Sie brannte vollständig, außer den Beinen, die nackt waren. Als die Gestalt den Kopf senkte, sah Tosia, dass etwas abfiel. Gleich darauf noch etwas. Aus dem offenen Mund dampfte es. Bevor Vater angelaufen kam und die Gestalt mit einem großen, von der Leine gezogenen Federbett löschen konnte, lag sie schon flach ausgestreckt am Boden.

Tosia erfuhr nie, wie die Gestalt hieß, woher sie kam, wie alt sie war und was sie empfand, als sie in der brennenden Scheune aufhörte, ein Mensch zu sein. Nachdem die Scheune gelöscht war, lud man sie zusammen mit den anderen auf einen mit Stroh ausgelegten Leiterwagen. Es waren sechsundzwanzig. Frau Ochyra hatte ein Laken gegeben, damit man sie zudecken konnte. Zusammen mit den Geflüchteten nahm man die Leichen von sechs Einwohnern von Chojny mit, die von den Bomben getötet worden waren, und am nächsten Tag wurden alle auf den Friedhof von Grzegorzew gebracht.

Vater half sie vergraben. Ochyra, Drews und er, sie waren hingefahren. Er erzählte nur ein Mal davon, an jenem Abend, als er zurückgekehrt war und sich betrank, obwohl er keinen Alkohol mochte. Er saß im Sessel und redete mit sich selbst, Mama schaute auf ihre Hände, sie aßen in der Küche am runden Tisch, ganz leise, kein Löffel klirrte. Den jungen Duszny hatten sie an den Rand des Grabes gelegt, auf der linken Seite. »Wenn man für ihn beten will, muss man dran denken, dass er ganz links liegt, sein Gesicht war zu erkennen, alles, nicht wie bei den anderen. Ganz links, Sabcia, denk dran, ganz am Rand.« Er trank, fuhr sich durchs Haar. Dann sprach er etwas lauter: »So ein geschickter Junge, alles konnte er reparieren, wie alt mag er gewesen sein, Sabcia, was meinst du? Wohl keine fünfundzwanzig, zwanzig vielleicht. Ein hübscher Junge, ein ruhiger.« Die aus der Scheune hatten sie hingelegt, wie es gerade kam, meistens konnte man nicht einmal sehen, ob Frau oder Mann. Viele hatte es zerrissen, sie fügten sie zusammen, so gut es ging, Arm, Bauch, unten die Beine. »Es hat fürchterlich gestunken, Sabcia, nie wieder im Leben möcht ich so einen Gestank erleben. Verbrannte Menschen.« Ochyra hatte so geheult, dass er nicht zu beruhigen war. »In meiner Scheune«, hatte er ständig wiederholt. »Und ich hab noch gesagt, sie solln das Tor bisschen offen lassen, es war ja so heiß, Gott im Himmel, wenn sie es offen gelassen hätten, hätten sie fliehen können, das Dach wär nicht eingestürzt, bestimmt wären nicht alle gestorben.«


Am nächsten Tag fand Tosia einen Arm. Sie war auf dem Weg zu den Nagórnys, um Molke zu holen, und kickte eine kleine verschrumpelte Kartoffel vor sich her. Sie nagte an ihrem Fingernagel und dachte an den ersten Schultag, der zu Ende gewesen war, bevor er richtig begonnen hatte. Dabei hatte sie so lange darauf gewartet. In der ersten Klasse hatte es ihr sehr gut gefallen, und die zweite sollte angeblich noch besser werden, viel besser, alle sagten das. Vielleicht wäre ja in ein paar Tagen alles wieder normal, vielleicht könnte sie dann, statt mit den Eltern oder den Nagórnys aufs Feld zu gehen, hübsche Sachen anziehen und in der Schule der Lehrerin zuhören. Am Tag zuvor hatte sie Vater gefragt, aber der hatte nur gesagt, das alles sei im Moment nicht wichtig; als würde ihr das irgendwie helfen.

Die Kartoffel rollte nach links und verschwand im fahlen Gras. Sie ging ihr nach und sah den Arm. Er war graugelb, am Ellbogen zerfranst. Die Finger weder ausgestreckt noch zur Faust geballt, eher gekrümmt. An einem Finger ein Ring. Wohl aus Gold.

Der Arm lag am Zaun der Ochyras, neben einem großen Stein, von einem Büschel Disteln verdeckt, vom Weg aus nicht zu sehen. Hätte nicht die Sonne auf dem Ring geblitzt, wäre der Arm vielleicht bis zum Winter nicht gefunden worden. Tosia ging näher heran, bückte sich und hob ihn am Mittelfinger auf. Er war steif. Schwer. Merkwürdig groß, nicht wie ein Arm, wie etwas Totes. Sie hob ihn höher, um die lose Haut am Ellbogen besser sehen zu können, da gellte ein Schrei.

Frau Ochyra schrie. Sie stand ein paar Schritte entfernt, einen Korb Himbeeren in der Hand, mit ihrem Kopftuch, das nie fehlen durfte. Sie schrie. Jesses, schmeiß das weg, Bogdan komm, Jesses Maria!

Reglos sah Tosia sie an. Sie versuchte zu verstehen, was geschehen war. Ihr kam in den Sinn, dass sie vielleicht etwas falsch gemacht hatte.

»Tosia, wirf das weg!« Frau Ochyra war schon bei ihr.

Tosia warf es weg. Sie senkte den Kopf, zuckte die Achseln und begann zu weinen. Die Tränen flossen über die Nase, fielen ab und hinterließen winzige Löcher im Sand. Frau Ochyra drückte sie an sich, gab ihr einen Kuss auf den Scheitel und sagte flüsternd, was alle in letzter Zeit sagten:

»Alles ist gut.«

Am Nachmittag durchsuchten ein paar Männer den Hof der Ochyras, das Feld hinter der verbrannten Scheune, den kleinen Garten mit jungen Apfelbäumen und einen Streifen Gras entlang der Straße. Angeblich fanden sie nichts.

Angeblich, das heißt, nicht sicher.

In Chojny war nichts mehr sicher. Plötzlich war alles anders. Die Leute sahen sich ständig um, abends versammelten sie sich in einem der Häuser, manche flüsterten nur, manche beteten ständig. Alle blickten oft zum Himmel. Nach der Bombardierung ging einige Tage lang fast niemand aufs Feld. Tosia langweilte sich. Die meiste Zeit verbrachte sie mit Mama oder spazierte die Straße entlang, hin und her. Manchmal mit Gienia von den Budzikiewiczs, manchmal allein, oft mit Michaś, der sich auf ihren Armen wand wie ein Wurm. Als sie auf den Bahngleisen hinter Chojny zwei Bomben sah, wusste sie, sie musste zurück, zu Papa, am besten schnell; aber sie stand nur da und guckte.

Die Bomben waren klein und länglich. Eine lag in einer leichten Vertiefung in der Erde, die zweite zwischen den Schienen. Glatt, glänzend. Sie sahen aus wie etwas, das man als Schmuck auf die Kredenz stellt und nicht auf Menschen wirft, damit es sie zerreißt und bei lebendigem Leib verbrennt. Michaś brüllte und wand sich in ihrer Umarmung, die Bomben interessierten ihn sehr. Auch sie selbst hätte sie gern berührt. Sie betrachtete sie lange, überlegte sich, ob sie kalt oder warm seien, schwer oder eher nicht, ob sie explodieren würden, wenn sie sie anfasste. Schließlich kehrte sie um, flüsterte Michaś zu, er solle endlich den Mund halten, und machte sich auf den Heimweg. Vater und einige andere gingen sofort an den beschriebenen Ort, und sie sah die Bomben nie wieder. Angeblich kamen einige Soldaten, aber sie hatte keine Ahnung, ob es gute oder böse Soldaten waren.

Sie verstand vieles nicht in jener Zeit, alles ringsum wurde immer seltsamer, außerdem hatte sie die ganze Zeit das Gefühl, bald werde etwas Wichtiges geschehen. Wichtiger als die Flugzeuge am Himmel, die brennende Scheune und die Granaten auf den Gleisen.


Zwei Tage nachdem sie die Bomben gefunden hatte, kam der junge Herr Nagórny zu den Eltern. Er setzte sich an den Tisch, dankte für die Milch, dankte für das Fladenbrot, stützte sich mit den Ellbogen auf die Tischplatte, verschränkte die Hände und sagte:

»Ich möchte mit den Jungs von der Feuerwehr ein Picknick machen.«

Vater saß an seinem Platz am Fenster und betrachtete ihn. Er biss sich auf die Lippe und zupfte an seinem Schnurrbart, wie es seine Art war. Mama setzte sich daneben, rund und rot im Gesicht. Auf ihrem Kopf standen einzelne Haare ab und glänzten in der Nachmittagssonne.

»Ein Picknick im September?«, fragte sie.

Bugaj fuhr mit den adrigen Händen über den Tisch und erwiderte, ja, genau, im September – wer sollte es ihnen denn verbieten: die Deutschen? Die Flugzeuge? Die Bomben? Er verstummte und schien zu überlegen, ob das gut klang, dann erklärte er schon etwas ruhiger, was, wo, wann und warum.

»Man muss zeigen, dass Chojny keine Angst hat«, sagte er zum Schluss, bedankte und entschuldigte sich und verschwand.

Anfangs wollte niemand an dieses Picknick im September glauben. Die Leute hatten andere Sorgen, zum Beispiel immer seltsamere Gerüchte aus der Stadt, Risse in den Mauern der Häuser und zweiunddreißig Leichen auf dem Friedhof von Grzegorzew. Darunter sechs aus Chojny, und eine Leiche aus Chojny zählte praktisch doppelt. Nagórny und die anderen Jungs von der Feuerwehr waren hartnäckig, sie gingen von Haus zu Haus, luden ein, ermunterten und sammelten Pfänder für die Lotterie, wenn auch nicht viele etwas geben wollten. Tosias Vater erklärte, die Idee mit dem Picknick gefalle ihm gut, und gab seinen besten Hahn her. Auch andere ließen sich langsam überzeugen.

Am 17. September 1939 erschienen auf der Wiese hinter dem Hof der Budzikiewiczs Tische mit Essen darauf, an den Tischen Bänke und unter der Pappel ein Drei-Mann-Orchester: einer mit Ziehharmonika, einer mit Flöte und einer mit Tamburin. Keiner von ihnen konnte gut spielen, aber ihr Eifer war groß und hätte für zehn gereicht. In Eimern mit kaltem Wasser wurden Wein- und Schnapsflaschen gekühlt. Allmählich kamen die Leute zusammen, in Grüppchen; alle fanden sich ein, sogar diejenigen, die trauerten. Tosia schien es, als tanzten gerade sie am meisten, als wollten sie nie eine Pause machen.

Sie kam mit den Eltern und mit Gienia, den sie manchmal mochte, oft aber auch nicht. Zuerst stand sie an der Seite, bei den Tischen, wie die anderen. Später, als alle tranken, sangen und tanzten, setzte sie sich zu Gienia und sah Vater, Mutter und den Nachbarn zu.

Den Unsichtbaren sah sie während einer kurzen Pause zwischen den Tänzen, als die Musikanten an den Tischen ausruhten und die übrigen herumtänzelten, ihre Gläser suchten, sich den Schweiß von der Stirn wischten. Er war anders als alle anderen Jungen und Männer, die sie in ihrem Leben gesehen hatte, denn er war weder Junge noch Mann – er war jemand anderes, als wäre er dort auf der Wiese nur halb. Alle, die sie kannte, taten ständig etwas, selbst wenn sie ausruhten, waren sie irgendwie beschäftigt; doch er schien nichts zu tun, sich für nichts zu interessieren, nichts zu wollen. Er hielt einen Becher in der Hand, aber so, wie man ein Blatt in der Hand hält, das man aus irgendeinem Grund abgerissen und schon vergessen hat. Er war weder besonders groß noch besonders klein, hatte eine leichte Stupsnase, schwarzes Haar, schwarze Brauen, Hände und Gesicht waren braungebrannt, die Schultern eher breit. Die Augen so, dass man Lust hatte, die Finger hineinzustecken und zu prüfen, ob sie wirklich existierten, oder ob es nur Löcher im Kopf waren, durch die man hindurchfassen könnte. Er stand allein da, lächelte nicht, sprach mit niemandem, sang nicht. Getanzt hatte er wohl auch nicht, jedenfalls hatte sie es nicht gesehen. Sie kannte ihn nicht als einen aus Chojny; vielleicht war er aus Grzegorzew oder aus Tarnówka, vielleicht war er zu Besuch hier, vielleicht kam er auch einfach aus dem Nichts. Das schien ihr am wahrscheinlichsten.

Später sollte sie erfahren, dass er ein Cousin von Herrn Drews war, fünfundzwanzig Jahre alt, dass er Karol Lipiec hieß und im Wald arbeitete. Doch jetzt wusste sie nichts – jetzt starrte sie ihn an und spürte, dass sie bisher gar nicht existiert hatte, dass es sie gar nicht gegeben hatte, dass sie erst jetzt lebte.

Sie saß an dem riesigen Tisch, Gienia an der Hand, im Haar eine Blume, die ihr Mutter angesteckt hatte, weil sie meinte, das sei schön. Sie roch das Fleisch nicht, sie hörte das Lachen und die Gespräche nicht, die zu engen Schuhe, Gienias Hand und das in die Füße piksende Gras existierten nicht mehr. Es gab ausschließlich diesen seltsamen Menschen aus dem Nichts.

Später ging er in der Menge unter. Er tanzte widerwillig, als würde ihn alles furchtbar langweilen, vor allem die Frauen. Als das Orchester die nächste kurze Pause machte, stand Tosia auf und ging zu ihm hin. Sie reichte ihm mit dem Kinn bis zum Bauch.

»Na du?«, fragte er.

Er sah sie an, niemand anderen, nur sie; er lachte nicht, zog nicht blöd die Brauen hoch wie andere, er tat nichts, guckte einfach, und sie schmolz dahin, versank in der Erde und hatte das Gefühl, dass sie gleich in die Hose machen würde.

»Ich würde gern tanzen«, sagte der Jemand, der sie jetzt war.

Der Unsichtbare nickte, ohne den Blick von ihr zu wenden. Aus der Nähe sah man eine rosarote Narbe, die vom Ohr zum Hals verlief.

»Wir tanzen, wenn du erwachsen bist«, sagte er mit einer solchen Ernsthaftigkeit, dass sie für dieses Erwachsensein die Seelen ihrer Eltern und ihres Bruders gegeben hätte. Sie wollte wissen, wann man denn erwachsen sei. Mit zehn? Doch wohl nicht erst mit fünfzehn? Sie wollte jetzt erwachsen sein, jetzt sofort, sie wollte tanzen. Bevor sie irgendetwas sagen konnte, drehte er sich um und entfernte sich ein paar Schritte. Er stellte sich wieder neben den Tisch, allein, mit dem lächerlichen Becher in der Hand, und war weiterhin einfach nicht da.


In der Nacht schlief sie schlecht; am Morgen kam sie kaum aus den Federn. Sie fühlte sich anders, schlechter, besser, doch eher schlechter. Als wäre jemand aus ihrem Kopf in den Bauch umgezogen. Sie lief wie benommen umher, ihr war übel, sie konnte sich auf nichts konzentrieren. Sie überlegte, ob sie vielleicht schon erwachsen sei, und wenn nicht, wann sie es wohl wäre. Wie groß musste man sein: einen Meter dreißig? Einen Meter fünfzig?

Sie war nicht hungrig und nicht satt, sie war weder müde noch ausgeruht; fröhlich war sie nicht, aber auch nicht traurig, als wäre sie gar nichts. Als wäre sie nicht zu Hause, sondern immer noch dort auf der Wiese, als stünde sie immer noch dem Unsichtbaren gegenüber, mit dem Kopf auf der Höhe seines Bauchs, die Augen auf die Narbe am Hals gerichtet. Dort stand sie den ganzen Tag, und er wiederholte von Zeit zu Zeit, er werde mit ihr tanzen, wenn sie erwachsen sei. Erst gegen Abend war sie wieder mehr zu Hause als auf der Wiese, sie hatte keine Wahl, wegen Vater.

Sie waren schon seit dem Morgen am Bildstock zugange: Vater, Drews, Nagórny und einige andere. Bei der Bombardierung hatte es den Bildstock aus der Erde gerissen, seither lag er im Gebüsch, Maria mit dem Gesicht nach unten. Es regnete seit dem Morgen. Nach allen Seiten breiteten sich allmählich Pfützen aus, auf der Straße glänzte der Schlamm. Jemand behauptete, Maria mit dem Gesicht im Schlamm könne nur weiteres Unglück bringen, also versuchten sie, Maria wieder aufzustellen. Die Figur war schwer und glitschig, aber beim dritten Mal gelang es. Tosia musste ihnen alle Augenblicke irgendetwas holen – sei es eine Schnur aus dem Schuppen, ein Schmalzbrot oder schließlich ein trockenes Hemd für Vater und auch einen Hut, denjenigen, den er nie trug. Es regnete immer stärker und Mama bat die Männer, sie mögen diese Arbeit »auf morgen verschieben, sonst erkältet ihr euch alle, und das war’s dann«, aber niemand hörte auf sie, am wenigsten Vater. Am späten Abend stellten sie Maria wieder an ihren Platz, die Leute kamen zusammen und bewunderten das Werk: der Bildstock nach der Bombardierung, und kein Kratzer zu sehen.

»Guckt mal, der Allmächtige hat nicht zugelassen, dass die Deutschen den Bildstock ruinieren«, sagte Frau Nagórna zu Tosia und den anderen Kindern.

Tosia betrachtete das traurige Gesicht der durchnässten Maria und das dunkle Herz, das auf ihre Brust gemalt war.

»Hätte er nicht besser zugelassen, dass der Bildstock ruiniert wird, und die Leute in der Scheune gerettet?«, fragte sie, aber niemand antwortete.


Vater hatte sich beim Aufstellen des Bildstocks erkältet, wie Mama prophezeit hatte, denn Mama hatte immer recht. Am Morgen hustete er, dass es krachte. Er beharrte darauf, es sei nichts, aber das stimmte nicht. Am Abend kapitulierte er endlich, kroch ins Bett und schlief ein. Er lag neun Tage im Bett, und am zehnten starb er.

Es war eine Grippe – das jedenfalls behauptete Frau Ochyra, die sich mit Krankheiten ein wenig auskannte und meinte, das wäre nicht vom Regen und der Sache mit dem Bildstock gekommen, solche Dinge würde man längere Zeit ausbrüten. Er selbst machte den Eindruck, als wüsste er alles Nötige. Er traf Anordnungen, erklärte, was mit den Pferden, was mit der Schmiede, was mit dem Obstgarten zu tun sei. Die meiste Zeit schlief er.

Alle paar Stunden erwachte er aus einem seichten Schlaf und schüttelte heftig den Kopf. Und er weinte. Das erste Mal nachts, verschwitzt und kaum bei sich. Am Montag ermordeten die Arschlöcher von der Wehrmacht in Sochaczew angeblich dreihundert Menschen, darunter viele Zivilisten, und er lag im Bett und starb an Grippe. Am Dienstag kämpfte ein Oberst Dębek oder Dąbek auf der Öxhöfter Kämpe wie verrückt bis zum letzten Atemzug und nahm sich am Ende selbst das Leben, und er lag im Bett und starb an Grippe. Mittwoch, Donnerstag und Freitag war der Albtraum schlechthin, Bomben zerrissen Häuser, Scheunen und Menschen, Blut sickerte in die Erde, die Leute kämpften, die Leute verwandelten sich in Feiglinge, in Helden, in Verräter und Märtyrer, und er lag im Bett und starb an Grippe.

Das zweite Mal weinte er vor aller Augen. Er sagte nichts mehr, schaute niemanden an, schlug nur einmal mit schwachen Händen auf das Federbett, dann atmete er schwer. Tosia sah zum ersten Mal im Leben, wie Vater weinte, und im ersten Moment kam ihr das komisch, sehr komisch vor, aber später nicht mehr. Später schaute sie in seine großen Augen und auf das seltsam hagere Gesicht und weinte selbst, denn sie verstand nicht, warum Papa immer noch hustete. Er starb am Samstag, kurz vor Sonnenaufgang, vermutlich im Schlaf.


Sie fragte sich, ob der Unsichtbare zur Beerdigung kommen und ob er sie erkennen werde. Er kam, erkannte sie aber nicht. Es war im Übrigen schwer zu sagen. Er stand bei Familie Drews, wieder quasi allein, wieder quasi gelangweilt von all dem; sie hatte Lust, zu ihm zu laufen und zu rufen, es sei ihr Vater, der gestorben sei, es sei die Beerdigung ihres Vaters, da sei Trauer angemessen; sie stellte sich vor, er wäre dann sehr betroffen und würde sie vor aller Augen an sich drücken und sagen, sie sei jetzt erwachsen und sie könnten tanzen.

Letzten Endes lief sie nicht hin, sie tat das, was alle taten: Sie bekreuzigte sich, betete und sang. Nur weinen konnte sie nicht vor allen Leuten. Michaś konnte. Nach der Beerdigung gingen sie nach Hause, und Vater war nicht dabei. Sie dachte: Das muss wohl so sein nach der Beerdigung, vielleicht ist er in der Schmiede, vielleicht ist er betrunken; denn Mama meinte, das kommt bei ihm vor, und Mama hatte immer recht.

Tosia streifte durchs Haus, alle drückten sie an sich, alle strichen ihr über den Kopf, es war sehr schön, und als sie schon sehr müde war, hörte sie Drews zu Ochyra sagen, sein Cousin Karol sei zu ihnen gezogen, er sei ein guter Junge, könne auf dem Feld helfen; was solle er so allein da, ein Mensch gehöre unter Menschen. Sie flüsterte den Namen Karol, bis sie einschlief, mit dem Gedanken: Alles wird gut.


Vater kam nicht mehr nach der Beerdigung, doch die Schmiede stand noch, die Pferde lebten, und alle hatten weiterhin etwas zu reden. Die ersten paar Wochen war Mama ein bisschen schläfriger und ein bisschen liebevoller, aber irgendwann war sie wieder normal. Ein halbes Jahr später wunderte sich Tosia, wie es je anders hatte sein können. Es kam ihr seltsam vor, dass da Vater gewesen war, die Schule, die Bomben. Jetzt gab es nichts – weder ihn noch die brennende Scheune noch die Granaten auf den Gleisen, und auf den Gleisen fuhr auch nichts mehr so wie früher. Niemand zeigte ihr im Laufe des Tages, wie man ein Pferd beschlägt, damit ihm die Füße nicht weh tun, und vor dem Schlafengehen wärmte niemand ihr Kissen auf dem Ofen, und niemand rief mit dröhnender, lustig-schrecklicher Stimme: ab ins Bett, so lange es warm ist.

Fast jeden Tag saß sie mit Mama und den Nachbarn vor dem Haus der Nagórnys, lehnte sich an die rauen Bretter des Zauns und sah dem Kartenspiel zu oder hörte sich die langweiligen Geschichten von Fronten, Soldaten, Manövern an. Nichts geschah.

Der Unsichtbare mit dem Namen Karol wohnte seit ein paar Monaten in Chojny, doch sie sah ihn fast nie. Er fuhr mit seinem glänzenden schwarzen Fahrrad zur Arbeit und kam erst zurück, wenn es dunkel war. Er kam nicht zum Kartenspiel oder zum Erzählen, er betrank sich nicht mit den jungen Männern aus Chojny und sang nicht nachts mit ihnen Lieder, von denen Mama meinte, sie sollte sie nicht hören. Man sagte, er kümmere sich um die Wälder bei Chełmno, aber Tosia verstand nicht so recht, wie man sich um einen Wald kümmern kann.

Viele Monate lang geschah nichts, den ganzen Herbst, Winter und Frühling, bis zum Juni. Am 10. Juni, an einem Montag kurz nach zwölf, kamen zwei Herren in Uniform, einer sah sehr gut aus. Mama stellte auf den Tisch, was sie hatte, und sie hatte Brot, Butter, Schmalz, Nudeln und Blutwurst. Nachdem die Herren gegessen hatten, stand der Gutaussehende auf, lächelte freundlich, schlug Mama mit der Faust auf den Mund und sagte in raschelndem Polnisch, alle sollten machen, dass sie wegkommen.

Rost

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