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Ein Budōka ohne Geduld ist nichts anderes als ein verrückter Bulle. – Budō-Spruch

Die Charakterschule des Budō

Geduld

Auf Okinawa, wie auch in vielen anderen Teilen Asiens, heißt die erste Lektion, die traditionell in der Kampfkunst vermittelt wird, Geduld. In früheren Tagen wählte stets der Meister seine Schüler aus und nicht der Schüler seinen Meister. Heute hingegen gilt es als selbstverständlich, dass man zu einem Kampfkunstmeister geht und von ihm Unterricht gegen Bezahlung verlangt und erhält. Dies ist eine Begleiterscheinung der allgemeinen Kommerzialisierung in den Kampfkünsten.

Traditionell bittet man den Meister um Unterricht und verlangt ihn nicht. Ob der Meister dieser Bitte nachkommt, hängt von verschiedenen Faktoren ab, so z. B. vom Charakter des Anwärters.

Kam jemand zu einem Kampfkunstlehrer mit der Bitte um Unterricht, so schickte dieser den Anwärter erst einmal wieder weg. Meist erklärte der Meister ihm, er habe gerade keine Zeit, und er solle doch ein andermal wiederkommen. Damit stellte er die Geduld des Anwärters auf die Probe. Dieses Vorgehen konnte sich wochen- oder gar monatelang hinziehen. So wurde nicht nur die Geduld, sondern auch die Entschlossenheit getestet und gefördert. Entsprang der Wunsch Kampfkunst zu erlernen nur einer Laune, würde der Anwärter nach einigen Versuchen nicht mehr wiederkommen. Der Meister ist darüber für gewöhnlich nicht verärgert, im Gegenteil, er freut sich über die frühe Auslese. Viel ärgerlicher wäre es, wenn er über Jahre hinweg viel Zeit und Kraft in den Schüler investiert und dieser eines Tages die Ausbildung abgebrochen hätte. Blieb der Anwärter jedoch hartnäckig und kehrte immer wieder zurück, so nahm ihn der Meister zumeist als seinen Schüler an. Dies gilt in traditionellen Schulen bis zum heutigen Tag. Eine Empfehlung durch eine angesehene Persönlichkeit oder ein hoher gesellschaftlicher Rang ersparten zwar nicht die Prüfung der Geduld, aber sie erhöhten die Chancen, letztlich vom Lehrer angenommen zu werden.

Aus der Geschichte des Karate sind zahlreiche solcher Begebenheiten bekannt. Als z. B. Shimabukuro Zenryō (1908 - 1969), der Vater meines Sensei Shimabukuro Zenpo (geb. 1943), einst bei Kyan Chōtoku1 Sensei mit der Bitte um Unterricht vorsprach, sagte dieser nur: »Heute fühle ich mich nicht wohl, komm bitte morgen wieder.« Dies wiederholte sich viele Male. Erst die persönliche Empfehlung durch seinen Schuldirektor verhalf ihm dazu, als Schüler angenommen zu werden.

In meiner eigenen Kampfkunstlaufbahn wurde meine Geduld oft auf diese Weise geprüft. So nahm mein Lehrer in der indischen Kampfkunst Vajramushti (»Diamantenfaust«) mich keineswegs sofort als Schüler an, ebenso wenig wie viele Jahre später Shimabukuro Zenpo Sensei, mein okinawanischer Karatelehrer.

Shimabukuro Sensei hatte ich bereits 1971 in Malaysia kennengelernt. Er beeindruckte mich nachhaltig. Mit dem festen Entschluss, sein Schüler zu werden, reiste ich schließlich 1986 das erste Mal nach Okinawa. – Als feststand, dass meine Frau und ich nach Okinawa fliegen würden, schrieb ich ihm einen Brief, der ihn über unsere Pläne informierte.


Abb. 1

Kyan Chōtoku


Abb. 2

Shimabukuro Zenryō


Abb. 3

Shimabukuro Zenpo.

Shimabukuro Sensei holte uns persönlich vom Hotel ab. Wir sind dann in ein gutes Lokal essen gegangen, wo er mich fragte, ob ich sein Dōjō sehen wolle. Natürlich lautete meine Antwort Ja; schließlich war das mein langgehegter Traum. Daraufhin führte er uns zunächst zu seinem ersten Dōjō in Chatan und dann zu seinem zweiten. Anschließend lud er uns zu Kaffee und Kuchen in sein Büro ein. Als ich ihn jedoch fragte, ob ich bei ihm trainieren dürfe, sagte er nein, dies sei nicht möglich. Zehn Tage blieb ich mit meiner Frau auf Okinawa, und jeden Tag begab ich mich zu Shimabukuro Sensei. Aber nie hat er mir gestattet, bei ihm zu trainieren. Und das, obwohl ich eigens seinetwegen nach Okinawa gereist war.

1987 reiste ich erneut nach Okinawa. Als ich nach meiner Ankunft Shimabukuro Sensei aufsuchte, fragte er mich, was ich denn hier wolle – er habe keine Zeit. Allerdings nahm er sich die Zeit, mich zu verschiedenen anderen Dōjō zu bringen, damit ich dort trainieren könne.

Unabhängig davon lernte ich während dieses Aufenthaltes auf Okinawa auch Matayoshi Sensei2 kennen, der mir sogar Unterricht in seiner Wohnung erteilte.

Shimabukuro Sensei hingegen wies mich stets mit den Worten, er habe keine Zeit, ab. Allerdings war ich fest entschlossen, sein Schüler zu werden. Ich hatte bereits viel Erfahrung im Karate, und nach allem, was ich wusste, war ich fest davon überzeugt, dass es für mich nichts Besseres geben könnte als sein Karate und auch sein charakterliches Vorbild.

Nach einigen Tagen hatte ich so gut wie kein Geld mehr. Ich ernährte mich fast nur noch von dem preiswerten Essen an Straßenständen, um zu sparen und so noch ein wenig länger auf Okinawa bleiben zu können. Kurz bevor meine Reserven vollständig erschöpft waren und ich wieder nach Hause hätte fliegen müssen, bot mir Shimabukuro Sensei eine Wohnung als Unterkunft an. Als ich ihn fragte, was sie kosten würde, meinte er nur: »Wir werden sehen.« Er hatte schließlich erkannt, wie ernst es mir war, und nahm mich als Schüler an. So konnte ich noch einige Zeit auf Okinawa bleiben, und das lang ersehnte Training im Seibukan-Honbu-Dōjō begann. Am Ende stellte sich sogar heraus, dass ich für die Unterkunft überhaupt nichts bezahlen musste, da sie meinem Sensei gehörte.

Die zweite Prüfung, mit der traditionell die Geduld des Schülers auf die Probe gestellt wurde, bestand in harter körperlicher Arbeit. In Asien war es weit verbreitet, dass Schüler für ihre Meister diverse Arbeiten verrichteten, wie z. B. Gartenarbeit, Wasser holen usw. Diese Arbeiten waren zugleich Teil der Bezahlung für den Meister. Manchmal nahm der Lehrer den Schüler auch mit in den Wald, um Kräuter zu sammeln, und zeigte ihm dann, wie man sie verarbeitete, d. h., wie man sie klopfte, trocknete, in Alkohol einlegte usw., um aus ihnen Arznei herzustellen (siehe Kapitel »Kampfkunst und Heilkunde«, S. 41). Die harte Arbeit war zugleich der Beginn des physischen Trainings. Der Schüler erkannte oft zunächst keinen Zusammenhang zwischen diesen Arbeiten und der Kampfkunst, um die es ihm ja eigentlich ging. Tatsächlich aber schulten sie seine Kraft, seine Beweglichkeit, seine Geduld und verhalfen ihm zu wertvollen Kenntnissen in der Medizin. Körper und Geist wurden somit auf das kommende Training vorbereitet. Allerdings kam es vor, dass ein Schüler nach einiger Zeit dem Meister vorwarf, er sei zum Trainieren und nicht zum Arbeiten hier, und ihn verließ. Wenn dies geschah, war der Meister ebenfalls nicht verärgert, denn ihm war nur an ernsthaft an seiner Kunst interessierten Schülern gelegen, die in der Lage waren, die für das lange und mühsame Training nötige Geduld aufzubringen.

Harte Arbeit gehörte in vielen traditionellen Kampfkünsten zur normalen Ausbildung, sei es in China, auf Okinawa oder in Japan. Der chinesische Begriff Kung Fu (auch Gongfu) beispielsweise steht für etwas, das durch harte Arbeit erreicht wird. Heute wird er mitunter als Oberbegriff für die chinesischen Kampfkünste verwendet. Die Schüler, die regelmäßig kochten, Holz hackten, das Dōjō putzten und andere Arbeiten verrichteten, entwickelten eine enge Beziehung zum Lehrer. Sie waren die so genannten Uchi deshi, die inneren Schüler, und hatten über das Training hinaus täglich Kontakt zum Meister. Manches von seinem Wissen über die Kampfkünste lehrte er nur sie.

Als ich mit zehn Jahren zu meinem ersten Lehrer in indischer Kampfkunst ging, musste auch ich für ihn arbeiten. Zu meinen Aufgaben zählte das Ernten von Avarakai, einer indischen Bohnensorte, und ich musste regelmäßig Holz und Wasser für ihn holen. Für ein Kind bedeutete dies viel und harte Arbeit. Aber mein Wunsch, Kampfkunst zu erlernen, war sehr groß, und so verrichtete ich die Arbeiten gern. Tatsächlich war mein Lehrer darauf angewiesen, da er allein lebte und die Bezahlung für seinen Unterricht sehr gering ausfiel. Generell sollte Geld in den Kampfkünsten eine eher untergeordnete Rolle spielen. Shimabukuro Sensei beispielsweise nahm nie Geld von mir an. Wenn ich ihm etwas zukommen lassen wollte, so musste ich es unter dem Tisch verstecken oder seine Frau bitten, es ihm zu geben, nachdem ich gegangen war. Das ist noch heute so.

In den heutigen Dōjō werden oft moderne Geräte für das Krafttraining eingesetzt. Darauf aufbauend werden die Karate-Techniken gelehrt. Nichtsdestotrotz ist es auf Okinawa nach wie vor üblich, dass Kampfkunstschüler im Garten ihrer Meister tätig sind. Wenn ich meinen Lehrer im Garten arbeiten sehe, übernehme ich die Arbeit für ihn. Dies ist eine Geste der Höflichkeit, des Respekts und der Dankbarkeit dafür, dass ich als Schüler angenommen wurde. Ich selbst verlange das aber nicht von meinen Schülern, ebenso, wie Shimabukuro Sensei es nicht von mir verlangte. Ich helfe gern, und es kommt von Herzen.

Das Sprichwort »Budō ist wie eine Orange« beschreibt sehr gut, wie eine traditionelle Kampfkunst erlernt wird: Die Orange ist schön. Der erste Biss – in die Schale – brennt jedoch. Die Zurückweisung des Meisters, die erste Hürde auf dem Weg zur Kampfkunst, brennt ebenfalls. Die zweite Stufe ist vergleichbar mit der weißen Haut der Orange. Sie ist bitter, wie auch die harte körperliche Arbeit. Viele hören hier auf. Die dritte Stufe, das eigentliche Training, entspricht dem süßen saftigen Fruchtfleisch, zu dem man gelangt, wenn man die ersten beiden Hürden überwunden hat. Es gibt allerdings auch Kerne, auf die zu beißen unangenehm ist; sie entsprechen Rückschlägen oder Verletzungen. Auch bei solchen Ereignissen brechen einige Budōka das Training ab. Ein ernsthafter Schüler wird sich aber von Widrigkeiten nicht abschrecken lassen. Budō gleicht einem Weg durch schwieriges Gelände. Es erfordert viel Anstrengung und Geduld voranzukommen. Nur wenige widmen ihr ganzes Leben diesem Weg, die meisten geben unterwegs auf.

Die verschollenen Traditionen des Okinawa-Karate

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