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PROLOG

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Vor fünf Jahren habe ich aufgehört zu duschen.

Zumindest nach gängiger Vorstellung. Ab und zu halte ich meine Haare noch unter Wasser, verzichte aber auf Shampoo und Pflegespülung, und Seife nehme ich nur noch für die Hände. Auch die anderen Körperpflegeprodukte, die ich früher mit Sauberkeit verbunden habe, wie Peelings, Feuchtigkeitslotionen oder Deos, verwende ich nicht mehr.

Ich würde das nicht unbedingt jedem empfehlen, denn in vielerlei Hinsicht war es furchtbar. Aber es hat mein Leben verändert.

Gern würde ich behaupten, ich hätte mit dem Duschen aus ehrenwerten, tugendhaften Gründen aufgehört: Etwa, weil in Amerika dabei durchschnittlich 75 Liter völlig sauberes Wasser verbraucht werden, oder weil das Wasser mit erdölhaltigen Reinigungsmitteln und Seife verschmutzt wird und das Palmöl der Seifen aus Plantagen stammt, für die Regenwald gerodet wurde. Oder weil die Schiffe und Güterzüge, auf denen die Körperpflegeprodukte rund um den Globus reisen, von fossilen Kraftstoffen angetrieben werden, weil die antimikrobiellen, konservierenden Zusatzstoffe und das Mikroplastik in unsere Seen und Flüsse, in unsere Nahrung, unser Grundwasser und schließlich in unsere Körper gelangen. Weil die endlosen Reihen aus Plastikflaschen, in denen die Produkte in den Drogeriemärkten der Welt stehen, niemals verrotten werden, sondern sich als große Inseln auf unseren Meeren sammeln. Oder weil die Wale tragischerweise versuchen, sich mit diesen Inseln zu paaren.

Das mit den Walen stimmt nicht (hoffe ich). Aber all die anderen guten Gründe dafür, mit dem Duschen aufzuhören, sind tatsächlich die globalen Auswirkungen der individuellen Hygienegewohnheiten von rund sieben Milliarden Menschen. Aber daran hatte ich gar nicht gedacht, als ich mit dem Duschen aufhörte.

Meine Motivation war viel einfacher und hatte nicht wirklich mit dem Duschen zu tun. Ich war gerade nach New York gezogen, wo alles kleiner, teurer und schwieriger ist. Erst kurz zuvor hatte ich meine Arztkarriere in Los Angeles aufgegeben, weil ich Journalist werden wollte. Obwohl mir fast jeder davon abriet, entschied ich mich gegen einen Beruf mit voraussichtlich 500.000 Dollar Jahresgehalt und für eine Branche im weltweiten Niedergang. Ich zog ans andere Ende der USA und befand mich wieder ganz unten auf der Karriereleiter, in einem winzigen Appartement. Vor mir lag ein Weg, der in jede Richtung durch dichten Nebel führte. Ein Mentor riet mir, die Leiter erst wieder zu erklimmen, wenn ich mir zumindest sicher wäre, dass sie an der richtigen Wand stehe.

Ich denke nicht, dass das heißen sollte, »hör auf zu duschen«. Doch für mich war das der richtige Moment, mein Leben einer gründlichen Inventur zu unterziehen. Ich stellte alles auf den Prüfstand und überlegte, auf welche Besitztümer und Gewohnheiten ich versuchsweise verzichten konnte. Um unnötige, wiederkehrende und unüberlegte Kosten zu vermeiden, schraubte ich meinen Kaffee- und Alkoholkonsum herunter, meldete Fernsehen und Internet ab und verkaufte mein Auto. Ich liebäugelte sogar mit einem Leben im Camper, weil das bei Instagram so glamourös aussah, aber davon rieten mir meine Freundin und alle anderen entschieden ab.

Obwohl ich nicht viel Geld für Seife und Shampoo ausgab, fragte ich mich, wie viel Zeit ich alles in allem für die Hygiene aufwendete. Um Menschen dabei zu helfen, schlechte Gewohnheiten abzulegen, schätzen Verhaltensökonom*innen und Produktivitätsexpert*innen gerne die Langzeitwirkung selbst kleinster Entscheidungen: Wenn man etwa in New York täglich eine Packung Zigaretten raucht, gibt man dafür im Jahr mindestens 5000 Dollar aus. Wenn man mit dem Rauchen aufhört, spart man also in den nächsten zwanzig Jahren, Preissteigerungen mitgerechnet, mindestens 200.000 Dollar. Würde man nie wieder zu Starbucks gehen, könnte man, wenn ich das richtig verstanden habe, sich wohl ein Ferienhaus auf den Bermudas kaufen. Wendet man also für Duschen und Körperpflege täglich eine halbe Stunde auf, verbringt man in hundert Lebensjahren – optimistisch betrachtet und weil es sich leichter berechnen lässt – 18.250 Stunden damit. Ohne Duschen hätte man also volle zwei Lebensjahre mehr freie Zeit.

Freund*innen und Familie wandten allerdings ein, ich würde die zusätzliche Zeit kaum genießen können, da ich mich eklig und ungepflegt fühlen würde. Meine Mutter befürchtete, dass ich mir Krankheiten einfinge, wenn ich die Keime nicht mehr abwusch. Vielleicht würden mir all die so menschlichen Gewohnheiten fehlen, mit denen wir uns zwangsläufig Zeit für uns nehmen und uns zumindest scheinbar der Welt so zeigen können, wie sie uns sehen soll. Oder ich würde einfach die angenehm warme Dusche und das Gefühl vermissen, der Welt jeden Morgen wie neu entgegenzutreten.

Aber was, wenn das alles nicht eintreten würde? Wenn ich seltener erkältet wäre, meine Haut besser aussähe und ich bessere Gewohnheiten und Rituale finden würde? Was, wenn all die Produkte in unseren Badezimmern uns vor allem dazu animieren sollen, immer mehr Produkte zu kaufen? Shampoos gegen fettiges Haar und die Pflegespülungen, die dem Haar das Fett wieder zurückgeben, Seifen gegen fettige Haut und die Feuchtigkeitslotionen, die der Haut das Fett wieder zurückgeben? Wie soll man das wissen, wenn man nie mehr als ein paar Tage lang darauf verzichtet hat?

»Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man nicht duscht«, sagen die meisten Skeptiker. »Nicht gut.« Und ich gebe ihnen recht. Ich weiß, wie es sich anfühlt, keinen Kaffee zu trinken: nicht gut. Oder wie es ist, auf eine Party zu gehen, wo man niemanden kennt: nicht gut. Oder einen Marathon zu laufen, wenn man nicht trainiert hat: auch nicht gut. Aber ich weiß auch, wie es sich anfühlt, nach und nach weniger Kaffee zu trinken, sich in ungewohnten sozialen Kreisen langsam immer wohler zu fühlen oder gut trainiert 42 Kilometer zu laufen, ohne am liebsten sterben zu wollen.

Je allmählicher man sich an neue Abläufe gewöhnt, desto leichter fallen sie einem oder machen sogar Spaß. Und genauso kann man seine täglichen Gewohnheiten der Körperpflege verändern. Je weniger Produkte ich verwendete, desto weniger brauchte ich auch – das sagte mir jedenfalls mein Gefühl. Meine Haut wurde nach und nach weniger fettig, ich hatte weniger Ausschlag. Ich duftete nicht nach Kiefer und Lavendel, roch aber auch nicht so streng wie früher, als ich die Achseln noch täglich mit Deo zukleisterte und dann einmal nicht daran dachte. Wie meine Freundin sagte: Ich roch »nach Mensch«. Aus anfänglicher Skepsis wurde bald Begeisterung.

Allerdings bilde ich mir nicht ein, ich hätte nie schlecht gerochen. Mit der Zeit kam das nur immer seltener vor. Ich erkannte bestimmte Muster. Akne oder schlechter Geruch gingen meistens mit Stress, Schlafmangel oder allgemeinem Unwohlsein einher. Wenn ich auf dem Bauernhof meiner Familie in Wisconsin war oder im Urlaub im Yellowstone-Park wanderte, wo ich manchmal tagelang kein richtiges Klo sah, roch ich meistens ganz anständig und sah ordentlich aus. Doch wenn ich in den trägen Wintermonaten nur ins Büro und wieder nach Hause ging und mich ansonsten kaum bewegte, fühlte ich mich armselig und roch auch so. Insgesamt entwickelte ich vor allem ein besseres Gefühl dafür, was mein Körper »mir sagen wollte«. Offenbar weniger »wasch dich«, sondern eher »geh raus, beweg dich, sei gesellig, etc.«. (Manchmal nuschelt mein Körper noch immer »etc.«).

In gewissem Sinne konnte ich nur mit dem Duschen aufhören, weil ich von Geburt an großzügig mit Privilegien ausgestattet worden war: Ich bin weiß und männlich, habe keine Bewegungseinschränkungen, bin insgesamt gesund, relativ jung, und ich kann es mir leisten, gut sitzende Kleidung zu kaufen, die keine Löcher (oder wenn dann absichtliche) hat, und sie regelmäßig zu waschen und zu wechseln. Ich bin gebildet und beherrsche die Landessprache fließend. Darum muss ich mich in dieser Welt nicht extra beweisen und durch ein erwartungsgemäßes Äußeres zeigen, dass ich dazugehöre. Selbst ungeduscht und ungepflegt hält man mich für kompetent und professionell und heißt mich gern in jedem Restaurant willkommen. Kurzum, ich muss kaum etwas tun, damit man mich für sauber hält.

Die sozialen Normen, nach denen Sauberkeit seit Langem als positiv gilt, stehen unter anderem in engem Zusammenhang mit der Geschichte der Hygiene und der sanitären Einrichtungen. Manche Vorstellungen von Sauberkeit gelten fast universell und lassen sich durch evolutionsbedingte Ekelgefühle erklären, die der Krankheitsvermeidung und dem Selbsterhalt dienen. Andere gehen jedoch weit über den vernünftigen Schutz vor Infektionskrankheiten und Vergiftungen hinaus. Hygienemaßnahmen, die uns vor Krankheiten schützen, haben sich mit gesellschaftlich bedingten Vorgehensweisen vermischt, die letztendlich auf komplexen, von Generation zu Generation weitergegebenen Glaubenssystemen beruhen. Diese wiederum definieren unseren Platz in der Welt und helfen uns, das richtige Gleichgewicht zwischen Zugehörigkeit und Individualität zu finden. Schon lange werden selbst höchst persönliche Entscheidungen im Bereich der Körperpflege von Machtstrukturen beeinflusst und gesteuert.

Während ich an diesem Buch arbeitete, machte ich gleichzeitig einen Abschluss im Fach Öffentliches Gesundheitswesen und beendete eine Facharztausbildung in Vorsorgemedizin. Dieses relativ neue Fachgebiet versteht sich als Gegengewicht zur bisherigen medizinischen Praxis, das Augenmerk vor allem auf Lösungen für Symptome und eng definierte, zeitlich begrenzte Behandlungen zu legen, aber die eigentlichen Ursachen und Probleme kaum zu berücksichtigen. Die Präventivmedizin möchte Krankheiten stattdessen vor allem vorbeugen, und das bedeutet in vielen Fällen erst einmal Zugang zu vernünftiger Nahrung, sauberem Wasser und einer Gemeinschaft, in der ein engagiertes, aktives, sinnstiftendes Leben möglich ist. Auch wenn Gesundheit für jeden etwas anderes bedeuten mag, hat sie doch stets mit einer gewissen, vor allem finanziellen Freiheit und mit frei verfügbarer Zeit zu tun, denn erst dann kann der Mensch gut leben und sich auf zwischenmenschliche Beziehungen und eine sinnvolle Arbeit konzentrieren.

Auch solche Gedankengänge inspirierten mich dazu, der Frage nachzugehen, wie viel Geld und Zeit wir in unsere Körperpflege investieren und welche Normen überhaupt definieren, was dabei normal ist. Viele der Normen wurden und werden von einer stetig wachsenden Industrie bestimmt, die uns seit zweihundert Jahren Gesundheit, Glück, Schönheit und Akzeptanz verspricht, sich aber eigentlich auf im wahrsten Sinne des Wortes oberflächliche Kriterien stützt. Und damit begann meine mehrjährige Erkundungsreise in die Welt und die Geschichte der Seife. Unterwegs analysierte ich die Reichtümer, Produkte und Glaubenssätze der Branche, vom Seifenboom des 19. Jahrhunderts bis zur heutigen Hautpflegeindustrie. Ich sprach mit Mikrobiolog*innen, Allergolog*innen, Genetiker*innen, Ökolog*innen, Kosmetikfachleuten, Seifenfans, Venture-Capital-Unternehmen, Historiker*innen, Amischen, Entwicklungshelfer*innen und ein paar waschechten Betrüger*innen und erfuhr, dass sich unsere Vorstellung von sauber oder rein gerade grundlegend verändert.

Man schätzt den globalen Umsatz mit Seifen, Reinigungsmitteln, Deos, Haar- und Hautpflegeprodukten auf viele Billionen US-Dollar. Die Parade aus Flaschen, Tuben und Döschen, die sich in unseren Duschkabinen und Spiegelschränken aneinanderreiht, dürfte wesentlich imposanter sein als die früherer König*innen. Vieles davon wird uns nicht als Luxus verkauft, sondern als unbedingt notwendig. Ihren unvergleichlichen Höhenflug verdankt die Branche großteils dem Versprechen, unseren Körper vor der Außenwelt zu beschützen.

Doch während wir immer umfangreichere und intensivere Körperpflege betreiben, vergessen wir leicht, was das für die Billiarden von Mikroben bedeutet, die auf unserer Haut leben. Dabei begreift die Wissenschaft erst in Ansätzen, welchen Einfluss die Mikroben auf viele unserer Körperprozesse haben. Ihre große Mehrheit ist nämlich nicht nur harmlos, sondern sogar sehr wichtig für unsere Haut und somit auch für unser Immunsystem.

Die bisherigen Erkenntnisse über das Hautmikrobiom sind jedenfalls bereits Grund genug, unsere Vorstellungen über Seife und Hautpflege zu überdenken und unsere täglichen Gewohnheiten, mit denen wir vermeintlich etwas für Gesundheit und Wohlbefinden tun, einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Die Haut mit ihrem Mikrobiom ist die Schnittstelle zwischen uns und der Natur. Die Mikroben gehören dabei teils zu uns, teils auch nicht. Je mehr wir über dieses komplexe, vielfältige Ökosystem wissen, desto grundlegender könnten sich unsere Vorstellungen von der Hautbarriere, die uns von unserer Umgebung trennt, verändern.

Dieses Buch möchte auch dazu einladen, sich auf die Komplexität der Welt um uns herum und der auf unserer Haut einzulassen. Auch wenn Sie nicht aufhören wollen zu duschen.

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Ich habe dieses Buch noch vor der Corona-Pandemie geschrieben. Sie griff gerade um sich, als das Buch gedruckt werden sollte. Darum findet Covid-19 auf den folgenden Seiten keine Erwähnung. Aber auch in Zeiten eines neuen Pandemiebewusstseins verlieren die Geschichten und Grundsätze, von denen dieses Buch erzählt, nichts von ihrer Bedeutung. Wenn wir uns von der einen Pandemie erholt haben werden, wird irgendwann die nächste kommen. Vielleicht ist es heute sogar wichtiger denn je, unsere täglichen Reinigungsgewohnheiten zu überdenken und uns zu fragen, was wir konsumieren wollen und in welcher Beziehung wir eigentlich zur Natur stehen. Ich habe Hoffnung, dass uns ein besseres Verständnis und Bewusstsein für das mikrobielle Leben in den nächsten Jahren dienlich sein wird.

Natürlich waschen!

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