Читать книгу Nach der Erleuchtung: Boden wischen - Jan Frerichs - Страница 7
Оглавление1. Was ist Alltagsspiritualität – und was nicht?
Als die Idee für dieses Buch entstand, war ich skeptisch. Eine christliche Spiritualität des Alltags? Und dann auch noch eine franziskanische? Kann man davon sprechen, ohne dass es billig oder oberflächlich wird? Mal ganz ehrlich: Franz von Assisi war kein alltäglicher Heiliger. Er zog sich nackt aus, ließ sein Leben als reicher Kaufmannssohn hinter sich, um fortan als Einsiedler in den Wäldern um die Stadt herum mit den Aussätzigen zu leben und Dinge zu tun, die ich gerade nicht als „alltäglich“ bezeichnen würde. Dazu zählen wochenlanges Fasten, stunden- und tagelanges Gebet in Felshöhlen und Ähnliches. Und Jesus? Er fordert seine Jünger auf, nichts mit auf den Weg zu nehmen. Keinen Geldbeutel, keine Ersatzkleidung, sprich: den Alltag mit allen Sicherheiten hinter sich zu lassen. Seine Jüngerberufungen bedeuten radikale Kehrtwenden. Er reißt die Angesprochenen mitten aus dem Leben. Sie lassen ihre Fischernetze liegen, um „Menschenfischer“ zu werden. Ein vollständiger Umbruch des bisher Dagewesenen. Jesus stellt die Welt auf den Kopf. Und später finden wir im Christentum immer wieder Beispiele für genau solche Bewegungen. Da sind radikale Männer und Frauen, die alles hinter sich lassen, um als Eremiten in der Wüste zu beten und Gott zu suchen.
Es sind solche Überlegungen, die mich am Sinn eines Buches über franziskanische „Alltagsspiritualität“ zunächst zweifeln ließen. Vor allem, wenn unter Alltag jene Zeit verstanden wird, die aus Routinen und Gewohnheiten besteht. Ein Alltag oder „tägliches Einerlei“, wie der Duden Alltag definiert, also das, was wir als grau empfinden mögen, uns aber zugleich ein wenig Sicherheit bietet vor dem Einbruch des vielen Nicht-Alltäglichen in unsere kleine Welt. Ist das, was wir Alltag nennen, nicht vielleicht sogar gerade unser Ort der Weltflucht, aus dem Gott uns herausrufen will in den immer je größeren Horizont? Ziehen wir uns nicht gerne in diesen grauen Alltag zurück, um uns nicht mit all den vielen Problemen befassen zu müssen, vor denen die Menschheit steht: Umweltzerstörung, Ausbeutung, Armut, Hunger, Krieg, Migration? Fürchten wir nicht geradezu den Einbruch von Katastrophen in unseren „sicheren“ Alltag: Unfälle, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Trennung, Tod? Wenn eine Spiritualität des Alltags nur dazu dienen sollte, uns ein gutes Gefühl zu geben, ein bisschen Wellness fürs Gemüt, ein bisschen Stillsitzen, um wieder „runterzukommen“ und das Deckchen eines fragwürdigen Friedens über alles zu legen – wäre das nicht eine Spiritualität des Wegschauens? Und braucht es nicht gerade heute Menschen, die furchtlos bereit sind, sich zu konfrontieren – eine Spiritualität des Hinschauens also?
Bei aller Skepsis war auch klar, dass es eine Spiritualität des Alltags natürlich geben muss. Jesus, Franziskus und alle spirituellen Meister und Meisterinnen haben in einem Alltag gelebt. Der Alltag gehört als „Werktag“ – wie der Duden ebenfalls definiert – notwendig zum Leben. Es ist die Zeit des Schaffens und der Arbeit, ohne die wir als Menschen nicht überleben würden. Eine Zeit, in der nichts „Besonderes“ geschieht. Freilich kann auch das schwer erträglich werden. Und wenn es die Weltflucht in den Alltag gibt, so gibt es auch die Alltagsflucht in die Welt, immer das Besondere, Aufregende, Neue suchend. Wenn die Gefahr besteht, im Alltag zu erstarren, so besteht sicher auch die Gefahr, außerhalb des Alltags abzuheben. Und wer spült dann das Geschirr?
Eine Geschichte über den heiligen Bonaventura, einen der ersten Nachfolger des heiligen Franziskus in der Leitung des Ordens, veranschaulicht das sehr schön. Einst kam eine päpstliche Gesandtschaft in den Garten des Klosters, in dem Bonaventura lebte. Er sollte die Kardinalswürde erhalten und in jener Zeit ohne Telefon und Internet standen also nach tagelanger Reise die ehrwürdigen Vertreter des Papstes im Garten, um ihm den Kardinalshut aufzusetzen. Bonaventura war gerade damit beschäftigt, das Geschirr zu spülen, und soll gesagt haben: „Hängt den Hut dort in den Baum. Ich spüle noch eben zu Ende.“ Solch eine Spiritualität ist auf eine bestimmte Art und Weise bodenständig: „Vor der Erleuchtung: Boden wischen. Nach der Erleuchtung: Boden wischen“, heißt es passend dazu – und sehr weise – in einem buddhistischen Sprichwort.
Eine christliche und speziell franziskanische Spiritualität des Alltags hebt also weder ab noch verschließt sie sich vor der Wirklichkeit. Ja, sie besteht im Wesentlichen darin, sich der Wirklichkeit möglichst ganz und gar zuzuwenden und nichts und niemanden auszuschließen. Sie sieht das Heilige im Profanen und das Profane im Heiligen. Sie erwartet Gott eben genau „dazwischen“, möchte ich sagen. Und Gott zu erwarten bedeutet, eben nicht zu wissen, wo Gott ist. Dieses Nichtwissen ist vielleicht sogar überhaupt die genuine Haltung der franziskanischen Spiritualität. Eine Herausforderung, die anzunehmen und zu erforschen sich lohnt. Denn daraus erwächst eine heilige Neugier, die uns fähig macht, kreativ zu sein und das Potenzial zu entfalten, das in jeder und jedem von uns angelegt ist. Franz von Assisi war in diesem Sinne durchdrungen von der Überzeugung, Gott in der Welt, mitten im Leben, mitten im Alltag, eben in diesem geheimnisvollen Dazwischen zu entdecken. Und „entdecken“ beschreibt die Erfahrung, dass Gott uns bereits erwartet, wenn wir ihm Raum schaffen. Als Stadteremit lebte Franziskus in jeder Hinsicht „dazwischen“: zwischen Kultur und Natur, zwischen Stadt und Land, zwischen Reichtum und Armut, zwischen profan und heilig. Deshalb also dieses Buch: Wie können wir solch einen Weg heute gehen?