Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 699 - Jan J. Moreno - Страница 6
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Оглавление„Wir müssen zusammenbleiben!“
Vergeblich versuchte Philip Hasard Killigrew, das infernalische Heulen, Fauchen und Tosen zu übertönen. Nur die Männer in seiner unmittelbaren Nähe verstanden ihn.
Von den Überresten der Hütte zuckten Flammen durch den Schwefeldunst. Die weiter auffrischende, aus Nordosten wehende Brise trieb die giftigen Schwaden auf den nahen Dschungel zu.
Hustend und spuckend wandten sich die Arwenacks in die Richtung, wo die gelben Schleier zumindest im Moment weniger dicht waren. Erstickend lag der Schwefel auf den Atemwegen, brannte wie Feuer in den Lungen und hinterließ einen Übelkeit erregenden Geschmack im Mund.
Auch nach Tagen der Sklavenarbeit in dieser Hölle hatten sich die Männer nicht daran gewöhnt. Der feine Staub, den die Explosionen aus den Stollen ins Freie gewirbelt hatten, war schlimmer als alles bisher Erlebte.
Das unterminierte Gelände war in Bewegung geraten. Die Erde bebte. Ein Faß Pulver hatte die Katastrophe ausgelöst – von aufständischen Sklaven und sechs gefangenen Portugiesen der „Cabo Mondego“ gezündet. Zweifellos hatten die Kerle ihre Dummheit mit dem Leben bezahlt. Doch das war ein schwacher Trost für die Überlebenden, die sich mit den entfesselten Gewalten konfrontiert sahen.
Ein ohrenbetäubendes Dröhnen drang aus der Tiefe nach oben. Der Boden wölbte sich auf. Scharfkantiges, gelbbraunes Gestein wuchs vor den Arwenacks in die Höhe, breite Risse entstanden und liefen wie die Fäden eines Spinnennetzes strahlenförmig auseinander.
Im Sturm und auf glitschigen Decksplanken bewahrten die Männer zwar einen sicheren Stand, doch jetzt wurden einige von den erneuten Erdstößen von den Beinen gefegt.
„Zurück!“ brüllte der Seewolf aus Leibeskräften.
Sie konnten das Lager nicht erreichen. Ohnehin sah es nicht mehr so aus, als wären sie dort in Sicherheit. Die Auswirkungen der Explosionen pflanzten sich über das Gebiet der Mine hinaus fort. Wahrscheinlich erstreckten sich Schwefeladern und Höhlen bis weit unter den nahen Wald, und die Zusammenbrüche einzelner Kavernen sorgten für neue Beben.
Ein Felsrutsch hatte die untersten Stolleneingänge verschüttet, weiter oben am Berg aber Höhlungen freigelegt. Geröll polterte mit Donnergetöse die Hänge hinunter. Giftgelbe Schwefelwolken krochen wie ein alles verschlingender Moloch über den Boden, ehe sie mit dem anhaltenden Nordost verwehten.
Der Tod saß den Arwenacks im Nacken und spornte sie an. Ihr Ziel war jetzt der Dschungel, der sich wie eine dichte grüne Wand weit voraus abzeichnete.
Mitten im Schlammsee begann es zu brodeln. Ein heftiger Sog entstand und dehnte sich trichterförmig in die Tiefe aus. Aber das sah keiner der Seewölfe. Die Männer hatten mit sich selbst zu tun.
Old Donegal ruderte jäh mit den Armen. Wie Windmühlenflügel schwangen sie durch die Luft. Verzweifelt kämpfte er um sein Gleichgewicht, jedoch nicht, weil sich der Boden scheinbar in wellenförmigen Bewegungen aufbäumte, sondern weil sein Holzbein feststeckte. In einer schmalen Spalte, die eben noch nicht da gewesen war, hatte sich die Prothese verkeilt. Old Donegal zerrte mit aller Kraft, doch er saß fest wie der Fuchs in einer Falle.
„Wir müssen hier weg!“ schnaubte Blacky hinter ihm. „Aber du führst Eingeborenentänze auf. Was soll das Gehopse?“
„Dummkopf!“ fauchte der Alte. „Sperr die Klüsen auf, dann siehst du vielleicht, daß ich feststecke.“
„Wenn es dein gesundes Bein wäre, hättest du Grund zum Jammern.“
Old Donegal Daniel O’Flynn lief knallrot an. Er beherrschte sich jedoch und versuchte erneut mit aller Kraft, das Bein zwischen den Felsen hervorzuziehen. Der Schweiß rann ihm in Strömen übers Gesicht. Er schaffte lediglich einen winzigen Ruck nach oben: zwei Fingerbreiten von zwei Handspannen.
„Schnall dein Holzbein ab“, riet Blacky. „Oder willst du wegen des lausigen Dings ins Gras beißen?“
„Was ich tue und was nicht, das geht dich Grünschnabel einen feuchten Dreck an!“ Old Donegal war wütend und geladen wie eine feuerbereite Culverine. Jedes weitere Wort, jede Regung, die ihm nicht behagte, konnte der Zündfunke sein, der die Ladung zur Explosion brachte.
Big Old Shane, der einstige Schmied von Arwenack, stieß eine undeutliche Verwünschung aus. Er war der letzte in der langen Reihe der geschundenen, verdreckten Seewölfe, die ihr Heil in der Flucht suchten. Er bedeutete Blacky, den Alten an den Schultern zu stützen, bückte sich selbst und packte ebenfalls energisch zu.
Donegals Prothese mußte mit – sie war mehr als nur ein Stück Holz und eine Gehhilfe. Schon der kunstvoll eingearbeitete, funktionsfähige Musketenlauf rechtfertigte die Mühe. Abgesehen davon hatte der Admiral wohl keine Chance, nur auf dem linken Bein hüpfend zu fliehen.
Dunkler Qualm umfloß die Prothese, als hätte ihr festsitzendes Ende zu brennen begonnen. Old O’Flynn stieß ein erschrecktes Zischen aus.
„Beeil dich, Shane! Oder soll ich Wurzeln schlagen?“
Das Stückchen Felsen, auf dem sie standen, sackte ab. Von einem Moment zum anderen.
Alles ging so schnell, daß Old Donegal erst begriff, als er Blacky schon gut drei Yards über sich an der Abbruchkante hängen sah. Vergeblich versuchte er sich in die Höhe zu ziehen.
Wieder ein harter Ruck – die nächste Etappe auf dem Weg zur Hölle.
Während Shanes Achtersteven unsanft mit dem Geröll Bekanntschaft schloß, ruderte Old Donegal schon wieder mit den Armen. Die verklemmte Prothese hielt ihn aufrecht, und das war unter den gegebenen Umständen schlimmer als ein Sturz.
Dabei geschah alles innerhalb weniger Augenblicke. Keiner der Seewölfe fand Zeit, sich zu besinnen, geschweige denn, etwas zu ihrer Rettung zu unternehmen. Als die Bodenspalten aufzubrechen begannen, stolperten die Männer hastig weiter, und bis Hasard und die anderen, die immer noch die Führung innehatten, bemerkten, was mit Old Donegal, Shane und Blacky geschah, konnte sich letzterer schon nicht mehr halten.
Schreiend stürzte er fast sieben Yards in die Tiefe, und eine Unmenge Lockeres Geröll prasselte auf ihn und die anderen nieder.
„Ein Tau, verdammt!“ brüllte Big Old Shane. „Werft uns ein Tau zu!“
Dabei wußte er zu gut, daß niemand auch nur einen Tampen bei sich hatte. Aber irgend etwas mußte er tun. Die Gewißheit, auf dem Grund eines düsteren Schachtes gefangen zu sein, war niederschmetternd.
Blacky lag zusammengekrümmt da, schützend die Arme über den Kopf erhoben, und eine Unmenge Erde, lockeres Geröll und Schwefelstaub ergoß sich über ihn. Ob er sich beim Sturz verletzt hatte, war nicht zu erkennen.
Shane hatte selbst genug Probleme. Der Schwefel raubte ihm den Atem. Neben sich hörte er Old Donegal gequält husten. Innerhalb weniger Augenblicke wurde ein ersticktes Keuchen daraus.
Wie aus weiter Ferne drangen Worte zu ihm. Shane glaubte, die Stimme des Seewolfs zu erkennen, doch was Hasard rief, verstand er nicht.
Immer noch bebte der Boden. Niemand hatte je so ein gräßliches, durch Mark und Bein gehendes Knirschen und Bersten gehört. Selbst wenn Schiffsrümpfe beim Enterkampf aneinanderrieben, war es nicht so.
„Wir holen euch raus!“
Mehr Druck prasselte aus der Höhe nach unten. Die Augen brannten vom Schwefelstaub, aber sie auszuwischen, hatte wenig Sinn. Das hätte bedeutet, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Überall war dieser schreckliche feine Staub.
„Wir holen euch …!“
Big Old Shane wußte schon nicht mehr, ob er die Stimme wirklich hörte, oder ob sie nur in seiner Einbildung existierte. Und darüber nachzudenken oder gar zu versuchen, es herauszufinden, blieb ihm keine Zeit.
Von einer unwiderstehlichen, imaginären Riesenfaust gepackt, klatschte er gegen die Felswand. Vergeblich versuchte er noch, sich abzufangen. Der Aufprall schürfte ihm die Hände auf und trieb ihm endgültig die Luft aus den Lungen. Vorübergehend hüllte ihn Schwärze ein. Er balancierte auf dem schmalen Grat zwischen Ohnmacht und Wachen, doch die Schmerzen in den Armen und Old Donegals Gebrüll hielten ihn in der Wirklichkeit fest.
Irgendwie erfaßte er, daß die Bodenspalte, ebenso schnell wie sie sich aufgetan hatte, in sich zusammenbrach. Große Lehmbrocken lösten sich aus der Wand, und die Geräuschkulisse steigerte sich zum ohrenbetäubenden Inferno.
Flieh! hämmerte es in ihm. Bring dich in Sicherheit!
Der erste Impuls war, dem Drängen nachzugeben, halb blind und von Panik erfüllt dem Sensenmann ein Schnippchen zu schlagen. Aber wo fand er Sicherheit? Solange die Schwefelmine in der Tiefe von heftigen Beben erschüttert wurde, konnte jeden Augenblick alles zusammenbrechen. Rücksichtslos waren die Stollen vorangetrieben worden, doch die wenigsten waren ausreichend abgestürzt, und wo Kanthölzer dem Gesteinsdruck trotzten, hatten zumindest Schwefel und stinkende Sickerwässer das Holz zermürbt.
Die Fußketten, die man allen Minensklaven angelegt hatte, waren das größte Hindernis. Oft genug verfingen sie sich auf dem geröllübersäten Boden. Old Donegal Daniel O’Flynn trug als einziger von ihnen keine Ketten. Offenbar waren die Aufseher der Meinung gewesen, allein schon sein Holzbein hindere ihn daran, aufmüpfigen Gedanken nachzuhängen.
Der Alte hatte sich in der Tat alle Mühe gegeben, seine Hilflosigkeit herauszukehren, hatte dabei aber nie riskiert, daß ihn die Inder für überflüssig hielten.
„Meinetwegen bin ich der letzte Dreck für diese Schinder“, hatte er noch vor zwei Tagen geäußert. „Die Hauptsache ist, sie sehen in mir keinen überflüssigen Esser. Solange sie mich unterschätzen, kann das für uns nur von Vorteil sein.“
Old Donegal zögerte nicht, als er mit Shanes verdreckter Gestalt zusammenprallte.
„Verdammt!“ knurrte er gereizt und rammte Shane die Fäuste in den Magen. „Kümmere dich gefälligst um Blacky! Allein schaffe ich es nicht. Und die da oben …“
Wahrscheinlich war es schon zu spät. Das Beste, was ihnen geschehen konnte, war, lebendig begraben zu werden. Im schlimmsten Fall wurden sie von den herabstürzenden Gesteinsbrocken erschlagen oder erstickten im Schwefelstaub.
Von einem krampfartigen Hustenanfall geschüttelt, brach der Admiral ab. Shane hatte ihn ohnehin nicht verstanden – doch das tat nichts zur Sache, solange er seine Gesten richtig deutete.
Gemeinsam befreiten sie Blacky von dem letzten Geröll, das seinen Unterleib und die Beine bedeckte. Blacky war schlichtweg im Traumland. Old Donegal versuchte, ihn mit sanften Schlägen ins Gesicht wieder auf die Beine zu bringen, doch begann nur die dicke Schicht aus Schweiß, Dreck und Schwefelstaub abzublättern.
„Hoffentlich hat er keine inneren Verletzungen.“
Shane schaute ihn verständnislos an.
„Hoffentlich … Ach was!“ Old Donegal winkte heftig ab.
Gemeinsam zerrten sie den Bewußtlosen weiter. Die Felsspalte mündete in einen halbverschütteten Stollen. Sich da drinnen zu verkriechen wie ein Maulwurf, erschien immer noch besser, als sich unter freiem Himmel von einstürzenden Felswänden erschlagen zu lassen.
Unmittelbar hinter ihnen brach die Spalte endgültig zusammen. Felsspalten von der Größe eines Fuhrwerks lösten sich aus den Wänden und donnerten alles zerschmetternd nieder. Dazwischen türmte sich lockeres Geröll.
Abgesprengte Gesteinssplitter schwirrten durch die Luft. Einer davon traf Old Donegal am Hinterkopf. Der Admiral verdrehte die Augen und sackte in sich zusammen.
Sie hatten keine Möglichkeit, den drei Männern beizustehen, die innerhalb weniger Augenblicke in die Tiefe der Spalte verschwunden waren. Der Seewolf rief noch nach unten, daß sie helfen würden, doch er glaubte selbst nicht daran. In dem Moment war ihm klar, daß er seinen kauzigen alten Schwiegervater wohl nie wiedersehen würde.
Wahrscheinlich würde keiner von ihnen überleben. Das Chaos war perfekt und strebte einem neuen Höhepunkt entgegen.
Hinter den Arwenacks, keine acht Schritte entfernt, öffnete sich ein neuer Abbruch wie ein düster gähnender Höllenschlund. Das Gebiet der überwiegend im Tagebau betriebenen Schwefelmine veränderte sich rasend schnell.
„Wir brauchen Taue!“ rief Edwin Carberry, der Profos der Arwenacks.
Hasard schüttelte stumm den Kopf. Sie hatten nichts außer den Fetzen, die sie am Körper trugen, und ihren bloßen, vom Schwefel angefressenen Händen.
„… oder Stangen. Die Kanthölzer der Stege und Rampen sollten genügen.“ Carberry schwieg wieder. Er sah ein, daß sie es schaffen konnten. Ein Blick in Hasards verhärmt wirkendes Gesicht verriet ihm, daß der Seewolf nahe daran war, zu resignieren.
„Verdammt, Sir, willst du ausgerechnet jetzt die Flagge streichen?“
Zwei lumpige Handbreiten vor ihm sackte der Boden ab. Etliche Kubikyards schwefelhaltigen Gesteins donnerten in die Tiefe und verschütteten die Männer, die unten auf Hilfe warteten.
Carberry versteifte sich. Langsam, als müsse er sich zu der Bewegung zwingen, hob er die rechte Hand und schlug das Kreuz vor sich.
„Du warst ein feiner Kerl, Donegal, auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren. Ich denke, du wirst es gut haben im Paradies …“
Für die Dauer einiger Atemzüge ebbte das Toben ab, als wären mit dem Tod dreier Arwenacks genug Opfer gebracht worden.
„Sie haben sich retten können“, behauptete Batuti, der unmittelbar vor der Abbruchkante gestanden hatte. „Da unten war der Eingang zu einem Stollen.“
„Der vielleicht ebenfalls eingestürzt ist“, murmelte Jack Finnegan.
„Das kann niemand sagen, Jack.“
Ein anschwellendes Fauchen war zu hören. Es klang, als rase ein Orkan heran.
Im nächsten Moment brach der schlammige Grund des versickernden Sees an mehreren Stellen auf. Staub, Geröll und Wasser wurden unter hohem Druck in die Luft geschleudert. Wie von Geysiren, die sich in regelmäßigen Abständen entluden.
Das Zeug war sogar ähnlich heiß. Den Arwenacks blieb keine andere Wahl, als bis zu den halbverschütteten Stolleneingängen zurückzuweichen. An den Fontänen gab es kein Vorbeikommen.
Aber auch die Abraumhalden waren erneut in Bewegung geraten, ebenso wie die Überreste der Stege und Rampen und immer noch Teile des Berges. Geröllawinen zwangen die Arwenacks, sich zu trennen. Die Männer verloren sich aus den Augen, viele waren plötzlich auf sich allein gestellt.
Ein Erdbeben mit seinen Folgeerscheinungen konnte nicht schlimmer wüten als diese von Menschenhand verursachte Katastrophe. Sollten in der Schwefelmine überhaupt je wieder größere Mengen abgebaut werden, dann würden bis dahin sicher Monate vergehen.
Die Sonne, im späten Nachmittag stehend, hatte sich verdunkelt. Nicht einmal der Nordost vermochte die trüben Staubschleier aufzureißen, die wie ein Leichentuch über dem Gelände lagen.
Irgendwann kehrte Ruhe ein.
Wieviel Zeit vergangen war, wußte der Seewolf nicht. In seinen Schläfen dröhnte und hämmerte das Blut in wildem Stakkato. Das klang kaum anders als das Toben in der Mine.
Die Staubschleier senkten sich allmählich. Wo sie aufrissen, geisterten purpurne Sonnenstrahlen durch den Dunst. Sie fielen schon sehr flach ein.
Ich lebe!
Die Erkenntnis löste keine Emotionen aus. Dazu war sie nicht geeignet. Sie beschrieb lediglich den Zustand, der momentan seine Gedanken beherrschte und Bedauern hervorrief.
Jemand stöhnte. Dem Stöhnen folgte ein kerniger Fluch.
„Diese dreimal verdammten Affenärsche …“
„Ed!“ sagte Hasard.
Sich zu artikulieren, fiel ihm schwer. Die Zunge klebte ausgedörrt am Gaumen – ein lästiger Fremdkörper, der ihn daran hinderte, endlich tief einzuatmen. Sobald er es versuchte, hatte er das Gefühl, ersticken zu müssen.
Das Rumoren in seiner Nähe brach abrupt ab.
„Sir?“ fragte Carberry zögernd. „Da soll mich doch gleich dieser und jener. Du lebst?“
„Ich denke.“
„Dann denken wir beide das gleiche. Was geschieht nun?“
Hasard wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. Der Schwefelstaub brannte in den Augen, in der Nase, im Mund, in den Lungen und war beißender als eine Wolke von Pulverdampf nach dem Abfeuern einer überhöhten Ladung.
Man konnte sich zwar daran gewöhnen, aber wohl nur für kurze Zeit, denn dann begann der Schwefel den Menschen von innen heraus aufzufressen. Der Seewolf hatte blinde Minensklaven gesehen, deren Augen nur noch verschwollene, von Geschwüren bedeckte Vertiefungen gewesen waren, denen die Säure die Gesichter zerfressen hatte und die bei jedem heftigen Atemzug Blut husteten.
Das Verlangen nach Wasser wurde übermächtig. Vor den letzten Erdstößen hatte sich Hasard in einen verschütteten Stollen geflüchtet, der nur noch vier bis fünf Schritte weit gangbar war. Das Gestein war inzwischen zwar von fingerbreiten Rissen durchzogen, hatte aber standgehalten.
Jeder Knochen schmerzte, als er sich mühsam aufrichtete und den Staub abschüttelte. Die Strapazen der letzten Tage waren auch für ihn zuviel gewesen. In seinem Kopf breitete sich ein Summen wie von einem Hornissenschwarm aus. Eine plötzliche Benommenheit ließ ihn taumeln.
Er stolperte auf den Höhleneingang zu. Die dicht über dem Horizont stehende Sonne blendete.
Jäh begann sich alles um ihn herum zu drehen.
Hasard hatte das Gefühl, von einem rasend schnellen Sog in endlose Tiefen gewirbelt zu werden. Ein Meer aus Farben hüllte ihn ein, in dem gelbe und orange Töne vorherrschten.
Er spürte, daß er stürzte und schwer aufschlug, daß ihn jemand unter den Achseln umfaßte und über den Boden schleifte.
Nie zuvor war ihm ähnlich bewußt geworden, was Hilflosigkeit bedeutete. Vergeblich versuchte er, sich zu artikulieren – er brachte nicht mal ein heiseres Krächzen zustande.
Jemand redete auf ihn ein. Hasard verstand nicht, was die dumpf dröhnende Stimme sagte, doch als ihn ein harter Schlag ins Gesicht traf, entsann er sich, daß Carberry bei ihm war.
„Wasser!“ stöhnte er nach einer Weile.
Inzwischen schaffte er es wieder, die verklebten Augen zu öffnen. Der Profos, der sich über ihn beugte, wirkte wie eine Statue aus gelbgrauem Stein. Nur sein mächtiges Rammkinn bewegte sich.
„Da hast du Pech, Sir“, sagte Carberry. „Wir müssen noch eine Weile ohne Wasser aushalten.“
„Wie viele haben überlebt?“
Carberry zuckte mit den Schultern. Mit seinem massigen Oberkörper verdeckte er jetzt die Sonne, aber ihre Strahlen fluteten seitlich an ihm vorbei, daß es aussah, als leuchte sein verfilztes Haar unter einem Heiligenschein.
„Wie viele?“ fragte Hasard drängend und schob Carberrys Pranken zur Seite. Er fühlte sich wieder einigermaßen in Ordnung, versuchte aber noch nicht aufzustehen.
„Ich weiß nicht“, antwortete Carberry zögernd. „Auf jeden Fall wir beide.“
Er sagte das so emotionslos, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Trotzdem konnte er seine Gefühle nicht verbergen. Nicht vor dem Seewolf. Hasard kannte seinen Profos, der trotz des rauhen Äußeren einen goldenen Kern hatte.
Das trotzig vorgereckte Rammkinn konnte ebensowenig wie das verkniffen wirkende Narbengesicht und die zu Fäusten geballten Pranken darüber hinwegtäuschen, daß sich Carberry nur mühsam beherrschte. Am liebsten wäre er wohl sofort losgestürmt und hätte nach den anderen Arwenacks gesucht, und sei es nur, um sich zu überzeugen, daß sie wirklich tot waren.
Doch die Sorge um den Seewolf ließ ihn zögern.
Aus dem wolkenlosen Himmel erklang der heisere Schrei eines Vogels.
„Die Geier sind da“, sagte Carberry, nach einem flüchtigen Blick in die Höhe. „Noch kreisen sie da oben.“ Trichterförmig legte er die Hände an den Mund. „Ar – we – nack!“ rief er, kaum weniger krächzend als die Schreie der Aasfresser, die sich zu einem größeren Schwarm zusammenfanden.
Der Wind, der heulend über das verwüstete Bergwerk strich, trug den Ruf davon. Weiter als bis auf fünfzig Schritte war bestimmt nichts zu hören. Der Profos wartete vergeblich auf eine Antwort.
„Kümmere dich um die anderen“, sagte Hasard. „Es wird Zeit.“
Carberry bedachte ihn mit einem skeptischen Blick.
„Ich komm schon klar, Ed. War nur ein Schwächeanfall.“ Hasard stieß sich von der Wand ab, an der er zuletzt Halt gefunden hatte.
Er schwankte zwar noch, aber er schaffte es, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Die Zähne zusammengebissen, kämpfte er gegen die erneut in ihm aufsteigende Übelkeit an.
Alles wäre halb so schlimm gewesen, hätte er endlich einige Schlucke Wasser aufgetrieben. Der Schwefelgeschmack, den er seit Tagen im Mund hatte und der immer intensiver wurde, war ekelerregend.
Ein heftiger Hustenreiz schüttelte ihn. Trotzdem rammte er dem Profos die Faust zwischen die Rippen.
„Die Crew braucht deine Hilfe nötiger“, keuchte er. „Hau endlich ab, Mann!“
Der Stolleneingang lag gut vier Mannslängen hoch. Der Fels fiel zwar nicht allzu steil ab, dennoch fragte sich Hasard unwillkürlich, wie sie es während der Beben und trotz der Fußketten geschafft hatten, hier heraufzugelangen.
Der Abstieg bereitete Carberry jedenfalls einige Schwierigkeiten. Als er fast unten war, rutschte er, sich überschlagend und inmitten einer aufstiebenden Schwefelwolke ab.
Reglos blieb er liegen.
Hasard fürchtete schon, der Profos habe sich das Genick gebrochen, doch nach einer Weile erhob er sich und hastete weiter, so gut es eben ging. Er verschwand hinter einem Haufen zersplitterter Stämme, die noch vor kurzem eine stabile Rampe gebildet hatten.
Seufzend ließ sich Hasard auf den Boden sinken. Ein sehnsüchtiger Blick galt dem düster gelborange glühenden Himmel. Keine Regenwolke war zu sehen, als hätte sich der Wettergott Indiens gegen die Arwenacks verschworen.
Nahezu am entgegengesetzten Ende der Mine, wo erst der Wald gerodet worden war und größere Gruben im Tagebau entstanden, ließen sich die Geier nieder. Vielleicht, durchzuckte es Hasard hoffnungsvoll, hatten sie ein verendetes Tier gefunden. So weit konnte sich jedenfalls keiner seiner Männer entfernt haben.
Noch fühlte er sich zu schwach, um ebenfalls den Abstieg zu wagen. Ein paar Augenblicke noch, dachte er, dann bin ich wieder in Ordnung.
Er entdeckte einen scharfkantigen, etwas mehr als faustgroßen Stein und begann damit auf die eisernen Kettenglieder einzuschlagen, obwohl er wußte, daß er ohne richtiges Werkzeug kaum eine Chance hatte, die Fesseln zu sprengen. Aber er mußte etwas tun, wollte er sich nicht in quälenden Selbstvorwürfen ergehen.