Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 693 - Jan J. Moreno - Страница 7

2.

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Diesmal sah es so aus, als hätte Waruna mit seiner orakelhaften Vorhersage unrecht. Tagelang sprach er nur von Gefahren, aber dann erschien eine Karawane arabischer und indischer Händler, die auf dem langen Weg von Madras nach Bangalore ein Stück flußaufwärts zogen.

Die Händler führten Dörrfleisch, Brotfladen und andere Nahrungsmittel im Überfluß mit sich. Aber sie waren keine Hindus, sondern gehörten dem moslemischen Glauben an, und sie gebärdeten sich wie Missionare der übelsten Sorte. Vorräte erhielt nur derjenige, der seinen Göttern abschwor und die Lehren des Korans annahm.

Fast alle hungernden Angehörigen der niedrigen Kasten traten zum Islam über. Sonderlich aufregend war ein solches Verhalten nicht, schließlich gingen nach hinduistischer Überzeugung aus dem Brahman, dem Urprinzip allen Seins, nicht nur die indischen Götter hervor, sondern ebenso der Gott der Juden, Christen und Moslems sowie die Begründer fremder Religionen wie Buddha und Mohammed.

Intoleranz und Fanatismus galten bei Hindus nicht anderen, ihnen fremden Glaubenslehren, sondern lediglich anderen Philosophen, die gleiches Recht für alle verkündeten. Da die zum Islam übergelaufenen Männer und Frauen letztlich auf die gottgewollte Gleichheit aller Menschen hinzuweisen begannen, um damit ihren künftigen Anspruch auf eine gleichmäßige Versorgung zu untermauern, fühlten sich die Hindus der oberen Kasten provoziert.

Nachdem die Händler weitergezogen waren, gab es blutige Auseinandersetzungen, in deren Verlauf mehrere Männer getötet wurden und vier Shudra-Familien in den Dschungel flohen. Danach herrschte für einige Tage Ruhe.

Niemand achtete auf Warunas Warnungen, der nicht müde wurde, von Blut und Schrecken zu sprechen.

Achtunddreißig Einwohner zählte das Dorf noch, darunter die Familien Tschittanga und Rao, die als einzige Shudras weiterhin im hinduistischen Glauben verwurzelt blieben. Auch wenn sie jetzt die doppelte Arbeit leisten mußten, trugen sie es mit Geduld.

Eines Mittags kehrte Warunas Vater blutüberströmt von den unteren Terrassenfeldern zurück, die an den Dschungel grenzten. Er war übel zugerichtet, sein Körper eine einzige klaffende Wunde, und es erschien wie ein Wunder, daß er überhaupt die Kraft gehabt hatte, sich zurückzuschleppen. Er starb jedoch, ehe er berichten konnte, was geschehen war.

Fünf mit Dolchen, schartigen Schwertern und zugespitzten Stangen bewaffnete Männer brachen auf. Lediglich einer von ihnen überlebte. Er sprach von einem riesigen Tiger, der über sie hergefallen sei und schrecklich gewütet habe. Er selbst hatte sein Leben nur der Tatsache zu verdanken, daß er auf einer der höheren Terrassen Ausschau gehalten hatte. Von den anderen, auch den Shudras auf den Feldern, lebte keiner mehr.

Weder für Waruna Tschittanga noch für seine Schwester Sumangalã oder für Khande Rao, dessen Vater zu den Bewaffneten gehört hatte, blieb viel Zeit zum Trauern. Der Tiger riß noch am selben Abend sein nächstes Opfer und schleppte es davon, ehe die völlig überraschten Dörfler eingreifen konnten. Nie zuvor hatte sich eine Raubkatze so nahe herangewagt.

Für Waruna war es nun an der Zeit, sein Leben ganz den Göttern zu weihen.

„Nur auf diese Weise kann ich meine inneren Schmerzen überwinden“, sagte er zu seiner Schwester, die ihm tapfer half, jedes Haar an seinem Körper abzurasieren, ihn mit Lehm einzureiben und mit weißer Asche zu bestreuen. Der junge Mann trug nur ein Hüfttuch um die Lenden geschlungen, mehr wollte er künftig nicht sein eigen nennen.

Khande Rao hingegen wurde von Zorn und Rache getrieben. Bewaffnet wie ein Krieger wartete er darauf, daß der menschenfressende Tiger wieder erschien. Da seine Eltern in den Fängen der Bestie gestorben waren, weil sie ihrem Glauben die Treue bewahrt hatten, schwor er sich, zum Islam überzuwechseln, sollte es ihm gelingen, den Menschenfresser zu töten.

Khande Raos Geduld wurde auf eine lange und harte Probe gestellt. Er sah den Tiger nicht mal, als sich dieser jeweils am anderen Ende des Dorfes weitere Opfer holte.

Nach drei Tagen suchten alle Dörfler endgültig im Tempel Zuflucht. Doch Schrecken und Entsetzen blieben weiterhin ihre Begleiter. Während die letzten Lebensmittel aufgezehrt wurden und nur noch in viel zu geringer Menge aufgefangenes Regenwasser zur Verfügung stand, war das blutrünstige Brüllen der Bestie nun Tag und Nacht zu vernehmen. Der Tiger schlich durch das verlassene Dorf und holte sich den letzten Büffel, der nicht im Tempel Platz gefunden hatte.

Der Hunger wurde unerträglich. Sogar die Brahmanen waren bereit, Waruna endlich Glauben zu schenken, doch sosehr sie ihn bestürmten, er antwortete nur monoton mit dem Satz: „Unser Dorf wird aufhören zu existieren.“

Als die erste Frau zu Füßen der Schiwa-Statue an einem häßlichen Ausschlag starb und weitere Männer und Frauen ähnliche Symptome zeigten, wollte Khande Rao nicht länger nur betend auf den Tod warten.

„Wer Mut hat, begleitet mich!“ sagte er herausfordernd. „Die anderen mögen tatenlos wie Feiglinge warten, bis sie der Tod im Schlaf überrascht.“

Drei Männer begleiteten ihn, die anderen konnten zwar mit Dreschflegeln und Mistgabeln geschickt umgehen, nicht aber mit Dolch oder Schwert.

Sie fanden die schon in Verwesung übergegangenen Kadaver zweier Ziegen und die Überreste des Büffels, in dessen Nähe inzwischen viele Aasfresser lauerten.

Der Tiger war jedoch wie vom Erdboden verschwunden.

Prabhakar, einer der drei Männer, sprach seine Hoffnung aus, daß der Tiger weitergezogen sei. Doch Khande schüttelte nur stumm den Kopf. Er wußte nicht wieso, aber allein aus der Tatsache, daß er den Schwertknauf nach wie vor fest umklammert hielt, schloß er, daß der Menschenfresser noch in der Nähe war.

Dabei ließ sich sein Verhalten genausogut als Furcht deuten. Wenn er an den Moment dachte, an dem er dem Tiger endlich gegenüberstand, fühlte er eine Schwäche in den Knien. Sein Herz schlug dann wie rasend gegen die Rippen.

Bei Beginn der kurzen Abenddämmerung entfachten sie zwei Feuer auf der mittleren Terrasse. Die Schatten düsterer Wolken lasteten erdrückend über dem Fluß und dem bis dicht an die Ufer heranreichenden Urwald.

Das Keckern einer Affenhorde und das schrille Kreischen eines Vogelschwarms, der soeben aus dem Dickicht emporstieg, erfüllten die schwülwarme Luft ebenso wie das monotone Summen blutsaugender Insekten, die sich in Scharen auf die Menschen stürzten und sie peinigten. Nur der Rauch der mit feuchtem Holz genährten und deshalb heftig qualmender Feuer brachte ein wenig Linderung.

„Er verschont uns“, sagte Prabhakar hoffnungsvoll. „Der Tiger ist weitergezogen.“

Khande schüttelte wiederum den Kopf. Jedes Knacken, selbst wenn es nur aus der Glut erklang, ließ ihn zusammenzucken. Irgendwo in der Dämmerung lauerte die Raubkatze, und sie würde angreifen, wenn die Männer am wenigsten damit rechneten.

Das alte, schartige Schwert in der Rechten, wandte er sich den Feuern zu. Zischend und brodelnd leckten bläuliche Flammen über einen knorrigen, verharzten Ast. Während das eine Ende brannte, ragte das andere noch unversehrt und lediglich vom Rauch umwallt aus den Flammen hervor.

„Schiwa hat ein Einsehen“, sagte Tulsi Gnanam, wie Prabhakar ein Brahmane. „Morgen können wir wieder wie gewohnt die Felder bestellen, denn der Tiger ist weitergezogen.“

Im selben Moment schreckte sie ein durch Mark und Bein gehendes Grollen auf. Tulsi und Prabhakar sahen gerade noch die sich verengenden Lichter der Raubkatze hinter einem Gebüsch, dann flog der mächtige gestreifte Körper der Raubkatze heran.

Der dritte Mann stand wie versteinert, er schien nicht mal Khande Raos warnenden Aufschrei zu vernehmen. Gebannt blickte er der Bestie entgegen, unfähig, sich mit einem Sprung zur Seite wenigstens zunächst in Sicherheit zu bringen. Lediglich seine Rechte mit dem Schwert zuckte hoch. Die Klinge beschrieb einen abwehrenden Halbkreis.

Der Tiger setzte dicht vor dem Mann auf, stieß ein gräßliches Fauchen aus, wobei er seine mächtigen Reißzähne sichtbar entblößte, und griff an.

Die Schwertspitze traf seine linke Hinterhand und hinterließ eine blutende Wunde, die aber keineswegs tief genug war, das Tier zu behindern, sondern seine Wildheit eher noch steigerte.

Krachend schlossen sich die mächtigen Kiefer um den Arm des Inders. Der Aufprall riß den Mann rückwärts zu Boden. Er schrie und versuchte vergeblich, dem Tier den Krummdolch in die Flanke zu stoßen. Ein Prankenhieb fetzte ihm das Hemd vom Leib und ließ ihn jäh verstummen. Der tobende Schmerz, den die messerscharfen Krallen zwischen seinen Rippen hinterließen, rief Übelkeit hervor. Bevor Tulsi, Prabhakar oder auch Khande eingreifen konnten, biß der Tiger zum zweitenmal zu. Der Schrei seines Opfers brach gurgelnd ab, als sich die langen Reißzähne in seinen Hals gruben.

Fauchend wandte sich der Tiger den anderen Männern zu. Für die Dauer eines menschlichen Lidschlags wirkte er unschlüssig, denn die Inder attackierten ihn von zwei Seiten her. Dann sprang er Tulsi an und riß ihn mit ungestümer Wildheit zu Boden.

In hohem Bogen wurde Tulsis Schwert davongewirbelt. Er setzte sich mit dem Dolch erbittert zur Wehr und erhielt Beistand von Prabhakar und Khande, der geistesgegenwärtig den starken brennenden Ast aus dem Feuer zerrte und damit auf die Bestie eindrang.

Die Flammen erschreckten den Tiger. Fauchend schlug er mit den Pranken nach Khande, der gerade noch rechtzeitig zurückwich.

Mit der Schwerthand entblößte der Jüngling seine Brust.

„Greif an, Dämon!“ rief er. „Ich werde dich töten, wie du meine Eltern getötet hast!“

Jeder überflüssige Gedanke war wie weggewischt. Khande Rao sah nur den Tiger, während alles andere ringsum für ihn in Bedeutungslosigkeit versank. Das Muskelspiel unter dem gestreiften Fell verriet ihm, daß die Bestie zum Sprung ansetzte, aber noch ehe sich die Katzenaugen verengten und der Tiger wirklich angriff, stieß Khande erneut mit dem brennenden Ast zu.

Fauchend wich das Tier den Flammen aus. Ein Prankenhieb streifte das Holz und wirbelte Glut zu Boden. Argwöhnisch äugte der Tiger auf das plötzlich brennende Gras.

Das alles geschah unheimlich schnell. Khande Rao hatte später Mühe, sich an Einzelheiten zu erinnern. Auch Prabhakar vermochte nicht zu sagen, was genau geschehen war und wie es sich abgespielt hatte. Jedenfalls hinterließ Khandes Schwertspitze eine blutende Wunde im Fell des Tigers.

Als die Bestie sprang, rammte er ihr den brennenden Ast in den aufgerissenen Rachen. Ein neuerlicher Prankenhieb wirbelte ihn zur Seite, geradewegs dahin, wo der Tote lag.

Das war der Zeitpunkt, in dem Prabhakar den Dolch mit aller Wucht schleuderte. Bis zum Heft drang die Klinge in die Flanke des Tieres, das prompt in dem Jüngling den Verursacher seiner Schmerzen sah.

Khande blieb keine Zeit, sich aufzurichten, er konnte gerade noch sein Schwert abwehrend hochreißen, da schnellte die Raubkatze heran. Der Sprung war gewaltig. Ihm wurden schier die Arme ausgekugelt, als er den Tiger aufspießte und vergeblich versuchte, das Schwert abzustützen und den schweren Leib über sich hinwegzuhebeln.

Zum Teil gelang es ihm sogar, doch hätte er sich nicht instinktiv zur Seite gewälzt, wäre er noch unter dem Menschenfresser begraben worden und hätte damit kein anderes Schicksal gefunden als der Tote.

„Wir haben ihn!“ jubelte Prabhakar. Er drosch mit seiner Klinge wie von Sinnen auf das Tier ein, das sich mühsam wieder aufzurichten versuchte.

Khande Rao war zu schwach, dagegen zu protestieren. Ihm hätte das gestreifte Fell gehört, doch indem Prabhakar seiner Wut und dem Haß ungezügelten Lauf ließ, zerstörte er es. Wer hatte schon Verwendung für ein zerschnittenes Tigerfell, selbst wenn es das eines Menschenfressers war?

Endlich, nur noch ein leichtes Zucken durchlief den geschundenen Leib der Bestie, sah der Brahmane das Überflüssige seines Tuns ein und ließ die Waffe sinken. Verächtlich spuckte er aus.

„Ich habe den Tiger getötet!“ sagte er. „Du verdankst mir dein Leben. Kümmere dich um Tulsi, er ist schwer verwundet, aber nicht so, daß er sterben wird.“

Erst als Khande erkannte, daß Tulsi Gnanam zwar bewußtlos war, jedoch regelmäßig atmete, wandte er sich an den Brahmanen.

„Mein Schwert steckt im Leib der Bestie“, sagte er. „Die Schwere dieser Wunde war sicherlich entscheidend.“

„Ich habe ihn erlegt“, erwiderte Prabhakar ärgerlich. „Du hattest lediglich das Glück, daß du ihn vorher schwächen konntest.“

Mit jedem weiteren Wort hätte er sich nur Ärger eingehandelt. Khande schluckte den heftigen Widerspruch herunter, der ihm auf der Zunge lag, und wandte sich um. Der Tod seiner Eltern war gerächt, für ihn gab es nichts mehr, was ihn noch in dem Dorf hielt.

Der Tiger lag in einer größer werdenden Blutlache. Khande hatte Mühe, den leblosen Körper so weit herumzudrehen, daß er sein Schwert wieder an sich nehmen konnte. Ausgiebig säuberte er die Klinge erst im Erdreich und danach im regennassen Gras. Mittlerweile hatten sich Wolken zusammengezogen.

Daß Prabhakar ihn zornig anfuhr, beachtete er nicht. Sollte sich doch der Brahmane Tulsis annehmen. Außerdem waren mittlerweile alle Dorfbewohner auf den Beinen, weil sie den toten Tiger sehen wollten. Sie konnten dem Verletzten weitaus besser helfen.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, hob Khande sein Schwert und schlug dem Tiger die Schwanzspitze ab. Sie sollte ihm Glück bringen.

Die Erleichterung der Männer, Frauen und Kinder äußerte sich in ausgelassenem Jubel und Festtagsstimmung. Keinem fiel auf, daß sich Khande zum Rand der Terrasse zurückzog und schließlich die zum Fluß führenden Stufen hinunterstieg. Prabhakar ließ sich indessen als Held feiern.

Khande Rao wollte mit alldem nichts mehr zu tun haben. Er dachte an Raghubir und verglich den greisen Alten, wie er ihn in Erinnerung hatte, unwillkürlich mit Prabhakar. Beider Verlogenheit stieß ihn ab.

Vielleicht hatte die Abgeschiedenheit des Dorfes sie geprägt. Khande wußte es nicht, ihm war nur klar, daß er nicht so werden wollte. Deshalb ging er fort. Seine Bestimmung lag nicht darin, jahrein, jahraus Felder zu bestellen und fruchtbaren Boden daran zu hindern, vom Monsun weggeschwemmt zu werden – das Schwert in seiner Hand war wie eine Verlockung.

Fest umklammerte er das Heft und klemmte die Schwanzspitze des Tigers unter seinen Hosenbund. Jetzt, nachdem er erstmals gespürt hatte, was es hieß, anderen überlegen zu sein, würde er die Waffe nicht mehr hergeben.

Sein Entschluß stand fest: Er wollte sich als Leibwächter eines Maharadschas verdingen oder ins Heer eines Sultans eintreten. Das Zeug dazu hatte er, davon war er überzeugt.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 693

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