Читать книгу Seewölfe - Piraten der Weltmeere 614 - Jan J. Moreno - Страница 6
1.
ОглавлениеDie Luft unter Deck war stickig und schwül. Jeremiah Henford schlief schlecht, eigentlich döste er nur mit offenen Augen. Dabei war es weniger der schale Mief, der ihm so zusetzte, als die erdrückende Nähe der anderen Passagiere. Der Untergang der „Discoverer“ hatte alles nur noch schlimmer werden lassen.
Seit Tagen schreckte Henford immer wieder schweißgebadet hoch. Dann glaubte er das Tosen der entfesselten See zu hören, das Splittern und Bersten, als der Kaventsmann, eine Riesenwelle, die „Discoverer“ von einem Augenblick zum anderen entmastet hatte, und die verzweifelten Schreie der Männer, Frauen und Kinder, denen die See zum nassen Grab geworden war.
„Der Herr ließ einen großen Wind aufs Meer kommen, ein schreckliches Unwetter, daß man meinte, das Schiff würde zerbrechen. Die Schiffsleute fürchteten sich und schrien, ein jeder zu seinem Gott … Und sie nahmen Jona und warfen ihn ins Meer. Da wurde das Meer still …“
Ein kurzer, spitzer Aufschrei ließ Jeremiah Henfords verhaltenes Murmeln verstummen. Die Frau, die neben ihm auf den nackten Planken lag, nur in eine Decke eingerollt, krümmte sich vor Schmerzen. Kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn.
„Elizabeth!“
Sie reagierte nicht auf seine Stimme, auch nicht darauf, daß er ihr den Schweiß von der Stirn wischte. Ihre Wangen waren eingefallen, spitz traten die Knochen unter der spröden Haut hervor. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Um sie herum hatten sich dunkle, blutunterlaufene Ringe gebildet.
Jeremiah Henford mußte alle Kraft aufbieten, um seine Frau auf den Planken festzuhalten. Wenn sie es vor Schmerzen nicht mehr aushielt, krümmte sie sich wie ein Aal. Seit Tagen mehrten sich ihre Anfälle. Jeremiah sehnte den Tag herbei, an dem endlich Land an der Kimm auftauchte. Aber bislang war alles Beten vergebens. Wie die meisten Pilger hatte er sich die Überfahrt in die Neue Welt völlig anders vorgestellt.
Elizabeth begann zu hecheln wie ein junger Hund, als stünde ihre Niederkunft bevor. Vorsichtig tastete Henford über ihren Leib. Sechs Monate mußten noch ins Land ziehen, bis er seinen Sohn in die Arme schließen konnte. Daß es ein Sohn würde, dessen war er sicher.
Elizabeth war schön wie am ersten Tag ihrer Ehe. Trotz ihres schmerzverzerrten Gesichts und des schlohweißen Haaransatzes. Der Sturm hatte sie über Nacht grau werden lassen.
„Wir schaffen es“, murmelte Jeremiah. „Du mußt nur fest daran glauben, dann wird alles gut.“
Endlich schlug sie die Augen auf. Aber ihr Blick ging durch ihn hindurch und verlor sich in unendlicher Ferne.
Jeremiah küßte sie auf die Stirn. Von irgendwoher zauberte er ein Stück Zwieback. Das schob er seiner Frau zwischen die Lippen.
Doch Elizabeth biß die Zähne zusammen.
„Das ist deins“, brachte sie undeutlich hervor. „Ich brauche es nicht.“
„Aber ich will, daß du das ißt“, beharrte der Mann.
„Nein.“
„Dann tu es für unser Kind.“
„Jeder empfängt seine Ration“, wehrte Elizabeth ab. „Ich kann dir nichts wegnehmen, Jeremiah. Du mußt stark bleiben – was täten wir ohne dich?“
„Denkst du nicht an das neue Leben, das entsteht?“
Unvermittelt packte Elizabeth Henford zu, brach das ohnehin kleine Stück Schiffszwieback mittendurch und reichte ihrem Mann die eine Hälfte.
„Der Herr läßt uns nicht zuschanden werden“, murmelte sie.
Ihre Zuversicht wirkte nicht echt, und ihr Lächeln gefror auf den blutleeren, aufgeplatzten Lippen. Zwei Bissen Zwieback waren es für jeden. Sie kauten lange auf den harten Krümeln, weil ihnen der Speichel fehlte. Auch das Wasser war rationiert.
Eine Weile saß Jeremiah Henford reglos da, das Gesicht in die Handflächen vergraben und die Ellenbogen auf den Beinen abgestützt. Er lauschte dem Ächzen der Bordwände und dem dumpfen Gurgeln von außerbords. Die „Pilgrim“ lief kaum Fahrt über Grund.
Elizabeth war eingeschlafen, als der Mann endlich wieder aufsah. Ihre Züge hatten sich ein wenig gelöst. Vielleicht träumte sie von der Neuen Welt und den fruchtbaren Weiten, von denen in England soviel geredet wurde.
Jeremiah hielt es nicht mehr aus unter Deck. An einem Binnenspant stemmte er sich hoch und stieg über die Schlafenden neben sich hinweg. Zu zehnt waren sie in den Laderaum über der Bilge gepfercht, zusammen mit dem aus Sandsäcken bestehenden Ballast, der sich nun neben dem Schott türmte, und mit allerlei Ungeziefer.
Tief atmete Henford durch, als er den Niedergang zur Kuhl erreichte. Augenblicke später stand er an Deck und hielt sich an einem Tau fest. Die kühle Seeluft stach in seine Lungen und ließ seine Knie weich werden. Die eigene Schwäche erschreckte ihn.
Eine klamme, bedrückende Feuchtigkeit herrschte. Hinter dem Schanzkleid wogte der Nebel in dichten Schwaden, achteraus war die aufgehende Sonne lediglich als trüber Fleck inmitten der Düsternis zu erahnen.
Schlaff hing das Tuch von den Rahen. Jeremiah Henford hatte wenig Ahnung von Seemannschaft, aber daß die Galeone selbst unter Vollzeug wie ein bleierner Fisch im Wasser lag, erschreckte ihn.
Konnte die Einsamkeit schlimmer sein als das Gefühl, in der Nebelbank von Raum und Zeit abgeschnitten zu sein? Wo befanden sich die anderen Schiffe?
Der Nebel ließ das Deck glitschig werden. Vorsichtig enterte Henford zur Back auf. Seine Tochter Ireen hatte sich vor dem Morgengrauen hierher zurückgezogen. Mit dem dreijährigen Jonas, der unter Deck fast ständig weinte. Jetzt schlief der Junge, Hunger und Erschöpfung hatten also doch ihr Recht gefordert. Auch Ireen döste vor sich hin. Sie bemerkte ihren Vater erst, als er neben der Nagelbank in die Hocke ging.
„Es ist alles in Ordnung“, flüsterte Jeremiah beruhigend.
„Und Mam?“ fragte Ireen schlaftrunken.
„Ihr Zustand hat sich nicht verändert.“
„Mein Gott, was soll nur werden?“
Ireen hatte geweint. In ihren Augen, die stets voll Fröhlichkeit gewesen waren, lag ein feuchter Schimmer.
„Sieh voraus“, mahnte ihr Vater. „Die Neue Welt wird uns für alles entschädigen. Wichtig ist nur, daß wir nicht den Glauben verlieren.“
„Und die, die auf der ‚Discoverer‘ ertrunken sind, hat ihnen ihr Glaube geholfen?“ Wie das Mädchen, eigentlich schon eine junge Frau, das sagte, klang es überaus verbittert.
„Ireen!“ fuhr Henford sie an. „Versündige dich nicht! Sei dankbar dafür, daß wir am Leben bleiben durften.“
„Und wie lange noch? Drei Tage, vielleicht sogar vier? Und dann?“
„Die Flaute geht vorüber. Du wirst sehen …“
„Woher nimmst du deine Sicherheit, Dad? Alles ist so anders, als wir uns erträumten. Wir sind nicht mehr als Schafe, die man zusammengetrieben hat und die vor dem Wolf zittern. Zum Leben haben wir zuwenig, aber zum Sterben ist es noch zuviel, was uns der Kapitän vorsetzen läßt.“
„Unser Herr, als der Satan ihn in Versuchung führte, besaß noch weniger.“
„Trug er, wie Mutter, ein Kind unter dem Herzen?“
„Ireen!“ Jeremiah Henford war stolz darauf, seine Tochter nie hart oder gar ungerecht behandelt zu haben. Aber jetzt lagen eine Schärfe und Zurechtweisung in seiner Stimme, die Ireen erschrocken zusammenfahren ließen. Sogar der kleine Jonas schreckte auf. Sein heiseres Schluchzen vermischte sich mit dem Weinen anderer Kinder, das durch die Grätings nach oben drang.
Henfords Miene wirkte wie versteinert, als er sich abrupt umwandte.
„Dad, was hast du vor?“
Falls er die Frage hörte, bereitete er sich zumindest nicht die Mühe, seiner Tochter zu antworten, Ireen sah nicht, daß er die Hände zu Fäusten gebaut hatte.
Jeremiah Henford schluckte schwer, als stecke ihm eine Gräte im Hals. Doch in Wirklichkeit war es die Sorge um die Seinen, die ihn quälte. Und nicht viel weniger der Hunger, der zunehmend stärker in den Eingeweiden wühlte. Seit drei Tagen, als Elizabeth zum erstenmal die Anzeichen von Fieber erkennen ließ, teilte er seine ohnehin kärglichen Essensrationen mit ihr. Sie war jetzt in einem Zustand, in dem sie mehr brauchte als nur wenige karge Bissen. Aber was die Sorgen und Nöte der Passagiere betraf, hatte jeder Offizier an Bord zwei taube Ohren.
Angewidert spie Henford aus. „Schinderpack“, stieß er gepreßt hervor. „Bestimmt leidet ihr selbst noch keinen Mangel.“
Unwillkürlich lenkte er seine Schritte zur Kombüse. Das wurde ihm allerdings erst klar, als er vor dem betreffenden Schott stand. Einen Herzschlag lang zögerte er. Aber was hatte er schon zu verlieren? Entschlossen ging er weiter.
Unter dem großen Kessel brannte zu dieser frühen Stunde ein spärliches Feuer. Der Rauch kräuselte sich durch den Abzug zur Back hoch. Es roch nach Harz und ganz leicht nach Speck. Vom kochenden Inhalt des Kessels geradezu magisch angezogen, griff Henford nach einer herumliegenden Kelle.
Nur einmal kosten, dachte er. Nur das Aroma des zerfallenden Specks und des aufgeweichten Zwiebacks auf der Zunge spüren. Der Herr wird wohl beide Augen zudrücken.
Doch Henford hatte den Koch vergessen. Und der war leider ganz und gar nicht gewillt, eine einzelne Ration auszuteilen.
„Du, Kerl, laß deine schmutzigen Finger da weg!“ erklang es wütend. „Lausiges Diebsgesindel schätze ich gar nicht.“
Jeremiah Henford, die Kelle schon nach der dünnen Suppe ausgestreckt, wandte zögernd den Kopf. Er schwankte zwischen dem drängender werdenden Hungergefühl und der Erkenntnis, sich selbst einen verdammt schlechten Dienst zu erweisen.
Der Koch stand neben dem Vorratsschapp und funkelte den ungebetenen Eindringling herausfordernd an. Wer die Kombüse betrat, konnte ihn nicht auf Anhieb sehen. In der Linken hielt er ein Messer, das einem Schiffshauer an Größe kaum nachstand. Sein aufgedunsenes Gesicht war gerötet, die stechenden Schweinsäuglein lagen tief in den Höhlen.
„Dich sollte man kielholen“, fauchte er, und die Klinge zeigte geradewegs auf Henfords Bauch.
„Nur eine halbe Muck voll von der Brühe“, bat Jeremiah. „Meine Frau ist schwach.“
„Verschwinde! Oder ich nagle dich an den nächsten Mast.“
„Sie erwartet ein Kind.“
„Und wennschon“, erklang es wenig gefühlvoll. „Allen geht es dreckig.“
„Sir, ich bitte Sie. Das Fieber und die Schwäche bringen Elizabeth um.“
Die Haltung des Kochs ließ keinen Zweifel daran, daß er Henford ans Leder gehen würde.
„Wo kämen wir hin, wenn jeder seinen eigenen Kurs läuft?“ sagte er wütend.
Mit hängenden Schultern, um eine Hoffnung ärmer, zog sich Jeremiah zurück. Vor der Kombüse atmete er erst einmal tief durch. Er war bereit, Elizabeth und der Kinder wegen auf alles zu verzichten. Aber wie lange konnte er das durchhalten? Zwei Tage noch, vielleicht sogar drei, doch dann würde die Schwäche unweigerlich ihren Tribut fordern.
Der Klang der Schiffsglocke hallte über die Decks. Acht Glasen. Allmählich wurde es an Bord lebendig. Aber es gab wenig zu tun, solange der Wind nicht auffrischte. Die Mannschaft verbrachte die Tage mit Ausbesserungsarbeiten. Schon wieder breitete sich der Geruch von erhitztem Pech aus, mit dem die Nähte zwischen den Plankengängen kalfatert wurden.
Von irgendwoher erklang das monotone Geräusch einer Lenzpumpe.
Eine innere Unruhe trieb Henford zu seiner Frau zurück. Er begegnete einigen Seeleuten, doch beschränkte sich der Kontakt auf ein knappes Kopfnicken. Wie so meist. Die Kluft zwischen den Pilgern und der Mannschaft, die von Anfang an bestanden hatte, wurde zunehmend deutlicher. Vermutlich gaben die Seeleute den Auswanderern aus der alten Heimat die Schuld an den Zuständen an Bord.
Henford sah das ein wenig anders. Wenn Kapitäne wie Robert Granville von der „Discoverer“ um des Profits willen mehr Passagiere an Bord nahmen als zuträglich und dafür womöglich Proviant an Land zurückließen, dann war das einzig und allein ihre Verantwortung.
Der Herr mochte ein Einsehen haben und nicht die Pilger dafür strafen. Blutopfer waren genug gezollt worden. Die Cholera an Bord der „Explorer“ und erst recht der Untergang der „Discoverer“ hatten viele Menschenleben gekostet.
Zwei Tranfunzeln tauchten den Pferch, wie Henford den halb ausgeräumten Laderaum bei sich nannte, in ein spärliches Halbdunkel. Der Mief hier unten, obwohl er durch Grätings abziehen konnte, war fürchterlich.
Elizabeth lag zitternd auf ihrem Lager. Jemand hatte ihr eine zweite Decke untergelegt, um sie wenigstens vor der von unten aufsteigenden klammen Nässe zu schützen. Jeremiah erschrak, als er ihre Augen sah. Sie wirkten glasig, und ihr Blick war unstet und flatterhaft.
Sanft fuhr er seiner Frau über die Stirn. Elizabeth schwitzte nicht mehr, hatte aber noch immer Fieber. Sie hielt die Hände auf den Leib gepreßt. Blässe überzog ihr Gesicht.
„Das Kind?“ Henford erschrak.
Schwerfällig schüttelte die Frau den Kopf.
„Dann ist es der Hunger“, murmelte Jeremiah. „Du mußt mehr zu essen kriegen.“
„Ich – will keinen – Ärger“, brachte sie abgehackt hervor, griff nach seinem Arm und zog ihn näher zu sich heran. „Bitte“, raunte sie, „wage nicht zuviel.“
Unvermittelt legte sich eine schwere Hand auf Henfords Schulter. Zwei Pilger standen hinter ihm. Den einen, Brian O’Selly, kannte er, denn der war ebenfalls als Passagier für den Frachtraum eingeteilt worden. Der andere war ein Hüne von Gestalt, breitschultrig, muskulös und gut einen Kopf größer als der keineswegs kleine Brian.
„Das ist Bartholomew Roberts“, stellte O’Selly vor. „Ich denke, gemeinsam können wir unser Problem lösen.“
„Für die Flaute ist niemand verantwortlich.“ Henford richtete sich zögernd auf.
„Aber für den Hunger an Bord.“ O’Selly warf einen schnellen Blick in die Runde. Keiner beachtete sie. Die meisten waren mit sich selbst beschäftigt oder starrten blicklos ins Leere. Das Warten, ohne daß etwas geschah, zehrte an den Nerven.
„Bartholomew hat einiges herausgefunden, was noch keiner von uns wußte“, fuhr O’Selly in verschwörerischem Tonfall fort. Erklärend fügte er hinzu: „Wir sind alte Freunde.“
„Was hat das mit mir zu tun?“ fragte Henford zögernd.
„Du willst deiner Frau helfen?“
„Natürlich.“
„Eben. Und Bartholomew und ich können zwei kräftige Fäuste brauchen.“
„Habt ihr vor, die Kombüse zu plündern?“
„Unsinn.“ Für einen Moment blitzte es in O’Sellys Augen erheitert auf. Doch wurde er schlagartig wieder ernst. „Bartholomew hat herausgekriegt, daß es über der Bilge einen verschlossenen Raum gibt, in dem Zwieback, Pökelfleisch und Süßwasser aufbewahrt werden. Es soll sich um die Notration der Mannschaft handeln.“
Henford blickte die beiden entgeistert an. Wenn das wahr war, handelte es sich um eine riesige Schweinerei. Die Pilger darbten, und die Mannen um den Kapitän hatten womöglich mehr als genug, um satt zu werden.
„Du bist also dabei“, sagte Brian O’Selly leise. „Ich sehe es dir an.“
Noch zögerte Henford.
„Das siebte Gebot“, mahnte er, „du sollst nicht stehlen. Habt ihr das vergessen?“
„Und der Kapitän und die Mannschaft?“ Bartholomew Roberts schnaubte erzürnt. „Verhalten die sich, wie es sich für gläubige Christen geziemt? Jeder von uns hat für die Überfahrt bezahlt, viele sogar mit ihrem ganzen Vermögen.“
Stöhnend wälzte sich Elizabeth auf ihrem Lager. Schweiß perlte auf ihrer Stirn. Für Jeremiah gab das den Ausschlag.
„Ich bin dabei“, sagte er. „Wann holen wir die Sachen?“
„Eine Stunde ist so gut wie die andere“, erklärte Roberts. „Aber je eher wir etwas unternehmen, desto eher kriegen wir etwas Vernünftiges zwischen die Zähne.“
Die Aussicht, wenigstens einen Teil der Gerechtigkeit wiederherzustellen, ließ Henford alle Bedenken über Bord werfen. Fest umklammerte er den unter dem Hemd versteckten Belegnagel. Wohl niemand würde das Verschwinden dreier Hölzer entdecken, die sich hervorragend als Waffe einsetzen ließen.
Und Jeremiah war entschlossen, diese Waffe zu gebrauchen. Das war er schon Elizabeth und den Kindern schuldig – hatte doch er seine Frau überredet, in der Neuen Welt einen zweiten, besseren Anfang zu wagen. Wenn sie starb, war das auch seine Schuld, denn ohne sein Drängen säße Elizabeth noch heute in der alten Kate gut ein Dutzend Meilen westlich von London.
Aber was war das für ein Leben gewesen, Tag für Tag Ziegenmilch und frischen Käse auf den Märkten der Umgebung feilzubieten! In der Neuen Welt, so hatte Jeremiah gehört, sollte alles besser, schöner und viel größer sein. Daß die See tödlich sein konnte und die Kapitäne der Pilgerschiffe gerissene Beutelschneider waren, davon hatte niemand gesprochen.
Jeremiah Henford zerbiß eine Verwünschung zwischen den Zähnen. Er warf einen letzten Blick in die Runde, bevor er sich anschickte, Brian und Bartholomew wieder unter Deck zu folgen. Der Nebel hatte sich ein wenig gelichtet und schien allmählich in die Höhe zu steigen. Gleichwohl war die Sicht noch immer auf wenige Kabellängen beschränkt, und von den anderen Schiffen nicht eine Spiere zu sehen.
„Eine weiße Bö!“
Der laute Ausruf ließ Henford innehalten. Zuerst wußte er nicht, was gemeint war, dann entdeckte er den hellen Schaumstreifen auf dem Wasser, der sich von Steuerbord her nur wenig achterlicher als dwars näherte.
Augenblicke später spürte er die kühle frische Brise, die eine Schneise von wenigen hundert Yards Breite in den Nebel riß. Die Segel begannen zu killen, blähten sich – es war fast wie ein Wunder. Die Brise wurde steifer, das Schiff krängte nach Backbord und lief plötzlich wieder Fahrt.
Befehle hallten über Deck. Die Segel wurden getrimmt. Von irgendwo erklangen Jubelrufe. Ächzend schien die Galeone die Lethargie abzuschütteln, die sie während der letzten Tage umfangen hatte.
Dann war die Flaute wieder da.
Übergangslos lag die See erneut so spiegelglatt wie zuvor, hingen die Segel wieder schlaff von den Rahen.
Die Bö war weitergezogen. Wie zum Spott hatte sich der Wind flüchtig erhoben, um den verzweifelten Menschen an Bord die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage noch deutlicher vor Augen zu führen.
Jeremiah Henford schickte ein Stoßgebet dahin, wo er die Sonne hinter dem Dunst nur erahnte. Aber der Wind frischte nicht von neuem auf.
Henford hatte das Gefühl, als lege sich eine eiserne Zwinge um seinen Leib. Das Atmen fiel ihm schwer, alles in ihm verkrampfte sich in einem stummen Aufbäumen. Welche Schuld hatten die Pilger auf sich geladen, daß der Herr die Augen vor ihrer Not verschloß?
Mein Gott, warum? schoß es ihm durch den Sinn. Ist es recht, wenn du Frauen und Kinder quälst? Was sollen wir tun?
Daß er die letzten Worte unwillkürlich laut ausgesprochen hatte, wurde ihm erst bewußt, als ihn O’Selly aus seinen Gedanken wachrüttelte.
„Du weißt, was wir tun müssen“, raunte Brian und zerrte ihn mit sich.
Henford war zum Laufen gezwungen.
„Wir hatten Wind“, sagte er.
„Satan spielt mit der ‚Pilgrim‘“, erklärte Bartholomew Roberts. „Bedarf es eines besseren Beweises?“
Dann mußten sie vorsichtig sein. Roberts gab den Gefährten zu verstehen, daß sie hinter der nächsten Biegung auf die Wache stoßen würden. Niemand hielt sich in diesem Teil des Schiffes auf, in dem lediglich Segeltuch, Farben und Hölzer gelagert wurden.
Henford wußte, welches Risiko sie eingingen. Die Wache durfte keinen von ihnen erkennen, wollten sie nicht an der Rah baumeln oder gar gekielholt werden.
Nachdem sich Roberts und O’Selly die provisorischen Kapuzen mit den Sehschlitzen übergezogen hatten, verfiel Henford in einen taumelnden Gang. Einem jähen Hustenanfall folgte ein krampfhaftes Würgen, bevor er zusammenbrach. Seine Finger schlossen sich um den Belegnagel. Er hatte noch nie einen Menschen niedergeschlagen, aber wenn es sein mußte, würde er den richtigen Punkt zu treffen wissen.
Die Wache war aufmerksam geworden. Schlurfende Schritte näherten sich.
Zwei nackte Füße gerieten in Henfords Blickfeld. Sich wie unter krampfartigen Schmerzen krümmend, blinzelte er vorsichtig nach oben. Der Mann trug knielange, ausgefranste Hosen, in seinem Gürtel steckte ein Dolch. Er war überaus muskulös, ein Kerl, mit dem sich Henford unter anderen Umständen gewiß nicht angelegt hätte.
„He, du!“ erklang es grollend. „Was ist los?“
Henford brachte etwas Unverständliches hervor.
In dem Moment, in dem er sich bückte, bemerkte der Kerl die beiden vermummten Gestalten. Seine Rechte zuckte zum Dolch, trotzdem reagierte er zu langsam.
Bartholomew Roberts schleuderte den Belegnagel mit aller Kraft. Das Holz traf den Seemann haargenau vor der Brust und ließ ihn wanken. Die kurze Zeitspanne genügte Henford, um hochzuschnellen und zuzustoßen. Brian O’Selly war ebenfalls mit wenigen Sätzen heran und schmetterte seine Waffe auf den Schädel des Angegriffenen. Lautlos brach der Kerl zusammen.
Das Schott war verschlossen. Während Roberts den bewußtlosen Seemann fachgerecht verschnürte und ihn mit einem Stück Werg knebelte, versuchte O’Selly, die Verriegelung aufzubrechen. Als Hebel setzte er einen Belegnagel an und nahm dann den Dolch zu Hilfe. Doch das Schott erwies sich widerstandsfähiger als erwartet.
Henford sicherte inzwischen am Niedergang nach oben.
Endlich kapitulierte die Verriegelung vor den zornigen Rammstößen. Muffige, abgestandene Luft schlug den drei Auswanderern entgegen. Das bißchen Helligkeit, das in den Raum fiel, reichte gerade aus, um die Umrisse von Kisten und Fässern erkennen zu lassen.
Triumphierend schlug O’Selly Henford auf die Schulter.
„Haben wir zuviel versprochen?“ fragte er. „Das dürfte ausreichen, um noch eine ganze Woche Flaute zu überstehen.“
Jeremiah blieb stumm. Der Geruch, modriger als anderswo an Bord, gefiel ihm nicht.
In Brusthöhe neben dem Schott hing eine Tranlampe. Roberts steckte den Docht an. Der flackernde Schein verbreitete neue Zuversicht.
Sie schleppten den Seemann in den Raum und schlossen das Schott hinter sich. Eine fette Ratte turnte über die Kisten. Sie floh quietschend, als O’Selly das Messer nach ihr warf.
Zwölf Fässer Wasser, zehn Kisten Zwieback und acht Fässer Pökelfleisch – angesichts dieser Menge achtete keiner darauf, daß die Planken durchnäßt und großflächig von dichtem grünen Schimmel überzogen waren. Der Raum maß nur wenige Schritte, dem Schott gegenüber stand brackiges Wasser mehr als knöcheltief.
An den Modergeruch gewöhnte man sich rasch. Doch er wurde intensiver, als O’Selly eine der Kisten öffnete. Irgend jemand hatte die Nägel bereits entfernt, der Deckel lag nur lose auf.
O’Selly prallte entsetzt zurück. Eine inbrünstige Verwünschung folgte.
In der Kiste war Zwieback gewesen. Indes hatte dieser längst Wasser gezogen und sich in eine übelriechende Masse verwandelt. Eine dicke Schicht Schimmel, in die tote Maden eingesponnen waren, bedeckte die Oberfläche des Breies.
Hastig öffneten die Männer die anderen Kisten. Der gesamte Zwieback war ungenießbar geworden. Das Pökelfleisch war wohl vor Tagen in Verwesung übergegangen. Hier begann sich der Schimmel zwar erst auszubreiten, doch dafür wimmelte eine Heerschar bleicher Fadenwürmer durcheinander.
„Das ist – Wahnsinn.“ Bartholomew Roberts schluckte krampfhaft. „Die Würmer müssen schon in London dringewesen sein.“
„Jemand hat ein verdammt dreckiges Geschäft betrieben“, bestätigte O’Selly. „Diesem Halunken ist es egal, ob wir alle draufgehen.“
„Ohne die Schiffbrüchigen, die wir aufgenommen haben, und ohne die Flaute wäre alles vielleicht halb so schlimm.“
„Willst du den Mistkerl in Schutz nehmen, Bartholomew?“ schnaubte Brian O’Selly aufgebracht.
„Unsinn.“ Roberts vollführte die Bewegung des Halsabschneidens.
„Die Kisten waren geöffnet“, gab Henford zu bedenken. „Also wissen der Kapitän und zumindest seine Offiziere Bescheid. Ich frage mich, warum unter diesen Umständen eine Wache aufgestellt wurde.“
„Um uns Auswanderer zu täuschen“, sagte O’Selly erbittert. „Wir sollen glauben, daß es mit den Rationen, die wir empfangen, noch wochenlang weitergehen kann.“
Auch das Süßwasser war verdorben, obwohl es nicht so schlimm stank wie die anderen Nahrungsmittel. Ein Verdurstender hätte es wohl bedenkenlos getrunken, denn schließlich war egal, woran er starb, aber die drei Mannen brachten es nicht fertig, auch nur ein Ösfaß voll von der schillernden Brühe mitzunehmen.
Um den gefesselten Seemann, der langsam das Bewußtsein zurückerlangte, kümmerten sie sich nicht. Falls er sich nicht selbst befreien konnte, würde er spätestens nach dem Wachwechsel vermißt werden.