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Sommerschwüle

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Gemächlich stieg Martin aus dem Wagen und die Treppen hinab in die Bahnhofshalle. Außerhalb des Gebäudes grüßte ihn wieder die schwülwarme Sommerluft, von der er sich eine Stunde zuvor, als er in den Zug gestiegen war, verabschiedet hatte, allerdings lauerte sie an diesem Tag offenbar in jeder Stadt. Er hatte Zeit. Sein Vater würde erst in einer Stunde kommen, nach der Arbeit, um ihn abzuholen. Kurz überlegte er, ob er noch zum Bäcker gehen sollte oder direkt zum Fluss, wo er oft saß und las, wenn er warten musste, aber irgendwie schlugen ihm die unangenehmen Temperaturen auf den Magen, sodass er sich entschied, den Bäcker Bäcker sein zu lassen und den Weg Richtung Fluss zu nehmen, vorbei an den wenigen prächtigen Bürgerhäusern, die der letzte Krieg verschont hatte.

Das silberne Wasserband schimmerte schon von Weitem. Läufer begegneten ihm und Radler, die sich an der Hitze augenscheinlich nicht störten. Ältere Damen führten ihre Hunde aus. Einige Jungs in seinem Alter lagen meist mit ihren Freundinnen auf den Promenadenwiesen, sonnten sich oder genossen den Schatten. Enten schnatterten, watschelten über das Pflaster und verschwanden die Böschung hinab im kühlen Nass.

Martin wählte eine Bank im Schatten unter einer Pappel – es hätte sich auch um eine Ulme handeln können, so genau kannte er sich da nicht aus. Bäume schön zu finden ist eben etwas anderes, als sie zu bestimmen. Ihm war es ohnehin ziemlich egal, Hauptsache, die Pappelulme spendete Schatten. Er beobachtete das Treiben auf der Wiese, betrachtete den Fluss und die Schiffe, die sich hinaufschoben oder hinabglitten und das andere Ufer mit den bunten Häusern, die den steilen Hang zierten.

‚Wie am Mittelmeer‘, dachte Martin, um im Nachgang festzustellen, dass er dasselbe lediglich von Postkarten kannte. Blöder Gedanke also. Er schmunzelte, zog seinen Rucksack heran und kramte ein Buch hervor. Diese scheußliche Schwüle beeinträchtigte seinen Kreislauf. Er trank den vorletzten Schluck aus seiner Wasserflasche und hoffte, dass die Flauheit nach einer Weile im Schatten nachlassen würde. Die goldenen Zeiger der Kirchturmuhr gegenüber zeigten – welch Polyptoton, zeigende Zeiger! – kurz nach drei. Demzufolge verblieb ihm eine Dreiviertelstunde. Er würde zumindest versuchen zu lesen, wenngleich er von früher wusste, dass es ihm bei alldem, was um ihn herum geschah, schwer fiele. Nach jedem Absatz lugte er über die Buchkante zum Fluss, nach links, nach rechts, um zu schauen, ob nicht vielleicht jemand komme, den er kennt, doch es kam keiner. Von Ferne bemerkte er indes eine ältere Frau, die langsam auf die Bank, auf seine Bank, zusteuerte.

‚Bitte nicht, bitte geh weiter‘, betete Martin. Er hatte absolut nichts gegen Omas, sofern sie vorübergingen. Martin zählte hingegen zu ihren Lieblingsopfern, zumindest was Bushaltestellenomas anbelangte: Frauen in beige oder blasslila Farbtöne gekleidet, die aus heiterem Himmel Gespräche anfingen – stets mit ihm! Selbst wenn dort zwanzig, dreißig, vierzig Menschen standen: Die Anlaufstelle der Bushaltestellenomas hieß Martin, da gab es gar kein Vertun. Gleichermaßen gefürchtet waren die Promenadenomas und die, die dort kam, sah verdammt danach aus. Martin stierte verkrampft in sein Buch. Bloß nicht den Eindruck erwecken, als sei man ‚frei‘.

„Guten Tag“, surrte es aus einem lächelnden Mund.

Martin guckte auf.

„Hallo“, sagte er und versuchte dabei so viel Freundlichkeit in seine Stimme zu legen, wie in Anbetracht der Situation nur ging.

Die Alte strahlte und schlurfte weiter. Martin atmete erleichtert aus. Sie hatte sich nicht setzen wollen. Nachdem er ihr eine Weile hinterhergeschaut hatte – wahrscheinlich um sicher zu gehen, dass sie nicht doch noch kehrt machte – wandte er sich erneut seinem Buch zu.

„Guten Tag“, klang es plötzlich tief neben ihm.

Er zuckte zusammen. Seine Augen glitten vom Buch auf den Boden, über weiße Seniorenschuhe, Beine in grauen Strumpfhosen, einen dunkelblauen, beinahe schwarzen Rock, über einen Blazer gleicher Farbe, der von einem runden, vollen Gesicht abgeschlossen wurde, unter dem der Hals versank. Hinter einer goldumrandeten Brille blitzten zwei ungewöhnlich wache, hellblaue Augen, die nicht recht zum Rest der Erscheinung passen wollten. Die ganze wurde von einem weißen Sommerhut mit blauem Band abgerundet, den es anscheinend zusammen mit der dunklen Handtasche geben hatte, die auf ihrem Schoß ruhte und deren Verschluss die zwei kleinen Hände in den weißen Handschuhen umklammerten, einem Kaninchen beim Männchen-machen ähnelnd.

„Hallo“, sprach Martin, als er seine Worte wiedergefunden hatte. Er hatte absolut keinen Schimmer, wo sie dermaßen abrupt hergekommen war. Wie aus dem Nichts! Und sie machte gar nicht den Eindruck einer typischen Promenadenoma mit ihrem Blau und dem Hut. Promenadenomas hatten keine Hüte und waren gefälligst dunkelgrau. Vermutlich existierten aber auch hier Untergattungen. Martin ließ sich nichts anmerken, konzentrierte sich auf sein Buch.

„Schön hier, nicht“, brummte es.

Er nickte und meinte für seine Verhältnisse unglaublich höflich: „Ja... sehr.“

Seine Augen klebten weiterhin auf den Seiten des Buches. Sie schwieg, ließ ihre Blicke schweifen, geradezu ängstlich die Tasche behütend.

„Ich bin häufig hier. Sie habe ich allerdings noch nie gesehen.“

Martin spürte, wie ihre Augen sich in ihn hineinbohrten. Er hasste dieses Gefühl, zu wissen, dass man angestarrt wird, obwohl sie ihn weder berührte und er sie nicht einmal starren sah und diese dröhnende Stille des Wartens auf eine Antwort seinerseits, wo sie eigentlich gar keine Frage gestellt hatte.

„Ich Sie auch nicht“, überwand er sich schließlich bei äußerlicher Gleichgültigkeit.

Die Oma schien jetzt erst richtig in Fahrt zu kommen.

„Ich bin mittwochs auch eigentlich nicht hier. Sonst nahezu jeden Tag.“

‚Deshalb blieb mir das bisher erspart‘, lachte Martin innerlich und geriet allein von ihrem Anblick ins Schwitzen.

„Was lesen Sie denn“, setzte sie wieder an.

Martin hielt ihr das Buch hin.

„O, Remarque. Nettes Buch. Trauriges Ende. Die Freundin stirbt.“

„Das habe ich mir schon gedacht, wollte es aber selbst lesen…“, seufzte Martin, sich über die ungewöhnlich tiefe Stimme wundernd.

„Na, wenn Sie sich das ohnehin längst gedacht haben“, grinste sie und wippte mit ihrer Handtasche.

Martins Augen sanken zurück ins Buch. Ehe er den nächsten Satz abgeschlossen hatte, startete sie die nächste Attacke: „Früher bin ich mit meinen Freunden immer am Fluss gewesen. Ja, Sie werden es kaum glauben, aber ich war mal jung.“

Sie lachte ein tiefes, rauchiges, Martin verstörendes Lachen.

„Doch, glaub ich Ihnen“, grummelte er verbissen.

„Stockfisch!“

„Was“, er schlug entsetzt das Buch zu.

„Gehen Sie nicht mir Ihren Freunden hin und wieder zum Fluss? Oder Ihrer Freundin?“

Sie stupste ihn munter mit dem Ellenbogen in die Seite und lächelte dabei übers ganze Gesicht.

„Schön auf der Wiese liegen, gedankenversunken, das Leben genießen… Machen Sie nicht manchmal?“

„Nein“, antwortete Martin und begann im Buch zu blättern, um die Seite wiederzufinden.

„Na, jetzt lassen Sie das Buch doch mal zu! Die stirbt doch eh! In der Klinik! In den Bergen! Geht alles den Bach runter! War vor fuffzig Jahren schon so und wird sich jetzt nicht geändert haben.“

Martin glotzte sie an. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Die Kirchturmuhr wies kurz vor halb vier. Über eine halbe Stunde müsste er diese Unperson ertragen, wenn er sich keinen anderen Platz suchen würde.

„Und? Woran liegt’s?“

„Ich wüsste nicht, mit wem ich hier liegen sollte. Es reizt mich ehrlich gesagt auch nicht. Ich sitze lieber auf der Bank“, bekannte er.

„Keine Freunde?“

Martin überlegte. Was wollte sie von ihm?

„Nicht hier.“

„Wo dann?“

„Woanders.“

„Wo liegt das denn“, kicherte sie.

Sein Blick verfinsterte sich ein wenig. Die Alte wollte ihn anscheinend auf den Arm nehmen.

„Entschuldigung, der war blöd“, brach sie in ein Gelächter aus, das noch lauter und klappriger klang als dasjenige zuvor, ein bisschen wie früher die Blechmülltonnen auf dem Schulhof. Dabei bebte ihr ganzer Körper und wieder knuffte sie ihn in die Seite. Martin musste ebenfalls lachen. Die Situation war einfach zu komisch.

„Früher bin ich mit meinem Großvater oft hierher“, berichtete sie und wies flussaufwärts, wo der Hauptlauf mit einem Seitenarm eine kleine Halbinsel bildete. Dort stand das Wasser, bewegte sich bloß, wenn die Wellen eines Schiffes in den Seitenarm schwappten.

„Einmal erzählte er mir von den Flussnymphen. Sie leben im Fluss und kommen zum Schlafen in den Flussarm, weil es da ruhiger ist.“

„Und was haben die im Fluss zu suchen“, erkundigte sich Martin, der die Alte ziemlich abstrus fand. Er hatte sich allerdings zwischenzeitlich damit abgefunden, dass das mit dem Lesen ohnehin nicht mehr klappen würde, weshalb er das Buch beiseitelegte.

„Das sind junge Frauen, die hier mit ihren Freunden auf den Wiesen gelegen haben. Wenn die Freundschaft oder die Beziehung danach in die Brüche geht, müssen sie in den Fluss.“

„Aha,“, meinte Martin mit kaum verstecktem Desinteresse, „der dürfte ja dann recht voll sein, wenn ich so über die Wiesen schaue und sehe, wer hier alles rumliegt…“

„Jedes Mal wenn eine Nymphe stirbt, führt der Fluss weniger Wasser – das hat mir mein Großvater auch noch erzählt.“

„Und was passiert mit den Jungs? Wär‘ doch ein bisschen ungerecht, wenn nur die Frauen in den Fluss müssten, oder?“

„Irgendwie schon… Aber ist Ihnen aufgefallen, dass es am Bahnhof immer mehr Tauben gibt?“

„Ja. Tauben sind allerdings weiblich…“

„Sehen Sie einer Taube etwa an, ob sie weiblich oder männlich ist?“

„Nee… Ich zumindest nicht.“

„Da haben Sie’s! Das sind alles Kerle!“

„Würde trotzdem voll im Fluss und am Bahnhof. Ich zähle gerade fünf Pärchen… Und das jeden Tag im Sommer?“

Sie schien nachzuzählen.

„Sie sind aber pessimistisch. Vielleicht funktioniert‘s ja bei allen!“

„Dennoch… wären auf die Dauer viele…“

„Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass da die ganzen jungen Frauen drin verschwinden. Warum auch? Die haben ihr Leben ja noch vor sich. Sind bestimmt nur alte, graue Weiber, wie ich eins bin“, sie prustete los. Dabei rutschte ihr Hut. Ungewöhnlich flink hatte sie ihn sofort wieder zurechtgerückt.

„Ja, vermutlich“, raunte Martin und sah demonstrativ auf die Kirchturmuhr. Gleich zwanzig vor vier. In einer Viertelstunde hätte er es geschafft und könnte gehen. Zugegeben: Das wäre nun ebenfalls möglich gewesen, jedoch war er einfach nicht der Typ, sich von anderen von seinem Platz vertreiben zu lassen. Zumindest glaubte er, dass es sein Platz war, weil er hier zuerst gesessen hatte. Außerdem fand er die Oma irgendwie ganz lustig. Dass Promenadenomas lustiger sind als Haltestellenomas, hatte er schon früher gemerkt.

„Sind gleich zwanzig vor vier“, sagte sie, der sein Stieren zur Uhr sehr wohl aufgefallen war, trocken.

„Ich muss gleich los“, schob sie hinterher. „Meine Katzen warten. Wenn man Tiere hat, ist man stets gebunden.“

„Ja, das stimmt.“

„Meine Tochter wohnt in Irland.“

„Waren Sie mal da?“

„Ja, aber zu selten. Das Fliegen ist nicht so meins…“

Martin senkte seinen Kopf. Das Buch lag neben ihm auf der rechten Seite.

„Ich lese übrigens auch gerne“, gestand sie, „Hoffmann.“

Martin drehte sein Gesicht zu ihr hin.

„Ha“, schrie er kurz auf und machte einen Satz nach rechts.

„Sköne Oke“, zischelte sie, sich mit ihren Augen in ihn hineinfressend, ehe sie erneut ihr krachendes Gelächter zum Besten gab. „Wohl bisschen schreckhaft?“

„Ach, nein, überhaupt nicht“, erwiderte Martin. Möglichst unauffällig versuchte er, auf seinen alten Platz zurückzugleiten.

„Die Musik von ihm ist auch sehr schön. Auch etwas düster.“

„Texte kenne ich einige von ihm, aber die Musik bisher nicht“, meinte Martin, dem noch nie eine derart unheimliche Promenadenoma begegnet war. Und diese hellblauen großen Augen, viel zu jung für den Rest! Er hatte den Eindruck, dass sie sich andauernd vergrößerten. So oder ähnlich stellte er sich die Augen von Mozarts Osmin vor, als er Pedrillo und Blonde ertappte. Wie in dem Video, das er im Internet mal gesehen hatte, nur dass die Alte keinen Turban trug, sondern diesen weißen, blau bebänderten Hut.

„Müssen Sie sich anhören. Immer dann, wenn man etwas zu kennen glaubt, entdeckt man eine neue Seite an ihm.“

Plötzlich schoss sie auf.

„Ich muss weiter“, sprach sie, „vielen Dank, junger Herr!“

„Dank wofür? Ich habe Ihnen doch bloß zugehört“, runzelte Martin die Stirn.

„Eben dafür. Sie haben zugehört.“

Er blickte zum Fluss, wollte sich ihr zuwenden und etwas sagen, aber sie war verschwunden. Verwirrt stand er auf, schaute sich um, sah nirgends einen weißen Hut noch einen alte Dame, die darunter steckte. Er schüttelte verdutzt den Kopf. Die war weg, spurlos, wie in Luft aufgelöst, wie sein flaues Gefühl.

Die Kirchturmuhr deutete ihm an, dass er gehen sollte. Er packte das Buch in seinen Rucksack, warf ihn über die Schulter und verließ den Promenadenbereich. Diese eigenartige Person beschäftigte ihn auf seinem ganzen Weg zum Bahnhof. In jeder Seitenstraße, ja, in jeder Hofeinfahrt oder jedem Hauseingang hoffte er, einen fast schwarzen Blazer und eine graue Strumpfhose erkennen zu können – vergebens. Er begriff, dass die Frau anscheinend einsam gewesen war, das Gespräch, die Katzen, die Tochter in Irland, der Dank fürs Zuhören. Martin hatte ihre Einsamkeit nicht gesehen und nun sah er sie nicht mehr. Oder war das alles lediglich Spuk – ihr promptes Auftauchen, ihr schlagartiges Verschwinden? Hatte er sich das in der Sommerschwüle alles eingebildet? Ihm schauderte es. Er beeilte sich, damit sein Vater nicht warten musste.




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