Читать книгу Kurzgeschichtensammlung I - Jan Nadelbaum - Страница 3
Ein- und Aussichten
ОглавлениеI.
Die Frühjahrssonne stand senkrecht über dem weiten Platz. Die ihn umgebenden Häuser warfen kaum Schatten. Für kurze Zeit füllten sich die Gassen der Altstadt mit Leben, ehe die Menschen wieder in irgendwelchen Läden oder Büros verschwanden, deren es hier viele gab. Auf einem Balkon, hoch über dem geschäftigen Treiben, saßen – wie abgehoben – an einem kleinen Tisch zwei junge Männer. Sie hatten Mittagspause und waren dort zum Essen verabredet.
„Wir haben uns ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen“, meinte Stig.
Aaron lächelte zustimmend.
„Wie lang ist das her? Drei, vier Monate?“
„Ein halbes Jahr“, korrigierte Aaron trocken.
„Oha, hätte ich nicht gedacht.“
„Ja, aber schön dich noch mal zu sehen“, sagte er und betrachtete halb träumend die kastanienfarbenen Augen seines Gegenübers. Sein Gesicht, sein spitzbübisches Lächeln, seine vollen Lippen und die – zwar nicht ganz in Reih und Glied stehenden – hellen Zähne übten auf ihn einen eigenartigen Zauber aus. Er hätte ihn stundenlang anstarren können, ohne auch nur ein Wort zu wechseln. Selten war er jemandem mit einer solchen Ausstrahlung begegnet, ja, ihm war es, als sei Stig gar der Erste, der überhaupt eine solche Ausstrahlung besaß. Lange hatte er auf ein Wiedersehen gehofft. Früher ging es leichter. Sie kamen beide vom Land, beide aus demselben Dorf und waren zwecks Studiums in die Stadt gezogen, wo sie nun auch beruflich ihr Auskommen gefunden hatten.
„Haben die Herren sich schon entschieden“, fragte eine dunkelhaarige Schönheit, die ihrer Kleidung nach wohl die Kellnerin war und Aaron mit einem Schlag aus seinen Träumen riss.
„Klar, ein stilles Mineralwasser und die Don Giovanni“, lachte Stig ihr ins Gesicht.
Sie blinzelte ihn verlegen an und wandte sich Aaron zu.
„Ein Wasser und die Vegetarische, bitte“, nuschelte er.
„Still, medium oder normal?“
„Medium“, antwortete er unsicher und sah zu Stig.
Die Bedienung nickte, raffte die Karten zusammen und ging wieder, während Stig ihr lange hinterherschaute.
„Scharfes Geschoss“, meinte er nach einer Weile und blickte Aaron an, als wolle er ihn auffordern zuzustimmen.
„Du hast doch deine Pia.“
„Pia? Wer ist Pia?“
Aaron zögerte.
„Deine Freundin…?“
„Meine Freundin?“
„Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hast du mir von einer erzählt, die Pia hieß und deine Freundin sei.“
„Hab ich das“, Stig betrachtete ihn ungläubig, „das muss aber dann schon lange her sein.“
„Wie vorhin gesagt: Ein halbes Jahr.“
Stig grübelte.
„Ja, stimmt, jetzt wo du es sagst. Ich hatte mal was mit ’ner Pia – ist aber echt schon ewig her.“
„Wie man’s nimmt“, warf Aaron ein, „hattest du seitdem so viele andere?“
Er musste lachen. Stig amüsierte sich:
„Warum nicht? Bin doch ein freier Mann. Alter, du solltest dir auch mal eine anlachen. Wie sieht’s denn generell bei dir aus damit?“
„Nix.“
In diesem Moment kehrte die Kellnerin zurück. Aaron schwieg. Stig schien weder sein Schweigen noch die Anwesenheit der Kellnerin zu stören:
„Warum? Es gibt doch so viele schöne Frauen!“
Seine Augen schweiften vom Becken der Bedienung über ihre Taille, den Bauch, die Brüste, den Hals, das Kinn, den Mund und die Nase hin zu ihren Augen. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch gelang ihr das mehr schlecht als recht. Zu sehr verstand es Stig, seine männlichen Reize auszuspielen. Aaron wusste es nur allzu gut. Er drehte beschämt und mit gesenktem Haupt den Fuß seines Wasserglases. Irgendwann sagte er „Danke“ und die Kellnerin stellte die kleine gläserne Flasche ab. Mit einem vielsagenden Blick in Richtung Stig zog sie sich zurück.
„Ich bin halt nicht du“, erwiderte Aaron.
„Hattest du überhaupt schon mal was mit einer?“
Aaron verspürte den Drang, ihm etwas sagen zu müssen, was er ihm schon längst hatte sagen wollen, doch er brachte es nicht fertig. Stattdessen seufzte er innerlich.
„Doch.“
„Ja, und?“
„Ja, ist nicht mehr.“
„Kommt vor.“
„Ja“, gestand er ein und schämte sich, dass er sein Gegenüber belog.
Stigs Augen funkelten. Diese Augen! Aaron besann sich:
„Warum ist nichts mehr mit Pia?“
„Pff… weiß nicht. Hatte keine Lust mehr.“
„Du oder sie?“
„Ich natürlich“, lachte Stig.
„Warum natürlich? Ist das so normal?“
„Bei mir schon. Irgendwann sind die Weiber halt auch wieder langweilig.“
„Willst du denn nicht mal was Festes?“
„Wozu denn? Bin doch jung. Mich binden kann ich später auch noch. Zuerst mal bisschen Spaß.“
„Und die Frauen?“
„Was soll mit denen sein? Haben doch auch ihren Spaß.“
„Ja, schon… aber…“
„Ach, du denkst zu viel“, unterbrach ihn Stig unwirsch.
„Ich weiß nicht, ob du so einmal glücklich wirst. Ich würde es nicht.“
„Wer sagt denn, dass ich nicht glücklich bin“, er starrte ihn an.
Seine Gesichtszüge verrieten einen gewissen Grad Gereiztheit. Was musste Aaron ihn auch solch ein Zeug fragen? Überhaupt: Aaron – er könnte viel mehr aus sich machen, wenn er sich bloß einmal bemühen würde. Es fing ja schon bei den Klamotten an – ging es nicht etwas moderner? Nicht, dass er altmodischen Kram trug, allerdings: Etwas mehr Modebewusstsein täte ihm sicherlich gut. Kein Wunder, dass er bei Frauen nicht landen konnte. Er war keineswegs unattraktiv, das musste Stig ihm zugestehen, doch schien er zu wenig Wert auf sein Äußeres zu legen, entschieden zu wenig!
„Hab ich so nicht gesagt. Ich kann mir hingegen nicht vorstellen, dass das dein ganzes Leben so läuft. Wie viele waren es denn seit Pia?“
Stig holte tief Luft.
„Vier oder fünf.“
„Also rein rechnerisch pro Monat ungefähr eine“, grinste nun selbst Aaron.
„Nee. Wenn ich abends weg bin, gehe ich meistens nicht alleine heim.“
„Wie gut, dass wir heute Mittag aus sind…“
„Ja, und wie gut, dass du ein Typ bist“, entgegnete Stig mit schallendem Gelächter und lehnte sich nach hinten.
Der geöffnete Kragen seines Hemds legte eine silberne Kette frei. Aaron schluckte und sah dann betreten auf den Platz unter ihnen. An dem Brunnen spielten einige Schulkinder. Es war heiß, irgendwie zu heiß für diese Jahreszeit. Eine Traube Touristen hatte sich vor dem Dom versammelt. Aaron erkannte nicht, ob sie ihn bereits besichtigt hatten oder ob sie ihn noch besichtigen würden. Zwei, drei Mal war er dort gewesen – höchstens. Von außen wirkte er imposant, majestätisch, prachtvoll. Innen war es ihm zu düster, zu muffig. Kaum Licht, kaum Luft. Von außen allerdings, das musste er zugeben, verfehlte der Dom keineswegs seine Wirkung.
Stig verharrte weiterhin in seiner Pose. Hin und wieder ließ er die Brustmuskeln spielen. ‚Ein echter Macho‘, dachte Aaron und konnte es ihm nicht verübeln.
„Frauen sind wie Straßenbahnen“, griff Stig den Gesprächsfaden wieder auf, „nach der einen kommt immer ‘ne andere.“
„Aber je später es wird, desto weniger fahren“, konterte Aaron.
„Aber es fahren welche“, zwinkerte Stig ihm zu und schob sein Messer auf dem Tisch hin und her.
„Aber vielleicht nicht mehr so weit wie frühere…“
„Aber, aber, aber – wie bist du denn drauf? Werd‘ doch mal locker! Ist ja schlimm. Ich leb‘ doch nicht im Kloster“, er schlug ihm auf den Oberarm.
Aaron sagte nichts. Er beobachtete die kleinen Bläschen, die in seinem Wasser aufstiegen und an der Oberfläche zerplatzten. Unweigerlich dachte er an sich, an seine Träume. Hatte Stig womöglich Recht? Sollte Aaron nicht alles etwas lockerer nehmen? Anscheinend lebte Stig ja ganz gut damit. Aaron starrte noch eine Weile auf die Bläschen in seinem Wasserglas, während sich Stig eine Zigarette anzündete und den Qualm genüsslich in die Richtung seines Freundes blies, der angewidert die Nase rümpfte und wieder aufsah. Erst jetzt bemerkte er die kleine Rose, die in einer schmalen Vase frisch und duftend zwischen ihnen stand.
„Schöne Blume.“
„Gibt’s doch zurzeit überall auf den Tischen“, raunzte Stig und zog erneut an seiner Zigarette.
„Was macht deine Arbeit“, erkundigte sich Aaron.
„Läuft. Verdiene gut.“
„Macht’s denn auch Spaß?“
„Meine Arbeit? Nö. Hauptsache das Geld stimmt. Macht dir deine Arbeit etwa Spaß?“
„Ja, schon. Aber bei mir stimmt dafür das Geld nicht so“, grinste Aaron.
„Dann würde ich mir was anderes suchen.“
„Ich komme ja hin. Dafür macht es mir halt Spaß. Bist du noch in derselben Kanzlei?“
„Ja. Hey, da kommt die Süße wieder“, Stigs Augen hafteten, kaum, dass es gesagt war, abermals auf der Kellnerin, die ihnen einige Minuten später ihren Pizzen brachte, Aaron die vegetarische, Stig die Don Giovanni.
Ihr Gespräch plätscherte so dahin. Eine Belanglosigkeit jagte die andere. Als sie fertig gegessen hatten, trennten sich ihre Wege.
II.
Lange würde es nicht mehr dauern und die warme Julisonne wäre hinter den Häuserdächern verschwunden. Ein wenig drohend wirkten die Schatten, die immer länger werdend über den engen Platz krochen. In der Stadt war es bereits ruhiger geworden. Viele befanden sich längst auf dem Heimweg oder tätigten noch hier und da ein paar Einkäufe, ehe sie danach den anderen folgten. In einer Loggia, leicht erhöht, saßen zwei junge Männer, die sich hier nach der Arbeit verabredet hatten.
„Wir haben uns ja seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen“, meinte Stig.
„Nein“, korrigierte Aaron, „drei, vier Monate sind keine Ewigkeit.“
„Kam mir länger vor…“
„Du hast mich wohl vermisst“, sagte Aaron und konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Das hättest du wohl gerne. Ist vermutlich eher umgekehrt“, widersprach Stig.
„Du überschätzt dich.“
Aaron stierte in die Augen seines Freundes, dass diesem das neckische Grinsen zu einer ernsten Miene gefror. Ein junger Kellner brachte zwei Weizen. Mit einem schüchternen „Bitteschön“ stellte er sie ab und entfernte sich. Stig spielte nervös an seinem Schlüsselbund, den er auf den Tisch gelegt hatte.
„Ist diesmal leider keine Kellnerin“, stichelte Aaron.
„Ach“, zischte Stig verärgert.
„Ist irgendwas nicht in Ordnung?“
Er schaute zuerst zur Seite, dann kurz zu seinem Freund, dann wieder zur Seite.
„Nein, was soll sein?“
„Du bist irgendwie anders?“
„Ich? Anders? Nein, ich bin noch ganz der Alte“, brach er in ein Gelächter aus, das wenig überzeugend rüberkam. Er schien es selbst zu merken und verstummte blitzartig.
„Nein, alles in Ordnung. Du denkst dir mal wieder zu viel.“
„Und du dir zu wenig. Wie ging’s denn aus?“
„Was?“
„Na, das mit der Kellnerin…“
„Normal halt.“
„Ein paar Mal rumgemacht und das war’s?“
„Ja.“
„Stört dich das plötzlich“, wunderte sich Aaron.
Sein Kumpel wich jedem Blickkontakt aus. Er zeichnete mit seinen Fingerspitzen simple Muster auf das beschlagene Glas. Er machte einen eigenartigen Eindruck auf Aaron. Fühlte dieser sich früher heimlich zu ihm hingezogen, empfand er heute nichts. Keine gesteigerte Sympathie, aber auch keine Abscheu. Ihm kam alles so seltsam neutral vor.
„Nein, es stört mich nicht.“
„Bist du nicht gut drauf?“
„Wieso das denn“, antworte Stig fast schon aggressiv.
„Das letzte Mal hast du mir noch stolz von deinen Weibergeschichten erzählt und gemeint, ich solle lockerer werden…“
„Die interessieren dich doch eh nicht. Ist sowieso immer dasselbe.“
„Langweilt es dich etwa auf einmal?“
„Machst du jetzt einen auf Hobby-Psychologen?“
„Nö. Ich hab ja nur gefragt.“
„Du fragst immer nur. So wie du könnte ich nicht leben.“
„Wie lebe ich denn?“
„Zu brav. Zu langweilig.“
‚Wenn du wüsstest‘, dachte Aaron und lachte innerlich. Gleichzeitig tat es Stig irgendwie Leid, was er gesagt hatte. Der Aaron, der dort saß – war das tatsächlich der Aaron, den er all die Jahre wahrgenommen hatte? Verglichen mit ihm war Aaron in der Tat der reinste Langweiler, aber wenn man andere Maßstäbe heranzöge? Zwar bliebe sein Freund vermutlich nach wie vor brav und langweilig, doch vielleicht wäre das normal? Stig umgriff sein Glas. Das kühle Bier tat ihm gut. Auf eine Zigarette hatte er keine Lust. Die Kippen türmten sich ohnehin längst bis zum Aschenbecherrand.
„So wie du könnte ich auch nicht leben“, erwiderte Aaron.
„Pff… Lass mich raten: Zu aufregend, zu unstet.“
„Nein. Zu einsam, zu ziellos.“
Stig schluckte und griff erneut nach seinem Glas, setzte es allerdings wieder ab. Er überlegte. „Was hast du denn für ein Ziel? Karriere machen in deiner Buchhandlung? Später mal ‘ne eigene haben?“
„Das wäre zum Beispiel eines. Was willst du denn in deiner Kanzlei? Das letzte Mal meintest du, dass es zwar keinen Spaß mache, aber das Geld stimme…“
„Jepp, das Geld ist ok.“
„Und das reicht dir?“
„Ich gehe arbeiten, um Geld zu verdienen. Nicht um Spaß zu haben. Den habe ich woanders.“
„Ich hab das Gefühl, du bist traurig…“
Stig, der die ganze Zeit über auf sein Glas gestarrt hatte, beugte sich zu Aaron rüber.
„Nee, ich hatte bloß seit zwei Wochen keine Tussi mehr.“
Er fiel zurück in seinen Stuhl. Aaron, grundlos verlegen, berührte mit seinem Zeigefinger den Rand der gläsernen Vase, in der eine Rose vor sich hin welkte. Das wenige Wasser war trübe und die äußeren Blütenblätter bereits braun.
III.
Die Herbstnacht hatte die Stadt in ihren Mantel gehüllt. Beinahe festlich strahlten die Häuserfassaden. Viele Lichter illuminierten die verwinkelten Gässchen und mischten sich in die Wasserspiele auf den Plätzen. Ja, es war dunkel, es war Nacht, aber man sagte, dass die Stadt gerade in der Dunkelheit am schönsten sei. Hier erklang Musik, dort grölten Menschen, all das verwob sich zu einem Netz verschiedenster Klänge, das über die Dächer der Stadt gespannt worden war. In einer der Gassen, die zu einem großen Platz führte, hatten sich zwei junge Männer niedergelassen.
„Irgendwie habe ich mich auf diesen Abend gefreut. Waren das noch Zeiten, als wir uns gemeinsam die Nächte um die Ohren schlugen“, schwelgte Stig in Erinnerungen früherer Jahre.
„Du sprichst ja fast schon wie ein alter Mann“, lachte Aaron.
„So komme ich mir auch beinahe vor…“
Aaron legte die Stirn in Falten und musterte seinen Freund mit durchdringenden Blicken, die braunen Augen, die glanzlos und verloren umhersahen und nach etwas zu suchen schienen, was sie nicht fanden. Sein Gesicht, sein böses Grinsen, seine schwulstigen Lippen und die schiefen, vom Kaffee und von den Zigaretten verfärbten Zähne ließen in ihm das Gefühl von Abneigung aufkommen. Er wandte sich ab, unsicher, ob er auf das zuvor Gesagte eingehen sollte. Stig wirkte so gewöhnlich. Aaron vermisste das Besondere, Stigs Besonderes, das ihn früher gefesselt hatte. Er entschloss sich, nicht auf die Aussage seines Gegenübers zu reagieren.
„Wie geht es dir“, erkundigte sich Stig plötzlich.
Aaron dachte im ersten Moment, er habe sich verhört. Stig hatte ihn das noch nie gefragt. Dementsprechend zurückhaltend war seine Reaktion:
„Wie es mir geht?“
„Ja. Ist die Frage so schwer?“
„Nein, bloß von dir eher ungewöhnlich. Danke, mir geht es gut.“
„Warum konntest du heute erst so spät?“
„Ich hatte noch eine Verabredung, wollte mich aber auch mit dir treffen. Also musste ein Kompromiss her.“
„Soso, Verabredung…“
Stig wartete auf weitere Ausführungen. Er bemerkte, dass sein Freund eigentlich recht hübsch war. Bisher hatte er das kaum wahrgenommen.
„Für deine Verhältnisse fragst du heute sehr viel“, wunderte sich Aaron nicht ohne zu erröten.
„Ich weiß. Ich bin ein Idiot.“
Er kratzte mit dem Fingernagel auf der Tischplatte herum. Eine Bedienung näherte sich.
„Hi, was darf ich euch bringen?“
„Einen Espresso“, murmelte Stig ohne aufzuschauen.
„Zwei Espressi und ein Wasser“, verbesserte Aaron und zwinkerte ihr zu.
„Alles klar.“
Sie verschwand.
„Muss ich mir ernsthafte Gedanken um dich machen“, fragte Aaron.
Stig lehnte sich zurück, die dünne hölzerne Armlehne streichelnd.
„Du hast sie noch nicht mal angeguckt.“
„Ja, und? Muss ich das?“
„Nein. Gerade von dir hätte ich es allerdings erwartet.“
„Jaja, einmal Weiberheld, immer Weiberheld.“
„Das habe ich nicht gesagt.“
„Aber gedacht.“
„Das gebe ich zu“, gestand Aaron.
„Siehst du.“
„Das hat dich früher nie gestört. Im Gegenteil…“
„Früher… ja…“
„Und jetzt schon?“
„Ja, irgendwie. Mit wem hast du dich getroffen vorhin?“
„Mit meinem Freund.“
„Mit deinem Freund?!“
„Ja.“
Stig starrte ihm direkt in die Augen. Seine Hände umklammerten die Stuhllehnen, als müsse er sich festhalten.
„Warum hast du mir das nie gesagt?“
„Wir kennen uns noch nicht so lange.“
„Ich meinte, dass du… Du weißt schon…“
„Du hast mich nie gefragt. Außerdem kennen wir uns seit unserer Kindheit.“
„Ja, eben“, klang es fast vorwurfsvoll.
„Hat sich halt nicht ergeben. Du hast es doch offenbar nie gemerkt.“
Stigs Haltung lockerte sich. Seine Anspannung ließ sichtbar nach.
„Stimmt. Wie so vieles nicht. Bist du denn glücklich“, fragte er beinahe schüchtern.
„Ja, bin ich.“
„Woher weißt du das?“
Aaron musste wegen der ihm recht kindlich anmutenden Frage kurz auflachen.
„Das spürt man doch.“
Erst jetzt nahm er Notiz von der tiefen Niedergeschlagenheit seines Kumpels. Da hockte er, den Hemdkragen wieder weit geöffnet und wieder die silberne Kette tragend. Stig kam ihm nicht mehr wie der harte Kerl von einst vor, der Frauen schneller als Hemden wechselte. Der Stig, den er kannte, der dachte nicht nach, der handelte aus dem Bauch heraus. Der ließ ihn auch nicht derart tief in sein Inneres blicken.
„Du bist nachdenklicher geworden“, setzte Aaron das Gespräch fort.
„Mag sein.“
„Wie geht es dir denn?“
„Wo habt ihr euch kennen gelernt“, ignorierte Stig Aarons Frage.
„Eher klassisch – wir wohnen in der gleichen Straße und sind uns eben manchmal über den Weg gelaufen. Dann waren wir gemeinsam aus und schließlich wurde mehr draus.“
„Schön“, meinte Stig mit einem Ton, der in seiner Sanftheit die Aufrichtigkeit der Aussage geradezu unterstrich.
Stig wünschte sich insgeheim Selbiges für sich. Seine Vergangenheit hätte er zu gerne abgestreift. Aaron dachte an die Dauer, an das Dauerhafte, das bemerkte er, wohingegen er selbst lediglich an den nächsten Morgen gedacht hatte.
„Du hast das letzte Mal von Zielen gesprochen“, griff Stig etwas aus ihrem früheren Gespräch auf, woran er sich erinnerte, „ich glaub, ich suche noch… Ich komme mir oft vor wie ein Wanderer, der nicht mehr recht weiß, woher er kommt, aber genauso wenig, wohin er noch muss.“
„Geht die Bedeutung deines Namens nicht sogar in diese Richtung?“
„Ja“, lächelte Stig kurz.
Die Bedienung brachte die Getränke.
„Ich habe Kontakt zu Pia aufgenommen.“
Aaron zeigte sich erstaunt.
„Das freut mich. Was hat sie gesagt?“
„Sie brauche noch etwas Zeit, müsse nachdenken, sich das Ganze durch den Kopf gehen lassen...“
„Das wird schon“, ermutigte ihn Aaron.
Stig nickte stumm. Er stand auf, nahm den leeren Aschenbecher und stellte ihn auf einen anderen Tisch, an dem niemand saß. Als er sich wieder gesetzt hatte, erklärte er:
„Den brauchen wir ja eh nicht. Ich habe aufgehört.“
Aaron schmunzelte.
„Die Rose lässt du aber stehen!“
„Für dich gerne“, blinzelte er ihm zu.
Aaron rückte sie ein Stück weiter in die Mitte. Sie benötigte kein Wasser mehr, war vertrocknet und trotzdem von zerbrechlicher Ansehnlichkeit.
Sie unterhielten sich lange. Ehe sich ihre Wege trennten, hatte die Stadt längst begonnen, den Mantel der Nacht abzustreifen. Ein erster silberner Schimmer begrüßte diejenigen, die es bis dahin in ihr gehalten hatte. Die jungen Männer verließen die enge Gasse in die Richtung, wo es zum großen Platz ging. Dort entschwand der eine nach links und der andere nach rechts. Ein neuer Tag war angebrochen.