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Dietrichs mißlungene Brautwerbung
Über Heldengeschichten

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»Dietrichs mißlungene Brautwerbung« hieß eine Zwischenüberschrift der Nacherzählung der Sagen um Dietrich von Bern in Gerhard Aicks Deutschen Heldensagen. Ich mochte die Passage nicht. Einmal gehörte eine solche Brautwerbung – sie findet durch einen Abgesandten statt, einen »Rosenkavalier« sozusagen – nicht in eine »Heldensage«, wie mir damals schien, und zweitens schon gar nicht als mißlungene. Aber ignorieren konnte ich sie nicht – sie brachte in den melancholisch-endzeitlichen Ton, der die Dietrich-Sage ausmacht und ihre literarische Qualität begründet, einen privaten, gleichsam bürgerlich-traurigen Zug hinein, der – das weiß ich nun – unerläßlich dazugehört. »Dietrichs mißlungene Brautwerbung« – ich habe diesen Zwischentitel nie vergessen, sprechen wir über ihn, wenn wir von »Helden« sprechen.

Worum ging’s dabei? Dietrich von Bern, der, wie die Sage immer wieder sagt, größte der Helden seiner Zeit, ein Mann, der eine seltsam intermittierende Heldenbiographie hat, beschließt irgendwann zu heiraten, sucht – das heißt, läßt suchen – nach einer passenden Frau, und ihm wird »Hilde von Bertangaland« – ich folge hier der Fassung von Therese Dahn – genannt, die Tochter von König Artus. Er schickt einen Werber, Herburt, der an den Artushof reist, sich in Hilde verliebt, seinem Auftrag aber treu bleibt und diesen ihr vorträgt. Sie will wissen, wer und wie Dietrich denn sei, und ich zitiere:

»Was für ein Mann ist Dietrich?«

»Er ist der größte Held der Welt und der mildeste[1] Mann.«

»Vermagst du wohl, Herburt, mir an die Steinwand hier sein Antlitz zu zeichnen?«

»Das kann ich leicht: und jeder, der Dietrich einmal sah, würde ihn an diesem Bild erkennen.« Und er zeichnete ein Antlitz an die Wand, groß und schrecklich.

»Sieh, hier ist’s, Jungfrau: und so ein Gott mir helfe, – König Dietrichs Antlitz ist noch schrecklicher.«

Hilde erschrak und rief: »Niemals möge mich dies elbische Ungeheuer erhalten!«[2]

Sie fragt, warum er nicht für sich selbst werbe, und da er seinen Auftrag erledigt hat, kann er es tun und tut es erfolgreich.

Das Bewegende an der Geschichte ist – und man muß aus dem ersten Lesealter heraus sein, um sich bewegen zu lassen –, daß Dietrich selbst durch die Werbung aus seiner Sphäre hinauswill und nur ein König sein will unter anderen. Am Ende sind alle um ihn herum, alle, die nicht unbedingt ihm gleich, aber doch aus seiner Sphäre waren, Hildebrand, Wittich, Heime, tot. Er sitzt allein im Schloßhof wie ein Rentner auf der Parkbank. Da wird er auf einem überirdischen Pferd entrückt, und seitdem führt er das »wilde Heer« an, einen fürchterlichen Gespensterzug, vor dem sich die Leute in ihre Häuser flüchten. Ja, ein Ende für den fürchterlichen Helden, der zuvor hatte ein Ehemann werden wollen, aber es hatte nicht sollen sein.

Was ist die Sphäre der Helden?


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Als er den »Produktionsprozeß des Kapitals« beschrieben / analysiert hatte, stand Marx vor der Frage, wie es denn zum Kapital bzw. dem Kapitalismus gekommen sei. »Kapital« war in seiner Analyse immer das, was vorausgesetzt werden mußte, damit Kapital produziert werde, die Entwicklung des Kapitalismus setzt den Kapitalismus voraus: »Man hat gesehn, wie sich Geld in Kapital verwandelt, durch Kapital Mehrwert und aus Mehrwert mehr Kapital gemacht wird. Indes setzt die Akkumulation des Kapitals den Mehrwert, der Mehrwert die kapitalistische Produktion, dieser aber das Vorhandensein größerer Massen von Kapital und Arbeitskraft in den Händen von Warenproduzenten voraus. Diese ganze Bewegung scheint sich also in einem fehlerhaften Kreislauf herumzudrehn, aus dem wir nur hinauskommen, indem wir eine der kapitalistischen Akkumulation vorausgehende, ›ursprüngliche‹ Akkumulation (›previous accumulation‹ bei Adam Smith) unterstellen, eine Akkumulation, welche nicht das Resultat der kapitalistischen Produktionsweise ist, sondern ihr Ausgangspunkt.«[3]

Was war, bevor das war, was wir kennen und gewohnt sind? Das ist nicht nur eine historische Frage, sondern oft eine systematische, haben sich doch unseren Techniken des Verstehens an dem geschult, was wir um uns herum vorfinden. Über das, was »vorher« gewesen, erzählen wir farbige Geschichten. Marx erzählt eine Geschichte von Raub und Zwang, von Betrug und Trick, von Krieg und Hasard – nein, nicht eine Geschichte, viele Geschichten, die Szenarien entwerfen, wie es zum Aufhäufen riesiger Vermögen gekommen ist, die schließlich irgendwie nicht anders weiter gemehrt werden konnten als durch Ausbeutung von zuhandener Arbeitskraft, die ihrerseits eben einfach irgendwann »da« gewesen ist, nachdem die Subsistenzmittel ihrer Eigentümer ruiniert worden waren. Marx erzählt uns in diesem 24. Kapitel seines Kapital eine große Oper von Untergang und Aufstieg, von ubiquitärem Verbrechen, gesetzfreiem Rauben, von Herumgetriebensein und Sklaverei und Mord, bis alles zueinander findet und die Schätze zu Kapital, die Sklaven und Herumstreunenden zu Lohnarbeitern werden.

Es gibt andere Geschichten, die dieser an Farbigkeit nicht nachstehen, die aber näher an Märchen und Legende sind. Da sind die Teufelsbündler, die einen Beutel haben, der nie leer wird (harmloser der Goldesel), Hauffs »Das kalte Herz«, die Erfindung des Papiergelds durch Mephistopheles im Faust II oder das Treiben des Heathcliff in Emily Brontës Wuthering Heights oder, vielleicht, Alexandre Dumas’ Graf von Monte Christo, dessen Schätze allerdings nur einmal zu etwas Kapitalähnlichem werden, als er ein untergegangenes Schiff nachbauen läßt, um einer ruinierten Reederei wieder auf die Füße zu helfen. – Georg Simmel fragt, was denn Gesellschaft erst zur »Gesellschaft« und somit zum Objekt einer eigenen Wissenschaft gemacht habe, und antwortet: die »praktische Macht, die im neunzehnten Jahrhundert die Massen gegenüber den Interessen des Individuums erlangt« hätten, und die Distanz der Klassen zueinander, die es der höheren, beobachtenden nahegelegt habe, die untere als gesichtslos, eben »Masse« wahrzunehmen,[4] ein politisch-psychologischer Abscheu, der sich zur Methode modelt – ein Gestaltwandel sui generis.

Wie ist es zu unserer Gesellschaft der Institutionen, des Rechts, der monopolisierten Gewalt gekommen? Seit alters her sind es die Heldengeschichten, die hier die bunte Antwort geben. Einst war Bedrohung und Willkür, der Mensch von unserer Art war zu schwach, sich vor den Bedrohungen zu schützen, aber dafür gab es die Helden. Sie schafften die Bedrohungen aus der Welt, unsere Vorfahren bauten dann Athen oder Rom oder Dodge City.

Vor den Zeiten irgendwie gefügten Miteinanderlebens steht nicht etwas wie der »Naturzustand«, wie Thomas Hobbes ihn aus didaktischen Gründen imaginiert hat, gleichwohl eine gefährliche Zeit, in der Dörfliches, Familiales, in Ansätzen Urbanes stets von Regellosigkeit bedroht war oder phantasiert wurde, eine Zeit, die in der Literatur in der Heldensage ihre Phantasiegestalt erhält, in der Wirklichkeit … da kann man streiten, sagen wir so: Wenn man das Räuberunwesen nach den Napoleonischen Kriegen nicht mehr durch Vertrauen auf einen »guten« Schinderhannes abzuschaffen trachtet, sondern durch Polizei oder Militär, wenn man in Gotham City alles wieder ins Lot bringen kann, ohne auf Batman zurückzugreifen, dann sind wir dort sicher angekommen, was wir »Moderne« nennen.

Sprechen wir also von der phantastischen Zeit der Helden, die uns das schufen, was wir ohne sie in Gang halten müssen – Euripides blickt darauf in seinem »Wahnsinn des Herakles« zurück: Herakles, so meinen sein (irdischer) Vater Amphitryon, seine Frau Megara und seine drei kleinen Söhne, sei von seiner letzten Aufgabe, den Kerberos aus dem Hades zu holen, nicht wiedergekehrt. Der Chor blickt am bereiteten Grab darauf zurück, was einem Gemeinwesen ein Held bedeutet hat:

Zeus’ nemeischen Hain

Befreit er vom Löwen,

Legt sich das Fell um die Schultern,

Drückt sein jugendlich Haupt mit dem blutigen Rachen.


So sind die Herakles-Statuen, die wir kennen; Euripides ruft das allen geläufige Bild auf.


Wildem Kentaurenvolk,

Brut, die in Schluchten haust,

Brachte gefiederter Pfeil,

Mordender Bogen den Tod.

[…]

Nahe an Pelions Hang,

Nah seiner Zwingburg,

Tötet sein Pfeil den Kyknos,

Der die Wandrer erschlug am Flusse Anauros.

[…]

Er stieg in die Schlüfte des Meeresfürsten,

Brachte den Schiffern die Frieden der Fahrten.

[…]

Reiterhorden der Amazonen

Jagte er auf in den stromreichen Steppen.[5]

Wilde Tiere, Monstren, Wegelagerer, Raubritter und kriegerische Horden von irgendwoher – das muß besiegt, das muß ab- und aus der Welt geschafft werden, damit die Zivilisation der Dörfer und Städte herrsche, die dann, wenn möglich geregelt, Krieg gegeneinander führen können. Für den braucht’s keine Helden, vielleicht aber Heldengeschichten – wir kommen noch darauf. Die griechischen Sagen haben noch andere »Zivilisationshelden«, also solche, die das Feld bereiten für ein Zusammenleben, in dem man sie nicht mehr braucht: Theseus, der den Wegelagerer Prokrustes tötet, dann den Minotauros überlistet, Perseus, der die Medusa und den Meerdrachen schlägt. In der traditionellerweise »germanisch« genannten nordeuropäischen Heldensage ist es Thor, der besonders menschennahe Gott, der sich dem Kampf gegen die Riesen verschrieben hat, Siegfried tötet einen Drachen, Dietrich Riesen und Wegelagerer – es ist dasselbe Muster.

Interessant, daß Dietrich, unbestritten der größte der, wie man so sagt, »deutschen« Helden, als König eine ambivalente Gestalt ist; er ist unbeherrscht, seine »Gesellen« wechseln zuweilen den Herrn, politisch ist er nicht erfolgreich, lange Zeit muß er im Exil bei den Hunnen verbringen, am Ende mißlingt ihm die Gründung einer Dynastie (oder sagen wir bürgerlich: die Gründung einer Familie), und er ist allein. Vor dem Tod stöbert er noch einen ebenfalls überständigen Riesen auf, tötet ihn, aber die Zeiten der Helden sind vorbei. Und wenn ihre Zeiten vorbei sind, haben sie auch keinen Ort mehr.

Zwar wird Theseus König von Athen, aber auch er scheitert an dem Versuch, aus dem Status des Helden in den eines normalen Staatsoberhaupts zu wechseln; als er sich dann auf die väterlichen Güter zurückziehen will, gehören die längst einem andern, und er wird vom neuen Besitzer umgebracht. Das Ende des Herakles kennen wir in manchen Varianten. Euripides gestaltet es so: Nachdem er wider Erwarten heil aus dem Hades zurückgekehrt ist, überfällt ihn der Wahnsinn, er tötet Frau und Kinder, ein ans Töten Gewöhnter kann nicht ablassen.

Mit den Helden ist nichts anzufangen, wenn ihre Arbeit getan ist. Schlimmer: Sie können mit sich nichts anfangen. Am besten, sie kommen irgendwie um, bevor sie Schaden stiften und das in Gefahr bringen, was sich dank ihrer Taten in leidlicher Stabilität als durch Recht und Institutionen gefügtes Gemeinwesen etabliert hat. – Heldengeschichten sind zwar das, woran wir immer zuerst denken, die großen Kämpfe und strahlenden Siege, aber auch die Folgegeschichten gehören dazu, wo es keinen rechten Ort mehr für sie gibt – im schlimmsten Fall müssen sie erschlagen werden, damit das Leben – spitzen wir es zu: das zivile Leben, das erst als Folge ihrer Taten sich gefügt hat – weitergehen kann.


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Man hat das Film-Genre des »Western« oft als eine moderne Neuerzählung der alten Heldengeschichten bezeichnet. Das ist nicht falsch; vor allem finden wir immer wieder den prekären Status des Helden. Der berühmteste Western High Noon beginnt mit – einer Hochzeit und den Vorbereitungen einer Hochzeitsreise. Der Sheriff (Gary Cooper) zieht sich mit Frau (Grace Kelly) in sein Privatleben zurück. Aber die Nachricht trifft ein, daß eine Verbrecherbande, deren Chef er einst ins Gefängnis gebracht hat, sich an ihm, vor allem: in »seiner« Stadt rächen will. Während der Kutschfahrt wird ihm klar, daß er seine Stadt nicht im Stich lassen kann, und kehrt um. Übrigens ohne mit der neben ihm sitzenden Frau darüber zu sprechen. Wieder angekommen, will er sich den Gangstern stellen (ihr Zug kommt um zwölf Uhr mittag an) und sucht nach Unterstützung. Nun ist er als Sheriff zuständig – er repräsentiert das Monopol auf die Gewalt –, aber er ist allein, der Sheriff ist als Einzelperson fast mehr Symbol der monopolisierten Gewalt als ihre reale Verkörperung. Er kann zwar Deputies ernennen, also gewissermaßen das Gewaltmonopol aufrüsten. rekrutieren kann er sie aber nicht, er ist auf Freiwillige angewiesen. Die findet er nicht. So hat er nur sich und seinen Revolver. Wir haben also die Situation, daß die Sicherheit der Stadt auf etwas angewiesen ist, das sie nicht nur nicht garantieren kann, sondern auch nicht will. Die Weigerung der Bürger, die gemeinsame Sache zu der eigenen zu machen, wirft die Stadt in den vorzivilisatorischen Stand zurück, in dem es Helden braucht. Jedoch so einfach ist das nicht. Der Bürger muß den Helden ja nicht spielen, für seinen Schutz hat er den Sheriff, und zum Deputy muß er sich eben nicht ernennen lassen. Der Bürger hat das Recht und Privileg, kein Held zu sein. Er darf auch ein Feigling sein. Wenn … ja, wenn es denn klar wäre, was da los ist, in welcher Zone der Gewalt und der Befriedung sich die Stadt befindet. Die Institution des Sheriffs (dieser Art) ist ja ein Notbehelf; sie markiert den Schritt hin zu einem ordentlich institutionalisierten Gewaltmonopol (mit ihm als Chef eines noch so kleinen Polizeiteams). Wo diese provisorische Institution nicht funktioniert (oder nicht funktionieren kann), wäre nach der Auffassung von Thomas Hobbes an jeden die Verantwortung für Sicherheit und Leben rückübertragen. Entweder sieht jeder, wo er bleibt, oder … es findet sich ein Held. So wird der Sheriff zum auf sich gestellten Helden. Und er ist erfolgreich – fast. Den letzten Schuß, der ihm das Leben rettet, gibt seine Frau aus einem Fenster ab. Sie ist Heldin an seiner Seite, was noch einmal unterstreicht, zu welcher Zone der Regellosigkeit die Stadt sich gewandelt hat, denn sie agiert ja nicht etwa als Deputy mit dem Stern am Brautkleid, sondern als Frau, die ihren Mann retten will, ganz privat. Am Ende steht die unterbrochene Fahrt in die Flitterwochen – und die Geste, mit der der Ex-Sheriff seinen feigen Mitbürgern den Stern vor die Füße wirft. Menschlich verständlich, aber, wie gesagt, es gibt ein Bürgerrecht auf Feigheit, und wenn er beschlossen hat, als Held zu agieren, so tut er das auf eigene Verantwortung und nicht einmal mehr als Vertreter der Stadt, sondern eben als Held, und das heißt nur für sich allein.

Ein Held steht nämlich nicht für das »Gute« (was immer das sein mag), sondern nur für sich und allenfalls seinen Ruhm. Als Gary Cooper die Kutsche wendet und seiner Frau nicht sagt, warum, kappt er die bürgerlichen Bande. Er kündigt die Pflichten aus dem Bund auf, den er eben geschlossen hat, und kehrt, wie sich zeigen wird, auch nicht als Pflichtbewußter zurück, sondern als einer, der nicht feige sein will. Auch er muß ja nicht. Wenn er keinen Deputy findet, ist er nicht gehalten, ein Selbstmörder zu werden, denn ultra posse nemo obligatur.


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Helden sind nicht nur auf sich selbst gestellt, sie agieren auch nicht im ideellen Dienste von irgend etwas. Auch Wilhelm Tell hat nicht die Schweiz befreit, sondern sein Händel mit Geßler ist ausschließlich privat, mag eine Eidgenossenschaft, zu der er, wie Schillers Stück herausstreicht, nicht gehört, auch von seinem Agieren profitieren.[6] Mag Schiller seinen Tell vor allem als sorgenden Hausvater präsentieren, so führt doch auch bei ihm kein Weg daran vorbei, ihn als (wenn man so will: phallischen) Narzißten zu porträtieren. Seine Armbrust trägt er so notorisch mit sich herum, daß er im Personenverzeichnis als Tell-mit-der-Armbrust figuriert. Tell tötet Geßler wie ein wildes Tier, das die Herden bedroht, aus dem Hinterhalt. Achill gehört zwar nicht zu den Zivilisationshelden, er ist ein Krieger, aber seine Heeresfolge ist auf keine soziale Verpflichtung gestellt. Er betont das selbst im Streit mit Agamemnon: Er habe keinen Streit mit den Troern, sie hätten ihm nichts getan, er wolle Agamemnon helfen, seine Ehre wiederzuerhalten. Umso ehrempfindlicher ist er, als Agamemnon Achills Ehrengabe – die schöne Briseis – beansprucht, weil er die seine zur Besänftigung Apolls zurückzugeben bereit ist. Achill ist der Krieg als solcher so gleichgültig, daß er achselzuckend in Kauf nimmt, daß sein Rückzug aus der kämpfenden Truppe das Heer in Schwierigkeiten bringt, auch Versuche, ihn der gemeinsamen Sache wieder gewogen zu machen – Rückerstattung der genommenen Beute, kompensatorische Geschenke – weist er zurück. Maß des Akzeptablen ist für ihn allein sein verletztes Ehrgefühl. Und als er in den Krieg wieder eintritt, tut er das, um den Tod seines Freundes Patroklos zu rächen und sich vor anderen auszuzeichnen. Achill, so kann man pointieren, handelt nicht in einem sozialen Raum, er schafft sich einen eigenen, gewissermaßen vorsozialen, den die anderen zu akzeptieren gezwungen sind, und aus diesem Grund kann man ihn einen Helden nennen, einen spätzeitlichen.

Dietrich von Bern ist auch ein spätzeitlicher Held. Er tut noch, was ein Held tut, beseitigt allerlei Riesen, aber sonst ist er König. Ein geachteter, aber nicht immer ein vorbildlicher. Auch hinsichtlich seines Status als unüberwindlicher Held ist er nicht ganz stabil. Den Kampf mit seinem späteren Gefolgsmann Wittich verliert er beinahe wegen dessen besserer Bewaffnung (Wittich ist der Sohn des berühmten Schmiedes Wieland), und um diese Scharte auszuwetzen, macht er sich erneut auf, um einen Outcast zu stellen, und ist wieder nur knapp erfolgreich. Es ist etwas wie eine Regression. Da dieser Waldläufer ihn, Dietrich, zum Kampfe hatte stellen wollen, hätte er sich comme il faut zur Berner Burg begeben müssen und dort dem König den Kampf antragen. So aber geht Dietrich ins Ungebahnte und behauptet sich nur mit Mühe.

Der Western hat für die Verfassung des Helden ein Redensart gewordenes Schlußbild gefunden: Er reitet – allein – in die untergehende Sonne, sprich: in den Westen, wo die Zivilisation noch nicht hinreicht. Dort, wo er heldenhaft gehandelt hat, gehört er nun nicht mehr hin. Er hat die Bedingungen geschaffen, daß dort etwas anderes gebaut werden kann, in dem er dann nicht mehr gebraucht wird und im Zweifelsfall aneckt oder die Leute erschreckt. James Fenimore Coopers »Lederstrumpf« Natty Bumppo, wiewohl kein Held im Sinne der großen Taten, aber ein Virtuose des siegreichen Agierens im Ungebahnten, landet in der Stadt der Ansiedler am Susquehanna wegen Verletzung der Schonzeitbestimmungen kurzzeitig im Gefängnis und verläßt dann die Zivilisation in Richtung Westen, wo nur Büffel sind und unbesiegte Reiterstämme (und manchmal ein Treck auf der Durchfahrt). Dort wird er sterben, ohne eine andere Spur zu hinterlassen als die Geschichten über ihn.[7]


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In Der Mann, der Liberty Valance erschoß, dem nach meiner Meinung klügsten (und schönsten) Film seines Genres, kommt ein Rechtsanwalt namens Stoddard (James Stewart) in eine Grenzstadt – eine Stadt an der Grenze zwischen dem »Draußen«, wo noch das Recht von Faust und Feuerwaffe gilt, also keines, und dem einigermaßen zivilisierten Hinterland. Der Sheriff dieser Stadt kann und will sich gegen die sporadisch einbrechende Bande des Desperados Liberty Valance nicht wehren. Der Anwalt versucht, das Gesetz gegen die Übergriffe des Straßenräubers, dessen Opfer er gleich bei seiner Ankunft geworden ist, in Stellung zu bringen, aber mehr als Rhetorik kann es nicht sein, und die Zeitungsredaktion wird prompt verwüstet, das Schild seiner Ein-Mann-Kanzlei bald abgerissen, und so beginnt er irgendwann, sich das Revolverschießen beizubringen, das heißt, sich darauf vorzubereiten, das »Gesetz in eigene Hand zu nehmen«, wie man sagt, also außerhalb des Gesetzes zu handeln bzw. sich auf den Zustand vor der Einführung des Gewaltmonopols einzulassen. Die Gegenfigur des Anwalts ist der außerhalb der Stadt lebende eigentliche Held Tom Doniphon (John Wayne (nicht im Sinne der ersten dramatis persona, das ist James Stewart)), der dem Anwalt klarmacht, daß die Welt, die er vorfindet, noch nicht die ist, in der es Anwälte braucht, und der ihm auch klarmacht, daß er nicht der sein wird, der Liberty Valance erschießen kann. Es kommt (ich kürze das alles sehr ab, ich bitte um Verzeihung) dennoch zum Showdown – Valance wird erschossen, Stoddard hat geschossen. Damit beginnt die öffentliche Karriere des Anwalts als »der Mann, der Liberty Valance erschoß«, die ihn bis in den Washingtoner Senat führt. Die Geschichte wird als Rückblende und Erzählung Stoddards an Tom Doniphons Sarg erzählt. Er will ihm mit seiner Frau, die damals das Leben mit ihm dem mit Doniphon, dem sie eigentlich versprochen schien, vorgezogen hatte, das letzte Geleit geben. Stoddard berichtet seinen Zuhörern, darunter einem Journalisten, der die Geschichte von der Heimkehr des Senators an den Schauplatz seiner Ruhmestat schreiben will, daß ihm Doniphon einst die wahre Geschichte erzählt habe: Er habe in dem Augenblick, als Stoddard abdrückte, Valance aus dem Dunkeln erschossen. Der Anwalt habe keine Chance gehabt, ein Duell wäre Mord gewesen, und so habe er eben den Desperado erschossen – auch das war Mord.

Der Journalist will die eigentliche Geschichte nicht schreiben und der Öffentlichkeit mitteilen, der Westen brauche diese Heldengeschichten für seine Identität, Stoddard sorgt dafür, daß Doniphon mit seinen Stiefeln begraben wird, und fährt zurück nach Washington – in den Osten, in die andere Richtung. In der Bahn überlegt er mit seiner Frau, ob sie nicht Washington verlassen und in den Westen – den nunmehr zivilisierten notabene, es geht um eine Rentneridylle – zurückkehren, aber der Billetkontrolleur unterbricht die Gedanken, er will ihm die Hand drücken, ihm, dem »Mann, der Liberty Valance erschoß«. So fährt Stoddard denn zurück nach Washington – er ist übrigens nicht nur Senator, sondern war auch Botschafter in London, eine Anspielung auf Thomas Jefferson – zusammen mit seiner Frau, die der einsam gestorbene Tom Doniphon einst liebte. Helden sterben nicht verheiratet, und pensioniert werden sie auch nicht.


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Heldengeschichten sind Geschichten, in denen sich Gesellschaften ihre Vergangenheiten ausmalen. Es sind keine »Erinnerungen«, kein »kollektives Gedächtnis«, ohnehin eine verunglückte Metapher. Es sind fiktive Geschichten, in denen man sich Zeiten ausmalt, in denen es noch hoch herging. Über Theseus kann man keine Dokumentarreportage mehr verfassen, über Wyatt Earp schon. Die ist dann interessant, aber keine Heldengeschichte mehr. Die TV-Serie Deadwood hat versucht, einen Grenzort, eben jenes »Deadwood«, das es tatsächlich und mit diesem Namen gab – nicht mehr ungebahnter Westen (»Indianerland«) und noch kein Teil der Vereinigten Staaten und also tatsächlich gesetzlos –, abzubilden, und sie ist (wenigstens in der ersten Staffel, die zweite und dritte sind weniger gelungen) ein faszinierendes Stück gedankenspielender Soziologie geworden, das mit der Frage umgeht, wie sich in einer noch nicht institutionenverfaßten Gemeinschaft jene absehbaren Machtroutinen herausbilden, die es braucht, um für ihre Mitglieder das herzustellen, was man »soziales Vertrauen« nennt, also ein geteiltes Prognosevermögen, wie es denn gemeinsam »weitergeht«. Im Falle Deadwoods sind es gewaltgestützte Routinen, gewiß, aber doch nicht allein gewaltbasierte. Erstaunlich (und plausibel), wie viel Aushandlungssache ist. Für Helden ist auch dort kein Platz mehr. Der Sheriff, den der mächtigste Mann am Ort, der den historischen Quellen entnommene Bordell- und Saloon-Besitzer Swearengen, gewissermaßen anstellt, damit der Ruf Deadwoods als gesetzloser, aber doch wegen Goldvorkommen attraktiver Ort nicht dazu führt, ihn in die USA einzugliedern und ihm den Rechtsstaat zu verpassen, ist keiner, der aufräumt (obwohl er den klangvollen Namen »Seth Bullock« trägt), sondern bastelt vielmehr daran, die gesetzlosen (vorgesetzlichen) Deadwood-Routinen etwas mehr an das anzupassen, was östlich davon Routine unter dem Gesetz ist: So gehört zu seinen ersten selbstverordneten Aufgaben, die Toten, die zuweilen herumliegen, manchmal gegen Bares dem Chef des Chinesenviertels übergeben werden, der mit ihnen die Schweine füttert, auf einem Friedhof mit ein wenig Bibellesung unter die Erde zu bringen. Ja, die Zivilisation fängt vielleicht dort an, wo man weiß, wo die Toten liegen. Mit Realismus kann man keine Heldengeschichten erzählen.

Heldengeschichten sind Geschichten, in denen das erzählt wird, was »hinter uns« liegt: Gott sei Dank! Wir malen uns gern Helden aus, weil wir gerne in der Phantasie Abenteuer erleben, die uns die Wirklichkeit erspart. Es ist wie bei der Marlboro-Reklame, als es die im Kino noch gab. »Der Geschmack von Freiheit und Abenteuer«? – achwo, vielleicht ein kleines Kälbchen auf dem Arm, dann Feierabend, Gartengrill, Bier, ’ne Zigarette. – Schon Ilias und Odyssee sind Spätzeitgeschichten. Achill zeigt, eine wie prekäre Existenz ein narzißtischer Heerführer ist, der prätendiert, aus eigenem Heldenrecht zu agieren, und Odysseus gelingt es zwar, dem Riesen Polyphem, nachdem der einige seiner Gefährten gefressen hat, mit Hilfe der Überlebenden sein eines Auge auszustechen, aber er ist kein Held, weil er stärker ist – kein Herakles, kein Theseus, kein Dietrich –, sondern weil er intelligenter ist, meinethalben schlauer, weil er postheroische Tugenden erfolgreich repräsentiert. Am Ende kommt er nach Hause und – ist wieder König und hat seine Frau wieder. Kein Held.

Kleist gibt uns in seinem Prinzen von Homburg einen, der ein Held sein möchte und eine Frau kriegen. Er schlägt sich in der Schlacht zwar gut, aber befehlswidrig, wodurch er zwar eine Art heldenhafte Draufgängerei an den Tag legt, aber, weil man in kriegerischen Dingen keine Helden braucht, sondern ein koordiniertes Vorgehen, den Schlachtplan vermasselt. Am Ende steht etwas wie eine Scheinhinrichtung und eine Abkehr von individuellen Ambitionen: »in den Staub mit allen Feinden Brandenburgs!« Das Stück ist auch ein Wink: Du sollst dir keine Lorbeerkränze winden, heutzutage gehört der Lorbeer in die Küche. – Ernst Jünger inszeniert seine Kriegserlebnisse nicht als neubeatmete Heldengeschichten, seine Phantasie ist der entindividualisierte Held (beschreiben tut er den durchhaltenden und den traumatisierten Soldaten).


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Wo Heldengeschichten gern und mit Vergnügen gelesen werden oder in Kinos locken, wird man – und das ist trivial – sagen können, daß sie einem Bedürfnis nachkommen, die Kinos blieben sonst leer, die Bücher ungelesen. Ob einer einem Gestellungsbefehl oder einer Mobilmachung oder einem Werbeslogan à la »Uncle Sam needs You!« bereitwilliger folgt, wenn er zuvor Blickkontakt mit einer Rolandsäule genommen hat? Kaum. Die Heldengeschichte hat keinen propagandatauglichen Einsatzort, auch wenn das Nibelungenlied ein Metaphern- und Gleichnisschatz in den deutschen Kriegen des 20. Jahrhunderts gewesen ist (vom (Kalauer!) »Siegfrieden« über den »Dolchstoß« bis zu »Etzels Halle« (Stalingrad)), aber schon das Nibelungenlied selbst ist eine Sache für sich und jedenfalls keine Heldengeschichte im hier behandelten Sinn.

Egal, wie ihr politisches Umfeld beschaffen ist, Heldengeschichten leben oder leben immer mal wieder auf, und sei es in der grandiosen, komplex-raffinierten Dekonstruktion (endlich kann man dieses Wort einmal benutzen) durch Clint Eastwoods Unforgiven, oder, ganz etwas anderes, in Silvester Stallones Rambo. Auch dieser Film ist eine Geschichte, in der der Held eigentlich nicht mehr funktioniert. Rambo ist ein Vietnamkriegsveteran, dem es nicht gelungen ist, sich ins Zivilleben zu integrieren – in der deutschen Nachkriegsliteraturgeschichte heißt er »Beckmann« (ja, die Hauptfigur von Draußen vor der Tür) –, und wird von einem Sheriff, der keine Landstreicher mag, übel behandelt. Er erleidet einen Flashback (er war in vietnamesischer Gefangenschaft gefoltert worden), und nachdem er zunächst versucht hat, sich im Wald zu verstecken, und dann seine Verfolger erfolgreich, aber mit letalem Ausgang abwehrt, verwüstet er am Ende die Stadt, die ihn nicht will – er ist zu der Kampfmaschine geworden, zu der man ihn ausgebildet hat. Zwar mag der Zuschauer nach Hause gehen und sich sagen, daß die USA den Krieg gewonnen hätten, hätte man nur genügend Rambos gehabt (und die machen lassen), aber das ist nicht der Schluß des Films. Rambo gibt weinend auf (und auch in den folgenden Filmen bleibt er bei aller ihm hier oder da zuteil werdenden Anerkennung eine aus der Zeit gefallene Figur, im letzten Teil wird er zum sinistren Schlächter, der zwar die Richtigen umbringt, aber nicht einmal das sieht man mehr gerne).

Die Pointe der klassischen Heldengeschichte, die Unintegrierbarkeit des Helden in die Welt, die zu schaffen es ihn gebraucht hatte, legt sich wie ein Schatten über die Versuche, neue Helden zu erschaffen. Superman ist zwar stark und bunt, aber ein Waisenkind, und Lois Lane bekommt er nicht, auch der Status des Pensionärs winkt ihm nicht. Batman ist ein schwer traumatisierter Junge, der sich in einer Stadt des Verbrechens ein düsteres Under-cover-Rächer-Königreich schafft, aus dem er zu Sieg um Sieg aufbricht, aber seine Zivilexistenz (der Millionär Bruce Wayne) und seine selbstauferlegte Traumabearbeitung können nicht zusammenkommen und er darum nicht zu den Frauen, die er liebt.[8] Der Hulk ist durch seinen skrupellosen Vater, der einen Supermann züchten wollte, zu einem Atomkrüppel geworden, der allerdings, wenn er zornig wird, zu einem unglaublich riesigen Riesen aufschwillt und mit Hubschraubern um sich werfen kann. Am Ende – hatten wir erwähnt, daß ihn eine Frau liebt, aber es kann naturgemäß nichts daraus werden? – flieht er in den unwegsamen südamerikanischen Dschungel, wo er irgendwas Nützliches treibt, immer bis er Rauschgiftschmugglern begegnet, denen er dann in Hulk-Gestalt den Garaus macht. So lebt er als eine Art prähistorisches Sumpfmonster, wenig erfolgreich, denn Heroin und Kokain gibt es bekanntlich immer noch. Der Hulk ist ein besonders trauriger Nicht-Held, als habe die Trauer des Drehbuchs, aus so einer Erfindung keinen Helden machen zu können, auf die Figur, nunja: abgefärbt. – Auf die Schwemme der sogenannten »Superhelden«-Filme will ich nicht eingehen, die Tatsache der Schwemme signalisiert, daß da etwas leerläuft. Wenn es Heldenfilme sind, werden sie mal mehr, mal weniger gelungen das klassische Schema wiederholen oder so abwandeln, daß man es wiedererkennt, oder es sind Filme über sehr starke oder sehr brutale Leute, von denen man nicht so genau weiß, was sie sollen. Etwa wie »Wonderwoman«, aber zu ihr später. Letztlich sind die »Superhelden«-Filme aus dem Genre der Kasperle-Geschichten entstanden. Eine Hauptfigur mit einem besonderen Attribut, das sie befähigt draufzuhauen (bei Kasperle: die »Pritsche«), und ein Krokodil oder ein Räuber, die am Ende gehauen werden. Kasperle kann auch einen Gefährten haben, Seppel, bei Kara ben Nemsi ist es Hadschi Halef Omar. Bei Old Shatterhand wird Seppel zum homoerotischen Begleiter, der dann aber beseitigt werden muß, denn es kann nur einen Kasper geben.[9]


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Ich gebe jetzt meinen Gedanken über Helden(-Geschichten) eine etwas andere Wendung und greife das Stichwort des Narzißmus auf, das oben im Zusammenhang mit Wilhelm Tell und Achill gefallen ist.[10] Narzißmus ist nicht das, was der Alltagsgebrauch des Wortes will, Kennzeichnung enervierender Selbstverliebtheit oder (bei Machtmenschen) nicht ungefährlicher Selbstbezogenheit. Narzißmus ist, zunächst, eine Selbstbezogenheit, ohne die Menschen nicht überleben. Er ist, zum zweiten, die Triebkraft, Besonderes zu leisten, sich, wie man sagt, »hervorzutun«. Keine kulturellen Leistungen ohne den Narzißmus ihrer Urheber. Die Kultur des sogenannten »alten Griechenland« war eine, die den Narzißmus extrem belohnte. Das Lebensmotto der adligen Krieger in der Ilias (nicht nur Achills) war: »Sich hervortun und die anderen übertreffen«, bei den olympischen Spielen galt nur der Sieger etwas, ein Motto wie »Dabeisein ist alles« hätte man mit einem Kopfschütteln zur Kenntnis genommen.

Narzißmus gehört zur menschlichen Ausstattung, manche Kulturen – Kriegerkulturen – pflegen ihn und belohnen extreme Ausformungen, aber dann sprechen wir nicht mehr von einem, wenn man so will, basalen Narzißmus, der zum Überleben schlechthin gehört, sondern von einem, der sich auf diesen gleichsam draufsetzt. Mit ihm erkennt das Kind, daß es etwas Besonderes ist, und weil es in einer Phase ist, in der es entdeckt, was es alles kann, wähnt es, schlechthin alles zu können. Man nennt das »Omnipotenzgefühle«. Diese Omnipotenzgefühle werden durch die Umgebung des Heranwachsenden unterschiedlich aufgenommen und an die Realitäten angepaßt. In narzißmuspflegenden Kulturen, wie, um nicht immer die Griechen zu nennen, den Indianerkulturen Nordamerikas, bleibt ein Stück Omnipotenzgehabe auch beim Erwachsenen erhalten, jedenfalls wenn es einhergeht mit anerkannten Leistungen: Großsprecherei wird zur Tugend (wenn etwas dahinter ist, aber dann vermag der Stamm stundenlang den Gesang-Erzählungen von Kriegstaten zu lauschen). In solchen Gesellschaften haben Heldengeschichten ihren sozialen Sinn – das heißt, wenn sich solche Gesellschaften gewissermaßen als Fortsetzung jener »alten Zeiten« empfinden bzw. das, wovon erzählt wird, gar nicht als »alte Zeit«, sondern als jüngstvergangene Gegenwart empfunden wird (in gebührender Unklarheit der Distanzen wie bei Thomas Manns Joseph, wenn der etwa von Abraham und Elieser hört).

Gesellschaften, die sich institutionell mehr gefestigt haben, geben Alleingängen (zumal auf Kosten anderer) weniger Raum, hier wird, wenn nötig, der Narzißmus im Dienste individueller Grandiosität des Besserseins umgelenkt in Dienste an der Allgemeinheit, aber Heldentum ist das dann nicht mehr. Zu diesem Umbau des Belohnungssystems der Gesellschaft gehört die Frustration des Grandiositätsbegehrens, in das sich das infantile Omnipotenzgefühl gewandelt hat. Die sich grandios fühlenden Adoleszenten oder Postadoleszenten müssen, wenn sie keinen Erfolgsort in der Gesellschaft haben, gestutzt und angepaßt werden. Darum sind die Heldengeschichten am Ende immer so traurig. Helden haben keinen Platz mehr, wenn ihr Ort, das phantasierte »Früher« oder »Dort-draußen«, vergangen ist. Eine Pensionärsparkbank ist für sie, wie gesagt, nicht vorgesehen, und eine Frau kriegen sie nicht, ihre Taten mögen erzählt werden, aber kennenlernen möchte man sie nicht, man wendet sich – Dietrichs mißlungene Brautwerbung – von ihnen ab. Vielleicht ist die Melancholie der Heldengeschichten etwas wie ein Trost. Deine narzißtischen Wünsche werden nicht erfüllt, das ist traurig, aber wenn du heiratest, ist alles vorbei.


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Weibliche Helden – Heldinnen – gibt es nicht. Nicht in der Bedeutung des Wortes, um die es hier geht. Gesellschaften, die Kriegerideale pflegen, für die Heldengeschichten Seelenfutter, wenn auch unrealistisches, sein konnten, Soziotope, die Selbstberauschung an Brutalität und Großsprecherei züchteten, waren extrem machistische Gesellschaften. Die Belohnung kindlichen Omnipotenzgehabes mit anerkennend-amüsierten Blicken wird auch bei uns männlichen Kindern länger zuteil als weiblichen. Der rüpelhafte Schulhofnarzißmus ist eine männliche Angelegenheit, wie wir wissen und wie sich nicht zuletzt aus den neulich bekanntgewordenen Äußerungen eines Lehrers einer anerkannten Schule hören ließ, der das Quälen von Mitschülern als übliche Rangwettstreite seiner »jungen Löwen« bezeichnete. Wieviel von den unterschiedlichen Wegen, Aggressionen sozial zu leben, die Jungen oder Mädchen einschlagen, auf die Kultur, soziales Umfeld, Gewohnheiten, kulturunabhängige oder -übergreifende Modi geschlechtsspezifischen Heranwachsens zurückzuführen ist, kann hier getrost undiskutiert bleiben. Jedenfalls: Es gibt keine weiblichen Helden. Pippi Langstrumpf ist kein Held, vor allem ist sie genau betrachtet auch nicht weiblich.[11] Nicht, weil sie nicht ist wie Annika (ein aus Kontrastgründen etwas zu weibliches Kind), sondern weil ein so überstarkes Mädchen, um literarisch zu befriedigen, doch etwas anders wäre als ein überstarker, aber freundlicher Junge, der aussieht wie ein Mädchen. Pippi Langstrumpf ist ein Freak, mit dem wir uns, anders als mit dem Hulk, wohlfühlen können. Jeanne d’Arc mag man »Heldin« nennen, aber sie ist keine. Sie ist eine religiös verwirrte Kriegerin, dann eine Märtyrerin (oder Hexe, je nachdem). Sie gehört nicht dem Personal an, aus dem die Helden gemacht sind. Daß man aus Frauen keine Helden in dem Sinne, um den es mir hier geht, machen kann, sieht man peinlich genau an dem Versuch, mit »Wonderwoman« eine zu erfinden. Der Mythen- und Geschichtseintopf, der in diesem Film serviert wurde, zeigt die schiere Verzweiflung der Drehbuch- und Regieteams vor dieser übermenschlichen Aufgabe.[12]

Es bleibt dabei: Heldengeschichten sind Jungsgeschichten mit dem eingebauten schalen Trost: Aus der Sache mit den Helden wird nichts, aber vielleicht wird aus euch was, und mit dem Heldengetue kriegt ihr auf Dauer doch keine Frau. (Und an die Seitenblicke, die ihr abkriegt, wenn ihr wieder mal mit halb leuchtenden, halb weinenden Augen aus einem Western kommt oder eurer Geliebten erzählt, wie es euch zumute war, als ihr von Dietrichs mißlungener Brautwerbung last, habt ihr euch doch längst gewöhnt, nicht wahr?)

Helden und andere Probleme

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