Читать книгу Die Verzeitlichung der Potenzialität - Jan-Philipp Schramm - Страница 6

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Einleitung

Was ist es, das den Menschen antreibt? Es gibt kaum eine Frage, die uns so nachhaltig zu beschäftigen vermag, wie die Frage nach der menschlichen Existenz und ihrer Bedeutung, denn obwohl sie uns von Beginn an begleitet, ist sie noch immer Gegenstand heutiger Untersuchungen.

Unsere Existenz hat eine Frage hervorgebracht, an deren Beantwortung wir seitdem unermüdlich arbeiten und die bereits eine Vielzahl unterschiedlicher Ansätze hervorgebracht hat. Doch keine unserer Antworten hat es bisher geschafft, zu einer Gewissheit zu werden, die unsere Frage überflüssig machen würde. Abgesehen von den wenigen Ansätzen, die wir zu den gescheiterten Ideologien ihrer Zeit werden ließen, verbleiben alle übrigen Erklärungsansätze und Theorien in einem Dornröschenschlaf.

Wir wissen, dass die Antworten, die diese Erklärungsansätze enthalten, nicht ausreichen, um als unumstößliche Lösung gelten zu können. Aber solange keine Lösung gefunden wurde, sind wir nicht in der Lage, die Aussagen innerhalb dieser Theorien als widerlegt anzusehen. Die Frage nach der menschlichen Existenz bildet aus diesem Grund das Fundament dessen, was wir als Philosophie bezeichnen, während unsere bisherigen Erklärungen als unwiderlegbare Granitblöcke auf diesem Fundament ruhen. Philosophie ist eine Konstruktion, die nur fortbestehen kann, weil noch keine Antwort gefunden wurde, mit der ihr Fundament durchbrochen werden kann.

Wir wollen im Folgenden versuchen, uns einen eigenständigen Ansatz zu erarbeiten, und dabei am Ende entweder zu einer Anhäufung falscher Antworten oder aber zur Lösung der Frage beigetragen zu haben. Bevor wir beginnen, müssen wir uns jedoch von dem Ballast trennen, der sich über die Zeit angesammelt hat und die ausgetretenen Pfade unserer Vordenker verlassen. Ausdrucksweisen wie der Sinn des Lebens oder das Streben nach Glück verweisen in ihrem Kern auf unsere Ausgangsfrage, aber wir können an ihnen erste Weichenstellungen, erste Ansätze sehen, die es vermögen, unsere Antwort zu verfälschen. Ihre Begriffe sind Losungen, die wir bereits mit einem bestimmten Inhalt in Verbindung bringen. Wenn wir unsere Ausgangsfrage unvoreingenommen beantworten wollen, müssen wir versuchen, über unsere eigene Existenz nachzudenken. Wir können versuchen, unserer eigenen Existenz etwas zu entlocken, indem wir uns selbst befragen.

Doch sich selbst zu befragen, ist in etwa so, als würde man ein Interview mit sich selbst führen – man stellt Fragen, deren Antwort man schon kennt. Wir können keine Frage über etwas stellen, das uns nicht bekannt ist. Wenn wir beispielsweise annehmen, uns wäre die Bedeutung des Universums vollkommen unbekannt, wie könnten wir dann zu einer Frage gelangen, die dieses Universum zu etwas macht, dessen Existenz wir implizit voraussetzen? Es gibt keine Frage, die etwas uns völlig Unbekanntes mit einem Mal aufdecken könnte. Wir können nur versuchen, die Dinge, die uns bekannt sind, zu hinterfragen. Wir können etwas uns Unbekanntes nur schrittweise aufdecken, indem wir die Dinge, die Teil unserer Erkenntnisse sind, auf ihre Wahrheiten hin befragen und ihnen auf diese Weise etwas entlocken, dass in Relation zu etwas uns Unbekanntem steht.

Wenn der Himmel nur ein unveränderlicher Blauton wäre, der uns keinen Hinweis auf eine Atmosphäre geben würde, hätten wir vielleicht niemals zu der Erkenntnis gelangen können, dass es über unseren Köpfen irgendetwas zu sehen gibt, das für uns von Interesse ist. Wir konnten nur deshalb zu einer Erkenntnis über das Universum gelangen, weil es Anzeichen gab, die wir auf ihre Wesensarten hin befragt haben. Aus der Summe dieser Erkenntnisse haben wir schließlich eine Vermutung werden lassen, die wir in Form einer Frage artikulieren konnten, damit sich ihre Beantwortung als etwas herausstellen konnte, das unsere Schlussfolgerungen entweder bewies oder widerlegte.

Wir können uns fragen, was den Menschen antreibt, doch die Antworten, die wir auf diese Frage geben können, sind aufgrund unserer Perspektive nicht in der Lage den Beweis Ihrer Widerlegung anzutreten. Wir können auf eine subjektive Theorie keinen objektiven Beweis erbringen. Wir befragen uns selbst und können dabei nur Fragen stellen, deren Antwort wir schon kennen. Darüber hinaus ist aber die Antwort, die wir erhalten, niemals einer objektiven Gegenüberstellung ausgesetzt, die uns unverblümt vor Augen halten könnte, dass wir uns irren. Dass wir die Möglichkeit haben, uns selbst zu befragen und dieses Ergebnis der Selbstbefragung von anderen bestätigen oder dementieren zu lassen, löst diese Problematik nicht auf, denn hierbei tauschen wir unsere eigene Subjektivität nur gegen eine andere ein. Das von uns angeführte Modell der Selbstbefragung gleicht vielmehr dem Bewusstwerdenlassen einer Erkenntnis. Wir können uns selbst Fragen stellen, deren Antwort wir schon kennen müssen, um sie artikulieren zu können. Wir können uns zum Beispiel an einen Raum und eine Zeit erinnern, in der man uns die Antwort auf unsere Fragen gab. Aber wir können uns nicht mehr an den Inhalt dieser Antwort erinnern, sondern nur noch an den Raum und an die Zeit, in der wir uns befanden, als diese Antwort gesprochen wurde. Auf diese Weise sind wir in der Lage, uns selbst die Frage nach einer Antwort zu stellen, bei der wir uns sicher sind, uns an sie erinnern zu müssen.

Die Erinnerung an das Erleben einer Situation ermächtigt uns dazu, eine Frage zu stellen, deren Antwort uns bekannt, aber nicht bewusst ist. Sich selbst zu befragen, ist nicht der Versuch, nach neuen Erkenntnissen zu streben, sondern eine Erkenntnis, von der wir glauben, sie zu kennen, bewusst werden zu lassen.

Unser Beispiel über die Erkenntnis des Universums hat dagegen nichts mit unserem Modell der Selbstbefragung zu tun, denn bei unserem Beispiel handelt es sich um einen Erkenntnisgewinn, der seine wesentlichen Impulse aus der Beobachtung unserer Umwelt erhält. Wir sind zwar in der Lage, beide Vorgänge, den des Erkennens und den des Bewusstwerdens sprachlich voneinander zu unterscheiden, tatsächlich ist uns aber eine Trennung praktisch kaum möglich. In jeder Erkenntnis steckt ein Bewusstsein. Alle Dinge in der Welt werden durch ein Bewusstsein angeblickt, doch verrät uns dieser Blick noch nichts über die Vorgänge, die sich hinter den uns anblickenden Augen abspielen.

Einer der Gründe, aus denen es auf eine so einfache Frage, so viele unterschiedliche Ansätze gibt, ist der, dass sie jeden von uns auf die ein oder andere Weise beschäftigt. Eine Frage jedoch, die jeden von uns früher oder später beschäftigt, kann nur eine Frage sein, die wir von Beginn an in uns tragen. Wir können unsere Frage nicht beantworten, indem wir versuchen, die Antwort in uns selbst zu suchen. Aber wir können uns selbst fragen, woher unsere Frage rührt. Was treibt den Menschen an, und was bringt uns dazu, solche Fragen zu stellen?

Man sagt, dass es Ereignisse auf der Welt gibt, die in das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft eingehen und das Gefühl einer ganzen Generation prägen. Diese Art von Ereignissen können mit der Zeit zu einer gemeinsamen Erzählung werden, die über Generationen hinweg konserviert und wie ein Vermächtnis übertragen wird. Aber diese Art der Prägung, die wir durch andere Menschen erfahren können, hat nichts mit der existenziellen Frage an sich zu tun. Bei den gemeinsamen Erzählungen und Erfahrungen, die zu einem Teil unserer Kultur geworden sind, handelt es sich bereits um etwas, das von unserer Ausgangsfrage abgeleitet wurde. Sie sind, ähnlich der Vielzahl unterschiedlicher philosophischer Ansätze, etwas, das auf dem Fundament dieser Existenzfrage aufbaut, ohne sie dabei durchdringen zu können.

Die Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens machen und die Eindrücke, die wir über die Welt gewinnen können, sind stets individueller Natur. Unsere Lebensgeschichten ermöglichen uns einen einmaligen Blick auf die Welt und deswegen sind auch die Überlegungen, die wir zur Beantwortung der Frage anstellen, was den Menschen eigentlich antreibt, äußerst individueller Natur.

Auf diese Weise wird jedoch die Frage, was den Menschen antreibt, im Grunde genommen zu einer in höchstem Maße intimen Frage, denn die Antworten, die wir in uns tragen, offenbaren allen anderen zugleich unsere Art des Denkens und einen Teil der Erfahrungen, die wir gemacht haben. Die Beantwortung dieser Frage stellt uns in gewisser Hinsicht vor die Herausforderung, die Gefühle, die unsere eigene Lebensgeschichte im Besonderen geprägt und uns zu unserer persönlichen Sicht auf die Dinge verholfen haben, aussprechen zu müssen. Je mehr Zeit wir haben, über die Artikulation unserer Antwort nachzudenken, desto besser sind wir darin, diese Intimität zu kaschieren.

Wir wollen Geschichten erzählen, die wir für wahr halten, während wir uns zugleich große Mühe geben, die Kontrolle darüber zu behalten, welchen Eindruck wir bei unseren Zuhörern hinterlassen. Wir sind nicht bereit, unsere Intimität aufzugeben und uns vor den Augen der anderen einer Nacktheit preiszugeben, die unsere Wahrheit nicht mehr verhüllen kann. Wir können die grundlegende Überzeugung, uns selbst erkennen zu können, als wäre unser Sein etwas Verborgenes, dass sich allein dem ungetrübten Blick seiner selbst offenbart und vor den Blicken der anderen geschützt werden muss, nicht dauerhaft ausblenden. Deswegen wäre es falsch, unseren Erklärungsansatz der menschlichen Existenz an einer subjektiven Vorstellung der menschlichen Bedeutung auszurichten. Die menschliche Bedeutung muss sich vielmehr aus den Erkenntnissen über die menschliche Existenz entwickeln und diese Erkenntnisse können wir nicht zutage fördern, wenn wir uns selbst befragen.

Als ich angefangen habe, mich das erste Mal mit unserer Ausgangsfrage auseinanderzusetzen, war ich weit davon entfernt, mich mit ihren inhaltlichen Hintergründen zu beschäftigen. Die Frage, die wir gewählt haben, ist so grundlegend, dass alles andere auf Ihr aufbaut. Die breite und tiefe der Themen, die sich hierbei anbieten, reichen aus, um sich ein Leben lang mit ihnen zu beschäftigen. Es war daher notwendig, einen Überblick über die nahe liegendsten Themen zu erlangen und diesen eine gemeinsame Grundlage zu geben, durch die sie dann einer Beantwortung zugänglich werden. Diese Grundlage stellt den Kern meiner Arbeit dar. Sie zu entwickeln, war ein schwieriges Unterfangen, da es mir erst nach mehreren Anläufen gelungen ist, einen Anfangspunkt zu finden, den ich schließlich fortentwickeln konnte. Die Kapitel sind der Reihe nach so entstanden, wie ich mich im Rahmen meiner Ausarbeitung thematisch mit Ihnen befasst habe. Ich hoffe, dass der Zugang, den ich gewählt habe, für jeden einsehbar ist und sich mit den weiteren Fragen, die wir aufwerfen werden, und den Antworten, die wir auf diese zu geben versuchen, jeder auseinandersetzen kann. Darüber hinaus soll jeder die Möglichkeit erhalten, sich mit der von uns im Folgenden herausgebildeten Grundlage, alle übrigen Themen, die auf unserer Ausgangsfrage aufbauen, und die wir nicht oder nur teilweise behandeln werden, in einer eigenständigen Untersuchung zu erschließen. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass Theorien nicht unumstößlich und Grundlagen, die vorgeben, die Welt zu erklären, nicht allumfassend sind. Auch wir werden nur einen oder mehrere von einer Vielzahl möglicher Blickwinkel einnehmen können. Der Ansatz, den wir uns erarbeiten werden, soll auf dem Weg zur Entwicklung einer allgemein anerkannten Theorie der menschlichen Existenz und ihrer Bedeutung eine Hilfestellung sein.

Gleichwohl darf sich auch eine allgemein anerkannte Theorie, sofern es sie jemals außerhalb eines zeitlichen Kontextes ihres Entwurfs geben sollte, weder als unangreifbar noch als ideologische Ordnung verstehen.

Auf die Frage, was den Menschen antreibt, kann man antworten, dass der Ausgangspunkt jeder menschlichen Einflussnahme auf die Umwelt das Resultat überwiegend gleichartiger Bedürfnisse ist. Das Motiv unserer Handlungen lässt sich in einer Zweckmäßigkeit ausdrücken, die in der Erfüllung unserer Bedürfnisse liegt.

Diese Kausalität bietet sich für uns als Einstieg an. Wir müssen uns vorstellen, dass wir jeden Tag einer Vielzahl unterschiedlicher Menschen begegnen, denen wir mehr oder weniger zwangsläufig dabei zusehen, wie sie ihren täglichen Besorgungen nachgehen, während wir dabei sind, genau dasselbe zu machen. Diese oberflächliche Beobachtung soll uns zum einen die Kausalität unserer Einflussnahme veranschaulichen und uns andererseits zu einer ersten Ableitung unserer Ausgangsfrage führen.

Der Ursprung unserer Ausgangsfrage ist philosophischer Natur, aber der Einstieg, den wir zu ihrer Beantwortung gewählt haben, ist erst mal technischer Natur. Wie haben wir uns die Antriebe des Menschen in einem Prozess vorzustellen? Die Kausalität, die wir hierfür gewählt haben, drückt diesen Prozess zunächst in einer Zweckmäßigkeit aus. Dieser Ausdruck der Zweckmäßigkeit ist jedoch darauf beschränkt, eine technische Erklärung für die Erscheinungsform einer Antriebskraft zu liefern.

Das Verständnis unserer Ausgangsfrage geht bei Weitem über diesen rein technischen Erklärungsversuch hinaus. Uns beschäftigen die Art und Weise unseres Handelns sowie die Frage, wodurch diese bestimmte Art und Weise zu handeln angetrieben und hervorgebracht wird.

In einer Zeit, in der die Welt um uns herum vollkommen verrückt geworden zu sein scheint, erhält die Frage nach der Art und Weise unseres Handelns eine ungeahnte Aktualität, wenn nicht sogar Dringlichkeit. Wenn wir auf die Ereignisse der letzten Jahre blicken, bleibt der Eindruck, dass wir den Kompass für das, was als richtig und falsch gilt, verloren haben. Und es bleibt der Eindruck einer Verantwortungslosigkeit, die sich nicht nur auf die politische Führung beschränkt, sondern sich auch auf die teilweise Akzeptanz und Befürwortung des eingeschlagenen politischen und gesellschaftlichen Kurses erstreckt. Es scheint, als seien das Undenkbare zu einer Tatsache und das Unsagbare zu einem Mantra geworden.

Die menschliche Existenz lässt sich in Kausalitäten ausdrücken und erklärbar machen, ohne dabei jemals eine Frage der menschlichen Bedeutung hervorgebracht zu haben. Wie stehen die menschlichen Bedürfnisse also unseren Antrieben und unserer Art und Weise des Handelns gegenüber? Der Mensch ist kein abgeschlossenes System, dessen Gedanken von der Welt abgeschnitten sind, während er sich physisch in ihr verwirklichen kann. Der Einfluss, den wir auf unsere Umwelt ausüben, korreliert mit der uns umgebenden, auf uns einwirkenden Umwelt. Das Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Umwelt besteht in einer Form der wechselseitigen Einflussnahme. Unser Einfluss mag durch die Erfüllung unserer Bedürfnisse motiviert sein, doch die Schlussfolgerungen, die wir aus dieser Kausalität ziehen, dürfen wir uns nicht wie eine Einbahnstraße vorstellen.

Dass wir unsere Art und Weise des Handelns an die Rahmenbedingungen unserer Umwelt anpassen, bedeutet aufgrund der bis dahin ausgeblendeten Wechselseitigkeit, dass sich durch jede verwirklichte Handlung nicht nur der Zustand unserer Umwelt verändert, sondern auch, dass dieser veränderte Zustand wiederum auf eine andere Art und Weise mit unserer Einflussnahme korreliert und wechselwirkt.

Wir haben die Bedeutung der menschlichen Bedürfnisse, die wir zum Antrieb unserer Kausalität erklärten, als etwas Selbsterklärendes vorausgesetzt. Dabei ist die Betrachtung der menschlichen Bedürfnisse, die wir auf diese Weise jedem Menschen wie eine unabänderliche Gesetzmäßigkeit zuteilwerden ließen hinfällig, wenn die Wechselwirkung zwischen der Umwelt und der Art und Weise unserer Einflussnahme auch zu einer Korrelation mit unseren Bedürfnissen führt.

Wir sehen, dass wir es uns mit der Eingliederung einer Kausalität in die Beantwortung unserer Ausgangsfrage zu einfach gemacht haben. Den Einstieg, den wir aus Vereinfachungsgründen gewählt haben, müssen wir im Nachhinein relativieren und uns im Folgenden mit den aufgeworfenen Anschlussfragen auseinandersetzen.

Zunächst können wir jedoch festhalten, dass die Idee der Wechselwirkung zwischen der menschlichen Einflussnahme und der Umwelt, die diese Anschlussfragen ermöglicht hat, überhaupt erst durch unsere Feststellung möglich wurde, dass der Mensch kein abgeschlossenes System ist. Aus diesem Grund sollten wir klären, ob der Mensch von seiner Umwelt auf eine Weise beeinflusst werden kann, aufgrund derer sich sein Handeln und seine Bedürfnisse hieran anpassen.

Die Verzeitlichung der Potenzialität

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