Читать книгу Damit Vertrauen im Sprechzimmer gelingt - Jan Stöhlmacher - Страница 8

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»Das habe ich mir aber anders vorgestellt«

Was Patienten und Ärzte voneinander erwarten

Die Herzoperation sei unumgänglich und dulde keinen längeren Aufschub. Wenn er, Albert, keinen Infarkt riskieren wolle, müssten die Herzkranzgefäße überbrückt werden. Das Lumen dieser nur wenige Millimeter weiten Adern sei an einigen Stellen schon bedrohlich eingeengt. Albert glaubte ja, was seine Kardiologin ihm erzählte, und wollte diese ungeliebte Operation auch machen lassen, aber im Moment passte es ihm gerade so gar nicht. Es war Mitte November, und die Arbeit im Blumengeschäft, seinem Lebenstraum, steuerte wie immer um diese Zeit auf den Höhepunkt des Jahres zu. Adventskränze mussten gebunden, Weihnachtdekorationen in Geschäften und Hotels arrangiert und die zahlreichen Bestellungen im Laden abgearbeitet werden. Zwischen Rechnungen, Kundenfragen, Lieferterminen und Personalsorgen den Durchblick zu behalten forderte jetzt seine ganze Aufmerksamkeit. Diese unsägliche Operation musste erst einmal warten.

Doch am Vorabend des ersten Advents spürte Albert plötzlich ein so starkes Brennen hinter seinem Brustbein, wie er es noch nie erlebt hatte. Das Atmen fiel ihm schwer, und auch das Notfallspray brachte keine Linderung. An diesem Abend wurde ihm klar, dass er mit der Operation nicht länger warten konnte. Er musste in die Klinik. Wenige Tage später hatte er den Eingriff am offenen Herzen überstanden. Nun sollte er noch einige Zeit zur Kontrolle auf der Überwachungsstation bleiben, aber beim Ziehen der Fäden gab es Komplikationen. Er berichtet:

„Der Arzt war direkt über mich gebeugt, als er die Fäden zog und auf einmal meinte: ‚Was machen Sie denn bloß? Was machen Sie denn?‘, und nach seinen Kollegen rief. Plötzlich standen ganz viele Leute um mein Bett herum, redeten und guckten, und es wurden immer mehr Geräte ins Zimmer geschoben. Irgendetwas war nicht in Ordnung, und ich bekam totale Angst. Nach endlos langen Minuten waren auf einmal alle wieder verschwunden, aber ich war völlig aufgewühlt und verunsichert. Dann kam der Arzt noch einmal zu mir und sagte, dass ich am nächsten Tag auf eine normale Station verlegt würde. Ich habe das überhaupt nicht verstanden. Ich wollte mit ihm reden und ihm sagen, wie ich mich fühle. Aber er meinte nur, es sei vorhin nichts Schlimmes gewesen und ich solle das nicht überbewerten. Nichts Schlimmes? Plötzlich stehen unzählige Weißkittel um mich herum, ich bekomme mehrere Spritzen, die Leute reden durcheinander und laufen hektisch hin und her. Nichts Schlimmes? Das zu behaupten war eine Frechheit. Es mag ja sein, dass die Situation, von der ich bis heute nicht weiß, was eigentlich los gewesen ist, schnell wieder unter Kontrolle war. Aber ich hatte Panik. Und jetzt sollte ich noch auf eine Station verlegt werden, wo es keine vernünftige Überwachung gab. Das hat meine Angst natürlich noch verstärkt. Ich habe mich mit dem Arzt gestritten und fing dabei auch an zu heulen, so fertig war ich. Der hatte keinerlei Einfühlungsvermögen und hat mich durch seine Aktionen immer weiter verunsichert. Er hat sich weder erklärt noch entschuldigt. Das war völlig daneben.“

Noch im Interview, das ich über ein Jahr später mit Albert führte, war er aufgebracht, als wir auf dieses Thema zu sprechen kamen. Er hatte sich mithilfe seiner Kardiologin am nächsten Tag in eine andere Klinik verlegen lassen. Mit diesem Arzt wollte er nichts mehr zu tun haben. Dessen Unfähigkeit, ein offenbar vorhandenes medizinisches Problem und sein Handeln zu erklären, Albert in seine Überlegungen und Entscheidungen mit einzubeziehen, ließ die erfolgreiche Operation für ihn völlig in den Hintergrund treten. Vielleicht fehlte dem Arzt auch der Wille, offen und ehrlich mit ihm zu reden. Im Gedächtnis geblieben ist Albert eine Person ohne Einfühlungsvermögen und soziale Kompetenz. Seine Reaktion, sich in ein anderes Krankenhaus verlegen zu lassen, kann ich verstehen.

Albert hatte seine Bedenken und Wünsche klar geäußert. Er wollte wissen, ob es Grund zur Sorge gab oder ob alles auf dem richtigen Weg war. Er wollte vermeiden, dass sich bei ihm falsche Vorstellungen und Befürchtungen verfestigen, die ihn vielleicht bei seiner Krankheitsbewältigung stören würden. Ein solches Nachfragen ist für jede Patientin und jeden Patienten wichtig, damit der Arzt die Chance erhält, sich zu äußern, Ihre Gedanken zu bestätigen oder zu entkräften. Alberts Chirurg hat das nicht erkannt und dadurch die Chance für ein besseres Verhältnis zu seinem Patienten verstreichen lassen. Der Weg, den Albert beschritten hatte, ist aber genau der richtige: Trauen Sie sich, Bedenken und Wünsche zu äußern. Eine gute Ärztin, einen guten Arzt werden Sie daran erkennen, dass diese Ihre Überlegungen aufgreifen.

Ein Angebot, über das, was gerade passiert war, zu sprechen, auch wenn es aus Zeitgründen in dem Moment vielleicht nur kurz sein konnte, wäre für Albert eine große Hilfe gewesen. Er hätte loswerden können, was ihm durch den Kopf ging und ihn verunsicherte. In einer für Albert hör- und sichtbaren Form aufzugreifen, was ihn offensichtlich bewegte, wäre notwendig und – wie ich finde – für den Arzt auch nicht wirklich schwierig gewesen. Es muss ja nicht gleich ein perfektes Gespräch sein. Wenn die Zeit gerade knapp ist, kann man sich für später verabreden. Möglicherweise hätte schon eine kleine Geste ausgereicht, um die Situation zu beruhigen und für Albert erträglicher zu machen. Ein lautloses Nicken erzeugt Verständnis, signalisiert Zustimmung und vermittelt das Gefühl, dass einem ernsthaft zugehört und man als eigenständige Persönlichkeit wahrgenommen wird. Nichts davon war bei diesem Herzchirurgen erkennbar. So konnte Albert sich nicht ernst genommen fühlen und war darüber zu Recht verärgert. Das grundsätzliche Bedürfnis aller Patienten – nämlich wahr- und ernst genommen zu werden – wurde enttäuscht. Von einem Fundament für eine gute Beziehung auf Augenhöhe konnte keine Rede sein.

Genau dieses Gefühl ist es aber, das Patienten betonen, wenn sie ihre Erwartungen an ein Gespräch mit einer Ärztin oder einem Arzt benennen sollen. Eine explorative Studie der Universität Hannover zu diesem Thema, in der Menschen befragt wurden, die sich aufgrund ihrer Herkunft, ihres Alters und Berufes unterschieden, stellte fest, dass ernst genommen zu werden der wichtigste Punkt im Kontakt mit dem Arzt ist. In Interviews wurden vom Team um Professor Lothar Schäffner Einschätzungen zum Gelingen oder Misslingen eines Arztbesuches und deren Gründe genauso erfragt wie Dinge, die den Patienten gefielen beziehungsweise nicht gefielen, und was der Arzt aus ihrer Sicht verbessern müsste und warum. Egal, ob Sie eine Managerin, einen Installateur, eine Studentin oder einen Pfarrer fragen: Jede und jeder will vor allem als Person wahr- und ernst genommen werden.

Aber was bedeutet ernst genommen zu werden nun eigentlich? Würden Sie sich durch die gleichen Gesten und Worte wertgeschätzt fühlen wie ich? Vielleicht denken Sie jetzt, wie gut es wäre, wenn Ihre Ärztin sich einmal ausreichend Zeit nähme und Sie außerdem ausreden ließe. Oder dass Sie nicht stundenlang warten müssten, obwohl Sie einen Termin haben. Die Frage, ob wir ernst genommen werden, stellt sich unweigerlich, sobald wir in Kontakt mit einem anderen Menschen treten. Für die meisten von uns geht das schon morgens los. Sie bekommen beim Aufwachen von Ihrem Partner ein liebevolles Lächeln geschenkt, während er verspricht, gleich mit einem heißen Espresso zurück zu sein. Wahnsinn – und das am frühen Morgen, denken Sie, als Ihnen das köstliche Aroma des Kaffees in die Nase steigt und das Koffein beginnt, die Müdigkeit zu vertreiben. Vergessen sind in diesem Moment die vielen Male, in denen derselbe Partner wortlos aus dem Bett klettert und sich, ohne Sie eines Blickes zu würdigen, ins Bad verzieht.

In den alltäglichen zwischenmenschlichen Begegnungen spüren wir es alle: Zuwendung hebt unsere Stimmung. Nicht wahrgenommen oder bewusst ignoriert zu werden, macht dagegen schlechtgelaunt oder traurig. Dieses grundsätzliche Gefühl ist beim Besuch in der Arztpraxis oder im Krankenhaus nicht einfach verschwunden, doch ist das Gespräch zwischen Patient und Arzt keine alltägliche Begegnung. Die Partner erscheinen von Beginn an ungleich und in einer einseitigen Abhängigkeit. Sie gehen zum Arzt, um etwas zu erhalten, was Ihnen hoffentlich hilft und dieser hoffentlich geben kann. Er verfügt über das Wissen und die Fertigkeiten, aufgrund derer er eine Idee für die Ursache und die Beseitigung Ihrer Beschwerden entwickelt. „Ja, es ist genauso, als wenn ich mein Auto zum Kfz-Mechaniker bringe, weil irgendetwas mit der Kupplung nicht stimmt, damit er es wieder repariert“, würde Michael jetzt beipflichten. „Von technischen Dingen habe ich wenig Ahnung, der Autoschlosser kennt sich damit aber sehr gut aus, weil er den ganzen Tag Autos repariert, also ist er der richtige Mann für diesen Job.“

Haben Sie mal gesehen, wie dieser „Kfz-Doktor“ zu seiner Diagnose kommt? Der Experte, er wird inzwischen auch Kfz-Mechatroniker genannt, verbindet das Auto einfach über eine sogenannte OBD-Schnittstelle mit einem Computer, wobei OBD für On-Board-Diagnose steht, und bekommt so die relevante Fehlermeldung, die ernsthaft Fahrzeugdiagnose heißt, angezeigt. Sie ahnen schon: Michaels Vergleich zwischen Arzt und Kfz-Mechaniker hinkt. Unser Körper ist kein Ding, so wie ein Auto. Er verfügt weder über eine Computerschnittstelle zum Auslesen aktueller Fehlfunktionen noch sind die Körper von zwei Leuten wirklich völlig gleich. Und auch auf die Gefahr hin, dass mir Auto-Enthusiasten widersprechen, bin ich überzeugt, dass millionenfach produzierte identische Fahrzeuge weder eine Seele noch ein Bewusstsein haben. Ein Umstand, der die Körperwahrnehmung und damit die Ausprägung der Beschwerden bei uns Menschen hingegen maßgeblich beeinflusst.

Da Ihrer Ärztin naturgemäß keine vergleichbaren technischen Hilfen zur Verfügung stehen wie einem Kfz-Mechatroniker, ist sie umso mehr auf Ihre Mitarbeit angewiesen. Sie wird nur dann erfolgreich sein und die Beschwerden lindern oder beheben können, wenn sie sich auf Sie einlässt, offen, aufmerksam und ermutigend ist, und es ihr so gelingt, Ihre Mitwirkung am Heilungsprozess zu fördern. Sie wünscht sich Ihre Mitarbeit. Dieser Gedanke würde dem Chef der Autowerkstatt eher nicht kommen. Je besser Ihre Ärztin es versteht, Ihnen dieses Angebot zu unterbreiten, desto mehr werden Sie wahrscheinlich gewillt sein beizusteuern. Aus meiner Sicht ist es gut, ja notwendig, dass Sie sich auf diese Zusammenarbeit einlassen. Allein bekommt Ihre Ärztin das in der Regel nicht hin. Deshalb braucht sie auch eine gute Selbstbeobachtung auf Ihrer Seite. Damit meine ich nicht, sich ständig zu analysieren und verängstigt hinter jedem Pickel eine beginnende Katastrophe zu vermuten. Gemeint ist damit, Veränderungen, die sich im Inneren oder äußerlich sichtbar abspielen, auch wahrzunehmen.

In der nicht alltäglichen Begegnung zwischen Patient und Arzt bedeutet Ernstnehmen für mich als Fachmann, Sie nicht auf aktuelle Beschwerden oder eine Krankheit zu reduzieren. Sie geben mir ja einen Vertrauensvorschuss. Wohl weil ich Medizin studiert und, hoffentlich, ausreichend Fachwissen und Erfahrung habe, um die Ursache Ihres aktuellen Problems zu erkennen und eine Lösung zu finden. Inmitten modernster Formen der Bildgebung, schnellerer Laboranalysen und immer gezielter fahndender genetischer Tests bleibt die Erfahrung das zentrale Element. Nicht alles ist schwarz oder weiß im medizinischen Alltag, es gibt viele Grautöne. Durch dieses Grau gelangt man sicherer mit ein bisschen Erfahrung, so wie man die Piste im Skiurlaub beim zweiten oder dritten Mal schon besser herunterkommt. An einem strahlenden Wintermorgen gleiten Sie fast wie von selbst bis ins Tal. Ist die Bahn am nächsten Tag vereist oder voller Nebelschwaden, wird es schwieriger und Sie sind froh, dass Sie die Hügel und Kurven schon kennen.

Patienten suchen Ärzte oft wegen ähnlicher Symptome auf, aber mal haben sie Vorerkrankungen und mal nicht, mal nehmen sie Tabletten und mal nicht. Sie sind alle verschieden und sie sind alle einzigartig. Ich muss bereit sein, mich jedes Mal neu einzustellen und ganz von vorne anzufangen. Da leitet die Erfahrung meine Handlungen. Denn was ich schon einmal gehört, gesehen, getastet habe, das kann ich wiedererkennen und mich an die Schritte erinnern, die zum Erfolg geführt haben. Ganz grundsätzlich erwarten Sie von mir medizinische Kompetenz und gute Diagnosefähigkeiten. Das schließt auch ein, dass ich weiß, wann meine Grenzen erreicht sind und ich Sie lieber weiter überweise, am besten gezielt in einem gut abgestimmten Netzwerk von Kolleginnen und Kollegen.

Ich mag das Schild „Bitte nicht stören“ an meiner Sprechzimmertür. Eine zusätzliche Hürde, damit andere Patienten, Pfleger oder, besonders gern, Kollegen nach kurzem Klopfen nicht plötzlich mitten in Ihrer Intimsphäre landen. Neben nicht durchgestellten Anrufen und einem datenschutztauglichen Empfangsbereich gelingt es so, das von Ihnen exklusiv gewährte Recht zu wahren, welches mir Einblicke in Ihr körperliches und seelisches Innenleben erlaubt. Auch wenn Sie ohne dieses Zugeständnis im ärztlichen Sprechzimmer nicht auskommen werden, so ist es für mich dennoch ein Privileg. Das weiß ich. Und damit sollte ich besser verantwortlich umgehen. Sie als ganzheitliche Persönlichkeit wahrzunehmen erscheint mir da ein guter erster Schritt.

Sie nicht auf Symptome zu reduzieren erfordert von meiner Seite erst einmal, Sie ein wenig kennenzulernen. Dabei sind Sie mir mit der schon beschriebenen Vorbereitung auf den Besuch im Sprechzimmer eine große Hilfe. Da wir so leichter ins Gespräch kommen, brauche ich mich nicht nur auf meine Beobachtungen zu verlassen. Letztlich muss ich, ob durch Fragen oder Blicke, nicht nur das eigentliche Problem erfassen, sondern versuchen herauszufinden und zu verstehen, wie sehr Sie sich von den Beschwerden oder der Erkrankung eingeschränkt und betroffen fühlen und welche Ressourcen Sie zur Verfügung haben, um mit der neuen Situation umzugehen. Das ist für den Heilungsprozess wichtig.

Letztes Jahr im Sommer versuchte ich unserem Rasensprenger auszuweichen, weil ich trotz der Hitze nun mal nicht nass werden wollte. Mein Spurtversuch endete damit, dass ich auf der Nase lag und mir dabei irgendwie das Knie verdreht habe. Die Dusche war dann natürlich inklusive. Nichts Schlimmes dachte ich, aber beim Gehen hatte ich Schmerzen, und sie hörten nicht auf. Nach einiger Überwindung bin ich dann doch zum Arzt gehumpelt – das tue ich nämlich selbst auch nicht gern – und habe das Knie untersuchen lassen. „Das vordere Kreuzband ist gezerrt, nichts Schlimmes“, bekam ich zu hören. Hätte der Kollege mich besser gekannt oder sich die Zeit für ein kleines Gespräch über den Kniebefund hinaus genommen, hätte er erfahren, dass ich Marathonläufer bin und daher die notwendige Ruhigstellung des betroffenen Beines für mich ziemlich einschneidend war. Die verordnete Orthese auch zu tragen und mich in Geduld zu üben, ist mir wirklich schwergefallen. Mit dem Wissen über meine Freude am Sport hätte er mir noch mal ins Gewissen reden und meine Mitarbeit fördern können. Nach wenigen Wochen war zwar alles vergessen und ich konnte wieder rennen gehen. Es handelte sich ja auch nur um eine kleine Verletzung, die wieder vollständig in Ordnung kommen würde. Das war mir klar. Doch aufmerksam wahrgenommen fühlte ich mich von dem Sportarzt nicht. Natürlich hätte ich ihm von meinem sportlichen Ehrgeiz auch erzählen können, aber er schien an nichts anderem als dem Knie interessiert zu sein.

Gründlich untersucht wurde mein Knie immerhin. Das ist der Vorteil der Sportmediziner, Orthopäden oder der Ärzte für Physikalische Medizin: Kurze, knackige Beschreibung der Beschwerden, dann wird untersucht und therapiert. In der Neurologie oder beim Internisten sieht es da ganz anders aus. Ein ausführliches Gespräch zur Krankengeschichte ist die Basis. Ansonsten bräuchte ich dieses Buch auch gar nicht zu schreiben. Auf eine Untersuchung sollten Sie dennoch nicht verzichten. Lutz Wesel, der selbst Arzt ist, berichtet von einer Patientin, die im Rahmen eines grippalen Infektes Ohrenschmerzen entwickelte. Eine typische, banale Begleiterscheinung, die mit ein paar Nasen- und Ohrentropfen schnell behoben ist. Beim Blick ins Ohr zeigt sich regelhaft ein feuerrotes, entzündetes Trommelfell, auf das die Schmerzen zurückzuführen sind. Bei seinem Blick ins Ohr, der schon fast überflüssig anmutete, weil alles so typisch erschien, zeigte sich überraschenderweise ein ganz normales Trommelfell. Das passte nicht zusammen. Er fragte nach und erfuhr, dass die Patientin kürzlich ein Zahnimplantat im Oberkiefer der betreffenden Seite erhalten hatte. Die bei der Untersuchung der Mundhöhle gefundenen Eiterstippchen führten zur Diagnose eines infizierten Implantates. Ohne den Blick ins Ohr wäre die Infektion wohl verschleppt worden, mit gravierenden Folgen für die Patientin.

Eine Bänderzerrung oder ein entzündetes Trommelfell sind mit Erkrankungen, die aufgrund ihrer Schwere eine Neuausrichtung des Lebens erfordern, nicht zu vergleichen. Für Patienten, die immer wieder zum Arzt gehen müssen, ob nun für eine Kontrolle und erst recht bei einer Therapie, erscheint es mir ungleich wichtiger, dass die Ärztin oder der Arzt sie als Persönlichkeit und nicht als Herzschwäche oder Gelenkrheuma, um zwei Beispiele zu nennen, wahrnimmt. Diese Wahrnehmung muss für Sie als Patient oder Patientin sichtbar und hörbar sein. Das ist für jeden klinisch tätigen Arzt möglich, sicher auch für einen Herzchirurgen, der oft nur wenig Zeit auf der Station und im Gespräch mit seinen Patienten verbringen kann. Im Fall von Albert war die Situation auch deswegen so unwürdig, weil seine Bedenken, Fragen und Gefühle einfach als unwichtig abgetan wurden.

Zugegeben, nicht jede Ärztin ist ein Kommunikationsgenie und nicht jeder Arzt glaubt an die Bedeutung empathischen Handelns. Da gibt es zum Teil große Unterschiede, aber eine emotionale und kommunikative Grundausstattung darf man von jedem Arzt erwarten. In der Praxis spielt die entsprechende Fachdisziplin auch eine Rolle. Sitze ich als Anästhesist hauptsächlich im Operationsaal und lerne Sie ansonsten nur kurz zur Aufklärung über die Narkose kennen, ist es etwas anderes, als wenn ich Palliativmediziner oder Psychiater wäre. In diesen Fällen nehmen Gespräche weite Teile meiner Arbeitszeit ein und ich sammle kontinuierlich Erfahrungen, wie sich eine Unterredung meistern lässt. Dadurch kann ich meine Gespräche selbst verbessern.

In der schon erwähnten explorativen Befragung, die Lothar Schäffner von der Universität Hannover durchgeführt hat, stand für fast alle Teilnehmer fest, dass Ärztinnen und Ärzte das für einen empathischen Umgang mit den Patienten notwendige Geschick und auch das Wissen dafür bereits in den Beruf mitbringen müssten. Ohne diese menschlichen Ressourcen würden auch die langen Jahre an der Universität nichts ausrichten. Offenbar trauten die befragten Patienten ihren Ärzten kein sonderliches Entwicklungspotenzial nach dem Studienabschluss zu. So weit würde ich nicht gehen. Gäbe es für Medizinstudenten so eine Art Nürnberger Trichter, dann könnte man da neben den dicken Lehrbüchern auch gleich noch zwischenmenschliche Fähigkeiten mit hineinschütten. Leider gehört so ein Ding in die Welt der Legenden. Doch es gibt erfahrene Kolleginnen und Kollegen, von denen man unweigerlich lernt, umso mehr, je intensiver man deren Rat sucht und bewusst in sein eigenes Handeln integriert. Aus meiner Erfahrung bringt einem das mehr für die tägliche Arbeit als der Besuch von Fortbildungen, die sich mit diesem Thema theoretisch beschäftigen. Man muss diese Situationen direkt erleben, um die Wucht der eigenen Worte und die Vielfalt der Reaktionen, verbal und nonverbal, kennenzulernen. Das bekommen Sie mit Rollenspielen in einem Seminar nicht in dieser Form hin.

Vielleicht haben Sie es auch schon erlebt, dass Ihre Ärztin Sie vor dem geplanten Gespräch gefragt hat, ob es in Ordnung wäre, wenn noch ein junger Kollege mit dabei wäre, einfach zum Zuhören. Das geht natürlich nur mit Ihrem Einverständnis. Sonst bräuchte man auch kein Schild an der Tür des Sprechzimmers, um Ihre Intimsphäre zu schützen. Ich erinnere nur wenige Patienten, die Bedenken geäußert haben, und dann sind die Kollegen natürlich rausgegangen. Für mich als junger Arzt waren das genau die Situationen, in denen ich ganz viel gelernt habe. Und später saßen immer mal wieder Kolleginnen oder Kollegen mit in meiner Sprechstunde. Interessant für mich war, dass häufig, wenn ein anderer Arzt mit im Zimmer saß, die Kommunikation mit den Patienten nicht so locker ablief, wie ich es kannte, was indirekt darauf hinwies, dass es uns gelungen war, ein wenig Vertrauen aufzubauen.

Als ich einmal eine junge Ärztin mit zu Frau Witkowski in meine Sprechstunde nahm, erlebte ich eine kleine Überraschung. Ich hatte einen, ich würde sagen, vernünftigen Draht zu dieser Patientin, aber es war eher eine Arbeitsbeziehung und nicht betont emotional. An diesem Vormittag berichtete sie, nicht zum ersten Mal, von ihren Unterleibsschmerzen, die auf viele kleine Tumorabsiedlungen in ihrem Bauchfell, einer Art dünnem Bindegewebe, welches die Organe im Bauchraum an ihrem Platz hält, zurückzuführen waren. Unvermittelt wandte sie sich an die junge, ihr unbekannte Ärztin: „Sie können sicher besser verstehen, wie sich die Schmerzen hier unten anfühlen.“ Es war eine talentierte Kollegin, die keinerlei Scheu vor dem Kontakt mit Frau Witkowski hatte und mit ihrer Art und wohl auch der Tatsache, dass sie nun mal eine Frau war, im weiteren Gespräch die Patientin förmlich aufschloss. Frau Witkowski schien erleichtert darüber zu sein, sich erstmals richtig verständlich machen zu können. In diesem Fall half mir meine langjährige Praxiserfahrung gar nichts.

An eine andere Grenze bin ich mit meinem älteren Bruder Ralf gestoßen, der auch eine Krebsdiagnose erhalten hatte. An sich waren die Voraussetzungen des Arztverhältnisses bestens: Ich denke, Ralf fühlte sich gut aufgehoben, denn sein behandelnder Arzt stellte ihm verschiedene Therapieangebote vor und schaffte es auch, die gleichwertigen Behandlungswege verständlich zu erklären. Ralf kannte also die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Optionen, und eigentlich, sollte man meinen, hätte er nun eine Entscheidung fällen können, welchen Weg er einschlagen wollte. Aber so war es nicht. Ralf fragte mich, ob er seinen Lungenkrebs, der damals lokal begrenzt war, also nicht gestreut hatte, operieren oder mit einer kombinierten Strahlen-Chemotherapie behandeln lassen sollte. Beide Methoden können in bestimmten Stadien dieser Erkrankung alternativ eingesetzt werden. Belastungen und Nebenwirkungen sind dabei sehr verschieden.

Zu diesem Zeitpunkt war unser gemeinsamer Bruder Frank trotz einer Chemotherapie bereits an seinem Prostatakarzinom gestorben. Das machte es mir nicht leichter, Ralf zu vermitteln, dass auch die Kombination aus Bestrahlung und Chemotherapie erfolgreich sein kann, genauso wie eine Operation keinesfalls garantiert, dass der Tumor besiegt wird. Er war ein intelligenter Mann und hat die Unterschiede in den Behandlungen verstanden. Am Ende aller Diskussionen hat er dann aber doch mich gebeten, ihm zu sagen, was er machen soll, Operation oder Strahlen-Chemotherapie? Ich habe mich gewunden, habe versucht, mich um eine Antwort zu drücken. Frank hatte ich doch schon verloren. In dieser Zeit gab es Tage, an denen wollte ich von Ralf nicht nach Erklärungen gefragt werden, ich wollte keinen Rat abgeben und auch nichts entscheiden. Ich suchte nach Ablenkung, aber ich konnte mich nicht entziehen, denn unweigerlich war Ralfs Erkrankung ein Stück weit auch zu meiner geworden. Das konnte ich gar nicht verhindern. Im Empfinden einer diffusen Ungerechtigkeit der Welt meiner Familie gegenüber war ich gedanklich immer wieder damit beschäftigt, dass nun auch noch mein zweiter Bruder seinem Krebsleiden erliegen könnte. Mir fiel es schwer, mich zu konzentrieren. Ich versuchte, meine eigenen Gefühle und Bedürfnisse zurückzustellen, um Ralf, der alleine lebte, zu unterstützen und fachlich kompetent zur Seite zu stehen. Aber das war nicht einfach.

In meiner eigenen Sprechstunde in der Uniklinik, bei Menschen, die ich nur von dort und als Patienten kannte, gelang es mir besser, die viel beschworene „gesunde Distanz“ aufrechtzuerhalten. Oft berührte mich das Schicksal einer Patientin oder eines Patienten mehr als bei anderen, sei es aufgrund der Lebensumstände oder einfach wegen der Persönlichkeit selbst. Das ist nicht ungewöhnlich. Aber die Krankheitsverarbeitung kann ich Ihnen als Arzt nicht abnehmen, und daher sollte ich auch nicht so tun, als wäre ich dazu in der Lage. Ich habe immer darauf geachtet, die Probleme einzelner Patienten nicht zu meinen eigenen zu machen. Wie gesagt, das fiel mir manchmal leichter und dann gab es Begegnungen, bei denen ich mich bewusst an die notwendige Distanz erinnern musste.

Aus Gesprächen weiß ich, dass die meisten Kolleginnen und Kollegen viel Wert auf diese Distanz gelegt haben, zur eigenen Seelenhygiene und um Ressourcen zu schonen. Aus meiner Sicht hat es etwas mit den eigenen Fähigkeiten zu tun, emotionale Situationen professionell zu gestalten. Einige Menschen sind emotionaler oder offener als andere, die eher kühl wirken. Da gibt es auch bei Medizinern eine große Bandbreite. Ich empfinde eine gewisse Distanz jedoch nicht nur als wichtig für mich, sondern auch für Sie. Distanz ist nicht immer schlecht und Nähe ist nicht immer gut. In Konkurrenz zu Ihren Verwandten oder Freunden zu treten nach dem Motto „Wer hat das größte Herz, wer das beste Verständnis?“ halte ich für keine gute Idee. Mich sehen Sie nur wenige Minuten, auch kenne ich Sie nicht so gut. Ihr Partner oder Ihre Tochter haben viel bessere Möglichkeiten, Sie zu unterstützen.

In der erwähnten explorativen Studie der Universität Hannover, die auch die Erwartungen der Ärzte in Erfahrung bringen wollte, war dieser Punkt nicht unumstritten. Offenbar gehört es für einige Ärzte zum Selbstverständnis, sich auch persönlich auf die Erkrankung der Patientin oder des Patienten einzulassen. Doch es gibt ebenso gegenteilige Meinungen. Für mich ist es grundsätzlich keine Option, mich persönlich zu involvieren, denn es erschwert mir, Sie kraftvoll in medizinischer und emotionaler Hinsicht zu unterstützen. Die Ablenkung wäre einfach zu groß. Ich bin der Überzeugung, dass Sie dies nicht erwarten sollten. Sie würden dann oft enttäuscht, weil viele Ärzte eine derartige Anteilnahme nicht leisten können oder auch nicht wollen. Bei meinen Brüdern konnte ich mich natürlich nicht raushalten, weder bei dem jüngeren noch bei dem älteren.

In der Diskussion mit Ralf habe ich sehr mit mir gerungen. Einerseits wollte ich ihn unbedingt unterstützen und ihm bei seiner Entscheidung helfen, andererseits konnte und wollte ich sie ihm nicht abnehmen. Wie schwer es sein kann, eine Entscheidung mit erheblicher Tragweite für das eigene Leben zu fällen, obwohl man Vor- und Nachteile kennt, verstehe ich seitdem besser. Selbst musste ich eine solche Prüfung glücklicherweise noch nicht bestehen. Im Endeffekt habe ich ihm zu keiner der beiden Möglichkeiten direkt geraten, denn auch als Bruder bin ich letztlich eine außenstehende Person, die nicht das letzte Wort haben kann.

Versuchen Sie, derartig wichtige Weichenstellungen für Ihr eigenes Leben in eigener Verantwortung zu treffen! Das ist leicht gesagt. Aber nicht leicht getan, wenn Ihre Gesundheit davon abhängt. Vertrauen Sie darauf: Ein Richtig oder Falsch im rationalen Sinne gibt es dabei letztlich nicht. Ob Sie auf einem guten Weg sind, wird sich erst im Prozess oder in der Rückschau zeigen. Wichtig ist der nächste Schritt. Die Entscheidung, getroffen nach sorgfältiger Abwägung und nicht übereilt, muss sich gut für Sie anfühlen. Dann werden Sie dazu stehen können. Diese Verantwortung zu übernehmen ist auch Ihren Angehörigen oder Freunden gegenüber fair. Es zwingt Ihrem Umfeld nicht eine Rolle auf, die Sie nun einmal selbst übernehmen müssen.

Ralf hat sich dann geschickt vor der Entscheidung gedrückt, indem er mich gefragt hat, was ich in seiner Situation machen würde, wenn ich ihm denn schon zu keiner Option raten wolle. Das ist ein beliebter und irgendwie auch verständlicher Schachzug von vielen Patienten. In meiner Sprechstunde habe ich die Frage nie beantwortet, weil ich wirklich der Überzeugung bin, dass Sie selbst entscheiden müssen. Im Falle meines Bruders habe ich eine Ausnahme gemacht: Ich hätte mich operieren lassen. Und so ist er zum Chirurgen gegangen.

Das Bedürfnis nach Austausch oder nach weiteren Informationen über die Erkrankung, deren Therapie und Prognose kann bei verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich sein. Auch wenn es um existenzielle Fragen geht. Robert und Jule, zwei Freunde von mir, sind hierfür ein gutes Beispiel. Beide fieberten der Geburt ihres ersten Kindes entgegen. Es sollte ein Junge werden, Ole. Freude und Anspannung waren nach einer früheren Fehlgeburt groß. Dann war es so weit und Ole kam zur Welt. Allerdings einige Wochen früher als geplant, die unausgereiften Lungen machten Probleme, und so folgten Monate auf der Intensivstation.

Robert hat sich nach dem ersten Gespräch mit der zuständigen Ärztin, in dem klar wurde, dass Oles Überleben zu diesem Zeitpunkt keinesfalls gesichert war, sogleich über fast jedes Detail zu Medikamenten, Impfungen, Normwerten und Apparaten auf einer Intensivstation informiert, während Jule mit dem zufrieden war, was die Ärztin ihr erzählt hat, je weniger, desto besser. Sie war dadurch ruhiger, denn sie kannte nicht jede Komplikation, die eventuell hätte eintreten können. Ob die vielen Informationen Robert geholfen haben, mit der Situation umzugehen, weiß ich nicht. Er erzählte im Interview, dass er sich irgendwann beim Bäcker nervös umdrehte, weil es laut piepte und er in dem Moment dachte, Oles Beatmungsmaschine schlüge Alarm. In Wirklichkeit waren nur die Brötchen im Aufbackofen fertig. Da sei ihm bewusst geworden, dass man sich auch verrückt machen kann, und er habe die Strategie geändert. Er hat nicht mehr allen Eventualitäten nachgespürt und jedes Detail wissen wollen.

Für die betreuende Ärztin war es vermutlich ein ziemlicher Spagat, dafür zu sorgen, dass Jule über Oles Zustand „nur im Bilde“ war, und zugleich Roberts umfassendem Informationsbedürfnis nachzukommen. Es war auch insofern eine spezielle Situation, weil die Ansprechpartner die beiden Elternteile waren und die Kommunikation mit dem eigentlichen Patienten aufgrund seines Alters schlicht nicht möglich war. Mit Ole ist glücklicherweise alles gut gegangen und er stellt inzwischen zusammen mit seiner kleinen Schwester jede Menge Unfug an.

In meiner Praxis habe ich zum Teil ähnlich große Unterschiede in Bezug auf den Bedarf an Informationen erlebt. Das ist vermutlich normal und ich kann mich darauf einstellen. Ich muss allerdings wissen, was Sie wollen. Sie müssen mir also sagen, wenn Sie nur das unbedingt Notwendige zu Erkrankung, Therapie oder Prognose von mir hören wollen. Dass Sie gern viele Details und Erläuterungen von mir hätten, bekomme ich durch Ihre Fragen dagegen schon von alleine mit. Und beides ist in Ordnung, wobei die meisten Patienten irgendetwas zwischen diesen beiden Polen erwarten.

Das ist dann wahrscheinlich doch ähnlich wie in einer Kfz-Werkstatt. Erfahren, was kaputt war und wie lange die neue Kupplung nun hält, wollte Michael schon gern, wenn er sein Auto abholte. Hingegen haben ihn die Details zur Reparatur nicht wirklich interessiert. Eins aber ließ ihn aufhorchen. Der Meister meinte, er solle die Kupplung nicht zu viel schleifen lassen, sonst würde er bald wieder mit dem gleichen Problem dastehen. In den nächsten Tagen hat Michael dann darüber nachgedacht, wie er das mit dem Kuppeln besser hinbekommen könnte. Oder wäre ein Wagen mit Automatikgetriebe die Lösung? Der Meister hatte es drauf. Denn so soll es sein, nicht nur in der Kfz-Werkstatt, sondern auch beim Arzt: Das Gespräch wirkt nach und entfaltet seine Wirkung noch lange, nachdem Sie das Sprechzimmer verlassen haben.

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