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UNTER SANDRÄUBERN

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Irgendwas stimmte nicht; das hatte ich von Anfang an gespürt. Die Boeing 737 der Royal Air Maroc war zehn Minuten vorher vom Münchner Flughafen gestartet. Jetzt erlosch, irgendwo über Rosenheim, mit einem Bing das Anschnallzeichen. Die Frau neben mir stand auf und zog eine dicke rote Fleecedecke aus dem Gepäckfach über uns. Überall in den Reihen vor und hinter mir ging das Sitzverstellen und Gemütlichmachen vor einem Nachtflug los. Nur die seltsame Gruppe Männer hinten in der Kabine rührte sich nicht.

Flug AT823 von München nach Casablanca war halb leer. Vor dem Einsteigen hatten wir eine halbe Stunde im Bus auf dem Rollfeld gewartet, während zwei Autos der Bundespolizei mit laufenden Motoren vor dem Flugzeug standen. Schließlich waren zwei Uniformierte aus der Maschine gestiegen und weggefahren. Als sich endlich die Bustüren öffneten, stieg ich die Treppe rauf und in den Flieger; als einer der Ersten. Dachte ich jedenfalls. Aber im Heck, bei den Toiletten, saß bereits regungslos diese Gruppe. Fünf schwarzhaarige Männer, hintereinander auf den Fensterplätzen, in sich versunken, als wären sie im Moment des Hinsetzens eingeschlafen. Und neben ihnen, auf den Plätzen am Gang, fünf kräftige Männer in Kurzarmhemden, die hellwach und etwas grimmig nach vorne guckten. Was war das für eine seltsame Truppe, in der niemand sprach, niemand lachte? Und warum verteilten sie sich nicht auf die vielen freien Reihen?

Ich löste den Gurt, stand auf und schwankte nach hinten. Das vorderste Kurzarmhemd blickte sofort misstrauisch auf. Ich lächelte, guckte suchend in Richtung Toilettentür und schob mich vorbei, während ich irgendwas brummte, das klingen sollte wie »Na, zum Glück ist gerade nicht besetzt, haha«. Aber der kurze Blick in die Sitzreihe hatte gereicht: Mir zog sich der Magen zusammen. Der Mann im Hemd trug Quarzhandschuhe; schwarz, mit Verstärkungen an den Knöcheln. Mit solchen Dingern kann man Unterkiefer brechen, ohne sich weh zu tun. Noch mehr erschreckt hatte mich aber der Blick auf den Platz daneben. Der schwarzhaarige Mann, der dort saß, weinte, während er stumm aus dem Fenster sah. Seine Arme waren mit Handschellen an die Lehnen gefesselt.

Ich saß in einem Abschiebeflug. Von diesen Flügen hört man sehr wenig, oft gibt es Protest. Aber die Flüge finden trotzdem statt. Auf wenig gebuchten, oft nächtlichen Verbindungen nach Lagos oder Tirana werden täglich Migranten »rückgeführt«, wie es offiziell so zivilisiert heißt, wenn Bundespolizisten mit Kampfhandschuhen Leute gegen deren Willen in ein Land bringen, mit dem Deutschland ein Abkommen hat.

2020 waren es insgesamt zehntausendachthundert Menschen; Albaner, Georgier, Serben, aber auch Afghanen, Syrer und Nigerianer. Hundertneununddreißig Menschen schob man nach Marokko ab. Was noch nicht heißen musste, dass die fünf gefesselten Männer in meinem Flieger auch von dort kamen. Marokko gilt als Transitland, das sich für viel Geld dazu verpflichtet hat, Flüchtlinge aus anderen afrikanischen Staaten von Deutschland zurückzunehmen. Was genau mit den Menschen geschieht, nachdem deutsche Polizisten sie dort ausgesetzt haben, weiß niemand genau. Und es interessiert auch niemanden so richtig.

»Wirtschaftsflüchtlinge«, wie man oft die Menschen nennt, die nicht vor Krieg, sondern vor Armut geflohen sind, haben keinen Anspruch auf Asyl. Damit gelten sie als Flüchtlinge mit Luxusproblem. Die Migrationspolitik blendet gerne aus, dass Millionen Menschen in weiten Teilen Afrikas auch ohne akuten Bürgerkrieg oder politische Verfolgung kaum in der Lage sind, die eigene Familie zu ernähren; dass längst auch Klima- und Umweltprobleme Menschen aus ihrer Heimat vertreiben; dass diese Probleme mitunter durch die globale, von Europa entscheidend mitbestimmte Wirtschaft verursacht und verstärkt werden. Es wird so getan, als hätten wir im Norden nichts damit zu tun.

TRADITIONELLE FISCHERBOOTE AUS BUNT BEMALTEM HOLZ LAGEN SCHIEF AUF HANDBALLGROSSEN VULKANSTEINEN, SCHWARZ UND HEISS WIE HERDPLATTEN. DIESE STRÄNDE WAREN TOT, ABGENAGT BIS AUF IHR SCHWARZES GERIPPE.

Auf dem Klo spritzte ich mir lauwarmes, nach Eisen riechendes Flugzeugwasser ins Gesicht. Was für ein zynischer Zufall: Fünf Menschen wurden ausgerechnet in dem Flugzeug gefesselt nach Afrika deportiert, in dem ich unterwegs war, um über eines der vielen Probleme zu berichten, wegen der Menschen Afrika verlassen. Ich schlief während des Fluges keine Sekunde. Ich war aufgewühlt.

Aber auch mein eigenes Thema beschäftigte mich. Das Ganze klang für mich immer noch unglaublich. Auf den Kapverden, einem der beliebtesten Strandparadiese der Welt, verschwanden die Strände. Weil sogenannte ladrões de areia, Sandräuber, sie illegal wegschaufelten. Warum um Himmels willen taten sie das? Und was passierte mit dem Sand?

Mit diesen Fragen im Kopf landete ich weit nach Mitternacht auf dem Aeroporto Internacional Nelson Mandela. Meine Kollegen Vanessa und Andi, mit denen ich eine Reportage über den Sandraub drehen würde, waren schon früher geflogen, mit der TAP-Verbindung über Lissabon, die bei Touristen beliebt ist und den Fluggästen den Anblick von Afrikanern in Handschellen erspart.

Als ich in den heißen Ostwind hinaustrat, der auch nachts noch von Afrika her in die Palmen blies wie ein Föhn, war mein Mund trocken und die Beine juckten vom langen Sitzen. Die Außenwände des Flughafens waren bemalt mit Fischern, die ihre Netze vom Land aus in tiefblaues Wasser warfen. Es war eine Vorschau auf das, was die meisten Gäste erwarteten, wenn sie hier ankamen: Berge, frischen Fisch, herrliche Strände.

Neben einem schwarzen Kleinwagen wartete Celestino, unser Mann vor Ort. Trotz der immer noch sechsundzwanzig Grad steckte sein frisch gebügeltes Hemd perfekt in der frisch gebügelten Hose. In der Hand hielt er eine Flasche Wasser für mich. Ich mochte ihn sofort. Celestino hatte sein ganzes Leben hier auf Santiago verbracht, der größten Insel der Kapverden. Er arbeitete als Englischlehrer in Praia, der Hauptstadt, und wenn er Urlaub hatte, half er ausländischen Reportern bei der Arbeit. Solche einheimischen Helfer nennt man Fixer, und oft liegt es an ihnen, ob eine Recherche ein Erfolg wird oder eine Katastrophe. Celestino hatte den Kontakt zu Sandräubern hergestellt und sie überredet, sich bei ihrer illegalen Tätigkeit begleiten zu lassen.

Hinter mir ratterten die Plastikkoffer der erschöpften Urlauber in Richtung der Hotelbusse, die schon mit laufendem Motor auf sie warteten. Die meisten würden morgen oder übermorgen, nach einem kurzen Rundgang durch die Hauptstadt, weiterfahren, per Fähre auf die nördlich gelegenen Inseln Boa Vista oder Sal, mit ihren All-inclusive-Resorts und paradiesisch weißen Surf-Stränden. Celestino und ich schlugen die Gegenrichtung ein: westwärts; in die Gegend, die die meisten Gäste auch bei Tag nie sehen würden – vermutlich auch nicht sehen wollten, wenn sie wüssten, wie es dort aussieht. Celestino schaltete das Radio an und kurbelte das Fenster hoch. Das Zischen der Klimaanlage vermischte sich mit Afropop. Bald ließen wir die beleuchteten Straßen hinter uns.

Die neun kapverdischen Inseln trotzen sechshundert Kilometer westlich des Senegal dem Atlantik. Ursprünglich waren sie unbewohnt; bis Portugal sie besetzte und jahrhundertelang als Verladehafen nutzte, für das seinerzeit wertvollste Exportgut, das der europäische Kolonialismus aus Afrika zog: Sklaven. Heute sind die Kapverden eines der beliebtesten Urlaubsziele des Kontinents. Das Klima ist angenehm, das Essen nicht zu ungewohnt, das Land sicher. Cabo Verde ist eine der wenigen Demokratien Afrikas; die Menschen sind für afrikanische Verhältnisse wohlhabend. Sein Markenzeichen trägt das Land schon im Namen der Hauptstadt: Praia bedeutet nichts anderes als Strand. Bald, dachte ich, könnte der Name ein leeres Versprechen sein; genau wie die »gute Luft« von Buenos Aires. Eine Erinnerung an bessere, lang vergangene Zeiten.


Für eine Diebin fing Dita ziemlich spät mit der Arbeit an. Sie stahl ihre Beute nicht im Schutz der Dunkelheit, wie ich erwartet hatte. Sondern tagsüber, von acht bis vier. Es war schon hell und backofenheiß, als sie hinter der verabredeten Linkskurve irgendwo in den ausgedörrten Hügeln über Porto Gouveia unter einem Ölbaum hervortrat. Sie blickte sich um; dann hob sie zögernd die Hand. Eine Frau mit den kräftigen Schultern einer Arbeiterin und dem sanften Gesichtsausdruck einer vierfachen Mutter. »Bom dia«, murmelte sie, während sie die Gruppe musterte, die ihr da aus dem Auto entgegenstieg: Zwei blonde Männer, einer davon mit Kamera, das war Andi; eine Frau mit Klemmbrett, Vanessa, die Redakteurin; und schließlich Celestino, unser Fahrer und Übersetzer.

Dita trug Flip-Flops und die übliche Kleidung ihres Berufsstands: Ein sonnengebleichtes Top und zwei luftige Baumwolltücher. Das eine um die Hüfte geschlungen, das andere um den Kopf, als kleine, aber wirkungsvolle Maßnahme gegen den Staub und die Sonne, ihre größten Gegner, noch vor der Polizei. Die kam auch immer wieder vorbei, aber tat inzwischen nur noch wenig, wie ich später erfuhr. Man nahm Dita das Werkzeug weg, ein paar Eimer und Schaufeln, oder verlangte ein kleines Schmiergeld.

Ditas Arbeit bestand darin, Sand zu stehlen und zu verkaufen. Ich kannte sie noch keine zehn Minuten, aber konnte mir nicht vorstellen, dass sie sich den Job wegen der spannenden Arbeit an der frischen Luft ausgesucht hatte. Sandräuber wurde man, weil die Kinder Hunger hatten – und weil man keine andere Möglichkeit sah, das zu ändern. Dita war eine von geschätzt Hunderttausenden in diesem Geschäftszweig, allein an der afrikanischen Westküste.

Wir stolperten und rutschten Dita hinterher, eine Böschung hinab durch dornige Sträucher. Ringsum erhoben sich staubfarbene Hügel. Das Meer musste noch kilometerweit entfernt sein. »Laufen wir bis zum Strand?«, fragte ich Dita, die unten stehen geblieben war und mit geübter Handbewegung eine Fliege von ihrem Gesicht verscheuchte. »Não, wir bleiben hier.« Ich blickte mich um, wir standen in einem Flussbett. Es sah aus, als wäre der letzte Tropfen Wasser hier vor hundert Jahren geflossen. »Am Strand«, sagte sie und lächelte, »gibt es schon lang keine Arbeit mehr.«

Was sie damit meinte, sah ich in den Tagen danach. Wir besuchten mit Celestino fünf verschiedene Strände entlang der Küste. Nirgendwo lag Sand. Traditionelle Fischerboote aus bunt bemaltem Holz lagen schief auf handballgroßen Vulkansteinen, schwarz und heiß wie Herdplatten. Strandgäste sahen wir nirgends. Baden wäre auch riskant für die Fußknöchel gewesen; die Brandung rollte die Steinblöcke mit einem malmenden Grollen das Ufer rauf und runter, als wolle sie die Brocken so schnell wie möglich wieder zu Sand verarbeiten. Bis vor kurzem hatte der hier noch überall gelegen, als schützende Decke vor dem steigenden Meeresspiegel, als Zuhause für Pflanzen und Fische, als Nistplatz für Schildkröten. Damit war es vorbei. Auch wenn das Meer und die schönen alten Boote für ahnungslose Besucher durchaus als Idyll durchgehen konnten: Diese Strände waren tot, abgenagt bis auf ihr schwarzes Gerippe.

Und so gruben sich Dita und die anderen Räuber jetzt die Flüsse hinauf, dem Weg in umgekehrter Richtung folgend, den der Sand eigentlich über Jahrhunderte aus dem Inland nahm. Im Flussbett warteten eine Freundin und zwei von Ditas Kindern. Sie hielten rostige Spitzhacken und Schaufeln mit zersplitterten Holzgriffen. Außerdem lag da eine zerdengelte Blechschublade, in die man offenbar vor vielen Jahren mit einem Nagel kleine Löcher gehauen hatte: ein selbst gebautes Sieb.

WÄHREND DIE GÄSTE AUS EUROPA AUF DER EINEN INSEL IN BEQUEMEN NEUBAUTEN IHREN STRANDURLAUB GENOSSEN, SCHAUFELTEN DIE LADRÕES DE AREIA AUF DER NACHBARINSEL DIE STRÄNDE WEG, UM NACHSCHUB FÜR DIE BAUSTELLEN ZU LIEFERN.

Der Arbeitsablauf, an dem ich heute für einen Tag teilnehmen würde, war eine etwas rabiatere Variante dessen, was ich zuletzt als Fünfjähriger im Sandkasten gespielt hatte: Hacken, graben, sieben. Dita erklärte mir, woher wir die meiste Beute bekämen. Von der Uferböschung. Das Wasser hatte die Sedimente über Jahrzehnte an den Rand gedrückt. Mit der Spitzhacke hebelte sie einen Steinbrocken aus der festgebackenen Böschung und lockerte ein paar Quadratmeter Boden. Nach acht, neun Hieben wechselte sie das Werkzeug. Nun schaufelte sie die Stein-Sand-Mischung in das Schubladensieb, das auf dem Boden lag. Als sich darin ein kniehoher Haufen gebildet hatte, den sie gerade noch hochstemmen konnte, hob sie die Lade auf Brusthöhe und rüttelte sie von links nach rechts. Es rasselte, es staubte, Dita kniff die Augen zu. Als der Schleier aus Dreck verweht war, hatte sich zu ihren Füßen ein kleiner Kegel aus dunklem Sand gebildet. »Da hast du es«, sagte sie. »Das ist das, was wir verkaufen.«

Bis Anfang der achtziger Jahre waren die Kapverden touristisch weitgehend unerschlossen. Man lebte ärmlich in Hütten aus Lavastein, der Sand am Meer interessierte niemanden. Dann begann der Massentourismus. Und mit ihm nicht nur der Aufschwung, sondern auch der Ausbau der Inseln: Straßen und Hotels entstanden, ganze Städte wurden aus dem Vulkanboden gestampft. Der Lebensstandard stieg, den meisten Menschen ging es wirtschaftlich immer besser.

Doch der Boom forderte ein unerwartetes Opfer. Ich konnte es sehen, als wir uns später eine kurze Pause gönnten. Wir setzten uns oben am Hang auf ein paar Autoreifen im Schatten eines Baums und spülten uns mit Wasser den Staub aus der Kehle. Hinter uns stand Ditas Haus. Es war aus rohen Ziegeln gebaut, darüber ein Dach aus Wellblech, davor ein windschiefer Verschlag aus Treibholz, in dem ein paar Hühner im Staub scharrten. Ein kleiner Junge in Unterhose duschte unter einem Metallrohr, das außen aus der Wand ragte.

Das Haus sah nicht besonders aus. Es war aber besonders; weil es nicht aus Stein gebaut war, wie die traditionellen kapverdischen Häuser, sondern aus Betonziegeln. Die Europäer kamen nicht nur als Touristen, sondern brachten den Kapverdern auch eine Art zu bauen, die es vorher nicht gab. Beton ersetzte Stein. Und weil Beton zu drei Vierteln aus Sand und Kies besteht, wurde aus den Stränden über Nacht ein Rohstoff.

Für Arnaud Vander Velpen, einen jungen belgischen Geologen, ist genau das eine der »größten Herausforderungen des Jahrhunderts«. Weniger diplomatisch ausgedrückt: ein verdammtes Riesenproblem. Vander Velpen ist Experte für Sand beim Umweltprogramm der Vereinten Nationen, kurz UNEP. »Was passiert, wenn etwas wertvoll wird, das niemandem gehört, aber überall rumliegt?«, fragte er mich, als ich ihn anrief. »Jemand sammelt es auf und verkauft es.« So war der Beruf der Sandräuber entstanden. Während die Gäste aus Europa auf der einen Insel in bequemen Neubauten ihren Strandurlaub genossen, schaufelten die ladrões de areia auf der Nachbarinsel die Strände weg, um Nachschub für die Baustellen zu liefern.

ALLEIN CHINA HATTE IN DEN VERGANGENEN DREI JAHREN MEHR SAND UND KIES FÜR DIE BETONPRODUKTION VERBRAUCHT, ALS DIE USA IM GESAMTEN ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT, SO SCHÄTZTE MAN BEI DER UNEP.

Diese Lieferkette ist überall auf der Welt zu beobachten, vom Mekongdelta bis zur arabischen Halbinsel. Sie funktioniert ungefähr wie ein Jenga-Turm: Um oben einen Stein draufzusetzen, muss man unten einen rausziehen. Das geht überraschend lange gut. Ein Jenga-Turm kann mehr als seine doppelte Ursprungshöhe erreichen – bis jemand einen Stein zu viel aus dem Fundament zieht und alles ins Kippen gerät.

Sand wird fast überall auf der Welt knapp. Nach dem Wasser ist er die zweitmeist verbrauchte Ressource. Und wie Öl oder Kohle ist er nicht erneuerbar. Jedenfalls nicht auf absehbare Zeit. Die Natur braucht zig Jahrtausende, um ihn mit Hilfe von Wind oder Wasser aus Felsen zu mahlen.

Den Gedanken, dass Sand knapp werden könnte, musste ich mir während der Reise erst mühsam bewusst machen. Wenn es eine Ressource auf der Erde gab, von der ich dachte, es gäbe wirklich mehr als genug von ihr, dann das knirschende weiße oder schwarze oder braune Pulver. »Wie Sand am Meer«; dieses Sprichwort war auf den Kapverden offenbar schon etwas älter.

Arnaud Vander Velpen erklärte mir, dass der globale Sandverbrauch sich in den letzten zwanzig Jahren verdreifacht hatte. Die weltweite Bauindustrie war exponentiell hungriger geworden. Vor allem die asiatischen Volkswirtschaften wuchsen schneller als je zuvor eine Region auf der Erde. Bei der UNEP schätzte man, dass allein China in den vergangenen drei Jahren mehr Sand und Kies für die Betonproduktion verbraucht hatte, als die USA im gesamten zwanzigsten Jahrhundert.


Sand wird aber nicht nur für Beton verwendet, sondern auch in der Elektro- und Kosmetikindustrie, um Straßenfundamente zu befestigen und sogar um Land aufzuschütten. Etwa in Singapur, dem größten Pro-Kopf-Verbraucher des Sediments. Der Stadtstaat vergrößert sein Territorium, indem er Millionen Tonnen von importiertem Sand in die Meerenge zwischen indischem Ozean und südchinesischem Meer kippt. So hat er seine Fläche inzwischen um ein Viertel vergrößert. In Dubai hat man in den vergangenen Jahren auch noch künstliche Inselgruppen in der Form von Palmen ins Meer gesetzt. Wenigstens gab es in den Emiraten genügend Sand, dachte ich. Bis mir Arnaud erklärte, dass Wüstensand sich nicht zum Bauen eignet: Die Körner sind zu rund. »Der Sand für die künstlichen Inseln stammt teilweise von den Stränden Afrikas«, sagte er, »aber größtenteils aus Australien.« Er wird also auch noch mit Schiffsdiesel um die halbe Welt geschippert.

Die Menschheit spielt längst überall Jenga. Beim Umweltprogramm der Vereinten Nationen verortet man die Summe allen verbrauchten Sandes pro Jahr bei etwa fünfzig Milliarden Tonnen. »Angenommen, man würde allen Sand, der in einem Jahr verbraucht wird, in einer Linie um den Äquator aufschütten«, sagte Arnaud, »einmal um die Erde herum« – er machte eine bedeutungsvolle Pause –, »man hätte eine durchgehende Mauer, die siebenundzwanzig Meter hoch und siebenundzwanzig Meter breit wäre. Jahr für Jahr.« Das war deutlich mehr, als alle Flüsse der Welt in einem Jahr produzierten. In Belgien, sagte Arnaud, grabe man den benötigten Sand vor allem aus der Nordsee, weil man – genau wie in Deutschland – über die meisten Sandvorkommen an Land Städte gebaut hatte. Nur habe kürzlich eine Schätzung ergeben, wie viel Sand vor der belgischen Küste eigentlich noch übrig war: »In spätestens achtzig Jahren ist alles weg.« Die zuständigen Behörden seien erschüttert gewesen.

Der Sandpreis ist entsprechend gestiegen. Er hat sich seit Ende der neunziger Jahre versechsfacht. Wenn die wachsenden Schwellenländer die eigenen Sandreserven erschöpft hatten, kauften sie überall dort nach, wo Regierungen zu korrupt oder Menschen zu arm waren, um sich Gedanken über die Folgen zu machen. Zum Beispiel in Afrika.

IN INDONESIEN, EINEM DER WICHTIGSTEN SANDLIEFERANTEN FÜR DEN ASIATISCHEN RAUM, SCHAUFELT MAN DEN ROHSTOFF MIT BAGGERSCHIFFEN AUS DEM MEER. ZWISCHEN 2005 UND 2010 SIND LAUT ZEITUNGSBERICHTEN MINDESTENS VIERUNDZWANZIG UNBEWOHNTE INDONESISCHE INSELN IM MEER VERSUNKEN.

Wusste Dita, was sie da anrichtete? Es war mir unangenehm, sie zu fragen. Sie war alleinerziehend, hatte sie mir beim Graben erzählt, während Celestino im mittlerweile durchgeschwitzten Hemd übersetzte. Sie war zweiundvierzig. Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr hatte sie nie etwas anderes gemacht. Wir hatten inzwischen das Ufer auf einer Länge von zwanzig Metern aufgehackt und gesiebt. Etwas abseits wuchs quälend langsam unser Sandhügel. Ich wischte mir den dreckigen Schweiß aus der Stirn und machte einen Versuch: »Warum, glaubst du, ist der Sandabbau verboten?« Schweigen. Dita stützte sich auf ihre Hacke und kniff die Augen zusammen. Dann erzählte sie von den Männern.

Der Sandraub war auf den Kapverden Frauensache. Die Männer gingen fischen, erklärte Dita, frühmorgens; wobei diese Tätigkeit zuletzt kaum noch Erträge brachte. Alles hängt mit allem zusammen, und Fische finden auf dem blanken Steinboden in den Buchten kaum noch Nahrung. Ihr Vater und dessen Vater seien noch täglich mit vollen Netzen zurückgekommen. Jetzt aber müssten die Fischer Jahr für Jahr weiter raus aufs Meer, wo wiederum ausländische Trawler alles leer gefischt hätten. So hatten viele Männer aufgegeben und als Tagelöhner auf dem Bau angeheuert. Sie mischten jetzt den Sand, den ihre Frauen und Mütter abbauten, zu Beton und gossen daraus Ziegel.

Die Entwicklung war typisch. In Indonesien, einem der wichtigsten Sandlieferanten für den asiatischen Raum, schaufelt man den Rohstoff mit Baggerschiffen aus dem Meer. Das zerstört nicht nur Ökosysteme unter Wasser, es lässt auch ganze Inseln verschwinden. Zwischen 2005 und 2010 sind laut Zeitungsberichten mindestens vierundzwanzig unbewohnte indonesische Inseln im Meer versunken. Das Fundament hatte irgendwann nachgegeben. Indonesien verbietet zwar inzwischen den Export von Sand; aber das rief wiederum eine Sand-Mafia auf den Plan, die den Rohstoff nun irgendwo zwischen den siebzehntausend Inseln illegal abbaut.

Dita war also das kleinste Glied einer langen Kette von Entscheidungen, die irgendwo auf der Welt irgendwann getroffen worden waren. Gibt es einen nachvollziehbareren Grund, etwas Illegales zu tun, als vier Kindern Essen hinstellen zu können? Der Zwischenhändler, erzählte sie mir, komme ein-, zweimal die Woche. Mal nehme er eine Tonne mit, mal zwei. Sie komme so auf rund zweihundert Euro im Monat. Aber vor allem im Winter, wenn auf den Inseln weniger gebaut wird, komme er manchmal ein paar Wochen gar nicht. Dann müsse sie sich Geld von Nachbarn leihen.

Flusssand ist wertvoller als Meeressand. Er enthält weniger Salz, das den Stahl in Betonkonstruktionen angreift. Das ist ein Grund dafür, dass es im Ganges- und im Mekongdelta heute viel mehr Überschwemmungen gibt als früher. Der Sand kann keine Dämme mehr bilden. Und weil gleichzeitig wegen des weggegrabenen Flussbetts der Wasserspiegel absinkt, kommt es häufiger zu Dürren. Das Salzwasser, vor dem man den Stahlbeton schützen will, dringt dafür jetzt in die Felder ein.

Einmal brachte Celestino uns in ein Dorf, dessen bunt bemalte Häuserfronten von der Hauptstraße aus postkartenschön aussahen. Ein paar schwarz gefleckte Schweine lagen am Straßenrand in der Sonne und ließen sich von mir streicheln. Aber als wir durch eine Gasse in Richtung Wasser gingen, sahen wir, dass viele der Häuser keine Rückseiten hatten. Die Fassaden waren samt halber Wohnzimmer und Küchen abgebrochen und ins Meer gerutscht, als seien sie aus Marmorkuchen. Ein Potemkinsches Dorf am Strand. »Das passiert, wenn man den Boden weggräbt«, erklärte Celestino. Jedes Jahr frisst sich das Wasser weiter landeinwärts.

Ich erinnerte mich an die Malediven, wo ich ein paar Monate vorher gesehen hatte, wie sich die Hauptstadt Male verzweifelt gegen den steigenden Wasserspiegel und die Erosion wehrte – mit gigantischen Tetrapoden aus Stahlbeton, die als künstliches Ufer vor der Hafenmauer gestapelt sind. Das ist ein Problem überall, wo man direkt am Wasser baut: Man nimmt dem Strand seine Rückzugsmöglichkeit. Das Ufer kann nicht mehr wandern, um sich auf den steigenden Pegel einzustellen. Stattdessen erodiert es. Die Unmengen Sand, die für die riesigen Betonanlagen auf den Malediven nötig waren, schaufelten Bagger übrigens ein paar Inseln weiter vom Meeresboden auf ein Lastschiff.

Wie könnte man diesen Teufelskreis durchbrechen? Arnaud Vander Velpen und viele andere Experten empfehlen seit Jahren, effizienter zu bauen. Nämlich, indem möglichst wenig neu gebaut wird. Und möglichst viel mit gebrauchten Materialien. Werden Häuser abgerissen, wird der Schutt normalerweise im Fundament von Straßen entsorgt. Dabei könnte man Teile des Materials problemlos klein hacken und wieder zu neuem Beton vermischen. In der Schweiz machen Baufirmen das häufig, weil die teure Lkw-Maut den Transport von Schutt über weite Strecken unrentabel macht. In den Niederlanden ist dessen Entsorgung mit Hilfe des Straßenbaus sogar schon verboten. Außerdem kann man den Sand durch andere gebrauchte Stoffe ersetzen, etwa zermahlene Glasflaschen, die ebenfalls aus Sand bestehen. Würde man das steuerlich begünstigen, lohnte es sich für jeden Bauherrn. »Man kann diesen Stoff praktisch grenzenlos wiederverwerten«, sagte mir Arnaud. Das sei eines der Dinge, die ihm Hoffnung machten.

Das Recycling ist aber nur für Industrieländer realistisch. In Regionen, die noch stark wachsen, gibt es nicht genug alte Gebäude, die man wiederverwerten kann. Dort lautet die Forderung der UNEP, den Sandabbau zu regulieren. Dann könne man Mengen festlegen, die man aus einzelnen Gewässern entnehmen kann, ohne dass das Ökosystem dauerhaft kaputt geht. Dirk Hebel, Professor für nachhaltiges Bauen in Karlsruhe, sagte mir, er plädiere außerdem für eine »Renaissance der lokalen, traditionellen Bauweisen«, die zwar oft als rückständig gälten, aber nachhaltig seien und das lokale Handwerk stärkten. In Europa sei zum Beispiel Holz zumeist ein nachhaltiger Baustoff. In anderen Regionen der Welt vielleicht Bambus oder Lehm. »Globale Rezepte helfen hier nicht.«

Die kapverdische Regierung hatte angesichts wegbröselnder Küstendörfer lange Zeit immer strengere Gesetze gegen den Raubbau erlassen. Wer heute auf São Vicente oder Sal am weißen Strand liegt und sich wundert, warum gelegentlich bewaffnete Soldaten vorbeilaufen: Sie beschützen nicht die Badegäste, sondern den Sand. Die Maßnahmen haben dazu geführt, dass die Sanddiebe zumindest nicht mehr mit Baggern und Kipplastern kommen, wie in den ersten Jahren. Dafür klettern die Frauen jetzt manchmal nachts mit leeren Eimern ins Wasser.

Mittlerweile war es Mittag, die Hitze brachte das Flussbett zum Flimmern. In der Windstille standen die Staubwolken minutenlang in der Luft. Während sich Celestino ins Auto zurückzog, hatten meine Kollegen und ich uns aus T-Shirts Turbane gewickelt. Dita und ich hackten und siebten inzwischen zu lauter Musik. Oben an der Straße parkte ein alter schwarzer Pick-up, der mit Spanngurten mannshohe Lautsprecher auf die Ladefläche gezurrt hatte. Reggaeton – eine hauptsächlich aus Hip-Hop- und Reggae-Einflüssen entstandene Musikrichtung – schallte quer durch den Canyon. Vier junge Männer hockten daneben im Schatten, rauchten und schienen zufrieden mit dem Soundcheck. »Heute Abend ist Party«, sagte Dita. Einer der Männer winkte – ihr ältester Sohn. Zum Helfen kam niemand.

Dafür kam um kurz nach vier der Käufer. Wir hatten inzwischen drei hüfthohe Haufen aufgeschüttet. Ein kleiner Kipplaster rumpelte langsam das Flussbett hinauf, ein Toyota Dyna 280. Das Modell, hatte ich gelesen, ist beliebt bei Sandhehlern: wendig, geländegängig und für den Notfall gut motorisiert. Ein Mann Anfang zwanzig mit goldenen Ohrsteckern und Basecap stieg grußlos aus. Celestino erklärte ihm, was die drei Ausländer hier wollten, womit der Hehler kein Problem zu haben schien. Er hatte eine Zugwaage dabei, mit der man sonst Koffer wiegt, und hängte einen vollen Eimer Sand daran: fünfundzwanzig Kilo. Er nickte. Eimer für Eimer hievten Dita und ich jetzt den Sand auf die Ladefläche.



Für eine volle Ladung zahlte der Hehler den Dieben etwa siebzig Euro. Der Ertrag unseres Arbeitstags zu dritt füllte die halbe Ladefläche. Fünfunddreißig Euro für acht Stunden Plackerei. Dita nahm die Scheine entgegen, dann rumpelte der Kipplaster im Rückwärtsgang in Richtung Straße davon. Feierabend. Dita verabschiedete sich mit einem stummen Händedruck von uns und ging in Richtung Dorf. Sie wolle einkaufen für die Familie. Heute Abend gebe es Reis mit Fisch.

Am Nachmittag unserer Abreise hatten wir zum ersten Mal etwas Freizeit. Also beschlossen Kameramann Andi und ich, wenigstens einmal kurz Baden zu gehen. Wir wohnten ungewohnt luxuriös, in einer kleinen Villa über dem Meer, mit spektakulärem Blick über den Atlantik. Unterhalb lag eine kleine Bucht. Natürlich war auch hier längst jeder Sand verschwunden; die Brandung rollte Tag und Nacht schwarze glitschige Felsen hin und her. Wir liefen in Badehosen eine Treppe runter zum Wasser. Und so kam es, dass ich den Rückflug mit einem auf original kapverdischem Vulkanstein verknacksten Knöchel antrat.

Drecksarbeit

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