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2 Historischer Vorbegriff der Ästhetik

2.1 Die epochale Signatur der Ästhetik: die neuen Wissenschaften vom Menschen

Die Geschichte der modernen Ästhetik beginnt mit Alexander Gottlieb Baumgarten (1714 – 1762), einem Professor für Philosophie in Halle und Frankfurt/ Oder, der historisch der „Deutschen Schulphilosophie“, dem deutschen Zweig des Rationalismus, zuzuordnen ist. Als Rationalismus bezeichnet man historisch eine philosophische Richtung des 17. und 18. Jh., die den Verstand und die Vernunft als die wesentlichen Kräfte des Subjekts und der Weltordnung begreift. Demgegenüber hält der Rationalismus die sinnlich-natürliche Seite scheinbar für unwesentlich(er): Das reine Denken, nicht die sinnliche Erfahrung, wird als Medium wahrer Erkenntnis angesehen. In der rationalistischen Philosophie entspringt das moderne Denken: Von René Descartes (1596 – 1650) über Baruch de Spinoza (1632 – 1677) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) bis eben zu Baumgarten und Immanuel Kant (1724 – 1804), der die Paradigmen des Rationalismus und des ihm entgegengesetzten Empirismus zu vereinigen sucht, erstreckt sich eine (allerdings nicht völlig homogene) Traditionslinie, in der die Philosophie aus ihren mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Voraussetzungen heraustritt.

Von Anfang an (Descartes) tritt der Rationalismus als eine Grundlagentheorie des Menschen und der Wirklichkeit auf, die vor allem durch ein ganz neues Grundvertrauen in die Kompetenzen der Vernunft gekennzeichnet ist. Als Fundamente der Erkenntnis werden die dogmatischen Wahrheiten der Theologie nicht mehr akzeptiert. Damit gehört der Rationalismus in der Tat zum einen zur (Vor-)Geschichte der europäischen Aufklärung des 18. Jh., d. h. er stellt eine wichtige Grundlage ihres Menschenbildes dar (allerdings neben den auch stark empiristischen

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Zügen aufklärerischen Denkens). Die Befreiung des Menschen aus der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant, Was ist Aufklärung?, 1784) von Herrschaft, Tradition und Religion muss, will sie nicht sofort wieder angreifbar für neue Versuchungen sein, auf der Basis einer begründbaren Selbstermächtigung des Subjekts beruhen. Zum anderen verkörpert der Rationalismus auch im Zeitalter der Aufklärung eine wichtige Institution und Instanz der Aufklärung selbst: Gerade die epochale Philosophie Immanuel Kants als einer der zentralen Köpfe der Aufklärung beweist das.

An diese aufklärerische Bedeutung des Rationalismus muss deshalb erinnert werden, weil gerade in der neueren Aufklärungsforschung die wesentlichen Impulse der europäischen Aufklärung des 18. Jh. oft als ‚Kritik‘ oder gar ‚Überwindung‘ des Rationalismus angesehen werden (grundlegend ist dabei Kondylis 1986). Aufklärung, so die These, entsteht nicht nur als Kritik an Herrschaft, Tradition und Religion, sondern auch als Kritik an bloß rationalistischer Philosophie; die aufklärerische Befreiung des Menschen von äußeren Zwängen ist auch eine Befreiung aus den harten Fesseln der strengen einseitigen Verstandesherrschaft. Und tatsächlich: Es ist heute kaum noch bestreitbar, dass das ‚alte‘ Forschungsparadigma der Aufklärung, welches auf genuin romantischen Vorstellungen von ihr beruht und Aufklärung mit dem Rationalismus gleichsetzt, historisch unhaltbar ist. Die Kritik an der rationalistischen Vereinseitigung des Menschen als bloßes Verstandeswesen, welche die Romantiker (v. a. die Gebrüder Schlegel und Novalis) als eine Kritik an der Aufklärung verstanden, ist eigentlich die Kritik der Aufklärung am Rationalismus und mannigfaltig als Hauptthema aufklärerischen Schrifttums selbst zu sehen (Rousseau, Voltaire, Diderot, Wieland, Goethe, Lessing). Die „Erfindung“ des „ganzen Menschen“ (vgl. Schings 1994) als aufklärerischer Grundgedanke, den die im 18. Jh. neue Disziplin der Anthropologie auch wissenschaftlich zu ergründen sucht, zielt vor allem auf die Aufwertung der sinnlichen, emotionalen und empathischen Vermögen des Menschen (vgl. Kosenina 2008, Nowitzki 2003). Die Aufklärung des 18. Jh. muss demnach als eine ‚Kultur des Herzens‘ angesehen werden, die das Wesentliche des Menschseins mindestens ebenso sehr in seiner sinnlich-emotiven Ausstattung begründet und dort den eigentlichen Ort von Individualität erkennt (vgl. Berger 2008; D‘Aprile/

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Siebers 2008, S. 81 – 97). Diese „Emanzipation der Sinnlichkeit“ (Cassirer 2003, S. 476) korrespondiert der erfahrungszentrierten Grundhaltung aufklärerischer Naturbetrachtung und stellt den aufklärerischen Empirismus als bedeutende philosophische Richtung des 18. Jh. mindestens gleichberechtigt neben den Rationalismus: Nicht ohne Grund sieht sich Immanuel Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft (1781) philosophisch genötigt, die Alternative „Rationalismus vs. Empirismus“ zu überdenken und neu zu gestalten.

Dieser historische Vorspann ist notwendig, um das wiederum zu einfache Schema ‚Rationalismus vs. Aufklärung‘ zu durchkreuzen. Denn es ist eben gerade jene Disziplin der Ästhetik, die nachdrücklich vor Augen führt, wie die Kritik einer einseitigen Beschränkung des Menschen auf seine geistigen Vermögen im 18. Jh. zu einem Projekt des Rationalismus selbst wird. Mehr noch: Die rationalistische Philosophie gerade bei Baumgarten, dessen Metaphysik (1739) für über ein halbes Jahrhundert zum maßgeblichen philosophischen Lehrbuch in Deutschland wird, sieht ihre Intention einer philosophischen Befreiung des Menschen in der kritischen Korrektur bzw. Erweiterung ihrer eigenen, zu sehr auf den Verstand beschränkten Vermögenslehre des Menschen gewahrt. Die Ästhetik wird als ein genuin rationalistisches und damit aufklärerisches Projekt ‚erfunden‘. In ihr zeigt sich, dass die Selbstkritik des Rationalismus ein wesentlicher Teil seines Selbstverständnisses ist, so wie die Aufklärung des 18. Jh. stets als eine Kritik an sich selbst (Rousseau, Diderot) funktioniert hat. Denn ‚aufklären‘ heißt immer schon, sich der eigenen Grenzen, Ausschlüsse und Verzerrungen bewusst zu werden. Die gesteigerte Selbstbeobachtung des aufgeklärten Menschen ist elementarer Teil des Projektes Aufklärung selbst, von ihren frühen Höhepunkten bei Rousseau im 18. Jh. bis zur modernen Selbstkritik bei Adorno und Horkheimer im 20. Jh. (Dialektik der Aufklärung, 1947). Im Rahmen dieser kritischen Selbstkorrekturfunktion aufklärerischen Denkens entsteht eine neue Disziplin, die Ästhetik. In ihr differenziert sich das Menschenbild der neuen Wissenschaften vom Menschen, indem der Rationalismus große Lücken seiner eigenen Wissenschaftstheorie schließt, die durch seine einseitige Ausrichtung auf die Verstandeserkenntnis entstanden waren und sich verfestigt hatten.

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2.2 Baumgartens Ästhetik (1750)

Man gewinnt ein plastisches Bild der geistesgeschichtlichen Situation, aus welcher die Ästhetik bei Baumgarten entstanden ist, wenn man die Einwände mustert, welche Baumgarten in der „Vorbemerkung“ (§ 5 – 12) seines Werkes Aesthetica (1750), durch welches die Disziplin eigentlich erst begründet wird, gegen das Projekt selbst vorbringt. In diesen registriert er nämlich die historisch gewachsenen Vorurteile gegen eine Wissenschaft von der Sinnlichkeit und der Kunst.

Dass die Ästhetik dasselbe sein könne wie „Rhetorik“, „Poetik“ oder „Kritik“ als die Disziplinen, welche sich traditionellerweise mit der Theorie der Dichtkunst befassen, ist dabei der erste Einwand (§ 5). Die Entkräftung dieses Einwandes versucht die Weite und Fundamentalität der neuen Disziplin herauszustellen. Denn Rhetorik und Poetik sind zum einen dahingehend ungeeignete Kandidaten für die neue Wissenschaft, als sie Theorieformen mit technisch-praktischer Ausrichtung darstellen. Nicht nur ist ihr Gegenstandsbereich auf Dichtung bzw. Texte begrenzt, sondern auch ihre Methodik fokussiert fast ausschließlich die Frage nach den Regeln, durch welche Werke der Dichtkunst hergestellt werden (Poetik) sowie nach den Regeln, durch welche sie in der Ausbildung des Geschmacksvermögens richtig beurteilt werden können (Kritik). Seit Aristoteles‘ Poetik, die vor allem seit der Frühen Neuzeit als „Regelpoetik“ missverstanden wurde (vgl. umfassend Fuhrmann 1992), ist das Genre der Poetik gleichbedeutend mit Regelpoetik: eine Anleitung zum möglichst wirkungseffektiven Schreiben von Dichtung, welche die Tradition rhetorischer Lehrbücher seit der Antike integriert und auf die besonderen Anweisungen zum Erstellen wirkungsvoller Dichtung eingegrenzt hat. Dieses Genre der Poetik hat in ganz Europa wichtige und bedeutende Werke hervorgebracht: Horaz‘ Ars poetica, die dabei selbst zum Vorbild wurde, inspiriert in der Neuzeit Martin Opitz‘ Buch von der Deutschen Poeterey (1624), Nicolas Boileaus L‘Art poétique (1674) oder Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730). Leitend war dabei stets die Idee, dass Dichtung „nützen und erfreuen“ (prodesse et delectare, Horaz) müsse, ihre ‚Herstellung‘ sich also an diesen rezeptionsästhetischen Normen auszurichten habe (Kap. 12.2).

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Baumgarten setzt mit der Ästhetik eine Fundamentalreflexion auf die Möglichkeiten und Grenzen der sinnlichen Wahrnehmungs- wie der sinnlichen Ausdrucksvermögen des Menschen dagegen. Bevor man sich demnach über einzelne Kunstgattungen oder Darstellungsweisen und ihre Zwecke verständigen kann, gilt es erst einmal zu klären, welche Potentiale und Funktionen den sinnlichen Dimensionen des Menschen überhaupt zukommen.

Damit zielt Baumgarten auch darauf, einen extremen Gegensatz zwischen gewissen idealtypischen Positionen auf vernünftige Weise zu vermitteln, der oftmals (aber nicht ausschließlich) als Widerspruch zwischen der Produktion (Poetik) und der Rezeption (Kritik) von Kunst bzw. Dichtung theoretisch manifest geworden war:

Man mag einwenden: […] Die Ästhetik ist eine Kunst, keine Wissenschaft. […] Man mag einwenden: […] Ästhetiker werden – ebenso wie die Dichter – geboren; Ästhetiker kann man nicht werden. (Baumgarten 2007, S. 17 [§ 10,11])

Eine merkwürdige historische Doppeloptik ist hier in das Wort ‚Kunst‘ eingetragen, welche die Übergängigkeit deutlich macht, in welcher sich auch der Kunstbegriff im 18. Jh. befindet. Im aristotelischen Sinne von ‚ars/ techné‘ ist Kunst gerade in rationalistischer Tradition der Oberbegriff für alle handwerklichen Produkte wie auch für deren Verfertigungshandlungen, die man durch die Anleitung von Regeln lernen kann. Allerdings eignen sie sich aufgrund ihrer ‚niedrigen‘ ontologischen Komplexität nicht dazu, durch Wissenschaft erschlossen, d. h. in ein System letzter Grundsätze überführt zu werden. Im platonischen Sinne dagegen – und dieser Gebrauch schwingt in der Idee des ‚Geborenseins‘ zur Dichtung mit – ist Kunst als Begriff für die im engeren Sinn ‚schönen Künste‘ an eine Inspiration gebunden, die in der antiken Enthusiasmus-Lehre als göttliche Eingebung verstanden worden ist. Deshalb liegt sie jenseits aller Regelhaftigkeit oder bewussten Beherrschbarkeit (vgl. Platons frühen Dialog Ion): eine Idee, die im 18. Jh. im Begriff des Genies wiederkehrt, das für die naturhaften, unerlernbaren und nicht-rationalen kunstschaffenden Kräfte im Menschen steht (vgl. die wirkmächtige Definition von Kant, Kritik der Urteilskraft, § 49, Kap. 7.3).

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In Baumgartens Einwendungen treten beide Kunstbegriffe scheinbar merkwürdig zusammen und verteilen sich zugleich implizit auf die beiden traditionellen Disziplinen zum dichterischen Kunstwerk. Wo nämlich die Poetik vor allem im Gewand der Regelpoetik die Lehr- und Lernbarkeit von Regeln zur Produktion von Dichtkunst voraussetzte, galt als Grundsatz der „Kritik“ oftmals das bekannte: „Je ne sais quoi“ (zur Geschichte dieses Grundsatzes vgl. Ullrich 2005, S. 9 – 31) – „Ich weiß nicht, was“. Die geheimnisvolle Kraft und Macht, welche die Kunst über den Rezipienten ausübt, so dieser im 18. Jh. enorm populäre Gedanke, sei rational nicht vollständig zu erklären und entziehe sich deshalb auch der regelgeleiteten normativen Erfassung. „De gustibus non est disputandum“ („Über Geschmack lässt sich nicht streiten“) muss in dieser Perspektive daher stets das letzte Wort kunstkritischer Einlassungen bleiben. Baumgartens Ästhetik sucht einen Weg zwischen den Extremen: in der Aufklärung darüber, was genau an sinnlichen Erkenntnisvermögen wie sinnlichen Darstellungsgebilden fassbar und was unfasslich ist – und aus welchen Gründen das so ist.

Damit ist die völlige Unbestimmbarkeit des Sinnlichen, wie sie die rationalistische Tradition seit Descartes vorausgesetzt hat (vgl. Menke 2008, S. 11 – 25), bereits in Zweifel gezogen. Auch das Unbestimmbare lässt sich, so Baumgarten, als Unbestimmbares begründen und muss nicht doppelt unbestimmbar sein (in seinem Sosein und in den Gründen dieses Soseins). Es hat somit Teil an der Rationalität des Verstandes und der Vernunft, ohne doch diesen gleichgestellt oder vergleichbar zu sein bzw. ohne in diesen aufzugehen. Diese ‚Rationalisierung‘ der Sinnlichkeit und des Schönen als Teil auch der Verwissenschaftlichung und Systematisierung des Menschen im 18. Jh. gesteht dem Ästhetischen ein Fundament von Intersubjektivität zu. Dieses begründet bei anderen Denkern sogar eine spezifische Sozialisationskompetenz: vom „Gemeinsinn“ (common sense), der nach Kant im Geschmacksurteil zum Ausdruck kommt, bis zur Utopie einer ästhetischen Gemeinschaft bei Schiller, der die Kunst als gesellschaftsbildende und menschheitsvollendende Kraft begreift.

Damit ist zugleich eine Stoßrichtung von Baumgartens Kritik gestreift, die noch weit hinter den Rationalismus neuzeitlicher Prägung zurückgreift: die zuerst platonische und dann christliche Kunstfeindlichkeit des Abendlandes, die immer auch eine Sinnenfeindlichkeit war

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(vgl. Hammermeister 2007, Kap. 12.2). „Man mag einwenden: […] Die unteren Vermögen und das Fleisch müssen eher besiegt als aufgeweckt und bestärkt werden.“ (Baumgarten 2007, S. 17) Denn eben mit dieser Verurteilung der Kunst und speziell der Dichtkunst hat Platon im 10. Buch der Politeia eine Tradition der Kunstfeindlichkeit eröffnet. Danach könne Kunst zur Erkenntnis der Wirklichkeit nichts beitragen, weil sie auf den nur sinnlich-emotiven Kräfte der Seele beruhe und nur auf sinnliche, d. h. abbildhafte Weise die Wirklichkeit vergegenwärtige (Kap. 8.1, Kap. 12.4). Die sinnliche Ausstattung des Menschen aber ist für Platon die Gegenkraft alles Wahren, Schönen und Guten. Diese Tradition der Kunstfeindlichkeit reicht über die christlichen Kirchenväter (Tertullian, De spectaculis) bis ins 18. Jh. und schlägt sich bspw. noch in einem Text wie Rousseaus Brief an D‘Alembert über das Theater nieder.

Wollen wir also feststellen, daß von Homeros an alle Dichter nur Nachbildner von Schattenbildnern der Tugend seien und der andern Dinge worüber sie dichten, die Wahrheit () aber gar nicht berühren. (Platon 1991, Bd. V, S. 731f.)

Baumgartens Ästhetik zielt deshalb auch darauf: a) die sinnlichen Wahrnehmungs- wie Darstellungsvermögen des Menschen in das System der überhaupt erkenntnisfähigen Kräfte des Menschen aufzunehmen. b) die sinnlich-emotiven Dimensionen des Menschen als in sich selbst wertvolle, epistemisch wie sozial produktive und stabilisierende Vermögen aufzufassen.

Die ‚Einwände‘ reflektieren darüber hinaus den neuen Modus der Ganzheitlichkeit, in welchem der Baumgartensche Rationalismus gegen die bisherigen Verengungen des Menschseins auf die rationalen Vermögen vorgeht:

§ 6 Man mag gegen unsere Wissenschaft einwenden, […] daß Sinnliches, Einbildungen, Märchen, die Wirrnisse der Leidenschaften den Philosophen unwürdig seien und unter ihrem Horizont lägen. Ich antworte: […] Ein Philosoph ist ein Mensch unter Menschen, und er tut nicht gut daran, wenn er glaubt, ein so großer Teil der menschlichen Erkenntnisse sei ungehörig für ihn (Baumgarten 2007, S. 15).

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Freilich begründet dies Baumgarten hier weniger anthropologisch damit, dass die sinnlichen Vermögen genauso das Menschsein in seinen besonderen Merkmalen (Bewusstsein, Wahrnehmung, Sozialität, Ausdruck etc.) konstituieren wie die rationalen Vermögen. Vielmehr argumentiert er wissenschaftstheoretisch mit einem deutlichen Zugeständnis an die rationalistische Tradition. Gemäß dem rationalistischen Grundsatz, dass die Natur keinen „Sprung macht“, also als stetiger und lückenloser Zusammenhang aller Elemente begriffen werden kann, meint Baumgarten, dass auch der Intellekt an die Sinnlichkeit als seine ‚Vorstufe‘ gebunden sei und damit eine Aufklärung der sinnlichen Vermögen eben so eine weitere Aufklärung der Verstandesvermögen eröffne (§ 7). Deshalb stehe die Untersuchung von Vernunft und Sinnlichkeit nicht in einem Gegensatz-, sondern in einem Ergänzungsverhältnis:

Ein nicht gepflegtes und einigermaßen verderbtes Analogon der Vernunft ist der Vernunft selbst und der strengeren Gründlichkeit nicht weniger hinderlich. (Baumgarten 2007, S. 15f.)

Im Begriff der „sinnlichen Erkenntnis“ (cognitio sensitivae) als „Analogon der Vernunft“ (analogon rationis) wird das Problem der Baumgartenschen Ästhetik manifest: Maßstab seiner Wissenschaft der Sinnlichkeit und der Wahrnehmung bleiben die rationalen Vermögen. Gerade die nicht revidierte rationalistische Begrifflichkeit von den ‚unteren‘ (sinnlichen) und den ‚oberen‘ (begrifflich-rationalen) Erkenntnisvermögen trägt stets das Denken in Baumgartens Theorie hinein, welches er eigentlich zu überwinden sucht. Die Ästhetik schwankt dann auch beständig zwischen der Idee einer Eigenständigkeit sinnlicher Vermögen und ihrer Unterordnung unter die oberen Erkenntniskräfte: „Die deutliche Erkenntnis ist besser.“ (Baumgarten 2007, S. 15) Erst Kant löst in der Kritik der reinen Vernunft (1781) mit seiner Theorie der zwei Erkenntnisstämme von Sinnlichkeit und Verstand, die sich gleichgewichtig gegenüberstehen, nicht durch die Maßstäbe des jeweils anderen verstehbar und gleich notwendig zur Konstitution von Erkenntnis sind, dieses Problem. So schafft er aber auch neue Schwierigkeiten, welche die Philosophen des ‚Deutschen Idealismus‘ (Fichte, Hegel, Schelling) wiederum auf die Suche nach übergeordneten Zusammenhängen und Gründen beider Erkenntnisstämme schickt.

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Es ist für das Verständnis der ursprünglichen Problemkonstellation der Disziplin „Ästhetik“ wichtig, die „Vermögenslehre“ der rationalistischen Philosophie, die ausgehend von Descartes (Die Prinzipien der Philosophie, 1. Teil, Abschnitt 45, 1644) und Spinoza (Ethik, Buch 2, 40. Lehrsatz, 2. Anmerkung, 1677), von Leibniz (Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen, 1684) und Wolff weiterentwickelt worden ist, in ihren Grundbegriffen zu kennen. Denn aus ihrer Anlage und ihren offenen Möglichkeiten speist sich bei Baumgarten der Grundimpuls der Ästhetik, die Aufwertung der sinnlichen Erkenntnis- und Darstellungsvermögen des Menschen. Die sinnliche Erkenntnis ist demnach eine „klar-verworrene“ Erkenntnis. Diese für den heutigen Sprachgebrauch ungewöhnliche, beinahe scheinbar widersprüchliche Zusammenstellung zweier Merkmale (klar und verworren) erklärt sich aus dem System von Ober- und Unterbegriffen, mit dem die rationalistische Psychologie die seelischen Vermögen des Menschen ordnet.

Die „klare Erkenntnis“ bezeichnet im direkten Gegensatz zu bloß „dunklen“ Vorstellungen das Wiedererkennen einer Sache (Gegenstände oder Merkmale). Damit liegt die Grundbedingung jeden Erkennens in der Identifikation von etwas als etwas: Der „klaren Erkenntnis“ ist ihr Gegenstand gegenwärtig, weil sie ihn immer wieder als denselben aufrufen kann, der „dunklen Vorstellung“ hingegen entzogen. „Verworren“ und „deutlich“ sind demgegenüber als Spezifikationen, also einander entgegengesetzte Unterarten der klaren Erkenntnis bestimmt. „Verworren“ ist die klare Erkenntnis, wenn „ich freilich nicht genügend Kennzeichen gesondert aufzählen kann, um die Sache von anderen zu unterscheiden“ (Leibniz 2000, Bd. 1, S. 33). „Deutlich“ ist sie, wenn sich die klare Vorstellung analytisch in ihre begrifflichen Bestandteile zerlegen lässt und so durch Angabe von Merkmalen hinreichend von anderen Sachen unterschieden, also definiert werden kann.

In der sinnlichen Erkenntnis, so Baumgarten, nehmen wir folglich eine Sache in der Fülle (ubertas), Lebendigkeit und Ganzheit ihres konkreten Daseins wortwörtlich in den Blick: Sie ist nicht durch begriffliche Abstraktion entsinnlicht und in begriffliche Merkmalen zerlegt. Als „perceptio praegnans“, d. h. „vielsagende“ Vorstellung sinnlicher Prägnanz, enthält die klar-verworrene mehr Merkmale in engerem Zusam-

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menhang als die deutliche. Zugleich verdichtet sie diese so zur Einheit der Sache, dass die eigentümliche Qualität dieser Erkenntnisart gerade in der „Kraft“ liegt, mit der eine Sache in der Komplexität ihrer lebensweltlichen Vieldimensionalität zur Vorstellung gelangt. Baumgarten gesteht der sinnlich-verworrenen Erkenntnis eine eigene Art der Wahrheit, die „ästhetische Wahrheit“ zu, und kennt darüber hinaus auch noch eine Mischform, die „ästhetikologische Wahrheit“, die in einer komplizierten Relation zur logischen (deshalb: ästhetiko-logisch) Wahrheit steht (vgl. Baumgarten 2007, S. 403 – 423). Damit sind in seiner Ästhetik die Grundelemente nicht nur der epistemologischen Aufwertung des Wahrnehmungsvermögens, sondern aller sinnlich-schönen Darstellungen überhaupt versammelt. Die ästhetischen Überlegungen der Aufklärung und Goethezeit entwickeln sich sämtlich als Anschluss (G. F. Meier), Transformation (Kant) oder deutliche Kritik (Herder) an Baumgartens Grundlegung.

Die Ästhetik seit Baumgarten ist damit zuletzt ein Projekt der ‚Erfindung‘ des Menschen als Subjekt, d. h. als aktive wirklichkeitserschließende Instanz wie als ganzheitliches Wesen aus Vernunft und Körperlichkeit (vgl. Menke 2008). Dabei rückt die Ästhetik vor allem die sinnlichen weltbildenden Vermögen, welche über die Instanz der „Einbildungskraft“ geistig vermittelt und gesteuert sind, ins Zentrum der Aufmerksamkeit (vgl. Frank 1989). Der Mensch ist das wahrnehmende und bilderschaffende Wesen, das sich durch die bewussten wie unbewussten Dimensionen seines Vorstellungskraft als ganzheitliches Individuum zur Anschauung bringt und nicht nur intellektuell begreift, sondern sinnlich-emotiv ergreift. Oder anders formuliert: Er begreift sich nur in dem Maße, wie er in der Weltwahrnehmung zugleich von sich selbst unmittelbar-sinnlich ergriffen wird und sich in der empathischen Interaktion mit anderen Subjekten ‚ganz‘ verwirklicht. Schließlich ist er auch nur dort wirklich bei sich als Mensch, wo er zum umfassenden Selbstausdruck in sinnlichen Medien wie der Kunst gelangt.

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2.3 Die Themen der klassischen und der modernen Ästhetik: ein ganz kurzer Abriss

Die Geschichte der Ästhetik beginnt lange vor ihm Anfang. Was Baumgarten in das System wissenschaftlicher Disziplinen eingliedert, existiert als philosophisches Nachdenken seit der griechischen Antike und machte stets einen wesentlichen Strang metaphysischen Nachdenkens über die letzten Gründe und die Formen des Seienden aus. Die drei großen Themen, welche sich schwerpunktmäßig im Rahmen der Disziplin „Ästhetik“ im 18. Jh. in eine gewisse Abfolge bringen lassen, sind so seit jeher klassische Themen der Metaphysik gewesen: die Wahrnehmung (Baumgarten) – das Schöne (Kant) – die Kunst (Hegel). Gegenüber der spekulativen Breite und der Vielfalt der Kontexte, mit denen diese Themen klassisch-philosophisch behandelt wurden, konzentriert die Disziplin Ästhetik das Nachdenken über sie auf wiederum drei Kontexte: Anthropologie – Erkenntnistheorie – Kunsttheorie.

Damit fällt bspw. die wichtige ontologische Dimension, welche in Platons Theorie des Schönen noch eine wesentliche Hinsicht bildete, beinahe gänzlich weg. Schön (kalós) ist bei Platon das, was sich seiner Idee gemäß entfaltet und mithin ein „Optimum an Sein“ (Fuhrmann 1992, S. 84) besitzt, d. h. was seinen Begriff als seine ideale Verwirklichungsweise in sich ausbildet. Für Platon ist klar, dass die Verwirklichung der idealen Form einer Sache sich in ihrer höchsten Ordnung und höchsten Einheit zeigt. Schön ist deshalb nicht bloß eine Erscheinungs- und Wahrnehmungsqualität, sondern meint als solche die Strukturverfassung einer sichtbaren Seinsvollendung, die zugleich ethisch relevant ist: Schönheit wird zum Ausdruck des Wahren und Guten. Die Konsequenz dieser Schönheitsmetaphysik ist freilich im Horizont der stark phänomenal, also nur auf das sinnliche Erscheinen ausgerichteten Schönheitstheorien der Moderne paradox: Wirklich schön können bei Platon nur Ideen, also rein geistige, nichtsinnliche Gebilde sein, weil sich nur in ihnen ein ideales Sein vollkommen ausbildet. Alles sinnlich-weltliche Dasein dagegen lässt die reine Schönheit der Ideen nur in verdunkelter, unvollkommen materialer Weise erscheinen. Was an materiellen sinnlichen Dingen schön ist, weist gerade über jede raumzeitliche Materialität hinaus ins rein Geistige

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der Ideen und verbindet so die auseinanderfallenden Seinssphären des Sinnlichen und des Geistigen im Verhältnis der Unter- bzw. Überordnung miteinander.

Bei Baumgarten wird das Schöne zum Thema im Rahmen der Theorie ‚schöner‘ Erkenntnis der sinnlichen Wahrnehmung bzw. schöner Ausdrucksformen, die als besonders stimmig, vielsagend, konkret und anregend verstanden werden. Kant rückt als ‚schön‘ vor allem Naturphänomene in den Blick, die vom Subjekt in einer spezifischen Einstellung („interesseloses Wohlgefallen“) wahrgenommen werden müssen, um im Anblick ihrer formalen Gestaltung das Schöne erlebbar zu machen. Hegel erst stellt (im Anschluss an die Objektivierung des Schönen in Schillers Kallias-Briefen, 1793) das Kunstschöne als Objekteigenschaft von Kunstwerken vollends und allein ins Zentrum der Disziplin Ästhetik. Erst mit ihm wird die Ästhetik zu einer Wissenschaft von den letzten Gründen und historischen Zusammenhängen der Kunst: „Der eigentliche Ausdruck jedoch für unsere Wissenschaft ist »Philosophie der Kunst« und bestimmter »Philosophie der schönen Kunst«.“ (Hegel 1997, Bd. 1, S. 13)

Mit Hegel tritt die Idee des Kunstwerks als organisch geschlossene, harmonisch geordnete Ganzheit in den Vordergrund, in der sich die Gegensätze von Subjektivität und Objektivität, Geistigkeit und Sinnlichkeit, Einzelnem und Ganzem versöhnen. Damit soll im Schönen des Kunstwerks als Ausdruck dieser Versöhnung das ‚Absolute‘ selbst zur Anschauung kommen; eine Idee, die bei Schiller (Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1795) und Schelling (System des transzendentalen Idealismus, 1800) bereits angedacht und in zahlreichen weiteren ästhetischen Entwürfen der Goethezeit (bspw. Karl Philipp Moritz) leitend geworden ist. Das konstitutive Bezogensein der verschiedenen thematischen Dimensionen der neuen Disziplin Ästhetik auf das Schöne, dem allerdings nicht erst mit der Rezeption von Edmund Burkes Schrift Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen (1757) das Erhabene an die Seite tritt, bestimmt den Raum der klassischen Ästhetik der Goethezeit.

Der Verlust des gemeinsamen Horizonts des Schönen bezeichnet hingegen im 19. Jh. den Eintritt in die ‚moderne‘ Ästhetik. Der Aus-

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druck ist allerdings mit Vorsicht zu gebrauchen. Es ist nämlich gerade das Kennzeichen der ästhetischen Entwürfe der nachgoetheschen Ära, anstelle der thematischen Einheitlichkeit und begrifflichen Übersichtlichkeit der klassischen Ästhetiken des späten 18. und frühen 19. Jh. eine unübersichtliche Vielzahl kleinteiliger Kategorien zu setzen. Diese sind oft höchst einzelwerkbezogen sowie zueinander inkommensurabel und überschreiten noch dazu die Wissenschaftsdiskurse, indem sie oft die Grenzen zu den modernen Natur- und Sozialwissenschaften ignorieren.

Im Schönen erscheint die Wirklichkeit in sinnlicher Weise als geordnet, harmonisch, ganz und als Ausdruck eines höheren Sinns. Mit dem Verlust dieser quasi-religiösen Erfahrung in den modernen Lebenswelten des 19. Jh., die bereits durch Industrialisierung, urbane Vermassung, Verarmung, Beschleunigung der Veränderungen und Unübersichtlichkeit der Verhältnisse sowie durch individuelle bzw. kollektive Entfremdung gekennzeichnet sind, geht auch die Möglichkeit verloren, die Wirklichkeit in der Weise schöner Darstellung zu repräsentieren. Diese Diagnose findet sich in Bezug auf ästhetische Fragen bereits in Hegels Beschreibung der Bedeutung der Kunst bzw. Poesie für die Gegenwart seiner Zeit: zum einen darin, dass Hegel der Kunst nicht mehr zuspricht, die höchste Form der Verwirklichung der Kultur zu sein. Einer Kultur wie der modernen ist es nicht mehr möglich, ihre komplizierten Verhältnisse und Strukturen durch Kunstwerke zu repräsentieren und damit zu begreifen:

Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein. (Hegel 1997, Bd. 1, S. 142)

Dieser vielbesprochenen These vom ‚Ende der Kunst‘, die aber nur ein Ende ihrer höchsten Funktion als einziger und vollkommenster Ausdruck des Ganzen der Wirklichkeit ist, steht aber noch eine andere Hinsicht zur Seite. Hegel diagnostiziert auch eine Entwertung der Lebenswelt selbst, einen Verlust an unmittelbarer Einheit von Dasein und Sinn, ein Auseinandertreten von Wirklichkeit und ihr einwohnender, unmittelbarer Vermittlung mit Vernunft und kollektiver Bedeutung. Diese „Prosa der Verhältnisse“ (Hegel 1997, Bd. 3, S. 393) einer durch umfassende Modernisierung vom Sinnverlust bedrohten Wirklichkeit, der das Individuum

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mit seinem Sinnverlangen entgegensteht, wird für Hegel im Roman zur Anschauung gebracht und reflektiert.

Damit bereitet er eine These vor, die von Ästhetikern und Literaturtheoretikern des 20. Jh. wie Georg Lukács oder Walter Benjamin aufgenommen und ausgeführt wird. Im modernen Roman, der mit den realistischen französischen Romanen des 19. Jh. (Balzac, Zola, Flaubert etc.) seinen ersten Höhepunkt erreicht, werde die „transzendentale Obdachlosigkeit“ des Menschen (Lukács), seine fundamentale soziale Einsamkeit und damit seine Entfremdung von allen Arten kollektiven Ausdrucks wie Erzählen (Benjamin) zum Thema gemacht (Kap. 9.1). Dementsprechend sind die Kategorien der ‚modernen‘ Ästhetik, wenn man diese überhaupt derart charakterisieren kann, durch Dissonanz, Verfremdung, Negativität, Reflexivität und Verdunkelung des Sinns bestimmt.

Statt der objektiven Harmonie großer Kunst steht schon beim Frühromantiker Friedrich Schlegel (1772 – 1829) das am einzelnen Subjekt orientierte ‚Interessante‘ der Darstellung im Mittelpunkt; statt des Schönen rückt das Hässliche theoretisch bei Karl Rosenkranz (Ästhetik des Häßlichen, 1853) und poetisch in den Gedichten Baudelaires und den Romanen Flauberts ins Zentrum der Aufmerksamkeit; das Böse bzw. das Amoralische der Kunst betont der europäische Ästhetizismus des 19. Jh. gegen die klassische Einheit des Wahren, Guten und Schönen; semantische Verdunkelung und Hermetisierung der poetischen Darstellung entziehen seit dem französischen Symbolismus der Dichtung die Selbstverständlichkeit eines immer schon gelungenen Verständlichseins von Welt. Verfremdung, Fragmentierung, Plötzlichkeit, Schock und das Ins-Zentrum-Rücken der Materialität der Sprache werden in den Avantgarden des 20. Jh. wie dem Expressionismus zu poetischen Kategorien des Gegenentwurfs zur klassischen Werkeinheit und der überhöhten Harmonie von Welt und Darstellung (vgl. Bürger 1974). Zugleich wirken jedoch die wirkmächtigen Vorstellungen klassischer Ästhetik bei vielen Autoren und Theoretikern, wenn auch oft gebrochen, weiter. So entsteht ein kompliziertes Nebeneinander theoretisch-begrifflicher Muster, das keine verbindliche Orientierung mehr bieten kann, dafür jedoch die künstlerische Freiheit gegenüber dem Formen- und Begriffsvorrat der ästhetischen Tradition weiter geöffnet hat.

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2.4 Literarische Ästhetik als Philosophie der Literatur

Diese Vorlesungen sind der Ästhetik gewidmet; ihr Gegenstand ist das weite Reich des Schönen, und näher ist die Kunst, und zwar die schöne Kunst ihr Gebiet. Für diesen Gegenstand ist der Name Ästhetik eigentlich nicht ganz passend, denn „Ästhetik“ bezeichnet genauer die Wissenschaft des Sinnes, des Empfindens […]. Wir wollen es deshalb bei dem Namen Ästhetik bewenden lassen, weil er als bloßer Name für uns gleichgültig und außerdem einstweilen so in die gemeine Sprache übergegangen ist, daß er als Name kann beibehalten werden. Der eigentliche Ausdruck jedoch für unsere Wissenschaft ist „Philosophie der Kunst“ und bestimmter „Philosophie der schönen Kunst.“ (Hegel 1997, Bd. 1, S. 13)

Als Hegel in den 20er Jahren des 19. Jh. diese einleitenden Bemerkungen zu seinen Vorlesungen über die Ästhetik verfasst, liegt die bewegte Zeit, in der sich der Begriff „Ästhetik“ konstituiert (ca. 1750 – 1800), bereits hinter ihm. Von einem Terminus, der eine Theorie der sinnlichen Wahrnehmung und des besonderen sinnlichen Ausdrucks bezeichnet (Baumgarten), zu einer Bezeichnung für die besondere Raum- und Zeitanalyse des transzendentalen Subjekts (Kant) bis zum Namen für eine Philosophie des Schönen (Kant, Schiller) und eben noch enger gefasst für eine Philosophie der schönen Künste (Schelling, Hegel): Alles sollte irgendwie in diesem neuen Begriff einmal untergebracht werden. Benutzt man den Begriff heute, ist es also angezeigt, genau zu markieren, welche Art von Gegenstandsbereich man damit meint. In diesem Buch soll in der Tradition Hegels „Ästhetik“ als Begriff für eine Disziplin gebraucht werden, die sich um die begrifflichen Grundlagen der Kunst kümmert – mit der Einschränkung, dass hier nicht von der Kunst, sondern nur von Literatur die Rede ist, und weiterhin, dass die für Hegel noch selbstverständliche Beilegung des „Schönen“ nach den Umbrüchen der Moderne wegfällt.

Für eine Ästhetik als kategorial orientierte Theorie der Literatur setzt man allerdings sinnvollerweise folgende disziplinären Verhaltensweisen voraus: Es ist erstens ratsam, die disziplinären Grenzen, die sich in der Wissens(chafts)kultur der Moderne für den Raum der Literatur herausgebildet haben (Rhetorik – Ästhetik – Hermeneutik – Linguistik – Semiotik etc.), gerade aufgrund der untergründigen thematischen Verengungen,

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aus denen sie entstehen, zu überschreiten. Denn nur so bekommt man den Begriff des Gegenstandes Literatur möglichst umfassend in den Blick. Dafür ist es zweitens notwendig, gegen die systematischen Beschränkungen der Theoriebildung stets die wirkliche Vielfalt der literarischen Werke im Blick zu behalten: ihre konzeptionelle Individualität wie formensprachliche Abweichung. Diese Vielfalt ist historisch sicher nirgends so abwechslungsreich, komplex und experimentierfreudig gestaltet wie in der sogenannten ‚Goethezeit‘ (ca. 1750 – 1830), in die auch die Entwicklung der Ästhetik als Disziplin im Kanon moderner Wissenschaften vom Menschen fällt. Die literarhistorisch aufschlussreiche Rede vom „skeptischen Milieu“ der modernen Literatur (vgl. Willems 2003) bedeutet auch, dass in den konkreten Werken des Kanons sehr oft die bewusste Überschreitung und Transformation vermeintlich ‚fundamentaler‘ Bestimmungen literarischer Kunst zu finden sind, welche durch Theorie und Gattungstradition vorgegeben werden. Dagegen setzen die Werke die unendliche Vielfalt literarischer Darstellungsmöglichkeiten, die erst am konkreten Gegenstand der Darstellung entstehen kann. Keine Theoriebildung der Literatur umfasst oder ersetzt gar den Formen- und Sinnhorizont der Werke von Goethe, Schiller, Wieland oder Hölderlin. Aber sie soll Perspektiven eröffnen, in deren Korrektur durch das Einzelwerk sich dessen angemessen verstehende Wahrnehmung erst herausbilden kann. Was Kant im Rahmen seiner Erkenntnistheorie über das Verhältnis von Begriff und Anschauung gesagt hat, gilt prinzipiell auch für die Komplementarität von literarischem Werk und theoretisch-begrifflich fundiertem Verstehen, das seine Kategorien aus der Geschichte der literarischen Kunst gewinnt: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ (Kant 2004, Bd. 1, S. 135 [B 75])

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Kontrollfragen:

1. In welcher Weise hängt die Entstehung der Disziplin „Ästhetik“ mit dem Epochenhintergrund der „Aufklärung“ zusammen?

2. Erläutern Sie Baumgartens Konzept der „sinnlichen Prägnanz“ (perceptio praegnans) ästhetischer Vorstellungen!

3. Welche grundlegenden Themen kennzeichnen die „klassische“ und die „moderne“ Ästhetik?

Literaturempfehlungen:

Franke, Ursula: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten. Tübingen 1972.

Scheer, Brigitte: Einführung in die philosophische Ästhetik. Darmstadt 1997.

Tatarkiewicz, Wladyslaw: Geschichte der sechs Begriffe Kunst, Schönheit, Form, Kreativität, Mimesis, Ästhetisches Erlebnis. Frankfurt a. M. 2003.

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Literarische Ästhetik

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