Читать книгу König der Simulanten - Jan Zocha - Страница 5
I. Gelähmt
ОглавлениеJa, verehrte Leser, in diesem Kapitel soll es zunächst einmal nur um Hahnemanns Tod (das heißt eigentlich eher um sein Sterben, den Sterbeprozess) gehen – damit verrate ich ja kein Geheimnis, dass er stirbt steht schließlich bereits auf dem Cover und auch im Prolog. Das ist mitunter gewiss etwas langatmig, aber so ist der Sensemann nun mal: selten gewährt er die Gnade eines schnellen, schmerzlosen Todes, nein, nur allzu gerne lässt er sich Zeit; in dem Fall ist verläuft das Sterben dann eben oft grausam und, ja: langatmig.
Donnerstag
An einem Donnerstagmorgen Ende Juli, es war schon seit Wochen brütend heiß, wachte Hahnemann mit starken Fieber auf. Ihm selbst kam es gar nicht so schlimm vor und vor dem darauf folgenden Tag hätte er sich wohl überhaupt nicht zum Arzt gemeldet – meist geht ja so ein Fieber auch schnell wieder zurück – , doch gleich bei der Frühstücksausgabe fiel einem der Wärter sein desolater Zustand auf: ››Haben sie Fieber, Herr Hahnemann, sie sehen ja aus wie eine Leiche!?‹‹
››Ja, vielleicht ein bisschen, geht schon.‹‹
Doch der Wärter war nicht überzeugt und meldete ihn von sich aus zum Arzt – Dienstvorschrift! Gegen 10:30 Uhr wurde er also (in Ketten) zum Gefängnisarzt gebracht, der ein eigenes Behandlungszimmer auf dem Hochsicherheitstrakt hatte. Der Arzt, Dr. Strobele mit Namen, maß zunächst Hahnemanns Temperatur – knapp 40 Grad – , nahm seinen Blutdruck – normal – und sah ihm, unter Zuhilfenahme eines Zungenspatels, in den Mund: ››Sagen sie mal Ahh!‹‹
››Ahh...‹‹
Kein Befund.
Daraufhin tastete er Hahnemanns Lymphknoten am Hals, unter den Achseln und in der Leistengegend ab – kein Befund – und befragte ihn schließlich nach möglichen Ursachen für das Fieber: Hatte er Schnupfen? Ging sein Atem schwerer als sonst? Hatte er einen dicken Kopf? Litt er unter Ohrenschmerzen,... oder überhaupt irgendwelchen Schmerzen? – alles negativ!
§
››Moment mal,... vor 2 Wochen hat mir der Zahnarzt einen Backenzahn mit vereiterter Wurzel gezogen‹‹, meldete sich Hahnemann nach der Anamnese ungefragt, und daher etwas zaghaft – wäre es wichtig gewesen, hätte Dr. Stroble doch gewiss von selbst danach gefragt – zu Wort. ››Er hat mir aber nur 4 Tage lang Antibiotika gegeben, vielleicht...‹‹
Nur 4 Tage, das war ihm gleich komisch vorgekommen, hieß es denn nicht immer, Antibiotika sollten mindestens 2 Wochen lang genommen werden, um Resistenzbildungen auszuschließen?
››Könnte es vielleicht nicht doch ein Abzess oder so...‹‹, fragte sich der Doktor. ››Nein, das ist schon zu lange her!‹‹ ››Wenn da was wäre, dann hätten sie das schon früher gemerkt‹‹, entgegnete er folglich. ››Außerdem habe ich ja in Ihren Mund gesehen, da war nichts!‹‹
Damit lag der Arzt allerdings falsch, die Bakterien, die die Wurzel des Backenzahnes befallen hatten und die der Zahnarzt nur unzureichend bekämpft (und damit nur noch virulenter gemacht) hatte, hatten wohl irgendwie den Weg über den Blutstrom in sein Gehirn gefunden, sich dort ein gemütliches Plätzchen gesucht und einen hämatogen-metastatischen Abzess gebildet.
››Wieso habe ich dann aber Fieber?‹‹, fragte Hahnemann.
››Das kann nur ein Virus sein, anders kann ich mir das jedenfalls nicht erklären; im Moment kann ich aber ohnehin nicht mehr tun, als ihnen Novalgin – das ist ein Fiebersenker – zu verschreiben.‹‹
Und die erste Dosis verabreichte er ihm auch gleich an Ort und Stelle, es waren ein paar Milliliter einer gelblichen Flüssigkeit, die er in einem Zug – sie schmeckte nicht besonders gut – aus einem kleinen Medikamentenbecher trank. Dann wurde er wieder in seine Zelle gebracht und in der Tat ging das Fieber bald zurück. Am Abend bekam er eine weitere Dosis Novalgin, und da das Medikament auch müde macht, schlief er in der Nacht wie ein Baby.
Freitag
Am Freitagmorgen hatte Hahnemann wieder starkes Fieber, er bekam Novalgin und es wurde gleich besser. Doch als er gegen 10:00 Uhr wieder dem Gefängnisarzt vorgeführt wurde, betrug das Fieber immerhin noch über 38 Grad. Der Arzt war überhaupt nicht zufrieden: ››Und immer noch keine Erkältungssymptome?‹‹
››Nein‹‹, antwortete Hahnemann.
Dr. Strobele schrieb etwas in seine Krankenakte, dann sah er zu ihm auf: ››Ich bin mir völlig sicher, dass es sich bloß um einen Virus handeln kann. Warten sie nur ab, morgen wird es ihnen gewiss schon viel besser gehen!‹‹
§
Gegen Abend spürte Hahnemann die ersten Paresen (Lähmungssymptome): Sein linker Arm samt Hand und sein linkes Bein wirkten irgendwie schwach, deutlich schwächer jedenfalls, als ihren rechten Gegenstücke. Erschrocken bis ins Mark, drückte er den Knopf der Notrufanlage.
››Ja, Herr Hahnemann, was können wir denn für sie tun?‹‹, meldete sich nach einer guten halben Stunde eine anonyme Stimme – nachts dauert das immer so lange, da sollte man besser keinen Herzanfall haben.
››Ist Dr. Strobele noch da?‹‹, fragte Hahnemann mit deutlicher Verzweiflung in der Stimme. ››Ich habe so ein komisches Gefühl im linken Arm und im linken Bein,... die sind beide irgendwie schwächer als die rechten.‹‹
Pause,... das Schweigen der Gegensprechanlage schrie ihn regelrecht an!
››Hören sie, der Doktor ist schon aus dem Haus‹‹, erwachte die Anlage plötzlich wieder zum Leben (Hahnemann erschrak ein bisschen, als die blecherne Stimme die absolute Stille in seiner Zelle zerriss). ››Gleich kommt aber ein Sani zu ihnen.‹‹
Eine halbe Stunde später kam tatsächlich der Sanitäter.
››Na, was haben wir denn?‹‹, fragte er gönnerhaft durch die Gitterstäbe – die Wärter hatten natürlich nur die äußere Tür aufgeschlossen.
››Was wir haben, weiß-ich nicht‹‹, konnte Hahnemann sich nicht verkneifen, zu entgegnen, ››ich jedenfalls kann meine linke Hand nicht mehr ganz schließen, und überhaupt sind mein linker Arm und mein linkes Bein ganz plötzlich irgendwie... nun: schwach.‹‹
››Irgendwie schwach?‹‹, fragte der Sanitäter skeptisch, indem er mit der rechten Hand sein Kinn rieb. ››Irgendwie schwach, soso...‹‹
Hahnemann wusste nicht, ob er tatsächlich besorgt war oder sich nur über ihn lustig machte.
››Naja, machen kann ich da jetzt sowieso nichts mehr, der Doktor ist nicht mehr im Haus‹‹, bedauerte (oder bedauerte) der Sanitäter.
››Was willst du denn dann überhaupt hier?‹‹, dachte Hahnemann in einer Mischung aus Trotz und Wut. ››Soviel weiß-ich auch schon von dem Sprechanlagen-Dödel!‹‹ ››Aber da muss doch irgendwo ein Arzt in Bereitschaft sein – für Notfälle‹‹, beharrte er.
››Den gibt es schon, den ruf-ich aber nur an, wenn ich meine, das es dringend ist... Und davon, Herr Hahnemann, bin ich bei ihnen absolut nicht überzeugt.‹‹
››Aber...‹‹, fing Hahnemann an, brach dann aber auch gleich wieder ab, er kannte solche Gesellen, da hätte er genauso gut mit der Wand reden können.
››Passen sie auf, Herr Hahnemann, warten wir doch erst mal bis morgen, bis dahin wirds schon noch gehen. Ich leg Dr. Strobele einen Zettel auf den Schreibtisch und wenn es ihnen morgen früh immer noch nicht besser geht, dann sagen sie einfach bei der Frühstücksausgabe den Wärtern Bescheid.‹‹
Dann wurde die äußere Zellentür auch schon wieder geschlossen und Hahnemann blieb, hilflos und beinahe starr vor Angst, davor stehen. Er konnte die Wärter draußen vor der Tür hören, und obschon er nicht viel verstand, waren vereinzelte Lacher jedenfalls nicht zu überhören; und einmal gelang es ihm immerhin, das Wort ››simuliert‹‹ aus dem vielstimmigen Chor herauszufiltern.
Eine geradezu fatalistische Gelassenheit bemächtigte sich seiner; er legte sich auf sein Bett sah noch eine Weile fern und schlief bald ein.
Samstagmorgen
Am Samstagmorgen war das Fieber in der Tat deutlich gesunken, um das festzustellen, brauchte er kein Fieberthermometer, und er war schon beinahe erleichtert, bis... Ja, bis er bemerkte, das die Schwäche in seinen linken Gliedern sich über Nacht spürbar verschlimmert hatte: Die Finger der linken Hand konnte er gar nur noch leicht beugen, an strecken war überhaupt nicht mehr zu denken.
Beim Frühstück sagte er sofort den Wärtern Bescheid und bat darum, zum Arzt gebracht zu werden; das geschah dann gegen 09:00 Uhr auch.
››Na, da geht es ihnen doch schon viel besser!‹‹, rief Dr. Strobele nach dem Fiebermessen zufrieden aus. ››37,5 – fast schon wieder normale Temperatur!‹‹
››Und was ist mit der Schwäche in meinem linken Arm und Bein?‹‹, fragte Hahnemann, den das Fieber schon gar nicht mehr interessierte, verzweifelt. ››Meine linke Hand kann-ich fast überhaupt nicht mehr bewegen!‹‹
››Na gut, Herr Hahnemann, ich prüfe dann mal ihre Reflexe, wenn sie tatsächlich Lähmungssymptome haben, dann müssen die ja links schwächer sein, als rechts.‹‹
››Was soll der Blödsinn denn jetzt, was hätte ich denn davon, eine Lähmung vorzutäuschen?‹‹, fragte sich Hahnemann. ››Und überhaupt, wenn ich simulieren würde, hätte ich mich dann vorgestern nicht gleich von selbst zum Arzt gemeldet?! Naja, mit Logik haben die-s eben nicht so...‹‹
Letztendlich war er aber doch erleichtert, dass der Doktor seine Reflexe prüfen wollte, dabei musste die Lähmung ja auffallen! Und dann, die Lähmung erst mal bestätigt, käme er ins Krankenhaus, wo sie ihn dann wirklich gründlich untersuchen würden und nicht bloß so der-simuliert-ja-sowiso-nur-mäßig, wie hier!
››Setzen sie sich mal so auf die Liege, dass ihre Beine herunterbaumeln!‹‹, forderte der Arzt Hahnemann auf.
Der kam dem nur allzu gerne nach, ja, er war fast schon euphorisch: ››Endlich, die Rettung ist nah!‹‹
››Die Fußschellen müssten sie dann aber schon losmachen‹‹, wandte Dr. Strobele sich an die Wärter, während er einen Reflexhammer aus seinem Schrank nahm, ››so kann-ich den unmöglich untersuchen.‹‹
Die Wärter nahmen die Fußschellen ab, blieben aber ganz in der Nähe, bereit, sich ggf. sofort auf Hahnemann zu stürzen.
Der Doktor testete zunächst den Patellalsehnenreflex (die Hirnnervenreflexe ließ er aus, da sein Patient ja über eine Lähmung der Glieder und nicht des Gesichtes klagte), indem er mit dem Reflexhammer leicht auf Hahnemanns Kniesehnen, unmittelbar unterhalb der Kniescheibe schlug, erst rechts, dann links.
››Kein Unterschied‹‹, stellte er lakonisch fest.
Und in der Tat, auch Hahnemann hatte gesehen, wie beide Unterschenkel gleich weit ausgeschlagen hatten, er begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen: ››Naja, das war ja erst einer, es gibt doch bestimmt noch viele andere...‹‹
››Legen sie sich jetzt bitte auf den Rücken!‹‹
Hahnemann tat wie ihm geheißen,... in der verzweifelten Hoffnung, dass wenigstens einer seiner Reflexe sein Leiden kundtun würde.
››Jetzt müssten sie aber bitte die Handschellen lösen‹‹, bat der Arzt die Wärter, die daraufhin zunächst die Fußschellen wieder anlegten – beide gleichzeitig abzunehmen, kam auf keinen Fall in Frage – und erst dann die Handschellen abnahmen.
Darauf testete Dr. Strobele auch Hahnemanns übrige Streck- und Beugereflexe, zuerst den Bizepssehnenreflex, indem er gleich oberhalb der Ellenbeuge mit dem Reflexhammer auf die Bizepssehnen schlug – wieder erst rechts, dann links: ››Kein Unterschied.‹‹
§
››Verdammte Reflexe‹‹, fluchte Hahnemann bei sich, in höchster Seelenpein, ››lasst mich doch jetzt nicht im Stich!‹‹
Als nächstes war der Ellenbogenreflex an der Reihe, wobei ein Sanitäter dem Arzt half, indem er jeweils den Arm in der richtigen Position hielt: ››Kein Unterschied.‹‹
Hahnemanns Hoffnung schwand immer mehr.
Darauf prüfte der Doktor den Radius-Periost-Reflex, bei dem mit dem Reflexhammer ein paar Zentimeter oberhalb des Handgelenks auf die Sehnen der Innenseite des Unterarmes geklopft wird, dabei soll sich das Ellenbogengelenk beugen und der Unterarm anheben: ››Kein Unterschied.‹‹ ››Ach so, sie können übrigens die Handschellen wieder anlegen‹‹, wandte er sich an die Wärter; das ließen die sich nicht zweimal sagen.
Danach kam der Achillessehnenreflex dran: ››Kein Unterschied.‹‹
Nachdem er nun mit den Streck- und Beugereflexen fertig war, blieb nur noch der Babinskireflex übrig. Dazu zog Dr. Strobele Hahnemann zunächst die Strümpfe aus, nahm dann eine Schere vom Schreibtisch und ritzte an seiner seitlichen Fußsohle entlang, dort wo die Haut am zartesten und empfindlichsten ist: Der linke große Zeh bewegte sich, nur ein ganz kleines bisschen, aber immerhin.
››Na also, endlich mal ein Reflex, der mich nicht im Stich lässt‹‹, dachte Hahnemann. ››Bitte, bitte, rechter Zeh, schlag voll aus, dann ist endlich klar, dass mit der linken Seite etwas nicht stimmt!‹‹
Doch der rechte große Zeh wollte ihm einfach nicht den Gefallen tun, weder schlug er voll aus, noch bewegte er sich überhaupt.
››Kein Unterschied‹‹, verkündete Dr. Strobele, der das minimale Zucken des linken Zehs wohl übersehen hatte (Hahnemann machte ihn auch nicht darauf aufmerksam, der Ausschlag hätte links doch schwächer und nicht stärker sein sollen!). ››Wir sind dann hier fertig‹‹, wandte sich der Doktor an die Wärter.
››Moment mal, Dr. Strobele‹‹, protestierte Hahnemann, ››da hat sich doch gerade nichts getan, das kann doch nicht normal sein!‹‹
››Doch, genau so soll das sein, schlecht ist, wenn sich der große Zeh in Richtung Nase bewegt.‹‹
››Aber das hat er ja, der linke Zeh hat immerhin ganz leicht gezuckt!‹‹, wandte Hahnemann, in Erkenntnis seines fatalen Irrtums, verzweifelt ein.
››Jaja, Herr Hahnemann, wie es ihnen gerade in den Kram passt, erst hat er sich nicht bewegt, aber jetzt, wo sie wissen, dass gerade das bedeutet, dass alles in Ordnung ist, da hat er sich plötzlich doch bewegt. So nicht, auf alle Fälle nicht mit mir!‹‹
§
Jedes ››kein Unterschied‹‹ war Hahnemann lauter vorgekommen als das vorherige, obwohl der Arzt natürlich immer mit der gleichen Lautstärke gesprochen hatte, beim letzten war ihm gar gewesen, als risse sein Trommelfell entzwei. Was allerdings wirklich gerissen war, war der letzte Hoffnungsfaden, der ihn noch aufrecht gehalten hatte; er war verloren, seine Verzweiflung war so groß, dass er davon ganz benommen wurde.
››Aber ich hab doch wirklich Lähmungssymptome, bald bin ich wahrscheinlich völlig gelähmt!‹‹, wollte er laut hinausschreien, doch der Schrei drang nicht durch seine Benommenheit hindurch; völlig apathisch ließ er sich zurück in seine Zelle bringen.
§
Obwohl er in Gegenwart des Patienten – man muss den in seiner Simulation ja nicht auch noch bestärken – beim Test jedes einzelnen Reflexes ››kein Unterschied‹‹ gesagt hatte, vermeinte Dr. Strobele doch, zumindest beim Radius-Periost- und beim Babinskireflex (genau wie Hahnemann behauptet hatte) einen, wenn auch geringen, so doch immerhin erkennbaren, Unterschied ausgemacht zu haben: Der Ausschlag war auf der linken Seite etwas weniger ausgeprägt (beziehungsweise, beim Babinskireflex, etwas ausgeprägter, sprich: überhaupt vorhanden) gewesen, als auf der rechten.
Der Unterschied war jedoch so gering gewesen, dass Dr. Strobele beinahe ganz darüber hinweggegangen wäre...
››Und, simuliert der nun, Dr. Strobele?‹‹, fragte der Direktor, nachdem der Gefängnisarzt ihm Bericht erstattet hatte, aber die Art wie er fragte und den Doktor dabei ansah, ließ nicht den geringsten Zweifel daran, dass nur eine Antwort erwünscht war.
››Natüüürlich simuliert der!‹‹, antwortete der ebenfalls anwesende Sicherheitsaufseher anstelle des Arztes.
Der Gefängnisdirektor sah ihn streng an, bis er betreten den Blick senkte und schwieg: ››Nun, Herr Doktor?‹‹
››Naja...‹‹, druckste der herum, obwohl er selbstverständlich genau wusste, welche Antwort von ihm erwartet wurde und eigentlich ja auch selbst davon überzeugt war, ››ich bin mir nicht ganz sicher.‹‹
Der Sicherheitsaufseher musste sich sehr zusammennehmen, um nicht sofort wieder mit seiner eindimensionalen Meinung herauszuplatzen, aber er wollte den Direktor auch nicht nochmals verärgern.
››Mit ›naja‹ kann ich nichts anfangen, Herr Strobele‹‹, sagte der Direktor unzufrieden. ››Und auf ein ›ich bin mir nicht sicher‹ hin schick-ich den bestimmt nicht ins Krankenhaus,... oder wollen sie etwa verantwortlich sein, wenn der dort eine Geisel nimmt?!‹‹
Dr. Strobele war keineswegs entgangen, dass der Direktor ihn gleich zweimal in seine Schranken gewiesen hatte, indem er ihm erstens den ››Doktor‹‹ verweigert und zweitens in seine ureigensten Kompetenzen – die letzte Entscheidung, ob ein Gefangener ins Gefängniskrankenhaus verlegt wird, lieg selbstverständlich beim Gefängnisarzt (theoretisch jedenfalls) und nicht beim Gefängnisdirektor – eingegriffen hatte. Das wirklich gravierende daran war nicht mal die Tatsache an sich – Gefängnisdirektoren in allen Gefängnissen taten das bei speziellen Gefangenen ständig – , sondern dass er es offen ausgesprochen hatte (das war tabu!),... noch dazu vor dem Sicherheitsaufseher.
Doch der Arzt ließ sich die Kränkung nicht anmerken: ››Nein, ins Krankenhaus muss er ja nicht gleich, aber ich möchte doch erst noch die Meinung eines Neurologen einholen. Klar, zu 99 Prozent simuliert der, aber ich möchte die Diagnose lieber fachärztlich absichern lassen.‹‹
Als Arzt und Sicherheitsaufseher das Büro verlassen hatten, informierte der Direktor das Ministerium.
››Das gibt es doch gar nicht, verdammt!‹‹, fluchte der Ministerialrat. ››Gibt der Kerl denn nie auf?! Was will der denn bloß damit erreichen?‹‹
››Das weiß-ich auch nicht, wir wissen doch, dass der simuliert,... also egal was der ursprünglich vorhatte, der muss ja auch wissen – der soll doch angeblich so intelligent sein – , dass das jetzt nicht mehr klappen kann‹‹, antwortete der Direktor. ››Auf jeden Fall will Dr. Strobele den noch einem Neurologen vorstellen, nur um ganz sicher zu gehen.‹‹
››Ja, aber passen Sie bloß auf, dass der den nicht einwickelt, das ist schließlich ein Externer, da weiß man ja nie...‹‹
››Machen sie sich keine Sorgen‹‹, beruhigte ihn der Direktor, ››der war schon oft hier, der kennt seine Pappenheimer!‹‹
››Nun gut‹‹, sagte der Ministerialrat, ››sie kennen ja die Linie des Ministeriums. Sorgen sie gefälligst dafür, dass sie den in den Griff bekommen!‹‹
››Selbstverständlich‹‹, versicherte der Direktor beflissen, ››uns führt der nicht an der Nase herum! Ich werde auf jeden Fall verhindern, dass der wieder ins Gefängniskrankenhaus kommt und da seine Show abzieht!‹‹
››Ich sehe, wir haben uns verstanden‹‹, sagte der Ministerialrat zufrieden und legte auf.
§
Samstagnachmittag
Und so kam Samstagnachmittag gegen 14:00 Uhr ein Neurologe von einem nahe gelegenen Krankenhaus in das Gefängnis, um Hahnemann zu untersuchen. Erst mal wurde er jedoch in das Büro des Gefängnisdirektors gebracht und dort von diesem, dem Sicherheitsaufseher und natürlich Dr. Strobele ins Gebet genommen; er wurde davon in Kenntnis gesetzt, dass Hahnemann ganz bestimmt simulierte, dass er das schon zuvor getan hätte und dass es daher auch nur um die Absicherung der ohnehin bereits feststehenden Diagnose ginge; sie wiederholten diese unbestreitbaren Tatsachen gebetsmühlenartig immer wieder und wieder. Danach brachte der Gefängnisarzt den Neurologen in sein Behandlungszimmer.
››Wie ich ihnen ja schon am Telefon erklärt hatte, Herr Kollege‹‹, wies Dr. Strobele ihn auf dem Weg nochmals ein (ohne die Anwesenheit von Gefängnisdirektor und Sicherheitsaufseher konnte er selbstverständlich ungezwungener reden), ››kam es mir so vor – ich kann mich aber genauso gut geirrt haben – , als seien Radius-Periost und Babinski links, kaum wahrnehmbar allerdings, auffällig gewesen.‹‹
››Ich verstehe.‹‹
››Sollten sie da auch was feststellen – und auch sonst – , so äußern sie sich bitte nicht dahingehend vor dem Patienten, wir wollen den ja nicht auch noch zum weiteren Simulieren ermutigen!‹‹
Kurz darauf wurde Hahnemann, der die Hoffnung eigentlich schon aufgegeben hatte, in das Behandlungszimmer gebracht.
››Jetzt werden sie von einem Neurologen untersucht‹‹, teilte ihm auf dem Weg einer der Wärter hämisch mit. ››Dem können jedenfalls nichts vormachen!‹‹
Hahnemann überhörte die Häme, alles was er mitbekommen hatte, war ››Neurologe‹‹: ››Endlich die Rettung! Der Neurologe wird die Lähmungssymptome – seit heute morgen sind die ja sogar noch stärker geworden! – doch wohl kaum übersehen können und mich auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus einweisen!‹‹
In der Tat konnte er die Sirenen des Rettungswagens bereits hören.
Auch der Neurologe untersuchte zunächst Hahnemanns Reflexe, nur eben etwas gründlicher und professioneller als der Gefängnisarzt, es war ja schließlich auch sein Fachgebiet. Anders als Dr. Strobele untersuchte er zuerst die Hirnnervenreflexe. Als erstes testete er den Pupillenreflex, indem er Hahnemann mit einer kleinen Lampe in die Augen leuchtete: Die Pupillen zogen sich wie vorgesehen zusammen.
Als nächstes überprüfte der Neurologe den Kornealreflex; dazu strich er mit einem Wattestäbchen sanft unmittelbar an der Tränendrüse über die Wimpern, erst rechts, dann links: Beide Augen schlossen sich unwillkürlich und der Neurologe konnte keinen Unterschied feststellen. Der Vollständigkeit halber prüfte er auch noch den Würgereflex, indem er Hahnemann einen Holzspatel tief in den Rachen schob, bis der würgen musste – ergo der Name.
Danach kamen die Streck- und Beugereflexe und der Babinskireflex an die Reihe, die ja auch der Gefängnisarzt bereits untersucht hatte. Dabei ging der Neurologe im Wesentlichen genauso wie jener vor, mit dem Unterschied, dass er, als Facharzt, gleich mehrere verschiedene Reflexhämmer verwendete. Im Gegensatz zu Dr. Strobele zuvor, führte der er die gesamte Untersuchung, abgesehen von der einen oder anderen Anweisung an Hahnemann und Aufforderung an die Wärter, etwa, die Hand- oder Fußschellen zu lösen, schweigend durch; und Hahnemann wagte auch nicht, Fragen zu stellen, aus Angst vor dem brutalen, niederschmetternden und... ja: ohrenbetäubenden ››kein Unterschied‹‹.
››Der Babinskireflex hat diesmal ja sogar noch deutlicher ausgeschlagen‹‹, dachte er erleichtert. ››Das kann der doch gar nicht übersehen haben!‹‹
Konnte ››der‹‹ sehr wohl!
Als nächstes untersuchte der Neurologe Hahnemanns Koordination, man kennt das ja: Augen zu, linker Finger zur Nasenspitze, rechter Finger zur Nasenspitze, beide Finger vor der Nase zusammenführen, auf einer Linie balancieren, und so weiter und so fort.
Dann untersuchte er Hahnemanns Kraft in Armen und Beinen auf Links-rechts-Unterschiede; bei allen Krafttests erwiesen sich Hahnemanns linke Gliedmaßen als wesentlich schwächer, als die rechten – was für eine Überraschung! Zuletzt sollte Hahnemann noch auf der Stelle marschieren. Dabei gelang es ihm überhaupt nur so gerade eben, seine linke Ferse anzuheben, indes der Fußballen den Boden gar nicht erst verließ; das rechte Knie dagegen, konnte er fast bis zur Brust heben.
§
››Und?‹‹, fragte Hahnemann nach der Untersuchung hoffnungsvoll.
››Sie bekommen noch Bescheid‹‹, erwiderte der Neurologe, ohne von dem medizinischen Fachbuch vor sich auf dem Schreibtisch aufzublicken; in der Tat hatte er es bereits aufmerksam studiert, als Hahnemann noch marschiert war (beziehungsweise es wenigstens versucht hatte), und nur gelegentlich zu ihm herübergesehen.
››Na gut, er hat nicht gerade in heller Panik einen Krankenwagen gerufen‹‹, dachte Hahnemann ziemlich enttäuscht, derweil die Wärter ihn wieder zurück in seine Zelle brachten. ››Aber bestimmt holen sie mich bald und ich werde wenigstens ins Gefängniskrankenhaus gekarrt!‹‹
››Und?‹‹, fragte, nun da Hahnemann weg war, auch der Gefängnisarzt.
››Simuliert hundertprozentig, geradezu ein klassischer Fall!‹‹, bestätigte der Neurologe brav die Diagnose seines Kollegen. ››Sehen sie selbst, hier im ICD 10 unter F68.1.: ›Bei Fehlen einer gesicherten körperlichen oder psychischen Störung, Krankheit oder Behinderung,‹ – ich wiederhole: Behinderung – , ›täuscht der Patient häufige und beständige Symptome vor‹, blablabla... ›trotz mehrfach negativer Befunde.‹, blablabla... ›Simulation ist im gerichtlichen und militärischen Umfeld vergleichsweise häufig und im gewöhnlichen zivilen Leben ziemlich selten.‹, Bingo!‹‹
§
Dementsprechend sollte sein Befund auch folgendermaßen lauteten:
Neurologischer Befund
Nicht nackensteif. Hirnnerven regelrecht, insbesondere keine Pupillenstörung, keine Augenmotilitätsstörung, kein Nystagmus, keine Angabe einer Hörstörung, Muskeleigenreflexe seitengleich gut erhältlich, keine spastischen Zeichen.
Keine Paresen.
Sensibilität regelrecht. Koordination regelrecht. Einbeinstand ohne Schwierigkeiten möglich.
Psychisch: Bewusstseinsklar, orientiert, zugewandt, keine kognitiven Einbußen.
Diagnose: Kein krankhafter neurologischer Befund.
gez. Prof. Dr. von Münchhausen
››Soso, wirklich höchst interessant, Herr Kollege.‹‹
››Ja, nicht wahr?!‹‹, triumphierte der Neurologe. ››Hat der Gefängnisdirektor nicht gesagt, dass der Hahnemann noch einen Prozess vor sich hat?‹‹
››Ja schon, wegen Körperverletzung,... hat nem Kollegen ins Gesicht getreten.‹‹
››Sehen sie, da haben wirs ja, der simuliert, um sich vor dem Prozess zu drücken!‹‹, rief der Neurologe aus. ››... Zwar schien er links tatsächlich wesentlich schwächer zu sein als rechts, das hat er aber nur vorgetäuscht – einfach zu inkonsistent! Und dann das Theater mit dem Marschieren, einfach grotesk, da hab-ich wirklich schon bessere Vorstellungen gesehen!‹‹
Der Neurologe fing an zu lachen und Gefängnisarzt und Wärter ließen sich nur allzu bereitwillig davon anstecken. Den Babinskireflex erwähnte er erst gar nicht; Dr. Strobele war etwas beunruhigt, denn er hatte durchaus eine leichte Bewegung links bemerkt... Aber andererseits war der Neurologe ja schließlich ein Facharzt!
Der Gefängnisarzt informierte sofort den Gefängnisdirektor, welcher sich wiederum nochmals mit dem Ministerium in Verbindung setzte, wo er den Ministerialrat noch gerade so eben – er war eigentlich schon aus der Tür – vor Feierabend erwischte.
››Gut‹‹, sagte der jedenfalls zufrieden, ››damit haben wir den Schweinehund bei den Eiern!‹‹
››Ja schon,... ich glaube aber trotzdem nicht, das der so schnell aufgibt...‹‹
››Ich sage ihnen was, der soll uns doch einfach den Buckel runterrutschen, ich mein, lassen sie den doch sein Spiel spielen, solange er will, irgendwann gibt er schon ganz von alleine auf,... die Hauptsache ist doch, das er nichts damit erreicht!‹‹
››Ganz ihrer Meinung, Herr Ministerialrat!‹‹, stimmte der Direktor beflissen zu, doch der Ministerialrat hatte längst aufgelegt.
§
Während Hahnemann in seiner Zelle fernsah, ohne allerdings auch nur das Geringste davon mitzubekommen, überzeugt davon, dass doch gewiss jeden Moment der Krankenwagen kommen würde, wurden seine Gliedmaßen immer schwächer und schwächer. Als um 20:00 Uhr immer noch kein Krankenwagen gekommen war, und er den linken Arm fast überhaupt nicht mehr bewegen konnte, ließ er von einem Moment auf den anderen alle Hoffnung fahren und ergab sich fatalistisch in sein Schicksal.
Kurz darauf stand er vom Bett auf, um zur Toilette zu gehen; dabei stellte er, zu seinem gewaltigen Entsetzen, fest, dass sein linkes Bein so schwach war, dass er bald wohl kaum noch vermeiden könnte, zu stürzen. Auf dem circa 50 Zentimeter hohen Bett fühlte er sich auf jeden Fall nicht mehr sicher – zu hoher Fall, wenn es soweit wäre!
Also zog er mit dem rechten, noch einwandfrei funktionierenden Arm seine Matratze vom Bett, einem kalten Betonquader, auf den Boden, in den schmalen Gang zwischen selbigem auf der einen Seite und Tisch und Regal, beide aus Stahl und 5 Zentimeter dicken Pressholzplatten (mittels langer, dicker Schrauben fest im Boden verankert!), auf der anderen Seite. Der Gang war etwas schmaler als die Matratze, sodass diese mit ihren leicht hochgewölbten Rändern fast so was wie ein Nest bildete; Hahnemann platzierte noch eine gefaltete Wolldecke als Kopfkissen auf dem der Tür abgewandten Ende der Matratze. Wenn er nun versuchte, aufzustehen und dabei stürzte, dann auf alle Fälle nicht auf den harten Boden, sondern auf weichen Schaumstoff.
Er schaltete noch das Fernsehgerät an und legte sich in sein Nest; von dort aus konnte er zwar den Bildschirm nicht sehen, aber die Stimmen im Hintergrund beruhigten ihn immerhin.
Sonntag
Als Hahnemann am Sonntagmorgen aufwachte, war sein linker Arm vollständig gelähmt und sein linkes Bein immerhin so schwach, dass er, aus Angst zu stürzen, beschloss, sein Nest nicht mehr zu verlassen,... außer (jedenfalls solange es noch ginge) zum Trinken und um sich zu erleichtern; auch ziemlich starkes Fieber hatte er wieder.
Das Aufstehen bedeutete jedes Mal eine gewaltige Kraftanstrengung und eine entsetzliche Qual! Er hob dazu zunächst jeweils die Beine empor (mit fortschreitender Lähmung schließlich nur noch das rechte) und warf sie dann derart nach vorne, dass er durch den Schwung zum Sitzen kam. Darauf hielt er sich mit der rechten Hand an der Vorderseite des Betonquaders fest, zog die Beine an (das linke eben soweit es ging) und drückte beide Knie durch. So kam er mit der Pobacke auf dem Bett zu sitzen, und wenn er nicht sofort wieder abrutschte und zurück auf die Matratze fiel – in dem Fall ging der Spaß natürlich von vorne los – , dann stützte er sich mit der rechten Hand auf und erhob sich langsam und vorsichtig. Endlich aufrecht stehend, wankte er zur Toilette und danach, damit er nicht unnötig nochmals extra aufstehen müsste, auch gleich zum Waschbecken, um zu trinken; dann wankte er zurück zu seinem Nest und ließ sich, den Rücken selbigem zugewandt, einfach auf die Matratze fallen.
Je weiter der Tag voranschritt, desto öfter fiel er bei dem Versuch aufzustehen zurück auf die Matratze und schließlich, gegen 18:00 Uhr, ging gar nichts mehr; es gelang Hahnemann einfach nicht, sich auf der Bettkante zu halten, jedes Mal fiel er sofort zurück auf die Matratze, beim x-ten Mal derart unglücklich, dass sein Hinterkopf mit so großer Wucht gegen eins der stählernen Tischbeine schlug, dass er sich eine ziemlich große Platzwunde zuzog; wahre Blutfontänen färbten einen Großteil des Bettlakens auf Kopf- und Schulterhöhe rot ein.
§
Hahnemann kümmerte sich nicht darum, er hatte weiß Gott größere Probleme, schließlich musste er sich immer noch dringend erleichtern! Er beschloss daher, noch ein letztes Mal zu versuchen, aufzustehen; die bisherige Methode schied diesmal aber selbstverständlich aus.
Stattdessen robbte er irgendwie von der Matratze, unter Zurücklassung großer Blutflecken auf dem bisher noch weiß gebliebenen Teil des Bettlakens, und es gelang ihm doch tatsächlich, sich mit dem Rücken gegen das Ende des Betonquaders aufzusetzen. Er hielt sich mit der Hand an der Heizung gleich rechts von im fest, zog die Beine (beim linken musste er mit der gesunden Hand nachhelfen) ganz an sich heran, Ferse gegen Pobacke, und drückte das rechte Knie mit aller Kraft durch.
Beinahe hätte er es geschafft, doch dann verlor er die Balance und stürzte, dieses Mal aber natürlich nicht auf die weiche Matratze, sondern auf den harten Betonboden,... glücklicherweise aber ohne sich zu verletzen. Er unternahm noch einen Versuch, sich mit Hilfe der Heizung zu erheben, doch es hatte keinen Sinn. Also galt es, irgendwie wieder auf die Matratze zu kommen – seinen zuvor noch so dringenden Harndrang hatte er völlig vergessen – , doch es wollte ihm einfach nicht gelingen.
››Wie hab-ich es bloß runtergeschafft?‹‹, fragte er sich, unterdessen er weiter verzweifelt versuchte, auf dem Rücken liegend und unter ausschließlicher Verwendung des rechten Armes und Beines, in Richtung Matratze zu steuern.
Es half alles nichts, am Ende hatte er sich in eine völlig aussichtslose Lage manövriert; sein Kopf hatte sich zwischen Toilette und Wand verkeilt und weder mit dem rechten Arm, noch mit dem rechten Bein konnte er irgendetwas erreichen, woran er hätte Halt finden können.
Schließlich gab er auf und rief laut um Hilfe; er musste eine halbe Stunde lang rufen, bis endlich drei Wärter, alarmiert von dem Gefangenen in der Nachbarzelle, der die Hilfeschreie offenbar gehört hatte, die äußere Zellentür öffneten: ››Was gibts denn?‹‹
››Ich bin gestürzt und hab mich hier hoffnungslos verkeilt.‹‹
››Ach, hör-n-se doch auf, wir wissen doch, dass sie simulieren.‹‹
Hahnemann erwiderte nichts darauf, es hatte ja doch keinen Sinn,... solange nicht mal der Neurologe ihm glaubte (beziehungsweise glauben wollte).
››Hören sie gefälligst auf, hier rumzuschreien!‹‹, schnauzte ihn der Wärter noch an, knallte die Tür zu und schloss absichtlich laut ab.
Hahnemann rief tatsächlich nicht mehr um Hilfe, es wäre ja doch aussichtslos gewesen.
§
Die Wärter vermuteten, da Hahnemann ja simulierte – das war mittlerweile in ganzen Gefängnis bekannt – , selbstverständlich eine Falle, etwa dass er sie in die Zelle locken würde und einen von ihnen als Geisel nähme.
Da sie aber natürlich das viele Blut auf der Matratze gesehen hatten, informierten sie immerhin den diensthabenden Sanitäter – der Arzt arbeitete am Sonntag selbstredend nicht. Etwa eine Stunde später – kein Grund zur Eile – , Hahnemanns Knochen schmerzten inzwischen enorm (perfiderweise auch die auf seiner linken Seite, die war zwar gelähmt, aber keineswegs taub) von dem langen Liegen auf dem harten Fußboden, öffnete sich die äußere Zellentür erneut, der Sanitäter war endlich da; er sah sich wortlos – Hahnemann schwieg ebenfalls still – in der Zelle um und schloss die Tür auch schon wieder.
››Was sollte denn der Quatsch jetzt?‹‹, fragte sich Hahnemann, der weiterhin, hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken, auf dem harten Fußboden lag.
Unterdessen informierte der Sanitäter telefonisch Dr. Strobele, der sich wiederum mit dem Sicherheitsaufseher in Verbindung setzte (beide waren ob der Störung an ihrem freien Sonntag not amused), welcher seinerseits im Gefängnis anrief und den ranghöchsten Wärter verlangte.
››Also‹‹, sagte er, nachdem der Bericht erstattet hatte, ››gehen sie da ruhig rein, und wenn der Kerl sein Theater denn wirklich bis zum letzten Akt – wie auch immer der seiner Meinung nach aussehen soll – spielen will, dann tun sie ihm eben den Gefallen und spielen mit. Tragen sie den Spinner also zurück auf die Matratze, der Sanitäter soll sich die Wunde gerade noch ansehen, und fertig!‹‹
››Selbstverständlich!‹‹, bestätigte der Wärter.
Und so geschah es dann auch: Die äußere Zellentür wurde erneut aufgeschlossen; die Wärter sahen sich durch die Gittertür in der Zelle um; Hahnemann lag immer noch an derselben Stelle; alles soweit sicher!
››Mann, hat der ne Ausdauer‹‹, bemerkte einer der Wärter, der natürlich, wie alle anderen, fest davon überzeugt war, dass Hahnemann simulierte, indem er fassungslos den Kopf schüttelte.
Und Hahnemann musste ihm insoweit Recht geben: So lange bewegungslos auf dem harten Boden zu liegen – die Schmerzen in seinen Knochen waren mittlerweile unerträglich – , da gehörte schon einiges dazu,... auf jeden Fall wenn man eine Wahl hatte.
§
Blitzschnell – Stichwort: Überrumpelung – schloss einer der Wärter die Gittertür auf, zwei stürzten sich auf Hahnemanns Beine, indem sie ihre Knie jeweils auf einen seiner Oberschenkel platzierten – sehr schmerzhaft, nebenbei bemerkt (und Hahnemann hatte ja noch nicht genug Schmerzen...) – , und ein vierte legte ihm Fußschellen an. Darauf ließen die Wärter, die seine Beine sicherten, von ihm ab und einer zog Hahnemann an den Fußschellen von der Toilette weg und schliff ihn hinaus auf den Flur; dort legten sie ihm dann auch noch Handschellen an.
››Oah, jetzt hatte ich mich gerade an den aparten Urinduft und die Borsten der Klobürste in meinen Haaren gewöhnt!‹‹
››Sparen sie sich ihre unverschämten Kommentare, sie können froh sein, dass wir ihr albernes Spiel überhaupt mitspielen und sie nicht einfach auf dem Boden liegen lassen,... verdammter Simulant!‹‹
Während zwei Wärter Hahnemann an Hand- und Fußschellen hielten, stürmten zwei weitere in die Zelle und wechselten in weniger als 10 Sekunden das Bettlaken – keine schlechte Leistung! Zu viert trugen sie ihn zurück in die Zelle, warfen ihn auf die Matratze und sicherten ihn; erst danach kam der Sanitäter herein: ››Wo bluten sie denn?‹‹
››Am Hinterkopf.‹‹
››Gut, dann legen sie sich mal auf den Bauch!‹‹
››Kann-ich nicht.‹‹
››Maaein Gott!‹‹, stöhnte der Wärter am Kopfende der Matratze genervt und drehte Hahnemann, gemeinsam mit seinem Kollegen am Fußende, grob auf den Bauch.
Der Sanitäter hockte sich auf die Matratze, ein Knie auf Hahnemanns Rücken, und sah sich seinen Hinterkopf an; die Platzwunde hatte selbstverständlich schon längst aufgehört zu bluten.
››Is-nich so schlimm‹‹, sagte er und sprühte etwas Desinfektionsspray auf die Wunde. ››So, fertig!‹‹
Dann verließ er die Zelle auch schon wieder: ››Auf so-n verfluchten Simulant fall-ich doch nicht rein,... ich doch nicht!‹‹
Selbstredend ging er (wie im Übrigen alle) davon aus, dass Hahnemann sich absichtlich den Kopf irgendwo gestoßen hätte, um auf diese Weise doch noch ins Krankenhaus zu kommen (und in der Tat, hätte der darin auch nur die geringste Chance gesehen – was er nicht tat – , wirklich ins Krankenhaus zu kommen, so hätte er es wohl tatsächlich getan, dann wäre er wenigstens endlich richtig untersucht worden).
››Rückzug!‹‹, rief jemand vom Flur aus.
Die Wärter drehten Hahnemann wieder auf den Rücken,... nur um die Handschellen einfacher abnehmen zu können natürlich, aber er war auf jeden Fall unendlich erleichtert, denn alleine hätte er das nicht mehr geschafft; hilflos auf dem Rücken zu liegen, war bereits ein Albtraum,... aber erst auf dem Bauch, einfach unvorstellbar!
Dann lösten die Wärter schnell aber vorsichtig – immer auf der Hut – Hand- und Fußschellen, verließen rückwärts die Zelle, verschlossen die Gittertür, knallten die äußere Stahltür laut zu und schlossen auch sie ab.
Kaum waren sie draußen, ließ es Hahnemann, dessen Blase inzwischen bis zum Platzen gefüllt war, einfach laufen; dass er sich einnässte, störte ihn schon gar nicht mehr, er war einfach nur erleichtert, dass der quälende Harndrang endlich verschwunden war. Erst nach Mitternacht schlief er endlich ein, ein furchtbares Gefühl der Leere – sein Kopf fühlte sich in der Tat irgendwie hohl an – hatte ihn lange wach gehalten.
Montag
Als Hahnemann am Montagmorgen aufwachte, war seine linke Körperhälfte (endgültig) vollständig gelähmt, er konnte nicht mal mehr einen Finger oder Zeh bewegen, und er hatte immer noch starkes Fieber. Als er versuchte, sich auf die übliche Weise aufzusetzen, stellte er fest, dass auch seine Bauchmuskeln – links und rechts! – vollkommen gelähmt waren; dementsprechend gelang es ihm natürlich auch nicht, sich aufzusetzen, ja, er konnte mittlerweile nicht mal mehr seinen Kopf anheben!
Am Vormittag suchte ihn nochmals der Gefängnisarzt auf, zusammen mit einem Sanitäter und der üblichen Eskorte.
››Mann, stinkt das hier bestialisch!‹‹
››Ich hab ja wohl keine andere Wahl, oder!?‹‹
››Ja-nee, is-klar.‹‹
››Ach leck mich doch am Arsch, verfluchter Sanitöter!‹‹ dachte Hahnemann wütend. ››Von wegen Sanitäter!‹‹
Dr. Strobele maß Hahnemanns Temperatur – 39 Grad – und prüfte nochmals seine Reflexe (soweit es die Enge des Ganges zuließ), wobei er allerdings wieder die Hirnnervenreflexe ausließ.
››Was für ein Dilettant!‹‹, dachte Hahnemann, sagte aber nichts, er hatte innerlich längst aufgegeben; und als ob sie ihn darin bestärken wollten, begingen seine Reflexe auch dieses Mal Hochverrat,... bis auf den Babinskireflex, aber den übersah (oder übersah?) der Gefängnisarzt auch diesmal geflissentlich!
Dr. Strobele sah sich bestätigt. Er flößte Hahnemann noch ein paar Milliliter Novalgin gegen das Fieber ein und war auch schon wieder im Begriff, die Zelle zu verlassen.
››Dr. Strobele‹‹, hielt Hahnemann, der seit über 48 Stunden nichts mehr getrunken hatte, ihn zurück, ››könnten sie mir bitte einen Becher Wasser geben?‹‹
››Ach, Herr Hahnemann, wie lange wollen sie denn ihr Spielchen noch spielen? ... Das hat doch alles keinen Sinn!‹‹
››Bitte geben sie mir doch einfach den Becher Wasser, es ist doch keine große Mühe für sie!‹‹
››Na gut, was solls‹‹, gab der Doktor nach, ging zum Waschbecken, füllte eine Pappbecher mit Wasser und reichte ihn Hahnemann; der trank ihn in einem Zug aus, bat um noch einen und trank auch den in einem Zug aus.
››Vielen Dank!‹‹, bedankte er sich. ››Für gar nichts!‹‹, ergänzte er in Gedanken aber noch. ››Wärst du ein richtiger Arzt, müsste ich überhaupt nicht um Wasser bitten, sondern man brächte es mir im Krankenhaus ans Bett!‹‹
Gegen 15:00 Uhr stürmte erneut der übliche Wärtertrupp Hahnemanns Zelle und legte ihn in Ketten.
››Mann, das stinkt ja hier wie auf-m Bahnhofsklo!‹‹, fluchte einer der Wärter.
Dann kam der Sicherheitsaufseher herein, stieg auf den matratzenlosen Bett-Betonquader, stellte sich etwa auf Höhe von Hahnemanns Kopf breitbeinig hin, die Daumen in den Gürtelschlaufen, und sah auf ihn herunter (und herab): ››Jetzt reichst aber wirklich langsam, Herr Hahnemann, stehen sie gefälligst endlich mal auf!‹‹, blökte er. ››Dann können sie erst mal duschen, bekommen frische Sachen und – vor allem – was richtig Gutes zu essen.‹‹
Und Hahnemann hätte in der Tat alles dafür gegeben, wirklich nur ein Simulant gewesen zu sein: Duschen, frische Kleidung und Essen, das hörte sich nur allzu verlockend an, aber...
Nachdem Hahnemann – logischerweise – nicht aufgestanden war, verließ der Sicherheitsaufseher mit seiner Leibgarde die Zelle.
Dienstag
Als Hahnemann am Dienstagmorgen aufwachte, waren auch seine linke Gesichtshälfte und seine gesamte Hals- und Nackenmuskulatur gelähmt, er konnte nicht mehr sprechen, noch den Kopf anheben oder auch nur drehen; auch sein linkes Auge konnte er nicht mehr öffnen, sodass er in Panik mit dem rechten, soweit dies ohne den Kopf drehen zu können, denn überhaupt möglich war, verzweifelt nach irgendeiner Hilfe Ausschau hielt – vergeblich natürlich.
Den ganzen Tag über kümmerte sich niemand um ihn, weder Arzt, noch sonst irgendjemand, betrat seine Zelle. Hahnemann dämmerte einsam und verloren vor sich hin,... bis ihn irgendwann am frühen Abend der Schlaf erlöste...