Читать книгу Der Weihnachtsmann und ich - Jana Hensel - Страница 5

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Er versuchte mich zu küssen, aber es gelang ihm nicht. Der Bart störte. Mein Bart, oder besser gesagt, der Bart, den mein Vater immer getragen hatte, wenn er den Weihnachtsmann spielte. Nun hatte ich ihn mir umgebunden und Daniel versuchte, die weißen Flusen, die meinen Mund verdeckten, ein wenig zur Seite zu schieben. Aber der Bart war wie mein Vater: widerspenstig. Außerdem war er schon ziemlich alt und hatte sogar die Wende überlebt. So einen Bart konnte man nicht einfach beiseiteschieben. Nicht einmal ein klein wenig.

Wir standen uns im Flur gegenüber, so wie an fast jedem Morgen, kurz bevor Daniel die Wohnung verließ. Licht fiel aus der Küche bis hinüber in den Durchgang zum Wohnzimmer und ließ Daniels Augen heller erscheinen, als sie eigentlich waren. Es roch noch nach Kaffee und ein bisschen nach den Toastbroten, die er den Kindern immer zum Frühstück machte. Er war schon in Mantel und Schuhen, hatte die Mütze in die eine und seine Handschuhe in die andere Manteltasche gesteckt. Gleich würde es klingeln, weil das Taxi, das er am Abend zuvor bestellt hatte, vor der Tür wartete, um ihn zum Flughafen zu bringen.

Ich mochte Daniels Küsse. Auch die leichten, morgendlichen, manchmal fast flüchtigen, wenn er in Gedanken schon davongeeilt war. Meistens legte er mir dabei eine Hand auf die Schulter, beugte sich etwas zu mir herunter und wartete, bis ich ihm entgegenkam. So war es auch bei unserem ersten Kuss gewesen. Damals hatten wir an der Kreuzung am U-Bahnhof Eberswalder Straße gestanden. Es war schon spät, weit nach Mitternacht. Aber anders als in letzter Zeit, in der die Straßen dort auch gegen zwei oder drei Uhr nachts noch voller Menschen waren, standen wir in jener Nacht allein unter dem grünen Viadukt der U-Bahn-Gleise. Niemand drängte an uns vorbei, kein fremdes Lachen war von irgendwoher zu hören, und auch die Spätis hatten schon längst ihre Lichter ausgemacht. Aber vielleicht sah und hörte ich von alledem im Frühling vor fast fünfzehn Jahren nichts, weil Daniel sich zum ersten Mal etwas zu mir heruntergebeugt hatte und ich ihm mit meinem Mund entgegengekommen war.

Vorher waren wir in einem Club in der Pappelallee gewesen, den es nun schon lange nicht mehr gab, und nachher nannte Daniel die Kreuzung immer Bermudadreieck. Ich wusste bis heute nicht genau, was diese Kreuzung mit dem Bermudadreieck zu tun haben sollte. Dass man von hier aus in ganz unterschiedliche Richtungen gehen konnte? Nirgendwo sonst im Prenzlauer Berg trafen so viele Straßen aufeinander. Dass die Kreuzung so ziemlich genau zwischen Mauerpark, Kollwitz- und Helmholtzplatz lag und die Fläche ein Dreieck ergab? Dass dort so unwahrscheinliche Dinge geschehen konnten wie ein Kuss? Ich hatte ihn nie danach gefragt, und jetzt war sicher nicht der richtige Augenblick, um das nachzuholen. Aber ich nahm es mir vor, für heute Abend, wenn Daniel zurück sein würde. Oder für morgen. Oder für irgendwann, wenn wir wieder einmal so viel Zeit haben würden wie damals, als wir uns kennenlernten.

In jener Nacht ahnte ich nicht, dass wir ein paar Jahre später in eine gemeinsame Wohnung, gar nicht so weit entfernt von dieser Kreuzung, einziehen und uns von da an, Morgen für Morgen mehr oder weniger flüchtig küssen würden. Und dass eines Morgens ein langer weißer Bart zwischen uns sein würde, der meinem Vater gehörte und sich nicht beiseiteschieben ließ. Und weil ich nun schon fast so lange wie beim ersten Mal darauf wartete, dass Daniel mich küssen würde, wollte ich den Bart kurzerhand herunterziehen. Aber Daniel hielt meine Hände fest, trat einen Schritt zurück und sah mich von oben bis unten an.

Erst jetzt schien er zu bemerken, dass ich nicht nur den Bart, sondern auch Jacke und Hose des Weihnachtsmannkostüms meines Vaters trug. „Wenn ich heute im Gericht erzähle, dass ich versucht habe, den Weihnachtsmann zu küssen, werde ich sicher von der Verhandlung ausgeschlossen“, sagte er und lachte. In sein Lachen hinein klingelte es und Daniel ließ meine Hände los. Ich war mir nicht sicher, ob er eine solche Bemerkung wirklich machen würde, und auch nicht, ob ich das, was er gesagt hatte, so lustig fand wie er. Aber vielleicht fingen die Menschen kurz vor Weihnachten an, Dinge zu sagen, die sie selbst lustig fanden und andere nicht. Oder ich hatte über Daniels Scherz nicht lachen können, weil ich im Weihnachtsmannkostüm meines Vaters steckte und mich das mehr irritierte, als ich mir eingestehen wollte.


Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, trat in der Wohnung jene Stille ein, von der ich an fast jedem Morgen aufs Neue überrascht war. Mir schien es, als würde unser Leben von einer Sekunde auf die nächste anderswo hinziehen. Als hätten es die Kinder in ihren Schulranzen mitgenommen. Oder Daniel in seinen kleinen Rollkoffer gepackt, mit dem er kreuz und quer durch Deutschland fuhr. Selbst Paul, der noch keinen Schulranzen hatte, weil er anders als die beiden Großen noch in den Kindergarten ging, sammelte sein kleines Leben jeden Morgen ein und zog kurz nach acht damit in die Welt, um gegen vier wieder aus ihr aufzutauchen und es zurück in die Wohnung zu kippen.

Auch fühlte sich der Moment, in dem alle die Wohnung verlassen hatten, jeden Morgen an, als sei schon ein ganzer Vormittag vergangen. Dabei waren es doch nur zwei Stunden, in denen das immer gleiche Durcheinander herrschte und doch alles wie am Schnürchen lief. Robert wollte zum Frühstück Kakao, Anna wollte auf keinen Fall Kakao und Paul wollte manchmal Kakao und manchmal nicht. Dafür durfte auf seinem Toast auf keinen Fall zu viel Butter sein. Robert vergaß üblicherweise sein Busticket und musste auf halber Treppe noch einmal umkehren. Paul stand noch mit nackten Füßen im Flur, wenn seine Freunde schon vor der Haustür auf ihn warteten. Nur Anna war immer pünktlich fertig, aber zögerte es hinaus loszugehen, weil sie nicht die Erste im Klassenraum sein wollte. Ich liebte meine Familie, aber ich liebte auch den Moment, wenn sie verschwand und aus unserem Leben mein Leben wurde.

Umso mehr bereute ich es jetzt, dass ich mich von Pauls Erzieherin hatte überreden lassen, in diesem Jahr als Weihnachtsmann im Kindergarten aufzutreten. Viel lieber wäre ich durch den langen Flur ins hintere Zimmer der Wohnung gegangen, hätte mich an den Schreibtisch gesetzt und mit der Arbeit begonnen. Der Verlag drängte schon.

Stattdessen ging ich ins Bad. Dort stellte ich mich vor den Spiegel und begann, meine Augenbrauen mit der weißen Schminke zu übermalen, die vom letzten Fasching übrig geblieben war. Sie klebte und klumpte ein bisschen, aber deckte gut. Meine Augenbrauen waren so schwarz wie die meines Vaters, als er noch ein junger Mann gewesen war. Und weil ich befürchtete, dass sie mich verraten könnten, trug ich so lange Farbe auf, bis sie so weiß wurden wie die Augenbrauen meines Vaters mit den Jahren. Ich hatte als Kind dabei zusehen können, wie immer mehr silbrige Strähnen das volle schwarze Haar meines Vaters durchzogen. Schon bei meinem Schulanfang hatte er graue Schläfen. Da musste er um die dreißig gewesen sein. Manche Leute begannen ihn damals für den Vater meiner Mutter zu halten. Und obwohl sie nur drei Jahre jünger war als er, wurde der eigentlich gar nicht so große Altersunterschied mit der Zeit immer deutlicher. Bis heute hat sie das Gesicht eines Mädchens behalten.

Vielleicht aber wollten jene Leute, die behaupteten, mein Vater sähe mit Anfang dreißig sehr viel älter aus, als er tatsächlich war, ihm auch nur eins auswischen, weil nicht sie die Idee mit dem Weihnachtsmann gehabt hatten, sondern er. Ich wusste nicht, warum mein Vater damit angefangen hatte, in unserem Viertel in Leipzig den Weihnachtsmann zu spielen. Aber ganz sicher stahl er einigen damit jedes Jahr die Show. Ich hatte seine Auftritte selbst miterlebt. Ich war sein erstes Publikum gewesen, und später durfte ich ihn auf seiner Tour begleiten. Seither wusste ich, dass zumindest die zweite Behauptung, die ich immer wieder über meinen Vater hörte, nicht stimmte. Es hieß, er hätte keinen Humor. In Wahrheit aber hatte mein Vater nur einen anderen, vielleicht etwas seltsamen Humor.

Als vor ein paar Tagen morgens kurz nach sieben das Telefon klingelte, wusste ich sofort, dass er es war. Es gab keinen anderen Menschen auf der Welt, der mich um diese Uhrzeit anrufen würde. Obwohl er längst aufgehört hatte zu arbeiten, stand er immer noch jeden Morgen halb sechs auf und vertrat die Meinung, dass nichts, aber auch gar nichts dagegen einzuwenden war, eineinhalb Stunden nach dem Aufstehen bei seiner Tochter anzurufen, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab. Und bevor ich sagen konnte, dass ich später zurückrufen würde, fragte er verschwörerisch: „Ist es angekommen?“

„Ja“, sagte ich, „ist es.“

„Hast du es schon aufgemacht?“

„Nein“, sagte ich, „es ist ja erst kurz nach sieben.“

„Aber wie kannst du dann wissen, dass es drin ist?“

„Aber Vati, was soll denn sonst in dem Paket sein, das du mir geschickt hast?“

„Ich weiß nicht“, sagte er, „ihr bekommt doch ständig irgendwelche Pakete.“

„Das stimmt doch gar nicht“, sagte ich.

Doch, doch, meinte er. Er hätte es ja bei seinem letzten Besuch gesehen, wie sich die Pakete in unserem Flur stapelten. Dabei hatte ich ihm schon damals erklärt, dass das nicht unsere Pakete, sondern die der Nachbarn waren. Ich sie also nur angenommen hatte, weil ich offenbar die Einzige in unserem Haus war, die zu Hause arbeitete und dem Postboten die Tür öffnen konnte. Aber er ließ sich nicht davon abbringen, es könnte sich bei dem Paket, das ich am vorangegangenen Abend erhalten hatte, um ein anderes als das von ihm an mich abgeschickte handeln. Ich versprach ihm, gleich nachzusehen, sobald die Kinder in der Schule und im Kindergarten waren. Aber auch das schien ihn nicht zu beruhigen. Beim Auflegen sagte er: „Und vergiss nicht, ein Weihnachtsmann benutzt nie eine Klingel!“

Natürlich war in dem Paket genau das, worum ich meinen Vater gebeten hatte. Sein Weihnachtsmannkostüm. Er hatte es, wie immer, wenn er mir einmal ein Paket schickte, sicherlich an der Poststation in der Hans-Marchwitza-Straße aufgegeben und dabei ein paar Worte mit der Frau oder dem Mann hinter dem Tresen gewechselt. Ein kleines unverbindliches Gespräch, über das Wetter oder eine Baustelle an der nächsten Ecke, wie es seine Art war, um den Dingen nicht einfach ihren Lauf zu lassen. Und wie immer, wenn mein Vater mir ein Paket schickte, war auch dieses rechtzeitig bei mir in Berlin angekommen. Ich hatte, als ich es später auf den Küchentisch stellte und mit der Schere die Klebestreifen aufzuritzen begann, keinerlei Zweifel daran, was in dem Paket sein würde. Ich bezweifelte auch nicht, dass der Anblick des alten Weihnachtsmannkostüms bei mir irgendetwas auslösen könnte. Aber als ich den Deckel des Pappkartons auseinanderklappte und der Inhalt zum Vorschein kam, musste ich für einen Augenblick meine Hand auf den rauen Stoff legen, aus dem meine Mutter das Kostüm einst genäht hatte.

Es kratzte ein wenig auf der Haut, wenn man darüber strich. Das wusste ich noch. Und es hatten sich vom häufigen Tragen Knötchen an den Innenseiten der Ärmel gebildet. Ganz bestimmt war meiner Mutter keine große Auswahl angeboten worden, als sie Ende der siebziger Jahre in Leipzig einen festen roten Stoff hatte kaufen wollen. Sehr wahrscheinlich war es sogar nur dieser eine gewesen, von ganz gewöhnlichem Rot, weder zu hell noch zu dunkel, aber genau richtig für ein Weihnachtsmannkostüm. Ob sie beim Einpacken auch daran gedacht hatte, dass es in der DDR sehr viel weniger solcher Stoffe gegeben hatte als später, dass aber mein Vater in diesem Kostüm auch nach der Wende immer noch aussah, wie ein Weihnachtsmann aussehen musste? Ich wusste es nicht. Wir sprachen nicht oft über dieses Davor und Danach. Es fiel mir, anders als bei meinem Vater, sehr viel schwerer, mir vorzustellen, worüber sie nachdachte und worüber nicht. Aber ich konnte sehen, dass sie es gewesen war, die das Weihnachtsmannkostüm für die Reise nach Berlin eingepackt und dabei die Ärmel der Jacke ineinander verschränkt hatte. Meinem Vater wäre dieses Detail nicht wichtig gewesen. Es sah aus, als hielten sie etwas umfangen, als umarmten sie jemanden.

Vorsichtig nahm ich die Jacke aus dem Karton und legte sie auf den Küchentisch. Darunter fand ich eine kleine silberne Tüte mit der Aufschrift „Exquisit“. Jetzt musste ich doch ein bisschen lachen. Denn ausgerechnet den alten Weihnachtsmannbart in eine Plastiktüte zu stecken, die in der DDR für sogenannte Luxuswaren hergestellt worden war, darauf konnte wiederum nur mein Vater kommen. Andererseits hatten meine Eltern die Verpackung offenbar über all die Jahre aufgehoben, um irgendwann noch einmal etwas Besonderes darin verschicken zu können. Etwas, das nicht vergessen werden sollte. Und plötzlich erschienen mir die Befürchtungen meines Vaters gar nicht mehr so unbegründet, es könnte etwas verloren gehen, was nicht verloren gehen darf. Als wäre dieses Paket nicht irgendein Paket, das von einer Stadt in eine andere geschickt wurde, sondern käme aus einem Land, das es nicht mehr gab, und dürfte seine Empfängerin im Hier und Jetzt nicht verfehlen. Aber vielleicht reimte ich mir das auch alles nur zusammen, weil ich selbst das Vergangene immer dann am meisten vermisste, wenn ich spürte, dass ich lange, manchmal zu lange, nicht mehr daran gedacht hatte.

Im Gegensatz zu meinem Vater zeigte sich bei mir sogar mit Anfang vierzig noch kein einziges graues Haar. Lang und dunkel fiel es auf meine Schultern. Über den nun schneeweißen Augenbrauen wirkte der Pony fast schwarz. Ich trat etwas näher an den Spiegel heran, drehte mich ein wenig nach links und ein wenig nach rechts und überlegte, wie ich all die Haare unter die Mütze bekommen sollte, die bei meinem Vater immer leicht wie ein Hütchen auf dem Hinterkopf gethront hatte. Sie war aus demselben roten Filzstoff geschneidert wie Jacke und Hose, um den Rand bauschte sich ein Streifen Watte, und an ihre Spitze hatte meine Mutter eine kleine Bommel genäht. Da meine Haare immer wieder unter ihr hervorrutschten, stopfte ich sie zunächst unter eine dieser Duschhauben, die ich aus einem Hotel mitgenommen hatte, und stülpte erst dann die Mütze darüber. Am Ende stand sie etwas steif, wie die Mütze eines Bischofs, in die Höhe und die Bommel wirkte wie ein Schneeball, den man obenauf gelegt hatte. Aber, so entschied ich mit einem letzten Blick in den Spiegel, das würde den Kindern sicher nichts ausmachen. Sie würden sich über den Weihnachtsmann, den ich heute für sie spielte, genauso freuen, wie sich die Kinder früher über meinen Vater als Weihnachtsmann gefreut hatten. Hauptsache, Paul erkannte mich nicht.

Ich zog ein Paar Stiefel an, die ich nur selten trug, und lief mit schweren Schritten eine Runde durch die Wohnung. Auch der Gang konnte etwas sehr Verräterisches sein. Genauso wie die Hände. Deshalb nahm ich den schmalen goldenen Ring ab, den Daniel mir einmal geschenkt hatte, und legte ihn auf meinen Schreibtisch neben den Zettel, den ich ganz unten im Paket gefunden hatte. Es war eine lange Liste von Regeln, die ein Weihnachtsmann unbedingt beachten sollte. Mit seiner etwas steilen und dennoch schwungvollen Schrift hatte mein Vater sie für mich aufgeschrieben und als Erstes, vor allen anderen Dingen, in das Paket hineingelegt, weil er offenbar bezweifelte, dass seine Tochter, die seit ihrem letzten gemeinsamen Auftritt durch die ganze Welt gereist und, wie er fand, in der Fremde zu Hause war, sich noch daran erinnern würde. Aber da irrte er sich. Ich erinnerte mich sehr wohl. Doch das konnte er nicht wissen. Das hatte ich ihm nie erzählt.

Wenn man fortgeht, vergisst man nicht. Im Gegenteil. Als mir einmal in New York ein Weihnachtsmann auf der Straße begegnete, schaute ich sofort auf seine Hände. Hatte er den Ring abgenommen? Er hatte Handschuhe an. Vielleicht, weil ihm kalt war. Vielleicht aber auch, weil es jemanden gab, der ihm beigebracht hatte, auf keinen Fall die Handschuhe zu vergessen, wenn er nicht an seinen Händen erkannt werden wollte. Damals hätte ich meinen Vater gern angerufen, um ihm von der Begegnung mit dem anderen Weihnachtsmann zu erzählen, aber er mochte es nicht, wenn ich ihn von weit weg anrief, schon gar nicht zu Weihnachten. Er könne die Entfernung durchs Telefon hören, sagte er immer. Deshalb wusste er nicht, dass all die Dinge, die wir gemeinsam erlebt hatten, mit mir durch die Welt reisten. Ganz sicher brauchte man die kleinen Tricks, die verhinderten, dass man als Weihnachtsmann aufflog, nicht allzu oft. Genau genommen, hatte ich sie in den vergangenen Jahren nicht ein einziges Mal gebraucht. Trotzdem waren sie mir noch so vertraut wie die Schrift meines Vaters. Es war dieselbe Schrift, mit der er früher die Postkarten geschrieben hatte, die er mir ins Ferienlager schickte.

Auch jetzt rief ich ihn nicht an. Obwohl es viel einfacher gewesen wäre als damals in New York. Irgendwann hatte ich angefangen, ihm und meiner Mutter Briefe zu schreiben, weil er so ungern von mir aus der Ferne angerufen wurde. Ob er sie noch aufbewahrte, diese Briefe, so wie ich seine Postkarten? Ich hatte darin von meinem Leben in den fremden Städten erzählt, davon, wo ich arbeitete und was ich in der Zeit nach der Arbeit tat. Wie es sich anfühlte, so weit fort von zu Hause zu sein, erwähnte ich in den Briefen nicht. Denn dann hätte ich von den Menschen schreiben müssen, denen ich begegnete, von denen einige sogar meine Freunde wurden, die aber nichts wussten von unserem Leben in der DDR. Wenn sie mich fragten, wie es war when the wall came down, oder wissen wollten, wo ich in der Nacht des Mauerfalls gewesen war, und ich versuchte, es ihnen zu erklären, schauten sie mich ungläubig an. In ihrer Welt hatte es weder eine Mauer noch einen Mauerfall gegeben. Ich befürchtete wohl, mein Vater und meine Mutter könnten es für Heimweh halten, wenn ich das, was ich nach diesen Gesprächen empfand, für sie in Worte gefasst hätte. Und vielleicht hätten sie damit sogar recht gehabt. Aber es war ein Heimweh, das durch eine Heimkehr nicht zu lindern gewesen wäre.

Als ich Daniel kennenlernte, konnte ich aufhören, durch die Welt zu reisen. Von dem Ort, an dem ich aufgewachsen war und an dem meine Eltern immer noch wohnten, hatte ich mich da schon weiter entfernt, als sich in Kilometerzahlen ausdrücken ließe. „Heimat ist ein Raum aus Zeit“, hatte ich neulich auf einem Filmplakat gelesen. Nun, da mich der raue, etwas abgetragene Stoff umhüllte, rückten die Erinnerungen an diesen Raum wieder näher. Zum ersten Mal seit Langem.


Ein Krankenwagen fuhr mit heulender Sirene über die Danziger Straße, als ich vor unser Haus trat. Wir wohnten in einem Eckhaus, dessen eine Hälfte auf die Seite der großen, belebten Straße zeigte, während die andere, unsere Hälfte, in eine kleine Nebenstraße führte. Gewöhnlich nahm ich den Weg durch die Danziger Straße zum Kindergarten. Ich mochte die breiten Gehwege. Dicht an dicht reihten sich Kioske, Friseursalons und Imbisse und verbreiteten eine etwas raue, flüchtige Atmosphäre. Wenn ich den ganzen Tag allein am Schreibtisch gearbeitet hatte, tauchte ich gern in die Menschenmenge ein, die hier zu jeder Tageszeit unterwegs war. Jetzt aber wollte ich am liebsten niemandem begegnen.

Ich hatte mich an meine Verkleidung zwar schon fast gewöhnt, aber das hieß ja nicht, dass es den Menschen, die an mir vorübergehen würden, genauso ging. Ganz bestimmt würde ein Weihnachtsmann auf einer großen Berliner Straße einiges Aufsehen erregen. Zumal eine Woche vor Heiligabend. Die Menschen liebten Weihnachtsmänner. Andererseits neigten sie dazu, sich über sie lustig zu machen. Mein Vater hatte immer eine Antwort parat gehabt, wenn ihm Scherze zugerufen worden waren. Mir aber fehlte die Übung.

Ich blieb noch einen Moment vor der Tür unseres Hauses stehen und atmete tief ein und aus. Der Bart hob und senkte sich jedes Mal ein wenig. Und vor meinem Mund bildeten sich kleine Wölkchen, die hinauf in den grauen Winterhimmel stiegen. Der Himmel hat heute geschlossen, sagte Paul immer, wenn kein einziger Sonnenstrahl durch die Wolkendecke drang. Sicher wartete er schon. Genau wie die anderen Kinder. Nicht um mit mir Scherze zu treiben, so etwas käme Kindern nicht in den Sinn, sondern um sich von mir überraschen zu lassen. Noch einmal holte ich tief Luft, dann machte ich einen großen Schritt nach vorn, so als würde ich auf eine Bühne steigen, und lief mit dem schweren Gang, den ich in der Wohnung geübt hatte, unsere Straße hinunter.

Am späten Vormittag war hier kaum etwas los. Die wenigen Geschäfte hatten noch geschlossen, und die Geräusche, die mich gerade noch umgeben hatten, verloren sich allmählich im Hintergrund. An der nächsten Ecke bog ich rechts ab auf die Sredzkistraße, und nach einigen Metern auf dieser ebenfalls ruhigen, aber etwas gediegeneren Straße kamen mir zwei junge Frauen mit ihren Kinderwagen entgegen. Ich nickte leicht mit dem Kopf und grüßte in die Richtung ihrer offenbar schlafenden Babys. Eine der Frauen hatte beim Näherkommen ihr Telefon herausgeholt und ein Foto von mir gemacht. Ich blieb kurz stehen und drohte ihr scherzhaft mit dem Zeigefinder. Sie lachte hell auf. Dann liefen beide plaudernd an mir vorbei.

Neben uns auf der Straße hatte währenddessen ein Transporter von UPS gehalten, und als der Fahrer mich sah, tat er so, als würde er mir das Päckchen, das er gerade aus dem Frachtraum geholt hatte, zuwerfen wollen. Natürlich schnellten meine Hände unwillkürlich nach vorn, woraufhin er meinte, ich sei für mein Alter noch ganz gut in Schuss. Ich lachte mit verstellter, tieferer Stimme und fasste mich an den Rücken, als schmerzte es dort irgendwo. Es waren die Scherze, die ich erwartet hatte. Das Ganze begann mir ein bisschen Spaß zu machen. Schon von Weitem sah ich, dass Arthur, der freundliche Kioskbesitzer, bei dem ich immer meine Zeitung kaufte, hinter seiner Theke hervorgekommen war und den Kopf zur Tür herausstreckte. Ich strich mir über den Bart, um zu prüfen, ob er noch richtig saß.

„Hast du denn keine Geschenke dabei?“, rief er mir entgegen und trat vor die Tür seines Ladens. Da er mich offenbar nicht erkannte, blieb ich auf dem Gehweg stehen und antwortete ihm mit der Weihnachtsmannstimme meines Vaters: „Erst die Kinder, erst die Kinder, mein Lieber.“

„Aber wo hast du denn den Sack mit den Geschenken?“, ließ er nicht locker.

„Den habe ich mit UPS vorausgeschickt“, antwortete ich, nicht besonders originell, aber auf die Schnelle war mir nichts Besseres eingefallen. Schließlich konnte ich ihm nicht sagen, dass Pauls Erzieherin an der nächsten Ecke auf mich wartete, um mir heimlich den Sack mit den Geschenken für die Kinder zu übergeben. Wichtig war nur, dass man sich von unvorhergesehenen Fragen nicht aus der Fassung bringen ließ. Das hatte mein Vater ziemlich weit oben auf den Zettel mit den Weihnachtsmannregeln geschrieben. Für Arthur zumindest schienen damit aber alle Fragen, die er an den Weihnachtsmann hatte, beantwortet. Er wünschte mir einen guten Tag und bat mich, vorsichtig zu sein, es würde bald anfangen zu schneien und auf den Gehwegen glatt werden. Dann wandte er sich zur Tür, um zurück in seinen Laden zu gehen. Weil ich aber so erleichtert war, dass er mich nicht erkannte, und seine Fragen mich nur ein klein wenig aus der Fassung gebracht hatten, fragte ich ihn zum Abschied übermütig, ob denn die „Berliner Zeitung“ schon wieder ausverkauft sei? Verwundert drehte er sich noch einmal um und kniff die Augen zusammen, als wäre er kurzsichtig. Dann ging er in seinen Laden, kam mit einer Ausgabe der „Berliner Zeitung“ von heute zurück und überreichte sie mir mit den Worten: „Geschenkt, mein Lieber. Weihnachtsmänner müssen bei mir nicht bezahlen.“ Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. Schnell wandte ich mich zum Gehen und schwenkte zum Abschied die zusammengerollte Zeitung über meinem Kopf hin und her.

Der lange Glasbau des Kindergartens war schon zu sehen, als mir die Regel mit der Klingel einfiel. Mein Vater und ich hatten uns oft darüber gestritten, ob man als Weihnachtsmann klingelte oder an die Tür klopfte. Allerdings behauptete er immer, dass das nicht stimmte. So wie er immer behauptete, wir seien früher zum Gottesdienst gegangen, und ich ihm sagte, dass das nicht stimmte. Ich hatte als Kind nie neben meinem Vater in einer Kirchenbank gesessen. Wenn ich zu Weihnachten mit meiner Großmutter, seiner Mutter, aus der Kirche kam, wartete er zu Hause ungeduldig auf unsere Rückkehr. Zu behaupten, ich hätte ihm in Bezug auf die Klingel-Regel niemals widersprochen, war seine Art, die Dinge geradezurücken. Aber das war im Augenblick unwichtig. Niemand würde mich im Kindergarten hören, wenn ich im Erdgeschoss an die breite Glastür klopfte. Also würde ich die Klingel benutzen, meinem Vater später davon erzählen und vielleicht würden wir uns ein wenig darüber streiten.

Wie Arthur vorausgesagt hatte, begann es zu schneien. Nicht so große, flauschige Flocken, wie Kinder sie auf ihre Bilder malten, wenn sie Schnee zeichneten, sondern kleine Flöckchen. Rasch bildete sich eine hauchdünne pudrig-glitzernde Schicht auf dem roten Stoff des Weihnachtsmannkostüms. Langsam und etwas gebeugt ging ich auf das Gebäude des Kindergartens zu, damit es aussah, als wäre der Sack, den ich auf meinem Rücken trug, noch viel schwerer als er in Wirklichkeit schon war. Dann hob ich die Hand und grüßte zu den Fenstern hinauf, an denen die Kinder standen, um den Weihnachtsmann von Weitem näher kommen zu sehen. Ich entdeckte Paul zwischen ihnen. Aufgeregt hatte er seine Nase an die Scheibe gepresst. Genau wie ich, damals, als ich meinen Vater vom Fenster aus beobachtete, wie er über die verschneiten Wege unseres Viertels stapfte, und ich noch nicht wusste, dass er der Weihnachtsmann war.

Der Weihnachtsmann und ich

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