Читать книгу Auwald - Jana Volkmann - Страница 7

PROLOG

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Die feuchte Leere strich wie etwas Lebendiges über Judiths Rücken. Von außen wirkte der Tunnel reglos und stumm. Dabei hörte Judith ihn immer mehr, je länger sie darin saß. Manchmal huschte hinter ihr etwas durch die Schwärze, es ratterte und klapperte tief im Inneren, gluckste und gurgelte. Die Geräusche von außerhalb traten dagegen immer weiter in den Hintergrund, so dass sie sie kaum mehr wahrnahm, wenn sie sich nicht ganz darauf konzentrierte. Ihr war klar, dass dies nur ein zweitklassiges Versteck war. Ein Spürhund müsste mit seiner Nase nur einmal nah genug an den Tunneleingang kommen, und schon wäre ihre Tarnung in der Dunkelheit dahin.

Und sie hatten Hunde, jede Menge sogar. Judith hörte sie manchmal bellen, hörte die klaren, abgehackten Rufe ihrer Befehlshaber. Besonders weit weg klangen sie nicht, aber hier drinnen hörte sich ohnehin alles anders an, das Echo machte es schwer, Distanzen einzuschätzen. Nichts war mehr sicher, auf die Sinne am wenigsten Verlass. Kurz nachdem sie ihre Position gefunden hatte, gerade so tief in der Röhre, dass sie den Eingang noch klar im Blick hatte, tauchten zwei Menschenbeine vor dem Tunnel auf, liefen vorbei, kamen wieder zurück. Von den Steinwänden hallte ihr Herzschlag wider, zumindest kam es ihr so vor. Die Beine gehörten einem Mann, der nun in die Hocke ging, in den Tunnel hineinschaute, mit einer Taschenlampe um den Eingang herum leuchtete, als hätte er bloß seinen Autoschlüssel verloren. Judiths Blut rauschte in ihren Ohren. Der Schein der Taschenlampe kroch an der Tunnelwand entlang auf sie zu, dann ging das Licht aus, und die Menschenbeine liefen wieder davon.

Judith saß auf einem erhabenen Stein, hatte ihren Rucksack in eine etwas weniger feuchte Nische gequetscht und beobachtete, wie der helle Tunneleingang sich immer weniger vom dunklen Drinnen abhob. Eigentlich hatte sie vorgehabt, die Zeit zwischen Tag und Nacht für ihren Aufbruch zu nutzen, den Moment, in dem sich die Suchtrupps an neue Gegebenheiten anpassen mussten, Scheinwerfer aufstellten, sich für die Dunkelheit rüsteten, weil selbst an einem Tag wie diesem die Sonne ihren Gewohnheiten nachging. Aber dann zögerte sie so lange, dass der Augenblick verstrich und es richtig Nacht wurde. Selbst im Tunnel machte es einen Unterschied, wie spät es war; die nachtaktiven Tiere versetzten ihn in eine geschäftige Unruhe, vor lauter Zirpen und Schwirren vibrierte die Luft.

Sie griff in den Stoffbeutel, der noch immer über ihrer Schulter hing, und machte Inventur. Dreieinhalb Müsliriegel, eine Tüte Studentenfutter, eine beinah volle Flasche Wasser und eine Banane, die sie am Morgen noch in Wien eingepackt hatte. Sie entschied sich für die Banane. Beim Essen fiel ihr auf, wie hungrig sie war. Sie lauschte in sich hinein, ob da noch etwas anderes war. Erschöpfung, Furcht, Sehnsucht oder Reue. Nichts zu spüren, nur die Knie taten ihr etwas weh. Vorsichtig tastete sie sich ein Stück tiefer in den Tunnel, um eine neue Sitzgelegenheit zu finden. Statt zu schlafen, rief sie sich das letzte Bild vor Augen, das sie beim Einstieg in den Tunnel gesehen hatte. Hundert, vielleicht hundertfünfzig Meter weiter war die Brücke, gesichert mit Betonblockaden, auf der zig Polizisten standen und ins Wasser starrten, als würden sie fest damit rechnen, dass die verschwundene Fähre ganz von allein aus den Tiefen des Flusses auftauchen würde, wenn sie nur lang genug hinschauten. Wahrscheinlich wussten sie einfach nicht, wohin sie sonst gucken sollten. Am anderen Ufer gingen Taucher an Land, und dann waren da die Hubschrauber, die Drohnen. Zum Glück hatten sie alle etwas Besseres zu tun, als nach Einer zu suchen, die nach ein paar Stunden außerhalb der Zivilisation bereits wie eine Landstreicherin roch und bestimmt auch so aussah. Sie fühlte sich schon ganz verfilzt. Und was machte sie jetzt mit der Bananenschale: das Naheliegende. Sie verlor sie, ganz einfach war das hier drin.

Als ganz in der Nähe ein Hubschrauber rotierte und sie sich traute, im Lärm ihre Stimme auszuprobieren, fielen ihr zuerst keine richtigen Worte ein. Dann flüsterte sie ein paar Holznamen. Erle, Eibe, Douglastanne. Hier drin klang alles wie eine Zauberformel. Unter ihren Worten flirrte der Raum. Judith betrachtete den Eingang der Höhle, vor dem alles getan wurde, um die Nacht mit Hilfe von künstlichem Licht auszutricksen. Mal flackerte es, wurde heller und wieder dunkler, ging mal mehr ins Gelbe und mal mehr ins Blaue. In Wellen drangen Geräusche herein, die jetzt nicht länger als einzelne auszumachen waren, sondern wie ein Schwarm Insekten nur im Ganzen funktionierten. Offensichtlich waren die Suchtrupps noch immer nicht erfolgreich gewesen. Nicht einen Moment wollte Judith die Augen von dem runden Loch abwenden, ihrem einzigen Fixpunkt hier im Nichts. Wie viel Zeit verging, versuchte sie mit Hilfe der Geräusche abzuschätzen, je nachdem, ob sie Tagtiere oder Nachttiere hörte, aber je länger sie der Welt fernblieb, desto schwerer fiel es ihr, sich ein Urteil über sie zu machen. Außerdem konnte sie die Zeit anhand ihres Hungers und der verbleibenden Vorräte messen. Abgesehen vom Wasser würde alles noch eine ganze Weile reichen, sicherlich länger als notwendig. Aber sie sah sich einfach nicht die feuchten Wände ablecken oder aus den Lacken trinken, die sich zwischen den Steinen am Boden gesammelt hatten. Probehalber roch sie an den Steinen, aber sie hatte den Eindruck, davon würde sie eher krank werden, als dass sie ihren Durst daran stillen könnte. Zwischendurch dämmerte sie in einen immer schwerer werdenden Halbschlaf. Sie fürchtete schon fast nicht mehr, entdeckt zu werden. Es war noch ein paarmal vorgekommen, dass die ersten zehn, zwanzig Meter des Tunnels ausgeleuchtet wurden, zweimal kroch jemand ein Stück zu ihr hinein, so dass ihr die Silhouetten den Blick nach draußen verhingen und es noch dunkler war als zuvor, aber keiner aus der Rettungsmannschaft hatte seine Augen so an die Dunkelheit gewöhnt wie Judith. Beim ersten Mal wäre sie fast in Panik geraten, beim zweiten Mal war es nur noch aufregend. Sie musste sich bloß konzentrieren, schon wurde sie ein Teil der Leere, die sie umgab.

Als ihr klar wurde, dass sie so bald nicht ungesehen durch das Loch wieder nach draußen konnte, beschloss Judith eine Expedition ins Tunnelinnere zu machen, in der Hoffnung, dass der Schacht sie nicht geradewegs in die Arme anderer Patrouillen führen würde. Sie versuchte, sich die Landschaft wieder ins Gedächtnis zu rufen und sich vorzustellen, wohin der Weg führen, wo er enden könnte, aber es gelang ihr nicht, es konnte auf tausend Arten und in alle Richtungen weitergehen, nur nicht in die, aus der sie gekommen war. Sie zog den Rucksack auf und kroch hinab. Es wurde immer kälter, die Luft immer schlechter. Sie drehte sich alle paar Meter um und schaute in die Richtung, in der der Eingang lag, es half allerdings nichts, plötzlich war er weg. Sie hörte es tropfen und trappeln, als wäre der Tunnel selbst zum Leben erwacht. Die eine Hand tastete sich am moosigen Boden entlang, die andere streckte Judith in mutiger Zuversicht immer wieder voraus und unterdrückte den Impuls, etwas in die Leere zu rufen, ihren Namen oder einfach irgendetwas, um ihr Echo zu hören oder ein paar Tiere aufzuschrecken, die hier unten schon auf sie warteten, die Augen über Jahrhunderte an die Dunkelheit gewöhnt. Sie kroch und kroch. Wahrscheinlich gab es einige Kurven auf dem Weg, vielleicht musste sie auch ein Stück bergan zurücklegen, aber es ließ sich nicht mit Sicherheit sagen. Zuerst bemerkte sie überhaupt nicht, dass sich im Dunkeln ihre Hand abzeichnete und dass auch von den Wänden ein öliger Glanz zurückfiel. Als es ihr bewusst wurde, sah sie auch schon das andere Ende, die grüne Wiese dahinter, sorgsam durch ein Gitter in Planquadrate geteilt. Judith würde nicht umkehren, niemals, und einer flüchtigen Frau mit Werkzeugen im Rucksack stellte man sich ohnehin nicht einfach in den Weg. Bei näherem Hinsehen war das Gitter eine Gittertür mit einem Scharnier und etwas angerostet.

»Erle, Eibe, Douglastanne«, beschwor sie das Gitter. Das Echo ihrer Stimme trollte sich in die Höhle zurück. Mit einem fügsamen Knirschen ließ das Gitter sich öffnen und gewährte ihr den Weg nach draußen. Erstaunlich, wie schnell manche Gefängnisse einen gehen lassen. Sie kroch noch ein paar Meter, ehe ihr einfiel, dass sie sich jetzt wieder in die Länge strecken konnte. Sie lief in die offene Wiese hinein, dann ließ sie sich sinken, wärmte sich den Rücken am Boden und das Gesicht in der Sonne. Ihre Kleidung fühlte sich nicht mehr nur klamm an, sondern völlig durchnässt. Sie war ein Höhlentier geworden, eine Chimäre, der Rucksack ihr Schneckenhaus, Hose und T-Shirt ihr Exoskelett. Im Tageslicht kehrte sich die Metamorphose um und auf der Wiese wurde wieder ein Mensch aus ihr, welcher, wusste sie noch nicht. Nichts roch so gut wie diese Landschaft, die sich nicht darum scherte, dass sich ein paar hundert Meter weiter ein gewaltiger Riss in der Wirklichkeit offenbarte. Hier gab es niemanden, nur sie. Also gab es niemanden.

Auwald

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