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Ann überließ Walter den Wagen und ging den Weg hinauf zum Angestellteneingang. Innen stand die schale Hitze des Tages, es stank nach Messingaschenbechern, nach Schweiß und Schuhen. Aber die Angestellten der Nachtschicht, die sich um das Schwarze Brett drängten, vor der Stechuhr Schlange standen oder in den brüchigen Ledersesseln saßen, waren nach dem Tagschlaf ausgeruht, frisch rasiert oder geschminkt, in sauberen Hemden, gebügelten Hosen und auf Hochglanz gewichsten Stiefeln. Lärmendes Stimmengewirr, Geschichten aus der vergangenen Nacht, weil Samstag gewesen war; Erleichterung wegen der kommenden Nacht, weil Sonntag war. Gemeinsam entspannten sie sich, die Wechselmädchen, die Auszahler, die Kassiererinnen, die Spielhalter und die Abteilungsleiter.

»Wir sind wieder im Corral, Schätzchen!«, rief Silver Kay vom Cola-Automaten quer durch den Raum.

»Gott sei Dank nicht bei den Dollarautomaten«, sagte Ann, als sie sich zu Silver gesellte und einen Schluck von der Cola trank, die Silver ihr anbot.

»Für dich alles gut und schön. Du bist wieder auf der Rampe. Ich bin, verdammt, wieder unten.«

»Das magst du doch«, sagte Ann.

»Ich mag das. Ich mag das. Du bist nie unten.«

»Ich bin nicht groß genug«, sagte Ann.

»Das wäre kein Problem. Du bist bemerkenswert genug, Darling.«

»Danke«, sagte Ann und sah zu Silver auf, die in ihren hochhackigen Stiefeln über eins achtzig maß, fast ohne Hüften und mit unverschämtem Busen, ihr gebleichtes Haar fast so weiß wie der Zehn-Gallonen-Hut, der wie ein aufgehender Mond über ihren Schultern schwebte, »aber ich spiele nicht in deiner Liga.«

»Warum meldest du dich nicht an?«, schlug Silver vor. »Heute Nacht zu ermäßigten Preisen.«

»Tatsächlich?«

»Hm-hm.«

»Joe ist nicht da?«

»Und ich habe eine Flasche Scotch deiner Lieblingsmarke«, sagte Silver lächelnd.

»Vielleicht bin ich zu müde«, sagte Ann, aber sie spürte Silvers Augen von ihrem Hals bis zu ihren Schenkeln wandern – eine aufreizende und erlösende Verlockung. »Ich habe letzte Nacht wenig geschlafen.«

»Schlaf mit mir.«

»Gehst du runter in den Umkleideraum?«

»War ich schon.«

»Ich seh dich dann später«, sagte Ann.

Im Kellergeschoss traf sie Janet Hearle, die schon an dem offenen Spind stand, den sie gemeinsam benutzten.

»Ich war gerade oben im Lager und habe dir einen besseren Schurz mitgebracht«, sagte Janet. »Hier.«

»Danke. Wie ist die Lage?«

»Wir haben einen Termin für die Operation bekommen. Morgen in einer Woche.«

»Das sind gute Nachrichten«, erwiderte Ann. »Hast du dir schon freigenommen?«

»Meinst du, ich sollte fragen, Ann? Die könnten doch glatt sagen, ich bräuchte gar nicht wiederzukommen.«

»Aber du musst bei dem Baby sein«, protestierte Ann. »Frag Bill. Der wird das verstehen. Er setzt sich für dich ein.«

»Ich bin letzte Woche zweimal zu spät gekommen.«

»Dann bist du eben zu spät gekommen.«

»Ich kann es mir nicht leisten, den Job zu verlieren, Ann. Ich brauche das Geld. Und Ken kann sich freinehmen. Er hat das schon mit seinem Chef geregelt. Er kann zehn Tage freinehmen.«

»Zehn Tage sind doch nicht genug, oder?«

»Nein, aber dann wissen wir Bescheid. Wenn er dann noch lebt, wird er weiterleben.«

»Er wird leben«, sagte Ann.

»Dein Namensschild sitzt schief.« Janet löste das Plastikkärtchen: FRANK’S CLUB STELLT VOR (Bild eines Planwagens) ANN. Sie steckte es ordentlich über Anns linker Hemdtasche fest. »So.«

»Du siehst Bill doch heute Nacht. Fragen kostet nichts.«

Janet nickte unentschlossen. Sie schloss den Schrank ab. »Na, dann wollen wir mal.«

Ann hätte selbst mit Bill gesprochen, wenn es einfach nur die Beurlaubung gewesen wäre, die Janet schwanken ließ, aber zehn Tage nicht zu arbeiten, das bedeutete einen Verlust von rund hundert Dollar. Sie und Ken hatten die Operation vom letzten Jahr noch nicht abbezahlt. Sie kauften das Leben ihres Kindes auf Raten und hatten nicht einmal dreißig Tage Garantie. Ja, Frances hatte recht. Ann mochte das Glücksspiel nicht, aber die Leute, die ihm in FRANK’S CLUB frönten, waren wenigstens harmlos, auch wenn sie mehr verloren, als sie sich leisten konnten. Und schließlich kannten sie hier ihre Chancen. Große Schilder in den Waschräumen verkündeten: »Vergiss nicht: Wenn du lange genug spielst, verlierst du.« Und auf Handzetteln, die den Kunden gegeben wurden, wurden sorgfältig die Nachteile des jeweiligen Spiels erklärt. Natürlich war das alles PR, mit deren Hilfe das Establishment so tat, als sei dies nicht der TEMPEL DES MAMMONS in der Stadt von Dis. Trotzdem war es ehrliche Werbung. Keine Universität veröffentlichte die Chancen gegen das Lernen, kein Krankenhaus die Chancen gegen das Überleben, keine Kirche die Chancen gegen die Errettung der Seelen. Hier wenigstens wurden die Leute nicht für dumm verkauft. Man ließ sie wissen, dass niemand intelligent genug oder stark genug oder begnadet genug sei, um errettet zu werden. Dennoch spielten sie.

Als Ann und Janet den letzten Treppenabsatz erreichten, war ihnen der Weg von einer kleinen Gruppe von Angestellten versperrt, die beobachteten, wie Silver eine neue junge Frau einwies.

»Hör zu, Kindchen, in den Stockwerken ist es höllisch. Kannst alle fragen. Stimmt’s etwa nicht?« Mehrere nickten amüsiert. »Da wird’s zum Beispiel so voll, dass eine Frau, die ohnmächtig wurde, mit der Rolltreppe zwei Stockwerke runterfahren musste, ehe sie einen Platz zum Umkippen fand. Ich verkohle dich nicht! Verkohle ich sie etwa?« Die anderen schüttelten den Kopf. »Eines Samstagnachts halfen uns einige äußerst kooperative Gäste, zehn Betrunkene rauszuschleppen. Wir haben erst eine Stunde später bemerkt, dass diese zehn Betrunkenen Spielautomaten waren, gekleidet in Hut und Mantel. Trickreich, was? Aber worauf du wirklich scharf aufpassen musst, das sind die Taschendiebe. Und weißt du, wie du gehen musst, um Taschendiebe abzuschrecken?«

Die Neue schüttelte den Kopf. Sie sah Silver an und versuchte, ihre Ängstlichkeit hinter gelinder Skepsis zu verbergen.

»Du hakst deine Daumen so ein, siehst du?« Silver machte es vor, die Daumen in den Hosentaschen, die Hände auf den Hüftknochen. »Und setz die Ellenbogen ein, um sie zu verscheuchen.« Sie ging ein paar Schritte. »Nun du. Versuch’s.« Die junge Frau zögerte. »Na los! Du musst es lernen.«

»Sie hat recht«, sagte Ann. »Niemand könnte es dir besser beibringen. Silver war Taschendiebin, bevor sie herkam.«

»Nur als Hobby«, übertönte Silver das Gelächter, »nur als Hobby.«

»Und sie ist stolz auf ihren Amateurstatus, denn nächstes Jahr geht sie zu den Olympischen Winterspielen.«

»Ann?«

Ann drehte sich um und sah Bill hinter sich stehen. »Ja, Bill.«

»Ich möchte, dass du die Neue heute Nacht mitnimmst.«

»Das habe ich gern!«, sagte Silver. »Hier stehe ich und biete freiwillig meine langjährige Erfahrung … aber du bist in guten Händen, Herzchen. Ann wird sich gut um dich kümmern.«

»Das ist Joyce, Ann«, sagte Bill. »Ihre Sachen hat sie alle. Ihre Karte ist abgestempelt. Ann zeigt dir genau, was du zu tun hast, Joyce. Und ich komme später vorbei, um zu sehen, wie’s dir geht.«

Joyce, vorerst gerettet aus der alles überragenden Burleske Silvers, wandte sich dankbar und erleichtert der schutzbietenden männlichen Stattlichkeit Bills zu. Und da sie offensichtlich nicht wollte, dass er sie verließ, begleitete er Ann und Joyce den Flur entlang.

»Du darfst dich von Silver nicht verschrecken lassen«, sagte er. »Es ist nicht schwer. Ann wird’s dir zeigen …«

Als er Anns Namen aussprach, hatte er nicht vorgehabt, seine Gefühle, wie schon so oft, öffentlich kundzutun, aber er konnte nicht anders. Ann wich ein wenig aus, um außer Reichweite seiner Zärtlichkeit zu sein, die ihr jetzt, da sie sie nicht mehr ertragen konnte, unter die Haut ging wie Schmerz oder gar wie Angst.

Als sie zur Tür kamen, blieb Bill stehen und drehte sich zu Ann um. »Ich habe mein Hauptbuch vergessen«, sagte er. »Bis später.«

»Ist er verheiratet?«, fragte Joyce.

»Nein«, erwiderte Ann.

Sie stemmte sich gegen die Tür, stieß vor in die kalte klimatisierte Luft, in das Scheppern und Schleifen der Spielautomaten, die durch Lautsprecher verstärkten Stimmen der Spielhalter, die gedämpften Menschenmassen. Sie nahm Joyce beim Arm und führte sie durch den Irrgarten von Automaten und Spieltischen zur Rolltreppe, auf der sie, neben einem halben Dutzend anderer Leute, zum ersten Stock hinauffuhren. Dort war es nicht so voll, aber der Krach war maßlos.

»Hast du schon irgendetwas davon gelesen?«, fragte Ann und deutete mit dem Kopf auf die fotokopierten Blätter und das Buch in Joyces Hand. »Ich meine nicht Wie man Freunde und Einfluss auf Menschen gewinnt. Das einzig Wichtige an diesem Buch ist, dass der alte Hiram O. Dicks meint, er sehe aus wie Dale Carnegie. Also, wenn du ihm mal zufällig über den Weg läufst – in Wirklichkeit sieht er aus wie einer der Hausmeister –, dann sag ihm, wie gern du sein Buch gelesen hast und wie sehr es dir bei deiner Arbeit geholfen hat. Aber das andere Zeug ist wichtig.«

»Ich hatte noch keine Zeit«, gestand Joyce. »Ich habe gerade mit diesem angefangen.«

Ann sah auf den ersten Absatz:

Hallo! Willkommen in FRANK’S CLUB. Vielleicht fühlst Du Dich gerade jetzt ein bisschen unwohl, wenn Du Dich umsiehst und begreifst, dass Du Mitglied der berühmten Familie von FRANK’S CLUB bist. Ja, Du bist ein Greenhorn im Corral, und Du weißt nicht GENAU, was man von Dir erwartet. Nur nicht nervös werden. Locker bleiben. Alle um Dich herum sind Mitglieder Deiner Familie, bereit, Dich einzuarbeiten. Und jeder von ihnen war selbst mal ein Greenhorn. Denk daran, sie alle haben ihren ersten Tag durchgemacht …

»Na ja«, sagte Ann, »wenn du mit dem Mist durch bist – in dem da stehen Dinge, die du wissen musst. Nun geh rauf in den nächsten Stock. Trink eine Tasse Kaffee. Und lies etwas von dem Zeug. Komm in einer halben Stunde wieder runter. Ich bin gleich da drüben. Dann checke ich dich ein.«

»Wo?«

»Gleich da drüben, bei den Wagen. Wenn du dich verläufst, kannst du jeden nach dem Corral fragen.«

Am Kassenschalter bat Ann um den Schlüssel für ihr Schließfach im ersten Stock, wo sie ihre Handtasche wegschließen konnte. Als der Schlüssel an ihrem Hemd genau unter ihrem Namensschild befestigt war, der grüne Wechselschurz hoch um ihren Brustkorb geschnallt und der Münzspender an seinem Platz eingehakt war, ging Ann zurück zum Kassenschalter, um ihr Geld zu holen. Janet war schon da.

»Fünfhundert heute Nacht«, sagte die Kassiererin und schob jeder den vorbereiteten Stapel, den Auszahlungsbeleg und eine Gratispackung Zigaretten zu. »Wie geht’s dem Kleinen?«

»In einer Woche kommt er ins Krankenhaus«, sagte Janet, die das Geld sorgfältig zählte, bevor sie den Schurz damit belud.

»San Francisco?«

»Ja.«

»Na, dort ist er bestens aufgehoben. Ich habe gehört, du hattest letzte Nacht mit meiner Mutter zu kämpfen, Ann?«

»Stimmt«, sagte Ann. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie es von sich aus erzählen würde.«

»Sie fand es lustig. Sie sagt immer: ›Wenn ich getankt habe, bleibe ich in Anns Nähe. Sie bringt Pech wie die Hölle, aber sie hält mich aus allem Ärger raus!‹«

Ann lächelte. Sie hatte ihr Geld gezählt und unterschrieb ihren Auszahlungsbeleg. »In ungefähr einer halben Stunde bin ich wieder da, um eine Neue einzuchecken. Okay?«

»Klar.«

Silver trat an den Kassenschalter, als Ann und Janet gerade losgehen wollten.

»Na, du wirst die Zeit heute Nacht ja angenehm verbringen«, sagte sie zu Ann.

»Ich brauche die Neue nicht. Ich wünschte, Bill hätte sie dir gegeben.«

»Aber sie braucht dich, Darling. Entspann dich und genieße sie.« Silver griff nach dem Schlüssel, den die Kassiererin ihr hinhielt. »Wehe, du gibst mir das unterste Fach, dann …« Ann zog Janet außer Hörweite dessen, was sich zu einer von Silvers plastischen Verwünschungen auswachsen würde.

»Also echt«, sagte Janet, »es wundert mich nicht, dass sie sie von den Spieltischen abgezogen haben. Sie gehört gefeuert.«

»O nein. Silver ist in Ordnung.«

»Sie ist vulgär.«

»Sicher.«

»Ann, warum lässt du es zu, dass sie immer diese Bemerkungen macht?«

»Was für Bemerkungen?«

»Sie hat’s immer mit dir … macht Andeutungen.«

»Das hier ist kein kirchliches Nähkränzchen, Janet. Es ist ein Spielcasino.«

»Schon, aber es gibt auch ein paar anständige Leute hier. Dich zum Beispiel.«

»Weil ich ein begrenztes Analvokabular habe? Scheiße«, sagte Ann sanft und grinste. »Ich mag Silver.«

Janet lächelte widerwillig und schüttelte den Kopf. »In Ordnung. Ich bin eben prüde. Ich weiß. Ich mag sie nicht. Ich mag sie überhaupt nicht.«

Natürlich nicht. Janet war mit einem Dozenten eines kleinen, abgelegenen College gleich hinter der Grenze zu Kalifornien verheiratet. Nirgends wurde Anstand mehr honoriert und hochgehalten als auf diesen kleinen Außenposten der Kultur, die auf den Ruinen alter Goldgräberstädte in den rauen, wilden Bergen errichtet worden waren. Die einzige Art und Weise, wie Janet die Demütigungen dieses Jobs ertragen konnte, war zu leiden; sie erlitt nicht nur die Neunzigmeilenfahrt durch die leere Wüste, das Fünfzigpfundgewicht, das sie jede Nacht acht Stunden lang quer über dem Bauch trug, und den Mangel an Schlaf, sondern sie litt auch unter der Welt des Clubs, unter deren ganzer Korruptheit, und das mit märtyrerhafter Entrüstung. Ann war ihre einzige Freundin, aber auch unter Ann litt sie, da sie sich nicht einmal so viel von Anns Gesellschaft gönnte, wie es braucht, um an der Bar ein Glas Tomatensaft zu trinken. Natürlich hasste sie Silver, die in Virginia City ein Bordell geführt hatte und zu sagen pflegte: »Ich wurde vor lauter Verwaltung ganz krank. Ich hatte jeden Kontakt zu den Leuten verloren.« Aber Silver war gegenüber Janets Missbilligung genauso empfindlich wie Janet gegenüber Silvers Vulgarität. Dennoch, Silver bewunderte Janet, vielleicht liebte sie sie sogar mit ihrer derben Sentimentalität für alles Leiden. Alles, was Silver dachte oder fühlte oder sagte, war derb, und sie wusste es. Daher war sie sich selbst gegenüber von hilfloser Nachsichtigkeit, die wiederum auf Anns Einstellung ihr gegenüber abgefärbt hatte.

Janet und Ann trennten sich, um auf den ihnen zugewiesenen Rampen ihre Posten einzunehmen.

»Wie war’s?«, fragte Ann die Frau, die sie ablöste.

»Mäßig«, antwortete diese, als sie herunterkam. »Ich hätte nicht gern jeden Tag Samstag, aber acht Stunden sind verteufelt langweilig, wenn nichts los ist. Ich würde lieber unten arbeiten.«

»Wie lange ist der schon hier?« Ann wies mit dem Kopf auf einen einzelnen Spieler in der Nähe, einen jungen Mann, der an drei Vierteldollarautomaten gleichzeitig spielte.

»Der? Drei Stunden vielleicht.«

»Wie viel hat er verloren?«

»Oh, der hat ’ne Menge Geld. Er hat ein paar Fünfziger gewechselt, seit er hier ist. Aber er gibt kein Trinkgeld. Sagt auch nichts. Echt freundlich.«

Ann stieg, auf die Pendelbewegungen ihres gewichtigen Schurzes achtend, auf die Rampe hinauf. »Denk dran, sie alle haben ihren ersten Tag durchgemacht …« Niemand hatte Ann an ihrem ersten Tag gesagt, dass eine schnelle Bewegung mit dem pendelnden Gewicht von fünfzig Pfund einen umreißen konnte. Nur ein Spielautomat hatte sie gerettet. Und noch Wochen danach hatte sie Alpträume gehabt: In einem prasselnden Platzregen von sechshundert Dollar Wechselgeld stürzte sie die Rolltreppe hinunter auf einen Abteilungsleiter (Bill?) zu, der unten stand und mit ihrem Auszahlungsbeleg wedelte. Hatte dieser Angsttraum mehr Bedeutung, als sie gedacht hatte? Oder war er ein Vorzeichen?

Ann schaute auf den jungen Mann hinunter, der seine Hand hochhielt, aber nicht aufblickte. Mit seiner freien Hand spielte er an zwei der drei Automaten weiter. Ann ging zu ihm und beugte sich zu dem Spielautomaten hinunter, um den Gewinnanzeiger und die Nummer zu kontrollieren. Dann ging sie zur Mitte der Rampe zurück, griff nach dem Mikrofon und rief den Jackpot an die Zentrale aus. Während sie sprach, hörte sie über die Lautsprecher ihre Stimme, losgelöst von ihr, laut über dem allgemeinen Krach. Ein Auszahler kam. Ann fungierte als Zeugin.

»Möchten Sie noch weiterspielen, Sir?«

Der junge Mann, der immer noch keinen von beiden ansah, stopfte sich die Banknoten in die Tasche, steckte einen Vierteldollar in die Glücksmaschine und nahm den alten Rhythmus seines Spiels wieder auf.

»Man könnte meinen, er kriegt dafür bezahlt, wie er da rangeht«, sagte der Auszahler zu Ann.

»Vielleicht sieht er das so.«

»Vielleicht.«

Wieder allein, lehnte Ann sich gegen einen Spielautomaten, um ihren Rücken zu entlasten. Über den jungen Mann hinweg blickte sie auf die Gewehre, die an der Wand entlang aufgehängt waren, ausrangierte Gewalttätigkeit einer anderen Zeit. Die Waffen interessierten sie nicht an sich, nur als Formen; aber bei anderen, die sie oft intensiv betrachteten, hatte Ann Nostalgie, Besitzgier und Ehrfurcht entdeckt und diese Reaktionen in ihren Zeichnungen als Haltungen von Körpern fixiert, die in fremdartigen Kleidern stecken. Manchmal hörte sie zufällig Bemerkungen zwischen Touristenehemännern und -ehefrauen mit an, die Freud Vergnügen bereitet hätten und die ihr später wieder einfielen. Sie waren zu Titeln von zwei oder drei erfolgreichen Cartoons geworden, die Ann an die Saturday Evening Post verkauft hatte. Jetzt aber, ohne Betrachter, bot die Wand ein sinnleeres Muster. Ihre Augen glitten weiter, nur um sich plötzlich in einem Deckenspiegel zu fangen. Da war ihr eigenes Gesicht, losgelöst von ihr, aber nicht größer, wie vorher ihre Stimme lauter, sondern verkleinert. Was für eine Gewissensprüfung war dieser Spiegel, denn hinter ihm konnte sich zu jeder Zeit das unbekannte Gesicht eines Sicherheitsbeauftragten befinden, lauernd und urteilend, und doch konnte man ihn nicht sehen. Du kannst nicht hinter dein eigenes verkleinertes Spiegelbild gelangen. »Ich sehe aus wie Evelyn Hall«, dachte Ann, »und was heißt das?«

»Ich bin fertig.«

Ann fuhr zusammen, verlegen. »Gut. Ich weise dich jetzt ein.« Sie gab Janet ein Zeichen, ihre Rampe ein paar Minuten mit im Auge zu behalten, und führte Joyce zur Kasse. »Einiges von den Hinweisen gelesen?«

»Das ist so viel«, klagte Joyce, »das behalte ich nie.«

»Ich gebe ihr nur dreihundert für heute«, sagte die Kassiererin. »Nun zähl es, Kleine. Unterschreibe nie einen Beleg, ohne nachgezählt zu haben.«

»Was passiert, wenn ich was davon verliere?«, fragte Joyce.

»Nichts«, sagte Ann, »wenn’s mehr als zehn Dollar sind, muss der Abteilungsleiter das abzeichnen, aber du musst es nicht ersetzen.«

»Und das ist Bill?«

»Solange du auf diesem Stockwerk arbeitest«, antwortete Ann.

»Bleibe ich nicht in diesem Stock?«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«

»Zähl dein Geld«, sagte die Kassiererin.

Joyce passte die Anweisung nicht, aber sie gehorchte. Ann tat sie leid. Sie war die Art von Mädchen, die nicht lernen würde, den Kassiererinnen den Respekt zu zollen, den sie verlangten. Im Gegenzug würden sie ihr die Arbeit unmöglich machen. Sie würde immer das unterste Schließfach erhalten. Sie würde auf das Wechselgeld warten müssen. Und sie würde beim Ein- und Auschecken immer die Letzte sein. Wenn sie mit ihrer Arbeit zurücklag, würde sie von den anderen Wechselmädchen kritisiert werden. Die Auszahler würden ihre Jackpots mit Verzögerung bedienen. Die Kunden würden sich beschweren. Ann beobachtete, wie sie ihr Geld nachzählte, und gab ihr einen Monat, bevor sie aufgeben oder gefeuert werden würde.

Als sie zur Rampe zurückkamen, standen zwei oder drei Kunden bei dem jungen Mann, der sie genauso wenig beachtete, wie er Ann beachtet hatte.

»Wie alt, glaubst du, ist Bill?«

»Die Lady da drüben will Wechselgeld.«

Joyce war unbeholfen und unaufmerksam. Zweimal gab sie dem jungen Mann Fünf-Cent-Stücke statt Vierteldollars. Sie konnte keine Automatennummern behalten und rief daher der Zentrale falsche Jackpots aus. Aber sie mochte das Mikrofon. Es erinnerte sie an einen Film, in dem eine junge Frau die Züge ansagte und ein junger Mann ihre Stimme hörte, sie nicht vergessen konnte und einfach zum Bahnhof zurückging und die ganze Zeit zuhörte und sich vorzustellen suchte, wie sie wohl aussähe. Als Joyce das vierte Mal einen Jackpot ausrief, wurde ein Auszahler heruntergeschickt, um sie zurechtzuweisen.

»Hör mal, Kleine, du machst hier keine Mitternachtsshow. Du sollst nicht flüstern. Sprich laut. Und sag das nächste Mal die richtige Nummer.«

»Was ist denn mit dem los?«, fragte Joyce.

Der ältliche Herr, der den Jackpot hatte, kniff Joyce in den Schenkel, zwinkerte ihr zu und gab ihr fünf Dollar. Sie entblößte ihre Zähne für ihn und ließ die Banknote in die Tasche gleiten.

»Hol sie wieder raus«, sagte Ann leise.

»Was?«

»Die fünf Dollar. Die musst du bei der Kassiererin abgeben. Die teilt die Trinkgelder am Ende der Schicht auf.«

»Na, glaubst du nicht, dass ich die verdient habe?«, fragte Joyce und musterte Ann. »Warum nicht einfach nur mit dir teilen?«

»Hör mal«, sagte Ann, »siehst du nicht die Spiegel? Hinter jedem von ihnen könnte ein Sicherheitsbeauftragter sein, der dich beobachtet. Wirst du jemals dabei erwischt, wie du Geld in deine eigene Tasche steckst, lassen sie dir nicht mal Zeit, irgendwas zu erklären. Du bist draußen, und das war’s dann. Und du kriegst für keinen anderen Job in der Stadt eine polizeiliche Arbeitserlaubnis.«

»Ganz schön hart, was?«

»Geh und bring den Fünfer zur Kasse«, sagte Ann.

»Wie du willst.«

Als die Ablösung für Anns halbstündige Pause kam, sehnte sich Ann nach ein paar Minuten für sich allein, aber sie nahm Joyce mit. Joyce hatte solche Mühe, den Wechselschurz abzulegen und im Schließfach zu verstauen, dass sie nur für eine schnelle Cola in der Bar Zeit hatten, bevor sie zur Arbeit zurück mussten.

»Eine halbe Stunde!«, sagte Joyce. »Wohl eher nur zehn Minuten!« Sie kämpfte mit dem Gewicht des widerspenstigen Schurzes, während Ann den ihren anlegte. »Es sieht so leicht aus, wie du das machst.«

»Man braucht Übung. Hier. Dreh dich um und lehn dich gegen den Schrank. Zuerst einmal sitzt er bei dir zu tief.«

»Zu tief? Wo soll ich ihn denn tragen, um den Hals etwa?«

»Er rutscht runter. Du kannst keine fünfzig Pfund auf den Nieren tragen.« Sie hob den Schurz an, ihre Hände streiften die unteren Rundungen von Joyces vollen Brüsten. Sie schnallte den oberen Riemen um ihren schmalen, zerbrechlichen Brustkasten. Dieses Gewicht zu tragen, war Joyce nicht gebaut. »Okay, versuche nun, den unteren selbst festzumachen.«

Als Joyce sich umdrehte, sah Ann die feuchten Haare an ihren Schläfen, ihr weißes Gesicht.

»Setz dich hin! Setz dich auf den Boden!« Joyce gehorchte ihr sofort. »Leg den Kopf auf die Knie!« Ann sah auf sie nieder. Nach einem Augenblick hob Joyce den Kopf. »Besser?«

»Ja. Woher wusstest du?«

»Die erste Nacht ist immer hart.« Aber wenn sie so hart ankam, wurde die Neue gewöhnlich entlassen. Joyce sah wieder besser aus. Sollte Ann es riskieren, sie wieder mit auf die Rampe zu nehmen? Wie dringend brauchte sie den Job? »Komm. Es wird schon gehen.«

Ihre Abteilung war jetzt stärker bevölkert. Der junge Mann musste seine Spielautomaten vor Touristen beschützen, die nicht wussten, dass es nach der Spieletikette ein größerer Affront war, Hand an eines Mannes Automaten zu legen, als an seine Frau. Ann war dankbar, dass sie Joyce ständig beschäftigt halten konnte. Solange sie etwas zu tun hatte, würde sie sich nicht selbst bedauern. Aber Ann, die sich zurückhielt, um Joyce arbeiten zu lassen, hatte Zeit, etwas zu bedauern. Herausforderndes Benehmen und Zickigkeit waren verflogen. Joyce war zu schäbig aussehenden Großmüttern genauso zuvorkommend wie zu reichen Geschäftsmännern. Anstatt zu schwatzen, hörte sie mit verzweifelter Ausdauer Anns Anweisungen zu. Ann beobachtete sie mit wachsendem Respekt. Joyce hatte nicht nur Angst, dass ihr schlecht werden könnte. Sie war entschlossen, sich nicht zu blamieren. Aber sie war kalkweiß. Und es war Ann, die Bill in ihre Abteilung kommen und ihr ein Zeichen geben sah, von der Rampe herunterzukommen.

»Ann«, sagte Joyce, als sie ihn auch gesehen hatte, »sag ihm nichts, bitte. Mir geht’s jetzt wieder gut. Ehrlich.«

»Ich sage ihm nichts«, sagte Ann. »Ich bin gleich zurück.«

»Wie macht sie sich?«, fragte Bill.

»Gut.«

»Da gab’s ein paar Klagen, oben in der Zentrale.«

»Nur anfangs«, antwortete Ann, »jetzt nicht mehr. Sie wird’s schaffen. Sie ist schnell.«

»Was macht ihr Rücken?«

»Bringt sie um, möchte ich meinen, aber sie hat sich nicht beklagt.«

»Sie sieht ziemlich blass aus«, sagte Bill. »Und sie ist nicht dafür gebaut. Ich habe überlegt, ob ich sie nicht für eine Weile in den Fahrstühlen einsetze.«

»Nun, tu es nicht, bevor du sie nicht überzeugt hast, dass es ein besserer Job ist.«

»In Ordnung. Ich lasse sie eine Woche bei dir«, sagte Bill. »Aber für diese Nacht hat sie genug. Ich werde sie auschecken.«

»Okay.« Ann wandte sich ab, um ihren Posten wieder einzunehmen.

»Ann?« Sie sah zu ihm zurück. »Wie wär’s nachher mit einem Drink?«

»Danke. Aber ich habe Silver gesagt, ich käme mit zu ihr. Joe ist heute Nacht weg.«

»Ich könnte dich dort später absetzen.«

»Sie möchte Gesellschaft haben, Bill.«

»Sicher, natürlich«, erwiderte er schnell. »Gut, schick Joyce zu mir runter, ja?«

»Trotzdem danke.«

»Ein andermal«, sagte Bill.

Er war verärgert. Es war das dritte Mal in zwei Wochen, dass Ann ihn abgewiesen hatte, aber sie hatte keine andere Wahl. Sie hatten bereits versucht, zu ihrer alten Freundschaft zurückzufinden, aber es ging nicht. Unbeholfene Höflichkeit ging über in Auseinandersetzung, Auseinandersetzung in Gefühlsausbruch, und dann waren sie wieder in dem vertrauten Bett, wieder mit einem weiteren unmöglichen Morgen konfrontiert. »Wenn du unbedingt eine Ehefrau willst«, hatte sie zu ihm gesagt, »dann geh auf Ehefrauenjagd.« Aber Bill erkannte jagdbares Wild nicht, wenn er es sah. Wenn die Wälder auch nicht voller Jungfrauen waren, so gab es zumindest eine Anzahl erkennbarer Liebhaberinnen. Aber Bill wechselte von Huren zu Homosexuellen und wieder zurück zu Ann. Er war außerstande, eine Frau zu verstehen, die nicht heiraten wollte, die den Mann nicht heiraten wollte, den sie liebte. Und Ann liebte ihn. Und nun wollte sie sich nicht mit ihm treffen. Natürlich war er verärgert.

»Was hat er gesagt?«, fragte Joyce.

»Er sagt, dass du für die erste Nacht lange genug gearbeitet hast.«

»Du hast es ihm gesagt.«

»Nein, ehrlich nicht«, erwiderte Ann. »Niemand arbeitet in den ersten Nächten die volle Schicht. Er möchte dich jetzt sehen. Mach Schluss. Wir sehen uns morgen Abend.«

Joyce zögerte, hin- und hergerissen zwischen Stolz und Erleichterung. Als Bill selbst ihr ein Zeichen gab, ging sie zu ihm. Ann beobachtete sie, als sie beieinander standen und redeten. In Bills Gegenwart kehrte die Farbe in Joyces Gesicht zurück und mit ihrer Farbe ihr Selbstvertrauen. Es gab Gewichte, die ihr Rücken aushalten konnte. Bill sah auf. Ann wandte sich ab, ihre Handflächen schmerzten.

Um zwei Uhr waren wieder nur sehr wenige Leute in Anns Abteilung, der junge Mann, ein Paar mittleren Alters und einige College-Schüler mit gefälschten Personalpapieren. Ein halbes Dutzend alter Männer hatte seine nächtliche Runde begonnen. Zwei taten so, als inspizierten sie die Gewehrsammlung, aber die anderen suchten ungeniert den Boden nach heruntergefallenen Münzen ab, so offen wie Hühner die Tenne nach Körnern. Halb verhungert, vor Alkoholmangel zitternd, sammelten sie die Zehn- und Fünf-Cent-Münzen auf, jedoch nicht für Essen und Trinken. Jede Münze trug dazu bei, dass sie sich volllaufen lassen konnten, um früher oder später in der Flut vager Träume von Reichtum zu versinken.

Ann erblickte Walt, als er durch die Tür neben der Kasse kam.

»Hi. War’s schön?«

»Wunderbar«, sagte er. »Wir sind zum Pyramid Lake rausgefahren und waren schwimmen. Und wie war’s bei dir?«

»Es war genug los, jetzt klingt es allmählich ab.«

»Ist deine letzte Pause schon vorbei?«

»Ja. Ich bin gerade zurück. Ich glaube, ich komme heute Nacht nicht nach Hause, Walt. Joe ist weg. Silver hat eine Flasche Scotch besorgt.«

»Wie du willst«, sagte Walter, wobei er überlegte, ob er Enttäuschung oder Missbilligung empfand. »Was soll ich mit dem Wagen machen?«

»Fahr damit nach Hause. Silver setzt mich morgen ab.«

Ann hätte ihn gern für ein paar Minuten bei sich gehabt, um die Zeit herumzubringen, aber sie sagte es nicht. Schon jetzt würde er nicht vor drei ins Bett kommen, und er musste um halb acht aufstehen. Frances hatte es aufgegeben, sie beide zu schelten, weil sie sich so oft die Nacht um die Ohren schlugen, aber ihr Schweigen oder ihre gezwungene Heiterkeit waren Ann unangenehm. Sie wollte lieber nicht für alle schlechten Angewohnheiten Walters verantwortlich erscheinen.

»Wechselgeld!«

Ann nahm die letzten fünf Dollar des jungen Mannes und gab ihm eine kurze Rolle Vierteldollars. Er hatte in elf Stunden genau dreihundert Dollar verloren. Beim Roulette hätte er dafür nicht so hart arbeiten müssen. Ann lehnte sich gegen einen Spielautomaten und beobachtete ihn dabei, wie er die letzte langsame Figur seines Tanzes ausführte. In zehn Minuten waren seine Hände und Taschen leer. Einen Augenblick lang stand er da, ruhte aus. Dann sah er auf die Automaten, auf die Schüler, auf die Gewehre, auf Ann, sein Gesicht war blass und friedlich, als sei er gerade aus langem Schlaf erwacht. Er reckte sich, gähnte, wandte sich um und war fort.

Die Schüler drifteten in eine andere Abteilung, und Ann war allein. Langsam begann sie, ihren Münzspender zu entleeren, um die Münzen zu zählen und einzurollen. Walter war jetzt wohl zu Hause, saß allein in der Küche. Und Ann wünschte halb, sie hätte ihn gebeten zu warten. Sie war unruhig und deprimiert, es widerstrebte ihr, mit irgendjemandem zusammen zu sein, aber in ihrem eigenen Zimmer, oben unterm Dach, würde es heiß sein, zu heiß zum Schlafen, und sie wäre dann am folgenden Tag nicht in der Stimmung zu arbeiten. Schon seit Monaten hatte sie keine Zeichnung mehr zustande gebracht, mit der sie zufrieden war.

Allmählich kamen die Frauen der Friedhofsschicht an der Kasse an. Die junge Frau, die Janet ablöste, war zehn Minuten früher oben gewesen, und Janet hatte schon ausgecheckt, bevor Ann und Silver an der Kasse ankamen. Janet passierte sie immer als Erste. Sie hatte eine Heimfahrt von neunzig Meilen vor sich, danach nur ein paar Stunden Schlaf, bevor das Baby wach wurde und Ken für seinen Sommerjob aufstand.

»Eine wahrhaft aufregende Nacht heute, nicht?«, sagte Silver. »Mein packendstes Erlebnis war eine alte Lady mit schwachen Nieren. Sie hat sich dreimal in die Hose gemacht – und das nicht mal bei Jackpots. Bei achtzehn Fünf-Cent-Stücken macht sie sich in die Hose. Glücklicherweise bin ich hart im Nehmen. Andere Leute, die ich kenne, wären genervt gewesen.«

Ann stand neben ihr und stapelte sorgfältig die letzten Münzen des Wechselgeldes. Nur zwanzig Cents fehlten heute Nacht. Sie überlegte, wie es wohl Joyce ergangen sein mochte.

»Ich habe zehn Cents zu viel«, verkündete Silver. »Dann lass uns mal sehen: Wer könnte um drei Uhr früh in der Stadt umherirren, ohne genügend Geld fürs Klo?«

»Du hast heute Nacht nur Nieren im Kopf«, sagte die Kassiererin müde und geplagt.

»Irrtum, meine Liebe«, sagte Silver. »Die stehen für was anderes.« Sie langte nach ihrem Beleg. »Fertig?«

»Ja«, sagte Ann.

Während sie auf dem Weg nach unten den Club durchquerten, begrüßte Silver die Spielhalter mit lauten Rufen, Ann nickte und lächelte anderen Angestellten und Kunden zu. Als sie auf den Gang hinaustraten, rissen Hitze und Stille sie unvermittelt aus dem hellen, zeitlosen Chaos des Clubs heraus. Sie waren allein miteinander.

»Was ist, Liebes«, sagte Silver weich, »kommst du mit mir nach Hause heute Nacht?«

»Ja«, sagte Ann. »Ja, ich denke schon.«

Sie gingen den Gang hinunter, um ihre Hüte, die Schurze und Münzspender einzuschließen. Sie standen hintereinander an der Stechuhr. Anns Karte zeigte 3:11 Uhr.

»Nicht schlecht«, sagte Ann.

»Ganz und gar nicht. Mein Auto steht da drüben.«

Ann hatte Silvers Haus wochenlang nicht betreten. Sie gingen durch die Hintertür in die Küche, die Silver »Secondhand Geräte & Sohn« nannte. Und sie hätte wirklich Eindruck machen können, wäre da nicht zumindest immer eine aufgerissene Ecke gewesen, um schon den nächsten letzten Schrei der Kücheneinrichtung zu installieren. Silver wechselte Herde und Kühlschränke, Tiefkühltruhen und Geschirrspüler wie manche Männer ihre Autos. Wenn sie keinen noch perfektionierteren Kühlschrank finden konnte, einen, der sowohl Saft pressen als auch Eis machen konnte, dann beschloss sie, die Farbzusammenstellung zu ändern. Dann hatte die gesamte blaugrüne Ausstattung zu verschwinden und wurde ersetzt durch Gelb, Rosa oder Apricot. Arbeitsflächen und Bodenbeläge wurden weggerissen, Handtücher und Schürzen in den Müll geworfen oder weggeschenkt. Demzufolge gab es kaum einen Zeitpunkt, an dem die Küche wirklich einsatzfähig war, aber Silver mochte ohnehin nur gelegentlich, dann aber exquisit kochen. Meistens aßen sie und Joe im Restaurant oder machten sich einfach zu den verrücktesten Tages- und Nachtzeiten Kaffee und Sandwiches. Im Moment gab es weder Kochplatten noch Herd, aber Silver hatte elektrische Töpfe und Pfannen, Backöfchen und Grill. Sie kam ganz gut zurecht, während sie auf die jeweils neueste Einrichtung wartete.

»Hunger?«

»Eigentlich nicht«, sagte Ann.

»Nun, ich schon. Mach uns die Drinks, während ich mir was koche.«

Ann trat aus der Küche in den dichten Flaum des weißen Teppichbodens, der wie eine sechs Zentimeter tiefe Schneeschicht überall im Haus den Boden bedeckte. Silver gab selbst zu, dass dieser Teppich ein Missgriff gewesen war. Es gelang niemandem, durch einen der Räume zu gehen, ohne sich den Fuß zu verstauchen. Aber Silver hätte diesen Teppichboden nie hergegeben. Das Mobiliar des Esszimmers bestand aus Imitationen eines Zeitstils, dessen Zeit nicht recht zu bestimmen war. Die Bar, die den Essbereich vom Wohnbereich trennte, hatte Silver selbst entworfen. Vom Esszimmer aus sah sie ganz normal aus, aber vom Wohnzimmer aus, das vier Stufen höher lag, wirkte sie eher wie das Geländer der Abendmahlsbank in der katholischen Kirche von Virginia City. Auf der Messingkante saßen wie kleine Muscheln rote und blaue Glasstückchen, und anstelle von Barhockern gab es weiße lederne Fernsehpolster auf dem Boden. Joe hatte Silvers Gefühle tief verletzt, als er die Bar weihevoll »Heiliger Höllensalon« taufte. Das Wohnzimmer war eine Hindernisstrecke aus übermäßig gepolsterten Sesseln und Couchen und Tischen mit Glasplatten, und überall strebten riesige, muskulöse Gummibäume an Pfeilern und Lampenständern zur Decke.

Ann fand die Flasche Johnny Walker und eine Flasche Gordon’s Gin. Dann langte sie in das eingebaute Kühlfach nach Tonic und Eis. Zwischen den Cocktailmixern in Gestalt versilberter Oberschenkel und Brüste fand sie, was sie suchte.

»Ich mache gebackene Eier mit Hühnchenleber!«, rief Silver.

»Gut. Ich will auch was davon.«

Ann trug die Drinks in die Küche. Silver trank ihren Gin-Tonic wie ein Glas eisgekühlten Wassers, seufzte und stellte das Glas so ab, dass es ihr nicht im Weg stand.

»Noch einen?«

»Jetzt nicht, Liebes. Willst du nicht baden? Ich bringe das Essen rauf, wenn’s fertig ist.«

»Gut.«

Silver mochte keine Gesellschaft, wenn sie kochte, und sie konnte sich nicht in Ruhe unterhalten, bevor sie sich nicht in Ruhe zum Essen gesetzt hatte. So trug Ann ihren Drink quer durchs ganze Haus durch Silvers Schlafzimmer ins Bad, einen großen Raum, mit demselben Teppichboden ausgelegt wie das ganze Haus, die Toilette drei Stufen höher, die Badewanne ein in der Mitte des Raumes eingelassenes Becken. Ann drehte die phallischen Wasserhähne auf, setzte ihren Drink auf einer der Ablagen des Beckenrandes ab und begann, sich in Gesellschaft ihres dutzendfachen Spiegelbildes auszuziehen.

Es war gerade drei Monate her, dass sie und Bill, während Silver und Joe an der Küste vier Wochen Ferien machten, in diesem Haus gewesen waren. Bill, der Schlafzimmer und Bad nie zuvor gesehen hatte, war zunächst gehemmt, später aber, als sie in seinem eigenen männlich eingerichteten Schlafzimmer zusammenlagen, sollte er sehnsüchtig an diese Wochen zurückdenken und darlegen, dass man, natürlich mit einigen grundlegenden Änderungen, ein Badezimmer dieser Art durchaus mit gutem Geschmack entwerfen könne.

»Aber keinen weißen Teppich zum Sich-Trocken-Wälzen«, sagte Ann.

»Warum nicht?«

»Das ist vulgär.«

»Ich finde das nicht vulgär«, protestierte er in ernsthafter Verteidigung seines eigenen Geschmacks.

»Und auf gar keinen Fall einen Spiegel an der Decke. Was soll deine Mutter sagen?«

»Ich entwerfe dieses Badezimmer nicht für meine Mutter.« Er stützte sich auf den Ellenbogen und sah auf Ann hinunter. »Denk nur an jenen Nachmittag …«

Jetzt, allein, umgeben von ihren nackten Ichs, konnte Ann nicht anders, als daran zu denken, aber in ihrer Erinnerung war keine Erotik. An jenem ersten Nachmittag war Bill derjenige gewesen, der unschlüssig gewesen war, ob er sich auf das Ehespiel einlassen sollte. Er war vorher rundum zufrieden gewesen mit den zwei Nächten, die sie pro Woche zusammen verbrachten, plus dem gelegentlichen Wochenende. Er fürchtete die Falle der Vertrautheit. Aber wie schnell hatte er sich angepasst! Wenn Ann kochte, spülte er das Geschirr. Wenn sie sein Hemd bügelte, putzte er ihre Stiefel. Er wollte sogar, dass sie ihm morgens aus der Zeitung vorlas, während er sich rasierte. Und seine Zärtlichkeit, vorher strikt nach Plan ausgeteilt, wurde im so sehr zur Gewohnheit, dass er im Club kaum die Hände von ihr lassen konnte. Inspiriert von Spiegeln und Fetischen, wurde er experimentierfreudig. Leidenschaftlichkeit wurde zum Hobby, das ihn voll beanspruchte. Er wurde besitzergreifend, entwickelte Hahnenstolz, kleine Eifersüchteleien. Vielleicht sollte sie lieber aufhören zu arbeiten. Vielleicht sollten sie ein kleines Haus für sich allein kaufen. Ann war nicht überrascht gewesen. Vielleicht hatte ein Teil von ihr sogar gehofft, dass Bill sich auf diese Art ändern würde. Was sie überraschte, war ihre eigene Reaktion. Anfangs hatte sie sich nur ein wenig unruhig gefühlt, aber nach und nach wuchs sich ihr Unbehagen zu einer Art Entsetzen aus, und sie sehnte das Ende dieser Tage, den Augenblick, da sie wieder frei sein würde, herbei. Er würde sie gehen lassen. Er würde sie gehen lassen müssen. Sie konnte in dieser Umklammerung seiner Liebe nicht leben, derart in seine Gewohnheiten und Bedürfnisse verstrickt, dass sie ihre eigenen nicht beibehalten konnte.

Der Nachmittag, an den sie jetzt dachte, war der letzte gewesen, ein Dutzend Anns und Bills paarten sich in diesem Alptraum von Spiegeln, sie sahen einander nicht direkt an, aber den Anblick ihrer Spiegelbilder fanden sie höchst erregend. Eines dieser Bill-Gesichter hatte wie ein befehlender Gott aus dem Spiegel zu ihr gesprochen: »Heirate mich!«

»Das kann ich nicht, Bill. Ich könnte nie heiraten.«

Das Becken hatte sich gefüllt. Ann stieg in das warme Wasser und drehte die Wasserhähne zu. Als sie, halb im Wasser treibend, ihren Kopf gegen den Beckenrand lehnte, spürte Ann, wie ihre Rückenmuskeln sich entspannten. Sie langte nach ihrem Glas und erhob es, um ihrem Abbild an der Decke zuzutrinken. »Hallo, das sagt ein Spiegel«, sagte sie mit weicher Stimme, und dann trank sie.

»Na, Goldfisch?« Silver trat ins Badezimmer, ein Tablett mit dem Essen in den Händen. »Seit Wochen habe ich nichts derart Bezauberndes gehabt, was ich mir hätte angeln können.«

»Der Köder sieht gut aus«, sagte Ann lächelnd.

»Ich werde dich noch ein bisschen zappeln lassen, bevor ich dich an Land ziehe. Noch Scotch?«

»Ja bitte.«

Silver setzte einen Teller mit Ei, Hühnchenleber und Toast bei Anns Glas ab, das sie wieder vollschenkte. Sie stellte das Tablett auf einen niedrigen Hocker und setzte sich daneben auf den Teppich.

»Sil, hast du jemals einen Menschen getroffen, der aussah wie du?«

»Wie ich? Als Gott mich schuf, Schätzchen …«

»Ich weiß, da hat er die Gussform zerbrochen.«

»Ich habe sie zerbrochen«, verbesserte Silver. »Ich habe meine Mutter aufgerissen vom Arsch bis zum Nabel.« Ann lächelte skeptisch. »Nun, sie starb an mir, arme Seele. Irgendwer am Montageband muss einen Fehler gemacht haben.«

»Vielleicht warst du ihr Ebenbild«, sagt Ann. »Es heißt, wenn man seinem eigenen Ebenbild begegnet, stirbt man. ›Der Zauberer Zoroaster, mein totes Kind, begegnete seinem Ebenbilde, wandelnd im Park!‹«

»Das ist nur Täuschung, Schätzchen. Wir täuschen uns mit Spiegeln.«

»Das glaube ich nicht. Heute bin ich einer Frau begegnet, die wirklich aussieht wie ich.«

»Das kann ich nicht glauben.«

»Doch, es ist wahr.«

»Nun gut, wenn deshalb jemand zu sterben haben sollte, werde ich das sein. Oder sie. Aber nicht du, Schätzchen.«

»Du hältst mich für ein ziemliches Miststück, nicht?«, sagte Ann leise.

»Nein, aber Bill hält dich allmählich dafür. Was, zum Teufel, machst du mit ihm?«

»Nichts, was so schrecklich wäre. Wenn er nur nicht so aufs Heiraten aus wäre, Sil, wenn wir nur so wie vorher miteinander umgehen könnten, dann könnte ich es aushalten.«

»Ich dachte, du bist in ihn verliebt.«

»Oh, das bin ich. Irgendwie. Oder ich liebe ihn zumindest. Aber ich kann nicht mit ihm leben, nicht immer.«

»Er sagt, was immer falsch gelaufen ist, lief falsch, weil ihr hier wart.«

»Sagt er das?« Ann wandte sich von ihrem Essen ab und ließ ihren Kopf wieder auf dem Beckenrand ruhen. Sie versuchte, mit ihren Augen hinter den Spiegel zu dringen, diese unbekannte Anwesenheit, diesen aufmerksamen Beobachter jenseits des Spiegels zu erfassen, aber alles, was ihre Vorstellungskraft zu beschwören vermochte, waren Angesichter des Zweifels. »Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass es falsch ist. Glaubst du nicht, dass Heiraten für einige Frauen schlicht das Falsche ist?«

»Das habe ich immer geglaubt«, bestätigte Silver. »Für mich zum Beispiel. Männer waren mein Beruf. Vor Joe hatte ich immer eine Frau.«

»Aber du hast Joe nicht geheiratet.«

»Nein, aber ich werde ihn heiraten, Schätzchen.«

»Ihn heiraten?« Ann richtete sich auf. »Aber warum?«

»Nun …« Silver stockte, beobachtete Ann. »Ich nehme an, dass mir diese Vorstellung unterschwellig immer gefallen hat.«

»Ein Mann. Eine Frau. Und alle anderen aufgeben?«

»So wird’s wohl nicht sein.« Silver lächelte. »Das ist es nie. Ich weiß das schließlich. Und wer bin ich armes Würstchen zu glauben, für mich müsse alles himmlisch vollkommen sein, oder überhaupt nicht? Glaubst du nicht, dass Mr. und Mrs. auf unseren Badetüchern gut aussehen würde?«

»Sicher«, sagte Ann weich. »Sicher. Warum nicht?«

»Ann?« Ann drehte den Kopf und sah ihre Freundin an. »Wir hätten dich und Bill gern als Trauzeugen.«

»Liebend gern, Silver. Das weißt du. Und ich bin sicher, dass Bill es auch möchte.«

»Es ist nur – Es wäre netter, wenn ihr zwei wieder miteinander sprechen würdet.«

»Gib mir noch was zu trinken. Lass uns auf dich und Joe anstoßen.«

»Aber auf dem Trockenen, Schätzchen.« Silver stand auf und nahm ein riesiges weißes Handtuch aus dem Schrank. Sie hielt es ausgebreitet hoch. »Komm.«

»Was wird dieses Handtuch sagen?«, fragte Ann, als sie aus dem Becken in Silvers Arme kam.

»Goldfisch«, sagte Silver.

»Aber ich werde nicht mehr kommen, wenn du und Joe verheiratet seid.«

»Nein?«, fragte Silver amüsiert.

»Nein.«

»Das hast du anfangs, als du mit Bill zusammen warst, auch gesagt.«

»Und ich bin nicht gekommen.«

»Bis zum ersten Streit«, sagte Silver. »Wilder kleiner Edelfisch. Du wirst gefangen, nicht? Und dann entkommst du, aber du lernst nichts. Der Köder ist immer eine Versuchung. Wenn du ein paar Zentimeter länger wärst oder wenn ich mich nicht vor dem Jagdaufseher fürchtete, würde ich dich behalten.«

»Ich mag nicht behalten werden«, sagte Ann, war sich dessen jedoch nicht ganz sicher, denn als sie da stand, unabhängig und kampfeslustig, wünschte sie doch, Silver würde sie in die Arme nehmen wie ein Kind und sie trösten und lieben mit der vertrauten riesigen rauen Zärtlichkeit ihres Körpers. Aber am Morgen, der sich draußen schon grau am Himmel ankündigte, würde Ann nicht bleiben können. Sie würde sich abzappeln, um zu entkommen, um neu geboren zu werden, unabhängig und allein in der lebendigen Unbeständigkeit ihres Fleisches.

»Ich weiß«, sagte Silver, als sie Ann in die Armen schloss. »Ich weiß das alles. Nachts immer fange ich dich und lass dich gehen am Morgen.«

»Ich liebe dich.«

»Du liebst alle Welt, kleiner Fisch. Du glaubst, dass Gott selbst die Wüste gemacht hat, damit du darin schwimmen kannst. Aber frei willst du sein.«

Desert Hearts

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