Читать книгу Stille im Zimmer nebenan - Janina Hoffmann - Страница 3

1. Das Luftschloss

Оглавление

Meine Mutter hielt sich immer für etwas Besseres. Nie war sie zufrieden mit dem, was sie hatte. Dadurch brachte sie meinen Vater und mich in die missliche Lage, in der wir uns noch heute befinden. Obwohl das eine harmlose Umschreibung für unsere Situation ist. Es ist ein tiefer Sumpf, in dem wir feststecken und aus dem wir uns nie wieder werden befreien können. Schuld daran ist allerdings auch mein Vater. Er hätte alles für meine Mutter getan. Zu was er ihr zuliebe bereit gewesen war, erfuhr ich erst Jahre später. Anschließend bereute ich, es herausgefunden zu haben. Ich wünschte, ich wüsste bis heute nicht, zu was meine eigenen Eltern fähig gewesen waren.

Dieses Motel zu kaufen, das sich als völlige Fehlinvestition entpuppte, war die Idee meiner Mutter gewesen. Als sie es sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, war sie nicht mehr davon abzubringen. Mein Vater versuchte es auch nur anfangs mit wenig Nachdruck - natürlich ohne Erfolg. Dann bemühte er sich, meiner Mutter ihren großen Traum zu erfüllen. Sicher trug mein Vater eine ständige Angst in sich, meine Mutter könnte ihn verlassen, wenn er ihren hohen Ansprüchen nicht genügte. Sie tat es dennoch, nur etwas mehr als zwei Jahre nach dem Kauf des Motels, in der Nacht vor meinem fünfzehnten Geburtstag. Ohne ein Wort des Abschieds.

Einen Teil der Verantwortung für die vergangenen Ereignisse trage ich selbst. Schließlich ahnte ich gleich, als dieses Pärchen vor einigen Monaten an der Rezeption auftauchte, dass mit den beiden etwas nicht stimmte. Ich hätte vorgeben sollen, wir seien ausgebucht, obwohl das Schild „Zimmer frei“ an der Landstraße vor dem Motel das Gegenteil behauptete. Ich hätte die beiden Fremden einfach fortschicken sollen, ganz egal, wie unhöflich das gewirkt hätte. Stattdessen gab ich dem Mann und der Frau eines der zehn Doppelzimmer, damit endlich wieder ein paar Mark in die Kasse kamen. Und obwohl es gar nicht ihre Absicht war, lüfteten die beiden Gäste schließlich das Geheimnis, das mein Vater all die Jahre mit sich herumgetragen hatte.

Ich denke viel über diesen Moment nach, in dem ich dem Paar den Zimmerschlüssel gab. Doch wie ich es auch drehe und wende: Ich werde das, was ich nun weiß, nie wieder aus meinem Gedächtnis löschen können.

Seit dem Kauf des Motels ist mein Vater psychisch labil. Vielleicht war er es vorher auch schon, und es fiel nur niemandem auf. Wiederholt war er wegen seiner paranoiden Schübe, während derer er sich alle möglichen Bedrohungen einbildet, in psychiatrischer Behandlung. Die Therapien blieben stets ohne Erfolg, nicht zuletzt, weil mein Vater die Medikamente, die ihm verschrieben worden waren, nie lange einnahm. Er setzte sie ohne Absprache mit dem jeweiligen Psychiater einfach ab, weil er davon erst recht verrückt im Kopf werde, wie er es ausdrückte. Danach wollte er dann immer für Monate und Jahre nichts mehr von ärztlicher Hilfe wissen, bevor er sich wegen seiner Stimmungsschwankungen und der schlimmen Wahnvorstellungen, die er für real hielt, erneut in eine erfolglose Behandlung begab.

„Wenn du gehst, hänge ich mich auf“, hat mir mein Vater schon des Öfteren gedroht. „Den passenden Balken auf dem Dachboden habe ich mir schon ausgesucht. Du weißt genau, dass ich es ernst meine.“

Ja, das weiß ich allerdings. Das sind keine leeren Worte. Er würde das wirklich tun. Daher kann ich meinen Vater nicht verlassen, obwohl ich inzwischen dreißig Jahre alt bin. Ich werde bei ihm bleiben, auch wenn ich ihn für das, was er getan hat, verabscheue. Und mich selbst, weil ich ihn nicht der Polizei ausliefere.

Wie verbringen Besitzer eines Motels, in dem kaum noch ein Gast übernachtet, den Tag? Was bleibt zu tun, wenn das Frühstück in dem Imbiss, der sich ebenfalls auf dem Motelgelände befindet, serviert ist und die wenigen belegten Zimmer gereinigt sind? Wie soll ich die Zeit an der Rezeption totschlagen, während mein Vater in dem kleinen Laden, der Reiseartikel führt, zunächst vergeblich auf Kunden wartet und mir nachmittags im Foyer meist schweigend Gesellschaft leistet? In letzter Zeit setze ich mich gewöhnlich in das hinter der Rezeption befindliche kleine Büro an den Schreibtisch und rauche. Mein Vater will nicht, dass ich mich hier aufhalte. Er hätte das Büro am liebsten wie früher ganz für sich allein. Wenn er wüsste, wie egal mir das ist. Er kann froh sein, dass ich überhaupt noch hier bin. Der Gestank des Zigarettenrauchs ist ihm zuwider. Seltsam, wenn Gäste im Imbiss rauchen, stört ihn das nicht. Doch ich habe keine Lust, mit meinem Vater zu diskutieren. Stattdessen öffne ich stets das Fenster hinter dem Schreibtisch, egal bei welchem Wetter. Es gibt in diesem Raum für mich nichts zu tun. Ich könnte die Buchhaltung machen oder die Rechnungen für die wenigen Gäste schreiben, doch das habe ich noch nie getan. Mein Vater gab mir jahrelang keine Chance, Einblick in die Finanzen des Motels zu erlangen. Inzwischen habe ich herausgefunden, was er dadurch vor mir verbergen wollte. Soll er sich ruhig weiter allein um die Buchhaltung kümmern. Ich habe kein Interesse mehr daran.

Ich sitze in dem schon etwas ramponierten braunen Lederschreibtischstuhl mit den gepolsterten Armlehnen und der hohen Rückenlehne und sehe dem aufsteigenden Zigarettenrauch zu. Irgendwann schließe ich dann meistens die Augen und denke an alles Mögliche. Wenn meine Mutter noch hier wäre. Wenn mein Ex-Verlobter sich nicht als Vollidiot erwiesen hätte. Wenn meine Eltern nie dieses verdammte Motel gekauft hätten. Dann würden wir heute sicher noch in der Großstadt leben, in der ich den ersten Teil meiner Kindheit verbrachte. Rückblickend betrachtet waren das die besten Jahre meines Lebens, und die damaligen Probleme waren klein im Vergleich zu den jetzigen.

Meine Eltern arbeiteten damals in einem gut besuchten Hotel in der Nähe des Hauptbahnhofs. Bekannten gegenüber stellte meine Mutter ihren Arbeitsplatz gern als Grandhotel dar, doch das war es nicht. Es war ein ganz gewöhnliches Hotel der mittleren Preisklasse, in dem hauptsächlich Touristen kamen und gingen. Meine Mutter war an der Rezeption tätig. Sie hasste ihren Arbeitsplatz, hauptsächlich wegen des aus ihrer Sicht aufdringlichen Hoteldirektors Gustav Greif, der ihr „ständig an die Wäsche wollte“, wie sie es nannte. Allerdings suchte sie sich dennoch keine andere Anstellung, denn das Hotel bot ihr einige Freiheiten, die meine Mutter schamlos ausnutzte. So blätterte sie an ihrem Arbeitsplatz in ruhigen Momenten heimlich in den Zeitschriften, die in der Empfangshalle für Gäste ausgelegt waren, und las sich die Skandalgeschichten über Prominente durch, die meine Mutter allesamt schon deshalb bewunderte, weil sie viel Geld hatten, zumindest mehr als meine Eltern. Wenn sie ein Bericht besonders faszinierte, riss sie ihn heraus und nahm ihn mit, um ihn sich zu Hause immer wieder durchzulesen und meinem Vater zu zeigen, der jedes Mal sowohl angewidert als auch beeindruckt von der Dreistigkeit meiner Mutter war. Manchmal ließ sie auch gleich die ganze Zeitschrift mitgehen. Zudem telefonierte sie wiederholt während ihrer Arbeitszeit, wenn an der Rezeption gerade nichts zu tun war, mit ihren ehemaligen Schulfreundinnen, die inzwischen fortgezogen und Hausfrauen waren, und erzählte ihnen von ihrer eigenen anspruchsvollen Tätigkeit in dem Grandhotel. Ich wusste von diesen Dingen, weil es deswegen zwischen meinen Eltern zu Hause des Öfteren Streit gab. Sie diskutierten darüber spätabends in der Küche, wenn sie glaubten, ich schliefe. Tatsächlich stand ich im Flur und lauschte. Mein Vater fand es leichtsinnig von meiner Mutter, ihren Arbeitsplatz für seiner Ansicht nach dämliche und überflüssige Telefonate und Zeitschriften aufs Spiel zu setzen. Meine Mutter ließ das völlig kalt. „Duckmäuser“ und „Spießer“ zählten noch zu den harmlosen Ausdrücken, die sie ihm dann an den Kopf warf. „Als ob das dem Hotel wehtut!“, rechtfertigte sie sich gegenüber meinem Vater. „Du bist so ein kleinlicher Moralapostel! Wenn ich schon sehe, wie du vor dem Greif herumkriechst, wird mir speiübel!“

„Nicht so laut, Yvonne. Du weckst Susi noch auf“, versuchte mein Vater dann, meine Mutter zu beschwichtigen. „Herr Greif ist nun einmal unser Chef“, argumentierte er weiter. „Ich verhalte mich ihm gegenüber nur höflich. Dass du ihn nicht magst, ist keine Entschuldigung für das, was du unerlaubterweise während deiner Arbeitszeit tust.“

„‚Höflich‘!“, höhnte meine Mutter. „Bist du mir jemals zur Hilfe gekommen, wenn er an mir herumgetatscht hat? Nein! Du verkriechst dich lieber im Restaurant und tust so, als ginge dich das nichts an!“

„Du weißt, dass das nicht stimmt“, widersprach mein Vater ruhig. „Ich habe ehrlich gesagt noch nie erlebt, dass sich Herr Greif unkorrekt verhalten hat. Außerdem gibt es im Restaurant immer so viel zu tun, dass mir gar nicht die Zeit bleibt, ihm hinterherzuspionieren.“

„Alles klar“, stellte meine Mutter bitter fest. „Mein eigener Mann ist zu beschäftigt, um sich für mich einzusetzen.“ Einen Moment später lachte sie plötzlich heiter. „Weißt du, wie viel ich heute an Trinkgeld eingenommen habe?“

„Oh nein“, stöhnte mein Vater. „Du hast es nicht schon wieder getan.“

Mit „es“ meinte mein Vater die Tatsache, dass meine Mutter die an der Garderobe zwischen der Rezeption und dem Eingang zum Restaurant von Gästen aufgehängten Mäntel und Jacken gern in einem unbeobachteten Moment nach Bargeld durchsuchte, von dem sie dann einen Teil einsteckte. Sie achtete immer darauf, so wenig zu stehlen, dass der Verlust so schnell niemandem auffallen und sie somit nicht damit in Verbindung gebracht werden würde. Diesen Diebstahl bezeichnete sie dann als das ihr zustehende Trinkgeld, von dem sie an der Rezeption viel weniger bekam als zum Beispiel mein Vater als Kellner im Restaurant, und gleichzeitig Schmerzensgeld, weil sie einen so widerlichen Chef ertragen musste.

„Die Leute sind doch selbst schuld, wenn sie ihr Geld unbeaufsichtigt in ihren Jacken lassen“, rechtfertigte sich meine Mutter. „Dummheit muss bestraft werden.“

„Sie gehen wahrscheinlich davon aus, dass niemand so dreist wäre, ihre Sachen an der Garderobe zu durchsuchen“, lautete die Ansicht meines Vaters. „Sie halten das Hotel für einen seriösen Ort.“

Seine Meinung interessierte meine Mutter nicht. „Das ist ihr Problem, nicht meines. Tu doch nicht so, als könnten wir das Geld nicht gut gebrauchen. Susi braucht demnächst wieder neue Schuhe. Und ab und zu würde ich auch gern ein wenig für mich selbst ausgeben.“

Damit untertrieb meine Mutter maßlos. Denn in Wirklichkeit gab sie das meiste, was sie verdiente, für sich selbst aus. Sie war ein Mensch, der nicht mit Geld umgehen konnte und alles, was da war, sofort ausgeben musste. Sie musste einfach alles kaufen, was sie sah, und vor allem das, was andere hatten, auch wenn sie schon kurze Zeit später die Freude daran verlor. Wäre mein Vater nicht gewesen, wären wir wegen ihrer Verschwendungssucht sicher schon auf der Straße gelandet. Das Thema Finanzen war zwischen meinen Eltern leider immer wieder ein Streitpunkt.

„Du wirst deswegen noch eines Tages gefeuert“, prophezeite mein Vater. „Ist es das wirklich wert?“

„Natürlich ist es das wert!“, gab sich meine Mutter selbstsicher. „Überleg nur mal, wie viel ich so dazuverdient habe! Und wenn ich gefeuert werde, muss sich der Greif, dieser perverse Grabscher, ein anderes Opfer suchen, das er ausnutzen kann. Das wird er sich zweimal überlegen. Es lohnt sich auch nicht, darüber weiter zu diskutieren. Ich werde sowieso nicht erwischt.“

Kennengelernt hatten sich meine Eltern Ende der 1960er Jahre in der Großstadt in einer Bar, in der meine Mutter als Bedienung arbeitete, obwohl Auguste, die Mutter meines Vaters, immer abfällig behauptete, meine Mutter sei dort als Animierdame tätig gewesen und habe ihren ambitionierten Sohn vom rechten Weg abgebracht. Mein Vater studierte, als er meiner Mutter begegnete, Medizin und sollte die Praxis seines Vaters in seiner Heimatstadt, einem Vorort der Großstadt, übernehmen. Mit ihrem rotblonden, dicken, kinnlangen Haar, ihren blassblauen Augen und ihrer hellen, von Sommersprossen übersäten Haut hatte es meine große, schlanke Mutter meinem Vater wohl sofort angetan. Leider – das betonte meine Mutter auch in meiner Anwesenheit später immer wieder – wurde sie bald schwanger. Meine Eltern heirateten 1970 nur ein paar Wochen, bevor ich auf die Welt kam, und zogen in ein günstiges, aber hässlich graues Hochhaus, in dem wir jahrelang lebten. Mein Vater gab sein Studium auf – er bekräftigte mir gegenüber wiederholt, es habe ihm sowieso nicht viel daran gelegen – und nahm eine Anstellung als Kellner in dem Restaurant des Hotels an, in dem später auch meine Mutter zunächst als Serviererin und nach ein paar Jahren als Rezeptionistin arbeitete. Diese großzügige Beförderung hatte sie übrigens ihrem Vorgesetzten Gustav Greif zu verdanken.

Solange ich zurückdenken kann, waren unregelmäßige Arbeitszeiten und zahlreiche Überstunden für meine Eltern nichts Ungewöhnliches. Sie hatten nur wenig Zeit, sich um mich zu kümmern. Zunächst arbeitete meine Mutter noch halbtags, während ich im Kindergarten untergebracht war. Als ich in die Schule kam, stockte meine Mutter ihre Arbeitszeit auf, und ich verbrachte die Nachmittage und oft auch die Abende bei meiner Oma Tilly, der Mutter meiner Mutter, die ein kleines Reihenhaus mit einem überschaubaren Garten, in dem sie ausschließlich ihr eigenes Gemüse anbaute, am Rand der Großstadt besaß.

Tilly war eine Kurzform von Mathilde, doch ich kannte niemanden, der meine Großmutter so nannte. Sie war eine kleine, dicke Frau mit spärlichem, oft fettigem grauem Haar, durch das ihre Kopfhaut hindurchschimmerte. Über ihrer Kleidung trug sie immer eine ihrer bunt gemusterten Kittelschürzen. Das sei sie so gewohnt, erklärte sie mir einmal, da sie schon als Kind in der Schlachterei ihrer Eltern ordentlich habe mit anpacken müssen und später in dem kleinen Lebensmittelgeschäft ihres Mannes, der früh verstorben war. Stets haftete Oma Tilly ein mal leichter, mal schwerer Schweißgeruch an, was wohl daran lag, dass sie sehr sparsam war und weder sich selbst noch ihre Kleidung öfter wusch als unbedingt notwendig.

Bei meiner Großmutter lebte ein sehr scheuer, grau getigerter Kater namens Larry, der sofort unter das Sofa flüchtete, wenn Fremde, mich eingeschlossen, in der Wohnung waren. Oma Tilly behauptete, der Kater sei ihr eines Tages zugelaufen. Anfangs versuchte ich noch, Larry mit Leckerbissen und schmeichelnden Worten unter dem Sofa hervorzulocken, jedoch ohne Erfolg. Ich hatte vielmehr den Eindruck, dass er noch näher an die Wand rückte, wenn ich vor dem Sofa hockte. Irgendwann ließ ich es frustriert sein. Ich war richtig böse auf den Kater. „Wie kann Larry dir zugelaufen sein, wenn er so scheu ist?“, fragte ich meine Großmutter ärgerlich.

„Er hatte eben ein Gespür dafür, wem er vertrauen kann“, lautete Oma Tillys Antwort. „Wir beide haben uns sofort verstanden. Du kannst deine Bemühungen um ihn ruhig aufgeben, Susi. Er wird nicht zu dir kommen. Nimm‘s nicht persönlich. Und jetzt komm, lass uns essen.“

Die Kochkünste meiner Großmutter hielten sich in Grenzen, unter anderem weil sie auch bei Lebensmitteln darauf achtete, möglichst wenig Geld auszugeben. Meistens gab es einfache Gerichte wie Kohl, Bratkartoffeln mit Spiegelei oder Pfannkuchen. Wenn wir zusammen in der kleinen Küche am Tisch saßen und aßen, füllte Oma Tilly immer weniger auf ihren Teller als auf meinen. Sie müsse dringend abnehmen, erklärte sie mir. Sie glaubte wohl, ich bemerkte es nicht, wenn sie nachmittags, während ich am Küchentisch meine Schularbeiten machte, heimlich im Wohnzimmer Süßigkeiten oder Kartoffelchips futterte.

Das Beste an meinen Aufenthalten bei Oma Tilly waren die Fernsehabende. Es kam vor, dass ich aufgrund der Arbeitszeit meiner Eltern bei meiner Großmutter übernachtete. Bevor der Film begann, nahm Oma Tilly eine Tafel Schokolade aus dem Wohnzimmerschrank und zählte zwei Stück für sich ab, die sie sorgfältig auf eine Stoffserviette vor sich auf den Wohnzimmertisch legte, während Larry mit halb geschlossenen Augen unter dem Sofa hockte. „Die müssen für heute reichen“, teilte sie mir dann immer voller Überzeugung mit und drückte mir die Schokolade in die Hand, damit ich mir davon so viel nahm, wie ich wollte.

Meistens hatte ich keinen großen Appetit auf die Süßigkeiten meiner Großmutter und legte sie, bevor ich mich auf meinen Fernsehsessel setzte, zurück in den Schrank, denn es war abgelaufene und daher wenig schmackhafte Ware, die Oma Tilly irgendwo zum halben Preis oder umsonst erstanden hatte.

Gewöhnlich handelte es sich bei den abendlichen Filmen um harmloses Geplänkel, das ich mir zwar ansah, mich jedoch nicht wirklich fesselte. Meine Großmutter verfolgte das Geschehen auf dem Bildschirm mit großem Interesse, schlief aber trotzdem früher oder später ein und kippte auf dem Sofa leicht schnarchend zur Seite. Dann war mein Moment gekommen. Oma Tilly hatte nämlich zum sechzigsten Geburtstag von meiner Tante einen Videorekorder geschenkt bekommen – 1980 eine sehr moderne technische Errungenschaft. Meine Großmutter hätte für so etwas niemals Geld ausgegeben. Sie beklagte sich auch hin und wieder über das nutzlose, wenn auch gut gemeinte Geschenk, da sie keine Videokassetten besaß und auch nicht beabsichtigte, sich welche anzuschaffen. Ich hingegen wusste mit dem Gerät sofort etwas anzufangen. Der Vater meines Mitschülers Marco besaß nämlich eine Videothek, und Marco brüstete sich ständig damit, dass er an alle Filme komme. Eigentlich hielt ich ihn für einen Vollidioten, weil er im Unterricht die einfachsten Dinge nicht kapierte, was er durch freche Sprüche zu kaschieren versuchte. Aber gegen ein paar Mark besorgte er mir zuverlässig die gruseligsten Filme, die erst ab sechzehn Jahren freigegeben waren, so dass ich ihn schließlich doch ganz sympathisch fand und wir, wenn auch keine Freunde, zumindest Komplizen wurden.

Ich nahm eine von Marco beschaffte Videokassette aus meiner Schultasche und legte sie in den Videorekorder. Den Ton stellte ich extra leise, um Oma Tilly nicht zu wecken. Die grauenhaften Bilder waren auch so unheimlich genug. Leider schaffte ich es nie, einen Videofilm vollständig am Stück zu sehen, da meine Großmutter gewöhnlich gegen 22:00 Uhr wieder wach wurde. Vorher hatte ich den Fernseher dann schon immer ausgeschaltet.

„Bist du denn noch gar nicht im Bett, Susi?“, wunderte sich meine Großmutter, während sie sich mühsam auf dem Sofa wieder aufrichtete.

„Wollte gerade gehen“, behauptete ich.

„Nun bin ich schon wieder eingeschlafen!“, warf sich Oma Tilly vor. „Dann komme ich gleich im Bett wieder nicht zur Ruhe! Wie ist der Film denn nun ausgegangen?“

Da ich keine Ahnung hatte, erfand ich eine etwas haarsträubende Handlung.

„Was, so ein Blödsinn war das?“, wunderte sich meine gutgläubige Großmutter. „Dabei war der Anfang doch ganz vernünftig.“

Es gab in der Wohnung meiner Großmutter kein Extrazimmer für mich, und so schlief ich mit in ihrem Ehebett, das sie vor Jahrzehnten mit meinem Großvater geteilt hatte. Oma Tillys Sorge wegen möglicher Schlaflosigkeit war unbegründet. Sie schnarchte schon, während mir neben ihr noch die schrecklichen Bilder des Videofilms durch den Kopf gingen.

Am nächsten Tag war ich dadurch übermüdet, worunter meine schulischen Leistungen litten. Bald waren meine Zensuren auch nicht mehr viel besser als die von Marco. Des Öfteren wurden meine Eltern in der Folgezeit von meinen Lehrern auf meinen Leistungsabfall angesprochen.

„Dann können wir Susi auch allein zu Hause lassen, wenn du so wenig auf sie aufpasst!“, schimpfte meine Mutter mit meiner Großmutter in deren Küche, als sie mich eines späten Nachmittags abholte. „Und wie du wieder aussiehst! Kannst du dir nicht öfter die Haare waschen? Ich könnte mich für dich in Grund und Boden schämen!“

Oma Tilly ließ die zornigen Worte meiner Mutter schweigend über sich ergehen. Es war nicht das erste Mal, dass meine Mutter gegenüber meiner Großmutter die Beherrschung verlor, und auch nicht das erste Mal, dass sie deutlich machte, wie peinlich ihr ihre eigene Mutter war. Ein einziges Mal hatten Oma Tilly und ich meine Mutter an deren Geburtstag im Hotel bei der Arbeit überraschen wollen. Ich war damals acht Jahre alt. Oma Tilly fuhr zu der Zeit noch mit Bahn und Bus durch die halbe Stadt, um mich von der Schule abzuholen. Doch schon ein Jahr später machte ich mich nach Schulschluss mit öffentlichen Verkehrsmitteln allein auf den Weg zu ihr. Meine Mutter war bereits am frühen Morgen sehr wütend gewesen, weil sie, obwohl sie ausdrücklich darum gebeten hatte, keinen freien Tag bekommen hatte. Dabei war es ein besonderer Geburtstag: ihr dreißigster. In der Küche hörte ich sie gegenüber meinem Vater laut darüber nachdenken, sich krankzumelden. Seine beruhigenden Worte hielten sie zwar davon ab, jedoch knallte sie beim Verlassen der Wohnung dermaßen die Tür zu, dass ich in meinem Bett zusammenzuckte. Mein Vater machte mir ein schnelles Frühstück und die üblichen unbeholfenen Schulbrote, bevor er kurz vor mir das Haus verließ und ebenfalls zur Arbeit aufbrach. Auf dem Weg zur Bushaltestelle dachte ich darüber nach, was ich tun könnte, um meine Mutter wieder fröhlich zu stimmen. Es war schließlich ihr Geburtstag. Da sollte jeder fröhlich sein. Als mich Oma Tilly am Nachmittag in ihrer Kittelschürze von der Schule abholte, erzählte ich ihr von der Enttäuschung meiner Mutter über die Verweigerung ihres freien Tages und meiner Idee, sie im Hotel mit einem Blumenstrauß zu überraschen. Zwar hatte ich als Geburtstagsgeschenk bereits eine kleine bunte Pappschachtel gebastelt, in der meine Mutter ihren Schmuck unterbringen könnte, doch schien mir das auf einmal nicht mehr genug zu sein. Es war ein warmer Frühlingstag, und Oma Tilly hatte sich beeilen müssen, da sie bei einem Schwätzchen mit ihrer Nachbarin völlig die Zeit vergessen hatte. Ihre kurzärmelige hellblaue Bluse, die sie unter der Schürze trug, wies unter ihren Achseln riesige Schweißflecken auf, und ihr verschwitztes Haar klebte ihr am Kopf. Auch roch sie an diesem Tag besonders penetrant. Um ehrlich zu sein, stank sie geradezu.

„Das Hotel ist doch nicht weit von hier entfernt“, versuchte ich, meine Großmutter zu überreden. „Und ein Blumengeschäft finden wir bestimmt auch.“

Oma Tilly willigte zwar schnell in meinen Plan ein und war sogar bereit, den Strauß zu bezahlen, da das bisschen Kleingeld, das ich bei mir hatte, bei Weitem nicht dafür reichen würde. Das Finden eines Blumengeschäfts gestaltete sich allerdings schwieriger als erwartet. Mehrere Passanten mussten wir fragen und einige Stationen mit dem Bus hin und her fahren, bevor sich endlich eine Wegbeschreibung als korrekt herausstellte.

Die rotwangige Verkäuferin in dem Geschäft rümpfte leicht die Nase, als wir den Laden betraten. Vielleicht lag das am Duft der Blumen, die sie gerade band. Wahrscheinlicher war jedoch, dass sie den intensiven Schweißgeruch, der von meiner Großmutter ausging, bemerkt hatte.

Ich suchte einen extragroßen, farbenfrohen Strauß aus. Oma Tilly war von dem Preis etwas schockiert, ließ die Blumen jedoch trotzdem in Papier einwickeln und bezahlte. Vermutlich merkte sie, wie wichtig mir das Geschenk für meine Mutter war. Mit schwitzigen Händen übergab meine Großmutter den Strauß an mich, und ich trug ihn stolz aus dem Geschäft. Wir mussten erneut den Bus nehmen, um zurück in die Richtung zu gelangen, in der sich das Hotel befand, in dem meine Mutter arbeitete. Die ganze Zeit über achtete ich sorgfältig darauf, dass die Blumen nicht gedrückt wurden.

Als wir schließlich vor der gläsernen Doppeltür standen, die den Eingang des Hotels bildete, klopfte mein Herz einen Takt schneller. Das war das erste Mal, dass ich meine Mutter an ihrem Arbeitsplatz besuchte. Noch nie zuvor war ich in dem Hotel gewesen. Mein Blick fiel auf die goldenen Buchstaben über dem Eingang. „Jahreszeiten-Hotel“ stand dort. Ein Hotel für jede Jahreszeit. Das schien mir einleuchtend.

Die Glastür öffnete sich vor uns automatisch, als wir das Hotel betraten. Staunend sah ich mich in der Eingangshalle um. Eigentlich war es eher ein Eingangsraum, denn die mit hellbraunem Teppichboden ausgelegte Lobby war recht klein. Rechts vorne, direkt neben uns, gab es um zwei kleine Tische gruppierte Ledersitzmöbel, daneben ein Regal mit diversen Zeitschriften. Links führte eine Treppe nach oben und daneben ein Fahrstuhl für die, die nicht laufen wollten. In der Rückwand des Raums, neben dem Lift, befand sich der Eingang zum Restaurant, wie ein Schild unmissverständlich verdeutlichte. Rechts daneben gab es eine Garderobe, die, wohl wegen des warmen Wetters, fast leer war. Und daneben ... stand meine Mutter hinter einem rechtwinkligen Holztresen und sah meine Großmutter und mich mit vor Entsetzen geweiteten Augen an. Ansonsten war die Eingangshalle menschenleer. Bevor ich „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“ rufen konnte, klappte meine Mutter den Tresen auf und schoss durch eine so an der Wand entstandene Lücke auf uns zu. „Was zum Teufel macht ihr hier?“, zischte sie meine Großmutter und mich an.

„Mama ...“, stammelte ich verunsichert und hielt den Strauß ein Stück höher. „Das hier ist für dich ... Zu deinem Geburtstag.“

Meine Mutter machte keine Anstalten, die Blumen an sich zu nehmen, und blickte verärgert zu Oma Tilly.

„Ja, auch von mir alles Gute, Yvonne“, ergänzte meine Großmutter etwas kleinlaut. Sie trat ein Stück vor – vermutlich, um meiner Mutter die Hand zu geben oder sie zu umarmen.

„Pfui, wie du stinkst!“, klagte meine Mutter angeekelt und trat einen Schritt zurück. Dann fügte sie leise hinzu: „Macht, dass ihr hier rauskommt!“

„Aber ... dein Geschenk, Mama“, versuchte ich es erneut und hielt meiner Mutter die Blumen entgegen.

„Raus hier, habe ich gesagt!“, flüsterte sie drohend.

„Gibt es Probleme?“, fragte plötzlich ein glatzköpfiger Mann, der die Lobby gerade durch den Aufzug betreten hatte.

„Nein, Herr Greif.“ Meine Mutter zwang sich zu einem Lächeln. „Die beiden haben sich nur nach dem Weg zum Krankenhaus erkundigt, wo sie jemanden besuchen wollen.“

„Tja“, wandte sich der Chef meiner Mutter mit einem leicht abfälligen Blick an Oma Tilly. „Wissen Sie denn nun, wo Sie lang müssen?“

„Ja ...“, begann meine Großmutter stotternd.

„Ja, das ist geklärt“, beeilte sich meine Mutter zu bestätigen. „Die beiden wollten gerade gehen.“

„Komm, Susi“, forderte mich Oma Tilly auf und griff mit ihrer klebrigen Hand nach meiner freien. Sie musste mich geradezu aus dem Hotel ziehen, während ich mich fassungslos nach meiner Mutter umsah, die uns jedoch nicht weiter beachtete, sondern zurück hinter den Tresen ging, wo sie einen Anruf entgegennahm.

Die für meine Mutter gedachten Blumen stellte Oma Tilly in einer Vase auf ihren Wohnzimmertisch, doch der Anblick machte mich nur noch trauriger, als ich es so schon war. Als mich meine Mutter abends abholte, erwähnte sie das Ereignis am Nachmittag mit keinem Wort. Bevor ich an diesem Abend zu Bett ging, zerriss ich die selbstgebastelte Pappschachtel, die ich meiner Mutter hatte schenken wollen, in kleine Fetzen.

Was meine Großmutter auch tat, meine Mutter ließ an Oma Tilly kein gutes Haar. „Das ist überhaupt nicht meine richtige Mutter!“, behauptete meine Mutter des Öfteren bei uns zu Hause, wenn meine Großmutter nicht anwesend war.

„Yvonne, sag so etwas doch nicht vor Susi“, versuchte mein Vater dann, sie zu beschwichtigen.

„Susi ist alt genug und kann die Wahrheit ruhig erfahren!“, regte sich meine Mutter weiter auf. „Diese Frau kann nicht meine leibliche Mutter sein! Ich habe mit ihr überhaupt nichts gemeinsam! Und ich sehe auch ganz anders aus als sie und Karin.“

Karin war die ältere Schwester meiner Mutter, die wie meine Großmutter klein und dick, allerdings gepflegter war. Sie hatte vor Jahrzehnten auf einem Schulausflug in einem kleinen Dorf ihren späteren Ehemann kennengelernt. Mit ihm bewirtschaftete sie dort nun einen Bauernhof – eine Tätigkeit, die meine Mutter verabscheute.

„Wo habe ich denn zum Beispiel diese rotblonden Haare her?“, wollte meine Mutter von meinem Vater wissen. „Kein Mensch in unserer Familie hat rotblonde Haare – bis auf Susi natürlich. Die hat sie zusammen mit der Sommersprossenhaut und den hellblauen Augen von mir geerbt. Aber ich? Von wem habe ich diese Haare? Oohh nein!“, schnitt meine Mutter meinem Vater das Wort ab, obwohl er gar nichts gesagt hatte, und zeigte drohend mit dem Zeigefinger auf ihn. „Behaupte jetzt bitte nicht, dass ich nur einen anderen Vater als meine Schwester habe, Günther! Behaupte das ja nicht! So eine ist meine Mutter nicht! Nein, ich muss direkt nach der Geburt vertauscht worden sein. Und irgendwo sitzt jetzt so ein kleiner schwarzhaariger Fettklops unter lauter Großen, Schlanken mit rotblondem Haar. Ja, genauso muss es sein!“

„Wie du meinst, Yvonne“, pflichtete mein Vater ihr bei – wohl hauptsächlich, um das Thema zu beenden.

Es gab nur eine Sache, die meine Großmutter in den Augen meiner Mutter richtig gemacht hatte – sie hatte ihr den zu der Zeit außergewöhnlichen Vornamen Yvonne gegeben, auf den meine Mutter sehr stolz war. „Das ist französisch“, pflegte sie stets hinzuzufügen, wenn jemand meine Mutter fragte, wie sie heiße.

Um meine Mutter aufzuziehen, sprach mein Vater oft das E am Ende ihres Namens mit aus, allerdings nur, wenn meine Mutter gute Laune hatte.

„Günther!“, schrie meine Mutter dann, während sich mein Vater das Lachen kaum verkneifen konnte. „Das ist ein französischer Name! Da spricht man das E nicht mit aus!“

„Schon gut, Yvonnee. Das weiß ich doch“, versuchte er, meine Mutter zu beruhigen, was sie erst richtig in Rage brachte.

Da ihr Vorname für meine Mutter so wichtig war, verstand ich nicht, weshalb meine Eltern mir den Allerweltsnamen Susanne gegeben hatten. Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, fragte ich meine Mutter einmal danach, und sie antwortete, ohne mich anzusehen, während sie Einkäufe im Kühlschrank verstaute, dass sie die ganze Zeit vor meiner Geburt davon überzeugt gewesen sei, einen Sohn zu bekommen, da ihr Bauch so tief gehangen habe. Das sei ein untrügliches Zeichen dafür, dass es ein Junge werde. Als ich mich dann als Mädchen herausgestellt habe, sei ihr auf die Schnelle kein anderer Name eingefallen.

„Das ist doch kein schlechter Name, Susi“, versuchte mich mein Vater, dem mein enttäuschtes Gesicht im Gegensatz zu meiner Mutter nicht entgangen war, zu trösten. „Es gibt viel schlimmere.“ Angriffslustig sah er zu meiner Mutter hinüber, die noch mit dem Verstauen von Lebensmitteln beschäftigt war und ihm den Rücken zukehrte. „Zum Beispiel Yvonnee.“

Äußerlich war ich mit meinem rotblonden Haar, das ich auf eigenen Wunsch immer sehr kurz trug, meinen blassblauen Augen und meiner hellen, zu Sommersprossen neigenden Haut tatsächlich meiner Mutter ähnlich.

„Sei froh, dass du meine Gene geerbt hast, Susi“, sagte sie mehr als einmal zu mir. „Du wirst später eine Figur haben wie ein Fotomodell. Groß und schlank. Du wirst niemals fett werden wie Oma Tilly oder Tante Karin. Das sind nämlich nicht deine leiblichen Verwandten.“ Vermutlich spielte meine Mutter mit ihren Worten auch auf die Pfunde an, die mein Vater ihrer Ansicht nach zu viel am Bauch mit sich herumtrug, doch er nahm ihre versteckte Kritik geduldig hin. Für diese Ruhe und Ausgeglichenheit bewunderte ich meinen Vater und fühlte mich innerlich viel mehr zu ihm hingezogen als zu meiner launischen Mutter.

In den 1970er Jahren trug mein Vater sein braunes Haar so lang, dass es seine Ohren bedeckte, und dazu einen Vollbart. Auch später, als es schon unmodern war, hielt er noch an dieser Frisur fest. Erst als das Haar meines Vaters bereits dünner wurde, ließ er es kurz schneiden, doch auf seinen Bart wollte er nie verzichten. Die braunen Augen meines Vaters erinnerten mich an die eines treuen Bernhardiners, während aus den Augen meiner Mutter förmlich Funken sprühen konnten, wenn etwas nicht nach ihrem Willen verlief. In solchen Momenten zog ich es dann vor, mich in mein kleines Zimmer zurückzuziehen.

In dem Hochhaus, in dem wir lebten, fühlte ich mich trotz der Anonymität und Schäbigkeit seltsamerweise sehr wohl. Das lag vermutlich daran, dass sich hier jeder nur um sich selbst kümmerte und auch nichts anderes vorgab. Niemand heuchelte Interesse am Wohlergehen seiner Nachbarn, und niemand schrieb anderen vor, wie sie zu leben hatten. Leben und leben lassen, lautete das Motto der Hochhausbewohner. Das war ungeschriebenes Gesetz. Jeder gab sich hier so, wie er war. Wer hier allerdings allein wohnte und keine Bekannten hatte, konnte wochenlang tot in seiner Wohnung liegen, ohne dass es jemandem auffiel. Die Wohnungen in dem Haus waren so zahlreich, dass es unmöglich war, alle Bewohner zu kennen. Es waren schon seltsame Leute darunter, die meine Großmutter väterlicherseits, wenn sie sich denn einmal gemeinsam mit meinem Großvater dazu herabließ, ihre Vorstadtvilla zu verlassen und uns zu besuchen, regelmäßig an den Rand des Nervenzusammenbruchs brachten.

„Wisst ihr, was uns gerade wieder zugestoßen ist?“, fragte Auguste, die ich nur mit ihrem Vornamen ansprechen durfte, einmal am Wochenende nach meinem zwölften Geburtstag, kaum dass meine Großeltern den engen Flur unserer Wohnung betreten hatten. „Da stieg so ein Langhaariger zu uns in den Fahrstuhl, der nur mit einer Unterhose bekleidet war! Nur mit einer Unterhose! Das muss man sich mal vorstellen! Das ist doch ungeheuerlich! Aber der Kerl tat so, als wäre es das Normalste auf der Welt. Ihr lebt hier wirklich mit dem letzten Gesocks unter einem Dach. Aber was soll man in einem Hochhaus auch anderes erwarten. Hier wohnt man doch nur, wenn man sich nichts Besseres leisten kann.“

„Auguste ...“, versuchte mein Großvater, versöhnlich einzugreifen, bevor er seinen Hut von seinem spärlichen Haar nahm und auf die Ablage der Garderobe legte.

„Nichts: ‚Auguste‘“, widersprach meine angriffslustige Großmutter. „Ich werde ja wohl noch zum Ausdruck bringen dürfen, wie sehr mich dieses Haus samt seiner Insassen anwidert.“

„Vielen Dank“, nahm mein Vater die Beleidigung ruhig an und half seiner Mutter aus dem Mantel. „Bei dem Kerl wird es sich um jemanden aus der Kommune handeln, die hier lebt. Die sind zwar etwas anders als der Durchschnittsbürger, aber ansonsten ganz in Ordnung. Jedenfalls, soweit wir das beurteilen können.“

„Aus der Kommune? Die nehmen doch alle Drogen und liegen der arbeitenden Bevölkerung auf der Tasche“, schimpfte meine Großmutter. „Mit so einem kriminellen Gesindel lebt ihr also unter einem Dach. Warum überrascht mich das eigentlich noch? Jedes Mal erwartet uns hier ein anderer Schock. Am liebsten würde ich sofort wieder fahren.“

„Lass dich nicht aufhalten“, murmelte meine Mutter hinter mir, die sich noch nie mit ihrer Schwiegermutter verstanden hatte.

„Du siehst blass aus, Susi“, wandte sich meine Großmutter nun mit besorgter Miene an mich, bevor sie mir die Hand gab, um mir nachträglich zum Geburtstag zu gratulieren. Mit ihrem kurzen grauen Haar und ihrer spitzen Nase erinnerte sie mich immer an eine Ratte. Wie üblich trug sie ein elegantes Kostüm, an diesem Tag ein dunkelblaues, und dazu eine teure Perlenkette mit passenden Ohrringen. „Kommst du nicht genug an die frische Luft? Obwohl man von dem Abgasmief da draußen ja erst recht krank wird.“ Sie blickte vorwurfsvoll zu meiner Mutter.

„Auguste ...“, mahnte mein Großvater leise, bevor auch er mir gratulierte und dabei über meinen Kopf tätschelte, als wäre ich ein Hund.

„Dein Geschenk hast du ja schon bekommen“, teilte mir meine Großmutter mit und meinte damit eine Einzahlung auf das Sparkonto, das meine Großeltern extra für mich hatten einrichten lassen. „Damit wenigstens irgendjemand für dich etwas zurücklegt.“ Mit dieser spitzen Bemerkung spielte sie auf die Tatsache an, dass meine Eltern zu wenig verdienten, um für mich zu sparen, beziehungsweise meine Mutter das Geld lieber für andere Dinge verschwendete.

„Nun lasst uns doch erst einmal an der Kaffeetafel Platz nehmen“, schlug mein Vater vor, während mein Großvater, der, wenn er uns besuchte, stets ein Oberhemd mit Krawatte unter seinem Pullover und dazu eine graue Stoffhose trug, zunächst meiner Mutter zur Begrüßung förmlich die Hand gab und anschließend meinem Vater auf die Schulter klopfte. Äußerlich war mein Großvater mit seinen braunen Bernhardineraugen und seiner etwas rundlichen Figur meinem Vater ähnlich. Auch innerlich glichen sie sich. Mein Großvater war wie mein Vater eher ruhiger Natur und bildete somit das Gegenstück zu meiner nörgelnden Großmutter.

Diese stolzierte in unser Wohnzimmer, nachdem sie meiner Mutter zur Begrüßung nur kurz zugenickt hatte. „Mein Gott, wie ihr in dieser Enge nur leben könnt“, wunderte sie sich nicht zum ersten Mal, wenn sie bei uns war, über den kleinen Raum, der gerade genug Platz für eine Sitzgarnitur mit Tisch und einen Schrank, in dem sich ein Fernseher befand, bot.

„Wir finden es gemütlich“, behauptete mein Vater, obwohl er mit meiner Mutter, die von einer größeren Wohnung träumte, des Öfteren über einen Umzug stritt.

Meine Großmutter setzte sich auf das mit braunem Kordstoff bezogene Sofa und forderte meinen Großvater auf, neben ihr Platz zu nehmen, indem sie mit der linken Hand auf das Polster klopfte. Meine leger in Jeans gekleideten Eltern und ich ließen uns jeweils auf einem Sessel an der gedeckten Tafel nieder. Im Gegensatz zu den vorherigen Malen, bei denen wir bei Besuchen meiner Großeltern gezwungen gewesen waren, an einem zu niedrigen Couchtisch Kaffee zu trinken, konnten wir jetzt von der neuesten Anschaffung meiner Mutter, einem höhenverstellbaren Tisch aus Eichenholz, dessen Tischplatte mit beigegemusterten Kacheln verziert war, profitieren. Alles andere als günstig war auch das feine weiße Service mit buntem Blumendekor gewesen, das meine Mutter ebenfalls unbedingt erstehen musste. Das alte warf sie einfach auf den Müll, weil sie es nicht mehr sehen konnte, obwohl wir es noch für den Alltag hätten nutzen können. Ich wusste, dass meine Mutter auf einen bewundernden Kommentar ihrer Schwiegereltern hoffte, doch meine Großmutter zeigte nur auf den auf einer Porzellanplatte in Scheiben angerichteten Marmorkuchen. „Das ist jetzt hoffentlich nicht wieder so eine Backmischung wie beim letzten Mal, Yvonne. Ulrich und ich hatten davon noch die ganze Nacht Magenbeschwerden. Das kommt von all den künstlichen Zusatzstoffen, die da drin sind. Wenn man keine Lust zum Backen hat, sollte man sein Gebäck beim Bäcker kaufen, statt so ein Fertigzeug zu essen.“

„So schlecht hat der Kuchen beim letzten Mal gar nicht geschmeckt“, stellte mein Großvater fest, während meine Mutter Kaffee einschenkte. Obwohl sie es zu verbergen versuchte, wusste ich, dass sie vor Wut kochte.

„Mein lieber Ulrich“, widersprach meine Großmutter ihrem Mann, „du hast wohl vergessen, dass du nur mit einer Wärmflasche auf dem Bauch einschlafen konntest, während ich vor lauter Magenkrämpfen die ganze Nacht nicht zur Ruhe gekommen bin.“

„Natürlich ist der Kuchen zu einhundert Prozent selbstgebacken“, log meine Mutter ihrer Schwiegermutter ungeniert ins Gesicht, als sie deren Tasse füllte. „Deine Kritik beim letzten Mal habe ich mir sehr zu Herzen genommen.“

„Siehst du, kein Grund zur Aufregung“, fand mein Großvater und reichte meinem Vater seinen Teller, der ein dickes Stück von dem Marmorkuchen darauflegte.

„Du solltest nicht so ein großes Stück nehmen“, versuchte meine Großmutter einzugreifen, doch mein Großvater hatte seinen Teller schon wieder vor sich hingestellt. Mahnend sprach sie weiter: „Du als Arzt solltest am besten wissen, dass dieses Zuckerzeug überhaupt nicht gesund für dich ist.“

„Man kann auch mal eine Ausnahme machen“, entgegnete mein Großvater ruhig und führte die Kuchengabel mit dem ersten Bissen zu seinem Mund, sobald alle etwas auf ihrem Teller hatten. „Lässt sich essen“, lobte er kauend, während meine Großmutter mit der Gabel einen winzigen Brocken von ihrem Stück abteilte.

„Rudi macht sich wie erwartet sehr gut in der Praxis“, berichtete Auguste schließlich, nachdem alle eine Weile schweigend vor sich hin gekaut hatten. Ich sah meiner Mutter an, dass ihr die Lust auf eine Konversation vergangen war. Ihre Aggression ließ sie an dem Kuchen auf ihrem Teller aus, den sie mit der Gabel in kleine Stücke hackte und anschließend zerdrückte, bevor sie ihn zu sich nahm. Meine Großmutter fügte hinzu: „Er hat sich in kürzester Zeit eingearbeitet. Es war die richtige Entscheidung, ihn dort aufzunehmen.“

Rudolph, meistens Rudi genannt, war der jüngere Bruder meines Vaters, der nach Beendigung seiner Ausbildung zum Allgemeinmediziner seit einigen Wochen gemeinsam mit meinem Großvater in dessen Praxis als Arzt tätig war, bevor er sie eines Tages übernehmen sollte.

„Der Junge ist ein Grünschnabel und muss noch viel lernen“, stellte mein Großvater richtig. „So schnell kann ich mich noch nicht zur Ruhe setzen. Es dauert auch immer eine Weile, bis die Patienten einem neuen Arzt vertrauen.“

„Davon war doch auch gar nicht die Rede, Ulrich, dass du dich zur Ruhe setzen sollst“, entgegnete meine Großmutter. „Ich weiß doch, was dir die Praxis bedeutet. Ich wollte ja nur sagen ...“

„Ich bin zum Restaurantchef befördert worden“, unterbrach nun mein Vater, den meine Mutter schon den ganzen Tag gedrängt hatte, seinen Eltern bei der ersten sich bietenden Gelegenheit die Neuigkeit zu verkünden, damit nicht immer wie sonst nur sein erfolgreicher Bruder im Mittelpunkt stand.

„Restaurantchef?“, fragte Auguste nach, während mein Großvater mit seinem Kaffeelöffel die letzten Kuchenkrümel von seinem Teller aufnahm. „Und was heißt das nun genau? Ist das nur so ein ... Titel, oder bedeutet es auch endlich einmal mehr Geld? Es ist ja übrigens ein wahres Wunder, dass ihr beide euch wenigstens heute für die Geburtstagsfeier eurer Tochter freinehmen konntet. Sonst müsst ihr doch immer so viel arbeiten. Und das für einen Hungerlohn.“

„Nun ...“, setzte mein Vater an, bevor ihn meine Mutter bei diesem heiklen Thema unterbrach, indem sie die Kaffeekanne nahm und „Jemand noch Kaffee?“ in die Runde fragte.

Sofort hielt meine Großmutter ihre rechte Hand über ihre eigene Tasse und ihre linke über die meines Großvaters. „Nein, danke. Keinen Kaffee mehr für uns. Wir hätten eigentlich gar nichts davon trinken sollen. In unserem Alter verträgt man nicht mehr so viel Koffein. Da kommen wir heute Nacht wieder nicht zur Ruhe. Wenn es geht, könntest du uns beim nächsten Mal koffeinfreien Kaffee kochen, Yvonne. Oder am besten gleich Kamillentee. Den vertragen wir am besten.“

„‚Oder am besten gleich Kamillentee! Den vertragen wir am besten!‘“, ahmte meine vor Wut kochende Mutter mit schriller Stimme ihre Schwiegermutter nach, kaum dass meine Großeltern sich verabschiedet hatten. „Deine Mutter ist so ein eingebildetes Miststück! Wie hält dein Vater es nur mit so einer furchtbaren Frau aus?“

„Rede doch bitte nicht so über meine Mutter“, bat mein Vater ruhig. „Erst recht nicht vor Susi.“

„Susi weiß schon längst, was für ein Drachen ihre Großmutter ist!“, schrie meine Mutter. „Meine Mutter mag ja ihre Fehler haben, aber deine ist nicht zum Aushalten! Nicht – zum - Aushalten! An der Stelle deines Vaters hätte ich sie schon längst erwürgt!“

„Yvonne, bitte! Hör auf, so zu reden. Mein Vater hat sich an die Art meiner Mutter gewöhnt. Er nimmt‘s mit Humor. Was bleibt ihm auch anderes übrig?“

Wenn in der Folgezeit zwei entscheidende Dinge nicht eingetreten wären, hätte sich vielleicht alles ganz anders entwickelt. Aber so kam es zu der wahnwitzigen Idee meiner Mutter, unbedingt einen eigenen Gastronomiebetrieb besitzen zu wollen.

Zunächst kam eine der ehemaligen Schulfreundinnen, mit denen meine Mutter während der Arbeitszeit hin und wieder telefonierte, nach Jahren zu einem Besuch in ihre Heimatstadt und unangemeldet in das „Jahreszeiten-Hotel“, um meine Mutter zu überraschen und sich deren Arbeitsplatz anzusehen, den meine Mutter in den schillerndsten Farben beschrieben hatte. Dabei bemerkte die Freundin natürlich, dass das Hotel nichts Besonders war und meine Mutter, anders als sie es dargestellt hatte, dort auch keine leitende Position innehatte. Das allein war für meine Mutter schon sehr peinlich. Noch unangenehmer wurde es, als diese Freundin in der Folgezeit weiteren ehemaligen Bekannten aus der Schulzeit von ihrer Feststellung berichtete. Davon erfuhr meine Mutter wiederum, als sie mit einer anderen ehemaligen Mitschülerin telefonierte, die sie damit auch noch aufzog.

„Was bilden sich diese einfachen Hausfrauen eigentlich ein!“, hörte ich eines Abends meine Mutter meinen Vater in der Küche anschreien. „Die haben doch noch nie etwas anderes gesehen als einen Küchenherd! Und die wollen über mich und meinen Arbeitsplatz urteilen? Dass ich nicht lache! Diese dämlichen Kühe! Dass ich mich mit denen überhaupt abgegeben habe! Die sind mir doch alle komplett unterlegen und daher natürlich neidisch auf das, was ich aus meinem Leben gemacht habe! Oh, wie ich diese verlogenen Weibsbilder hasse! Mit keiner von ihnen will ich noch etwas zu tun haben! Nie wieder werde ich auch nur ein Wort mit denen reden! Nie wieder! Als Abschiedsgeschenk werde ich aber noch jeder einen Brief schreiben, in dem ich ihnen klipp und klar ins Gesicht sage, was für primitive Tussis sie sind!“

„Was soll das denn bringen, Yvonne“, gab mein Vater zu bedenken. „Das regt dich nur unnötig auf. Und du weißt doch gar nicht, ob sich wirklich alle hinter deinem Rücken über dich lustig machen. Es wäre ungerecht, sie alle zu beschimpfen. Das wird dir nur Scherereien einbringen.“

„Günther, misch dich da bloß nicht ein!“, warnte meine Mutter. „Ich werde ja wohl am besten wissen, was das alles für verlogene Schlangen sind! Ich schreibe die Briefe, und zwar jetzt gleich! Du gehst am besten ins Wohnzimmer, denn hier störst du mich nur.“

Sicher hatte meine Mutter ihre ganze Wut in den Briefen ausgelassen und sehr böse Dinge zu Papier gebracht. In der Folgezeit wartete sie geradezu darauf, eine Antwort auf ihre Hassschreiben zu erhalten. Es kam nicht eine einzige, was meine Mutter sehr kränkte. Schließlich konnte sie es nicht länger ertragen und zwang meinen Vater, unter einem Vorwand eine der ehemaligen Klassenkameradinnen anzurufen, die einen der Briefe erhalten hatten. Diese brachte gegenüber meinem Vater ihr Mitleid darüber zum Ausdruck, dass er mit so einer verlogenen, vulgären Frau verheiratet war, bevor sie das Gespräch beendete.

Das alles hatte meiner Mutter sehr zugesetzt, auch wenn bei uns zu Hause anschließend nicht mehr darüber gesprochen wurde. Noch schlimmer wurde es, als sie ihren Arbeitsplatz verlor, obwohl sie das ganz allein sich selbst zuzuschreiben hatte. Sie meinte wohl, sich durch ein extra großes Trinkgeld selbst trösten zu müssen, und ging beim Durchsuchen der neben der Rezeption aufgehängten Garderobe der Gäste leichtsinniger vor als üblich. Ein Gast ertappte sie auf frischer Tat, packte sie, zog sie mit sich ins Restaurant und beschwerte sich dort in voller Lautstärke vor allen anderen Gästen bei Herrn Greif, der meinem Vater gerade eine Arbeitsanweisung erteilte. Auf das Einschalten der Polizei wurde nur deshalb verzichtet, weil sich meine Mutter bereit erklärte, sofort ihre Sachen zu nehmen und zu verschwinden. Ich erfuhr von der Katastrophe wieder einmal durch ein heimlich belauschtes abendliches Gespräch zwischen meinen Eltern.

„Du musst dich bei Herrn Greif entschuldigen“, fand mein Vater. „Vielleicht nimmt er dann die Kündigung zurück und gibt dir noch eine Chance.“

„Bei dem Greif entschuldigen?“, rief meine Mutter entrüstet. „Spinnst du? Ich soll dem widerlichen Kerl noch in den Hintern kriechen, damit er mich anschließend für diese Gefälligkeit begrabschen kann, wann immer er Lust dazu hat? So weit kommt es noch!“

„Aber wir brauchen das Geld“, argumentierte mein Vater. „Und Herr Greif wird dir kein Zeugnis ausstellen. Jedenfalls keines, mit dem du dich woanders bewerben kannst.“

„Weißt du was, Günther: Ich will mich auch gar nicht woanders bewerben! Ich will mich nicht mehr vor irgendwelchen Leuten kleinmachen, die meinen, etwas Besseres zu sein und mir vorschreiben zu können, was ich zu tun und zu lassen habe! Davon habe ich schon lange genug! Und deshalb habe ich beschlossen, dass wir uns etwas Eigenes aufbauen. Weshalb bin ich nur nicht schon viel früher darauf gekommen?“

„Etwas ... Eigenes“, wiederholte mein Vater verdutzt.

„Ja, Günther. Etwas Eigenes. Wir hören auf, uns von anderen versklaven zu lassen, sondern sind in Zukunft unser eigener Herr. In unserem eigenen Restaurant, Hotel oder was weiß ich.“

„Aber Yvonne ... Dafür haben wir doch überhaupt kein Geld.“

„Ja, und? Dann nehmen wir eben einen Kredit auf.“

„Das haben wir doch schon ...“

„Dann nehmen wir eben noch einen auf! Wen kümmert‘s? Nein, Günther, ich werde keine jämmerliche Ausrede zulassen, weshalb wir in Zukunft nicht auf eigenen Beinen stehen sollten. Unabhängig von anderen! Endlich frei! Und noch dazu Geld, Geld, Geld, das unser Geschäft abwerfen wird!“

„Erst einmal wird es uns eine Menge Arbeit einbringen.“

„Die haben wir doch jetzt auch schon! Da hat deine Mutter ausnahmsweise einmal Recht: Wir rackern uns ab, tagaus tagein. Und was haben wir davon? Überhaupt nichts! Ich werde ab jetzt in der Zeitung nach passenden Objekten Ausschau halten, ob es dir nun gefällt oder nicht. Wenn wir dann das Richtige gefunden haben, wirst auch du überzeugt sein. Das wird eine ganz große Sache.“

Meine Mutter begann, die Anzeigen in der Zeitung täglich nach passenden Angeboten zu durchsuchen, leider ohne Erfolg, was ihre Laune noch mehr trübte. Sie war jetzt den ganzen Tag zu Hause und kam sich nutzlos vor. Der Haushalt, den sie sonst nebenbei erledigt hatte, füllte sie nicht aus. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass ich die Zeit, in der meine Mutter berufstätig und ich mehr oder weniger auf mich allein gestellt gewesen war, genossen hatte. Jetzt belästigte sie mich regelrecht mit ihrer Fragerei, wie es in der Schule gewesen sei und ob ich schon meine Hausaufgaben erledigt hätte. Auch gab es für mich nun keinen Grund mehr, Oma Tilly zu besuchen. Meine Mutter wollte nicht, dass ich weiterhin zu ihr Kontakt hatte, wenn sie es auch nicht offen sagte. Vielmehr drückte sie es so aus, dass sie nun wieder selbst für mich sorgen könne und ich außerdem mit meinen zwölf Jahren langsam zu alt für einen Babysitter sei. Damit entfielen leider auch die spannenden Videofilme, die ich mir bei meiner Großmutter heimlich angesehen hatte, denn meine Eltern besaßen keinen Videorekorder. Außerdem war meine Mutter nun ständig anwesend. Wenn mein Vater abends spät arbeiten musste, saßen sie und ich gemeinsam vor dem Fernseher. Doch war es unmöglich, der Handlung einer Sendung zu folgen. Denn meine Mutter schaltete immer wieder zwischen den wenigen Programmen, die es damals gab, hin und her, weil sie wegen des Misserfolgs, noch keinen geeigneten Gastronomiebetrieb, den sie ihr Eigen nennen konnte, gefunden zu haben, voller innerer Unruhe war und sich nicht lange auf etwas konzentrieren konnte. Schnell hielt sie die Tatenlosigkeit nicht mehr aus und beschloss, an der Volkshochschule einen Buchhaltungsgrundkurs zu belegen, da sie diese Fachkenntnisse, wenn sie erst einen eigenen Gastronomiebetrieb besaß, brauchen werde. Sie meldete auch meinen Vater mit an, der seine Arbeitszeit so einzuteilen hatte, dass er sie begleiten konnte. „Du bist doch Restaurantchef“, meinte meine Mutter nur, als mein Vater zu bedenken gab, dass es schwierig sein werde, sich für den Volkshochschulkurs, der dreimal pro Woche in den Abendstunden stattfinden sollte, immer freizunehmen. „Da wirst du den Dienstplan ja wohl nach deinem Geschmack schreiben dürfen.“

Ich genoss die Abende, die ich nun wieder für mich hatte. Dennoch vermisste ich Oma Tilly und seltsamerweise auch ihren Kater Larry, obwohl ich ihn kaum je zu Gesicht bekommen hatte.

Als der Kurs an der Volkshochschule nach drei Wochen abgeschlossen war, nahm die Unzufriedenheit meiner Mutter wieder zu. Da sie wegen der Kosten keinen Makler für die Vermittlung eines geeigneten Pacht- oder Kaufobjekts einschalten wollte und auch in der Zeitung noch nicht fündig geworden war, bedrängte sie meinen Vater, im „Jahreszeiten-Hotel“ bei seinen Kollegen herumzufragen, ob nicht jemand einen Tipp habe.

„Dann kann ich mir auch gleich ein Schild um den Hals hängen, dass ich vorhabe, mich selbständig zu machen, und deshalb demnächst kündigen werde“, lautete der Einwand meines Vaters.

„Ja, und? Es können doch ruhig alle wissen, dass wir es satthaben, für andere zu knechten“, entgegnete meine Mutter unbeeindruckt. „Oder hast du etwa Angst, dass der Greif von unseren Plänen erfährt? Dann erfährt er es eben! Es wird Zeit, dass du dich endlich einmal wie ein Mann benimmst, Günther!“

Mein Vater erkundigte sich also hinter vorgehaltener Hand bei seinen Kollegen, ob sie jemanden kannten, der ein Hotel, eine Pension oder ein Restaurant verpachten oder besser noch verkaufen wollte. Tatsächlich erhielt er so den Hinweis auf einen zum Verkauf stehenden Gasthof, der sich in einem kleinen Ort etwa einhundert Kilometer entfernt von meiner Heimatstadt befand.

„Siehst du, Günther!“, triumphierte meine Mutter, als meine Eltern und ich gemeinsam am Abendbrottisch saßen und mein Vater von der Information berichtete. „Ich wusste doch, dass wir etwas finden! Das ist ein Wink des Schicksals! Nächsten Sonntag hast du ja zum Glück frei. Dann fahren wir zu dritt ins Grüne und sehen uns den Gasthof an! Am besten rufst du den Besitzer noch heute Abend an, um eine Uhrzeit zu vereinbaren.“

„Freu dich bitte nicht zu früh, Yvonne“, versuchte mein Vater, die Euphorie meiner Mutter zu bremsen. „Der Gasthof steht schon seit einer Weile leer und soll ziemlich renovierungsbedürftig sein.“

„Ja, und? Dann ist der Kaufpreis umso niedriger! Du bist doch handwerklich begabt! Und ganz ungeschickt bin ich auch nicht! Wir werden den Gasthof gemeinsam herrichten, und dann haben wir ein Schmuckstück, das uns gehört. Uns ganz allein.“ Die Augen meiner Mutter leuchteten, während sie sich das ausmalte.

Gleich nach dem Abendessen telefonierte mein Vater, wie von meiner Mutter gewünscht, mit dem Besitzer des Gasthofs. Dieser war sofort bereit, uns das Gebäude am nächsten Sonntagvormittag zu zeigen.

„Wisst ihr was?“, schlug meine Mutter später beim gemeinsamen Fernsehen im Wohnzimmer vor. „Ich packe uns einen Picknickkorb mit lauter Leckereien, und dann essen wir nach dem Besichtigungstermin bei dem schönen Sommerwetter im Freien! Irgendwo im Wald oder auf einer Wiese! Was haltet ihr davon?“

„Das ist eine tolle Idee, Yvonnee“, gab sich mein Vater Mühe, Begeisterung zu heucheln. „Wirklich toll.“

„Und du, Susi?“, wandte sich meine Mutter nun an mich. „Sagst du gar nichts?“

„Muss ich denn mit?“, wollte ich wissen. Ich hatte insgeheim gehofft, die Abwesenheit meiner Eltern für einen Besuch bei Oma Tilly nutzen zu können.

„Ja, natürlich musst du mit!“, erwiderte meine Mutter. „Interessieren dich die Zukunftspläne deiner Eltern so wenig? Außerdem ist es möglich, dass wir schon in ein paar Monaten dort wohnen werden, je nachdem, wie schnell es mit dem Kauf und der Renovierung vorangeht.“

Mir entging nicht der zweifelnde Blick meines Vaters bei diesen Worten.

So fuhren wir also, wie meine Mutter es wollte, am darauffolgenden Sonntag mit dem Auto meiner Eltern aufs Land, um uns den besagten Gasthof anzusehen. Mein Vater war der Ansicht, dass ein eigener Wagen in der Großstadt nicht notwendig sei, doch meine Mutter wollte das Auto unbedingt behalten, um unabhängig zu sein, obwohl sie selbst keinen Führerschein hatte. „Siehst du, Günther, nun sind wir doch froh, dass wir das Auto haben, oder etwa nicht?“, fragte sie meinen Vater gut gelaunt, als wir aus der Stadt herausfuhren. „Wie hätten wir denn sonst in dieses Dorf kommen sollen? Das wäre mit Bus und Bahn ja eine Tagesreise geworden.“

Es war ein warmer, sonniger Tag Anfang Juni, und ich zählte bereits die Tage bis zu den Sommerferien. Sowohl meine Eltern als auch ich hatten uns dazu entschieden, zur Gasthofbesichtigung sommerliche Kleidung, Shorts und T-Shirt, anzuziehen. Die Luft im Auto war, obwohl es noch recht früh war, schon stickig, und ich kurbelte gleich das hintere Fenster an meiner Seite ein Stück herunter, da mir beim Autofahren sowieso immer schnell übel wurde. Ich bedauerte, diesen schönen Tag nicht mit meinen Freunden im Freibad genießen zu können. Auch den Samstag hatte ich, statt vom Wetter zu profitieren, mit meiner Mutter größtenteils schwitzend in der heißen Küche bei heruntergelassenem Rollo als Schutz vor der Sonne verbracht, wo wir auf ihren Wunsch die Leckerbissen für das Picknick zubereitet hatten. Meine Mutter war angesichts der bevorstehenden Besichtigung des Gasthofs regelrecht euphorisch gewesen und hatte darauf bestanden, dass das Picknick aus zahlreichen Köstlichkeiten bestehen sollte. „Dann essen wir eben in den nächsten Tagen die Reste“, hatte sie nur unbeschwert auf meinen Einwand geantwortet, dass das alles viel zu viel sei. So hatten wir Butter auf ein Dutzend aufgeschnittene Brötchen geschmiert und sie mit Wurst und Käse belegt, zahlreiche Hackbällchen gedreht, die Zutaten für einen Blatt- und anschließend für einen Obstsalat zerkleinert und vermischt. Außerdem hatten wir noch eine ganze Packung Eier gekocht.

„Hartgekochte Eier sind bei einem Picknick sehr praktisch“, hatte meine Mutter gemeint, die während unserer Tätigkeit glücklich vor sich hin gesummt hatte.

Bei dem gemäßigten Tempo, mit dem mein Vater durch die Stadt fuhr, ging es mir noch einigermaßen gut, doch kaum waren wir auf der Autobahn, musste ich ihn bitten, den nächsten Parkplatz anzusteuern, damit sich mein rebellierender Magen an der frischen Luft beruhigen konnte.

„Na, toll“, beklagte sich meine Mutter vorwurfsvoll, nachdem wir angehalten hatten, während ich mir, erleichtert, dass die Fahrt unterbrochen war, bei geöffneter Wagentür auf der Rückbank sitzend gleichmäßig atmend vorsichtig über den Bauch strich und darauf wartete, dass meine Übelkeit nachließ. „Jetzt werden wir zu spät kommen. Sicher wird uns der Gasthofbesitzer dann für unzuverlässig halten und uns erst gar nicht mehr empfangen wollen.“

„Ach was“, versuchte mein Vater, meine Mutter zu beruhigen und mir gleichzeitig mein schlechtes Gewissen zu nehmen. Er war schlau genug, nicht daran zu erinnern, dass er eine Stunde früher hatte losfahren wollen, meine Mutter aber darauf bestanden hatte, an einem Sonntag wie die normale Bevölkerung auszuschlafen. „Der Mann hat mir gesagt, dass er gleich nebenan wohnt. Der wird sich schon nicht die Beine in den Bauch stehen, sondern sich die Zeit auf seinem Grundstück sinnvoll vertreiben.“

„Geht‘s denn nun wieder, Susi?“, wollte meine ungeduldige Mutter wissen.

„Ich ... bin mir nicht sicher.“

„Wir warten einfach noch ein paar Minuten“, entschied mein Vater, stieg aus und ging zum Kofferraum. „Möchte jemand Limonade?“

Nachdem mein Vater etwas getrunken hatte, setzten wir die Fahrt fort, mussten aber, weil es mir wieder schlechter ging, noch an einem weiteren Rastplatz halten. Schließlich verließen wir die Autobahn und fuhren in gemächlicherem Tempo durch Ortschaften und über von Feldern und Viehweiden gesäumte Landstraßen.

„Schafshausen sechs Kilometer: Da steht‘s“, verkündete mein Vater plötzlich und zeigte auf ein gelbes Hinweisschild am rechten Straßenrand, auf das wir zufuhren. „Wir sind gleich da. Schafshausen. Klingt nicht gerade wie das Zentrum des Universums.“

„Meinetwegen könnte es auch Entenhausen heißen“, meinte meine wieder besser gelaunte Mutter unbeschwert. „Solange wir dort unser Glück finden.“

Etwas später wehte ein ekelhafter Geruch durch das immer noch offene Autofenster neben mir.

„Puh“, stöhnte meine Mutter. „Da kann einem ja ganz anders werden. Kurbel bloß schnell die Scheibe hoch, Susi!“

Das tat ich sofort, doch wurde der Gestank, je weiter wir fuhren, immer schlimmer, und mein Magen begann, wieder unruhig zu werden.

„Schweinegülle, ganz unverkennbar“, erklärte mein Vater. „Man kann den Geruch ganz leicht von Rindergülle unterscheiden, weil ...“

„Günther, das ist ja wohl jetzt nicht dein Ernst!“, warnte ihn meine Mutter weiterzusprechen.

Der Ortseingang von Schafshausen kam in Sicht, und kurz davor mehrere längliche Gebäude.

„Das sind Schweinemastställe“, klärte uns mein Vater, der in einer ländlichen Gegend aufgewachsen war, auf. „So einen Riesenbetrieb habe ich noch nie gesehen. An den Geruch werden wir uns also gewöhnen müssen, wenn wir hier wohnen.“

Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass mein Vater bei diesen Worten gegenüber meiner Mutter Schadenfreude empfand. Während wir auf der Suche nach dem Gasthof langsam durch den Ort fuhren, fielen uns die vielen verlassen wirkenden Häuser mit teilweise verwilderten Vorgärten auf. Auf manchen Grundstücken wies ein Schild darauf hin, dass die Häuser zum Verkauf standen.

„Ein Geisterdorf“, stellte mein Vater fest.

„Also, ich steige hier erst gar nicht aus“, verkündete meine enttäuschte Mutter. „Dreh irgendwo und lass uns zurückfahren.“

„Ich glaube, ich muss erst noch einmal raus“, stöhnte ich.

„Wir werden dem Gasthofbesitzer zumindest sagen, dass wir kein Interesse mehr haben“, entschied mein Vater. „Das gehört sich so. Da vorn ist es.“ Er meinte ein gräuliches zweistöckiges Gebäude, das hinter Bäumen und Büschen etwas abgelegen von der Hauptstraße, die durch Schafshausen führte, stand, und hielt am Straßenrand. Sofort riss ich die Tür auf und stürzte auf wackeligen Beinen zum nächsten Gebüsch, um mich dort zu übergeben. Erst als ich meinen Magen entleert hatte, fiel mir der Mann auf, der vor dem Gasthof im ungemähten Gras stand und auf den mein Vater zugegangen war. Der Mann war sicher siebzig Jahre alt und trug trotz des warmen Wetters schwarze Gummistiefel über seiner khakifarbenen Kordhose. Sein graues Baumwollhemd hatte er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Seinen Kopf bedeckte eine Kordmütze in der Farbe seiner Hose.

„Herr Meck, das ist meine Tochter Susi“, stellte mich mein Vater dem Gasthofbesitzer vor.

„Manni Meck, freut mich“, erwiderte der Mann und reichte mir seine schweißfeuchte, schwielige Hand. „Das Fräulein hat wohl einen empfindlichen Magen, was?“

„Also, wie gesagt, Herr Meck“, antwortete mein Vater, ohne auf dessen Kommentar einzugehen, „leider kommt Ihr Gasthof für uns nicht in Betracht. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben.“

Bevor mein Vater und ich zurück zum Auto gingen, warf ich noch einen Blick auf das Gebäude, und erst jetzt fiel mir auf, dass es einmal weiß gewesen war, denn Reste des ehemaligen Anstrichs waren noch über der Eingangstür vorhanden, wo vermutlich erst kürzlich das Schild mit dem Namen des Gasthofs abgenommen worden war. Sicher hatten die vergilbten Gardinen, die an den Fenstern hingen, früher ebenfalls eine strahlendere Farbe gehabt. Das Holz der Eingangstür und das der Fenster war hellbraun und wirkte wie von der Sonne ausgetrocknet.

„Lass uns bloß von hier verschwinden!“, forderte meine Mutter, sobald mein Vater und ich wieder im Wagen saßen.

„Wir nehmen eine andere Strecke zurück“, verkündete mein Vater, nachdem wir Schafshausen, die Schweineställe und den Gestank endlich hinter uns gelassen hatten. „Landstraße statt Autobahn. Das dauert zwar länger, aber so können wir uns ein schönes Plätzchen für ein Picknick suchen.“

Bei dem Gedanken an Hackbällchen und hartgekochte Eier drehte sich mir schon wieder leicht der Magen.

„Dass du nach diesem Reinfall noch an essen denken kannst!“, antwortete meine Mutter vorwurfsvoll. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie mit den Tränen kämpfte.

„Es ist ja noch früh“, kam ihr mein Vater versöhnlich entgegen. „Das mit dem Picknick können wir uns ja noch überlegen. Genießen wir jetzt erst einmal die schöne Natur.“

Die weitere Fahrt verlief zunächst schweigend und wurde nur von dem gelegentlichen Schniefen meiner am Boden zerstörten Mutter unterbrochen. Ich hatte mich auf die linke Seite der Rückbank gesetzt, da diese auf der Schattenseite lag, das Fenster neben mir wieder geöffnet und ließ mir den Sommerwind um die Nase wehen. Sicher würden sich meine Sommersprossen heute vermehren.

Wir waren etwa eine Stunde unterwegs und hatten gerade wieder eine Ortschaft verlassen, als mein Vater nach kurzer Beschleunigung auf der von großen Bäumen gesäumten Landstraße abbremste und dann nur noch im Schritttempo vorankam. Ein Stau hatte sich gebildet. Der Grund dafür war noch nicht erkennbar. An der linken Straßenseite lichteten sich nun die Bäume, und es kam ein Parkplatz voller Autos zwischen einem Gebäudekomplex aus Backstein in Sicht. Auf einem länglichen, L-förmigen Gebäude leuchtete trotz des hellen Sommerwetters in riesigen neonroten Buchstaben das Wort „Motel“. Neben einem weiteren Gebäude, das näher an der Straße stand, verkündete ein Schild, dass es darin einen Imbiss und alles für die Reise gebe.

„Halt an!“, schrie meine Mutter plötzlich und, als mein Vater nicht sofort reagierte: „Du sollst anhalten, Günther!“

„Ich kann hier nicht so einfach anhalten!“, gab mein Vater gereizt zurück, wie es sonst eigentlich nicht seine Art war. Stattdessen fuhr er weiter, bis wir den Anlass des Staus, einen Traktor und einen umgekippten Anhänger, der mit Sand befüllt gewesen war und dessen Inhalt sich nun über die Straße verteilte, vorsichtig umfahren hatten. „Was ist nun?“, fragte mein Vater und hielt auf einem Feldweg. „Willst du hier picknicken?“

„Ach was, picknicken!“, entgegnete meine Mutter. „Du musst drehen und zurück zu dem Motel fahren, an dem wir gerade vorbeigekommen sind!“

„Und was wollen wir da?“, fragte mein Vater.

„Es uns ansehen! Vielleicht ist so etwas was für uns!“

Seufzend wendete mein Vater den Wagen und fuhr, wie von meiner Mutter gewünscht, zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren.

„Hier ist es!“, rief sie aufgeregt, obwohl das pfeilförmige Schild an einer der beiden Einfahrten zum Parkplatz des Motels gar nicht zu übersehen war.

Mein Vater hielt auf einem der wenigen noch freien Stellplätze. Wir stiegen aus und sahen uns um. Unser Auto stand vor der langen Seite des L-fömigen einstöckigen Motels. Dahinter erstreckte sich ein Wald. Links von unserem Wagen verlief die kurze Seite des Gebäudes Richtung Straße. Es gab etwa ein Dutzend hellbraune Zimmertüren, die Gäste mit ihrem Gepäck vom Parkplatz aus über eine schmale überdachte Holzveranda erreichten, und neben den Türen jeweils eine kleine Milchglasscheibe, die wohl zu den Badezimmern gehörte. Rechts neben dem Motel stand ein Stück weit entfernt ein dreistöckiges Backsteingebäude, das mich an ein Wohnhaus erinnerte. „Rezeption“ stand in schwarzer Schrift auf einem weißen Schild über der Eingangstür. Hinter unserem Wagen, an der Straße, befand sich der Imbiss mit der Eingangstür und einer großen Fensterfront Richtung Parkplatz. Fast jeder Tisch war, soweit dies zu erkennen war, besetzt. Links daneben im selben Gebäude, gegenüber dem Haus mit der Rezeption, gab es ein kleines Geschäft, dessen Außenwände fast komplett aus Glas bestanden, auf denen blaue Schriftzüge angebracht waren.

„Lasst uns in dem Imbiss zu Mittag essen“, schlug meine Mutter vor.

„Und ... das Picknick?“, fragte mein Vater verdutzt.

„Vergiss das Picknick, Günther! Merkst du denn nicht, dass dies ein Wink des Schicksals ist? Ein Stau, damit wir auf das Motel aufmerksam wurden!“

„Also, ich weiß nicht, Yvonne“, wandte mein Vater ein.

„Aber ich, Günther, aber ich! Wir setzen uns in den Imbiss und hören uns dort ein wenig um. Ich habe das sichere Gefühl, dass dieses Motel bald uns gehören wird!“

„Was meinst du denn dazu, Susi?“, wandte sich mein Vater nun an mich, wohl in der Hoffnung, dass ich genauso wenig Lust wie er hatte, an diesem schönen Tag in einem miefigen Imbiss zu sitzen.

Ich wollte nicht zwischen die Fronten meiner Eltern geraten und zuckte daher nur gleichgültig mit den Schultern.

„Siehst du!“, triumphierte meine Mutter. „Susi ist es egal.“ Zielstrebig ging sie auf den Imbiss zu, aus dessen offener Eingangstür der Geruch nach Frittierfett und Zigaretten zum Parkplatz herüberwehte. Kurz davor drehte sie sich ungeduldig zu meinem Vater und mir, die wir immer noch unschlüssig neben unserem Auto standen, um. „Was ist jetzt, kommt ihr?“

Mein Vater und ich hätten uns weigern sollen. Wir hätten meine Mutter zurücklassen, in den Wagen steigen und davonfahren sollen. Stattdessen taten wir das, was meine Mutter wollte, und folgten ihr in den Imbiss. Wir ahnten ja nicht, was für schwerwiegende Folgen diese Entscheidung haben würde.

Meine Eltern und ich mussten uns zunächst an einigen Leuten vorbeidrängen, die vor dem Tresen des Imbisses Schlange standen und anscheinend auf ihr Essen zum Mitnehmen warteten. Als wir anschließend feststellten, dass sowohl die Tische an der langen Fensterfront mit Blick auf den Parkplatz und das Motel als auch die Tische, die in einer zweiten Reihe näher vor dem Tresen angeordnet waren, besetzt waren, war ich fast erleichtert. Nun würden wir unseren Nachhauseweg mit dem Auto wie geplant fortsetzen und unterwegs irgendwo unser Picknick einnehmen. Doch ich hatte mich zu früh gefreut.

„Dann warten wir eben draußen, bis etwas frei wird“, rief meine Mutter meinem Vater und mir begeistert zu, um die Tischgespräche, die über den Tresen gerufenen Bestellungen, das Klappern aus der offenen Küchentür, die sich rechts hinter dem Tresen befand, sowie die Country-Musik, die aus mehreren Lautsprechern erklang, zu übertönen. Die Vorstellung, in dem Lärm und der trotz der offenen Eingangstür verbrauchten Luft, die von mehreren Deckenventilatoren bewegt wurde, etwas zu essen, war wenig verlockend.

„Bist du sicher, dass du hierbleiben willst?“, fragte mein Vater meine Mutter zweifelnd, nachdem wir den Imbiss wieder verlassen hatten.

„Ja, natürlich“, antwortete diese und blickte dabei zu den Tischen an der Fensterfront, um auch ja nicht die Gelegenheit zu verpassen, wenn dort Plätze frei wurden.

„Also, ich finde es dort drin ziemlich laut und ungemütlich“, äußerte mein Vater seine Meinung.

„Günther, verstehst du denn nicht, dass das Gewimmel da drin ein sehr gutes Zeichen ist?“, entgegnete meine Mutter, als wäre mein Vater schwer von Begriff. „Das Essen muss sehr gut sein. Sind dir denn gar nicht die ganzen Leute am Tresen aufgefallen, die sich etwas zu essen mitnehmen wollten?“

„Die waren ja nicht zu übersehen“, gab mein Vater gereizt zurück. Dann sah er zu mir. „Was möchtest du denn lieber, Susi?“

Bevor ich eine Gelegenheit hatte zu antworten, tat dies meine Mutter mit der giftigen Bemerkung: „Entscheidet jetzt etwa unsere Tochter über unsere Zukunft? Ich will ja nur ein einziges Essen in dem Imbiss! Ist das denn zu viel verlangt? Dabei hören wir uns ein wenig um, und dann fahren wir nach Hause.“

„Du gibst ja sonst sowieso keine Ruhe“, seufzte mein Vater, der sich vermutlich eine anstrengende Rückfahrt mit meiner sonst unzufriedenen Mutter ausmalte.

„So ist es, mein Schatz“, flötete meine Mutter gut gelaunt und zeigte auf die Fensterfront des Imbisses. „Da wird gerade ein Tisch frei! Kommt schnell, sonst ist er weg!“ Sie drängte sich vorbei an mehreren Gästen, die gerade den Imbiss verließen. Ich hätte ihr am liebsten eine gescheuert.

Unser Tisch befand sich ziemlich in der Mitte der Fensterfront. Er war noch voll mit dem Geschirr derjenigen, die dort vor uns gesessen hatten, und die hellgrau gemusterte Kunststofftischplatte, die mich an die unseres Küchentisches zu Hause erinnerte, voller Krümel und sonstiger Essensreste, doch meine Mutter setzte sich trotzdem schon auf die eine der beiden mit rotbraunem Kunstleder bezogenen Sitzbänke, deren Rückseite direkt an die der Sitzbank des Nachbartisches grenzte. Ein Platz näher am Eingang wäre mir lieber gewesen, da sich mein Magen immer noch nicht ganz beruhigt hatte. Ich suchte zunächst die Toilette auf. Dazu musste ich einmal zwischen den beiden Tischreihen hindurchgehen. Ich sah links und rechts von mir die ganzen fetten, herzhaften Speisen und die Menschen, die sie mit gutem Appetit in sich hineinstopften, und blickte stattdessen lieber auf den dunklen Holzfußboden. Auf der Damentoilette gab es nur eine Kabine, die zum Glück unbesetzt war. Anschließend ließ ich im kleinen Waschraum kaltes Wasser über meine Handgelenke rinnen und atmete tief durch. Als ich den Raum gerade verlassen wollte, kam meine Mutter herein. „Beeil dich, Susi, die Speisekarte wurde schon gebracht“, forderte sie mich auf, als ginge es darum, einen wichtigen Wettbewerb zu gewinnen. „Dein Vater und ich haben uns schon etwas Leckeres ausgesucht. Für dich ist sicher auch etwas dabei.“

Ich setzte mich meinem Vater gegenüber, der stirnrunzelnd das bunte abgegriffene Faltblatt aus dickem glänzendem Papier, das die Speisekarte darstellte, studierte. Der Tisch war inzwischen abgeräumt und abgewischt worden, und der Zitrusduft eines Reinigungsmittels lag in der Luft. Ein Salz- und ein Pfeffersteuer sowie ein Halter mit dünnen Papierservietten waren wieder akkurat an den Rand des Tisches Richtung Fenster gerückt worden.

„Nehme ich nun lieber einen doppelten Hamburger mit Salat oder einen Cheeseburger mit Pommes?“, fragte mich mein Vater schließlich um Rat.

Ich blickte ohne Interesse in meine Speisekarte. „Nimm den Cheeseburger“, antwortete ich, ohne meinen Vater anzusehen. Ich wusste, dass dieser sich Entscheidungen gern abnehmen ließ.

„Den Cheeseburger also. Na gut. Dann weiß ich jetzt, was ich nehme. Und du, Susi?“

„Wieso hast du nachgegeben?“, fragte ich verärgert.

„Was?“ Mein Vater schien aufrichtig verdutzt. Oder er spielte den Dummen sehr gut.

„Wieso hast du nicht darauf bestanden weiterzufahren und unterwegs zu picknicken, wie wir es geplant hatten?“ Bei dem Gedanken daran, wie unser Picknick, für das ich gestern meinen Samstagnachmittag hatte opfern müssen, jetzt im warmen Kofferraum verdarb, spürte ich eine Riesenwut in mir aufsteigen.

„Ach, das meinst du. Ach, Susi ...“ Er machte eine kurze Pause, um dann aufgesetzt fröhlich weiterzusprechen. „Ich bin eben ein friedliebender Mensch.“

Mir war keineswegs nach Lachen zumute. „Das nennst du also friedliebend.“

„Wenn du erst älter bist, wirst du ...“

„In Wirklichkeit bist du einfach nur ein Feigling“, sagte ich meinem Vater ernst ins Gesicht. „Du bist immer ein Feigling, weil du dich ständig von ihr manipulieren lässt.“

Ich hatte ihn wieder einmal in die Defensive getrieben. „Also, ich muss sagen“, bemühte sich mein Vater zu kontern, „das sind doch sehr freche Worte für eine Zwölfjährige.“

„Na, bei wem soll ich sitzen?“, fragte meine Mutter und sah lächelnd zwischen meinem Vater und mir hin und her.

„Wahre Worte“, murmelte ich böse.

„Was hast du gesagt, Susilein?“, fragte meine Mutter freundlich nach.

„Nichts. Setz dich neben Papa. Und nenn mich nicht Susilein.“

„Oh, da hat aber jemand schlechte Laune“, kommentierte meine Mutter unbekümmert und nahm neben meinem Vater Platz, der ans Fenster rückte.

Ich rutschte auf meiner Bank ebenfalls ein Stück weiter, weil ich nicht meiner Mutter gegenübersitzen wollte.

„Ich nehme nun doch den Cheeseburger mit Pommes“, teilte mein Vater ihr mit.

„Du kannst es ja noch vertragen“, entgegnete meine Mutter ironisch. „Aber das klingt gut. Das wollte ich auch nehmen. Ich habe nämlich inzwischen einen Riesenhunger. Und dazu einen Eistee.“ Mein Vater nickte zustimmend.

Ein schlanker, dunkelhaariger, in Schwarz gekleideter Kellner mit einer weinroten langen Halbschürze kam an unseren Tisch, um die Bestellung aufzunehmen. Er hatte unreine Haut, was er durch Make-up zu kaschieren versuchte. Für mich war so ein Anblick nichts Ungewöhnliches. In dem Hochhaus, in dem wir wohnten, war ich schon öfter geschminkten Männern begegnet.

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte der Kellner mit einstudierter Freundlichkeit.

Meine Mutter gab die Bestellung für meinen Vater und sich auf.

„Und die junge Dame?“ Der Kellner sah mich erwartungsvoll an.

„Die Tomatensuppe und eine Cola“, antwortete ich.

„Klein oder groß?“ Als ich nicht sofort antwortete, fügte er erklärend hinzu, als wäre ich vier Jahre alt: „Die Tomatensuppe und die Cola gibt es in zwei Größen: klein oder groß?“

„Beides klein.“

„Aber Susi.“ Meine Mutter lehnte sich zu mir über den Tisch, nachdem der Kellner samt Speisekarten Richtung Tresen gegangen war, und griff nach meiner Hand. „Von einer kleinen Tomatensuppe wird doch kein Mensch satt. Wieso nimmst du nicht etwas Ordentliches?“

„Weil mir jetzt schon schlecht ist.“ Ich zog meine Hand weg, verschränkte meine Arme vor der Brust und starrte hinaus auf den Parkplatz.

Ich sah meine Mutter aus dem Augenwinkel auf die Bitte meines Vaters hin aufstehen, um ihm Platz zu machen, weil er auf die Toilette wollte, während ich weiterhin nach draußen starrte. Ein junges Paar stritt sich lauthals und wild gestikulierend auf dem Parkplatz. Ich hätte gern erfahren, worum es in der Auseinandersetzung ging, doch das war wegen der Geräuschkulisse um mich herum unmöglich. Mein Vater kehrte nach einigen Minuten auf seinen Platz zurück, und nur wenig später wurde unser Essen serviert. Für meine Eltern stellte der Kellner außerdem eine Ketchup- und eine Senfflasche auf den Tisch und wünschte uns guten Appetit. Ich erwartete bei der Tomatensuppe ein mit Wasser aufgegossenes Fertigpulver, wie meine Mutter es zu Hause manchmal zubereitete, wenn sie keine Lust zum Kochen hatte, und kostete mit wenig Begeisterung. Die Suppe war heiß und erstaunlich schmackhaft. Als ich den ersten Löffel gegessen hatte, stellte ich fest, dass ich Hunger hatte, und biss in die mit Butter bestrichene Toastscheibe, die meine Beilage darstellte. Die Cola war eiskalt, und ich musste aufpassen, sie nicht zu gierig zu trinken, damit ich davon keine Kopfschmerzen bekam. In der Tat wurde ich von meinem Gericht nicht satt, doch meine Eltern hatten jeweils eine Riesenportion auf dem Teller. Meine Mutter gab mir von ihren Pommes frites die Hälfte ab, während mein Vater seine Mahlzeit bis zum letzten Bissen vertilgte.

„So“, sagte meine Mutter zufrieden, als wir gesättigt waren. „Das Essen war schon einmal hervorragend. Und jetzt kommt das Interessanteste.“

„Was denn?“, fragte mein Vater und leerte sein Eisteeglas. „Ich glaube nicht, dass die Rechnung ...“

„Ach, Günther!“, unterbrach meine Mutter. „Ich meine doch nicht die Rechnung! Wir wollen doch jetzt Erkundigungen über das Motel einholen.“

Du willst Erkundigungen einholen“, korrigierte ich. „Papa und ich wollen nach Hause.“

„Du entwickelst dich zu einer richtigen Zicke“, warf mir meine Mutter vor.

„Von wem ich das wohl habe“, konterte ich. Meine wegen des guten Essens vorübergehend bessere Laune war wie weggeblasen.

„Jetzt bezahlen wir erst einmal“, versuchte mein Vater, die Situation zu deeskalieren, und winkte nach dem Kellner. Dieser hatte gemeinsam mit seinem Kollegen, der das Essen zum Mitnehmen an der Theke ausgab, und einige Gäste bediente, die auf Hockern sitzend am Tresen aßen, alle Hände voll zu tun, und bemerkte das Handzeichen meines Vaters erst nach einer Weile.

„Entschuldigung“, sagte der Kellner etwas außer Atem, als er endlich an unserem Tisch erschien. „Aber heute ist im Service jemand ausgefallen.“ Gleich darauf lächelte er wieder geschäftsmäßig. „Hat‘s denn geschmeckt?“

„Ausgezeichnet!“, sprach meine Mutter für uns drei. „Das Essen war vor-züg-lich. Und daher würden wir gern einmal mit Ihrem Chef sprechen.“

„Danke, das hört man gern“, erwiderte der Kellner immer noch mit dieser aufgesetzten Freundlichkeit. „Sie ... möchten mit dem Küchenchef sprechen?“

„Nein“, stellte meine Mutter klar. „Wir möchten mit dem Chef dieser ganzen Anlage sprechen.“

Bevor der erstaunte Kellner etwas erwidern konnte, schritt mein Vater etwas ungeduldig ein. „Erst einmal möchten wir bitte zahlen.“

„Ja, natürlich. Die Rechnung kommt sofort.“ Mit geübten Griffen räumte der Kellner unseren Tisch ab und verschwand hinter dem Tresen.

„Kannst du mich nicht einmal etwas allein erledigen lassen?“, fauchte meine Mutter meinen Vater an.

Bevor mein Vater eine passende Antwort formuliert hatte, erschien der Kellner im Laufschritt wieder an unserem Tisch und legte die Rechnung auf den Platz meines Vaters. Dieser legte zwei Geldscheine auf den Bon und kramte in seinem Portemonnaie nach einigen Münzen. „So, stimmt dann so.“

„Vielen Dank.“ Der Kellner nahm das Geld lächelnd an sich. „Einen schönen Tag noch. Besuchen Sie uns bald wieder.“ Er wollte sich schon den Gästen am Nachbartisch widmen, als meine Mutter ihn am Arm festhielt. „Sie wollten uns noch mit dem Geschäftsführer bekannt machen.“

Ich senkte meinen Blick auf eine Schramme in der Tischplatte. War das peinlich.

„Wie? Ach ja. Hatte ich schon wieder vergessen.“ Der Kellner lachte.

„Der wird ja sicher heute nicht hier sein“, hoffte mein Vater laut.

„Wie? Doch, Herr Bauer ist da“, stellte der Kellner klar und sprach hastig weiter: „Herr Bauer ist eigentlich immer da. Er wohnt mit seiner Frau nämlich in dem Gebäude, in dem sich die Rezeption befindet. Gleich dort drüben.“ Er zeigte nach rechts über den Parkplatz. „Also, damit will ich nicht sagen, dass Herr Bauer heute frei hat. Herr Bauer ist ein sehr fleißiger Mann. Er hat eigentlich nie frei. Sonst hätte er das hier alles gar nicht aufbauen können. Das ist nämlich alles sein Eigentum. Sonntags macht er meistens die Abrechnung oder anderen Bürokram. Er ist bestimmt zu Hause. Ich meine, in seinem Büro. Ganz bestimmt. Da bin ich mir sicher. Ziemlich sicher jedenfalls, denn ich habe ihn heute noch nicht gesehen. Aber andererseits: Wo sollte Herr Bauer sonst heute sein? Er ist ja so ein pflichtbewusster Mensch. Ein Vorbild für uns alle. Wenn er nicht da ist, ist er höchstens geschäftlich unterwegs. Obwohl: Heute ist ja Sonntag.“

„Wir versuchen es einfach“, unterbrach mein Vater das Geplapper des Kellners.

„Der hat eine Heidenangst vor seinem Chef“, stellte mein Vater fest, als wir endlich nach draußen auf den Parkplatz traten. Das streitende Pärchen war nirgends mehr zu sehen.

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte meine Mutter in einem Ton, der deutlich machte, dass sie die Aussage meines Vaters lächerlich fand.

„Ist dir gar nicht aufgefallen, wie sehr er bemüht war, diesen Herrn Bauer in einem guten Licht erscheinen zu lassen?“

„Ach, Günther ... Vielleicht bewundert er seinen Chef nur.“

„Nein.“ Mein Vater schüttelte entschlossen den Kopf. „Das war keine Bewunderung. Das war pure Angst.“

„Wir gehen trotzdem zu Herrn Bauer, um uns selbst ein Bild von ihm zu machen“, entschied meine Mutter.

Bevor ich meinen Eltern über den Parkplatz zu dem Gebäude folgte, in dem sich die Rezeption und vermutlich dieser Herr Bauer befanden, wollte ich mir den an den Imbiss angrenzenden Laden, der, wie der blaue Schriftzug am Schaufenster versprach, „alles für die Reise“ im Angebot hatte, ansehen. An der Innenseite der Glastür war ein Schild mit den Öffnungszeiten angebracht. Sonntags war das Geschäft leider geschlossen, doch die drei fast komplett gläsernen Außenwände boten eine gute Sicht auf das Sortiment, das wie in einem kleinen Supermarkt in diversen Regalen angeboten wurde. Auch Wander-, Bade- und Strandkleidung war erhältlich und konnte in einer in der Ecke befindlichen Umkleidekabine anprobiert werden. In der Nähe des Kassentresens lehnte – ich konnte es kaum glauben – sogar ein buntes Surfbrett an der Wand.

„Susi, kommst du?“ Meine Mutter war zurückgekehrt und stand nun direkt hinter mir.

Lustlos folgte ich ihr und hoffte, dass wir den Besitzer dieser Anlage nicht antreffen würden.

Mein Vater stand vor den beiden Zementstufen, die zur offen stehenden Eingangstür des Rezeptionsgebäudes führten, und blickte etwas verlegen vor sich hin. Als meine Mutter zielstrebig auf die Stufen zuging, hielt er sie am Arm fest. Etwas verärgert sah sie ihn an, doch dann hörte auch sie das Geschrei eines Mannes, das aus dem Inneren des Hauses kam und offensichtlich Teil eines Telefonats war.

„Komm mir bloß nicht so, Freundchen, sonst kannst du was erleben!“, rief der Mann. „Bei mir bist du mit diesen Tricks an der falschen Adresse!“ ... „Ob ich weiß, dass heute Sonntag ist? Natürlich weiß ich das! Bist ja auch erst beim dritten Versuch ans Telefon gegangen, du feiger Hund!“ ... „Ich sage es dir jetzt zum letzten Mal: Du wirst weiterhin zu den bisherigen Konditionen liefern! Oder du lieferst hier gar nichts mehr!“ Mit dieser Drohung wurde das Gespräch offenbar beendet.

Mein Vater sah meine Mutter an und flüsterte: „Also, ich glaube nicht, dass das jetzt der richtige Moment ist, um Herrn Bauer ...“

„Ach was!“, wehrte meine Mutter leise ab. „So ist das unter Geschäftsleuten. Da herrscht manchmal eben ein etwas rauerer Ton. Kommt!“ Mit diesen Worten stieg sie die Stufen hinauf, und mein Vater und ich folgten ihr wie Schafe dem Leithammel.

Wir betraten ein kleines fensterloses Foyer, in dem die Deckenleuchte brannte. Trotzdem wirkte der Raum im Gegensatz zu dem hellen Sommerwetter düster. Das lag an dem weinroten Teppichboden und den Wänden, die mit einer Tapete in dem gleichen Ton verkleidet waren. In der linken und rechten Wand gab es jeweils eine geschlossene weiße Tür mit der Aufschrift „Privat“. Vor uns befand sich ein Holztresen, der bis auf ein Telefon und eine Rezeptionsklingel leer war. Rechts daneben trug eine weitere weiße Tür die Aufschrift „WC“. Hinter dem Tresen hing ein Schlüsselbrett, und links daneben bot eine halb geöffnete weiße Tür einen Blick in ein Büro. Dort hielt sich ein Mann auf, der vor sich hin fluchte. Für einen Moment, der mir sehr lang vorkam, standen meine Eltern und ich ratlos herum und hörten den Schimpfworten zu, die der Mann von sich gab. Ich überlegte gerade, ob ich durch die Klingel auf uns aufmerksam machen sollte, als der Mann uns von selbst bemerkte und aus dem Büro kam. Die Tür schloss er hinter sich. Der Mann trug Jeans und ein kurzärmeliges kariertes Oberhemd. Er war ungefähr Mitte fünfzig und untersetzt. Von seinem braunen Haar waren nur noch ein Haarkranz und ein paar ölig wirkende Strähnen, die über seinen Kopf gekämmt waren, übrig. Das Gesicht des Mannes war gerötet, und wie der Kellner zeigte er ein grimassenhaftes Lächeln, das seine kleinen gelblichen Zähne entblößte. „Tut mir leid, die Herrschaften“, wandte er sich an meine Eltern, „aber wir sind heute trotz der frühen Stunde schon ausgebucht. Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, das Schild an der Straße aufzustellen.“

„Herr Bauer?“, fragte meine Mutter.

„Ja, Bauer ist mein Name, aber ich bin keiner.“ Der Mann lachte schallend über seinen Scherz, den er sicher schon bei zahlreichen Gelegenheiten zum Besten gegeben hatte.

„Wir möchten hier nicht übernachten“, fuhr meine Mutter fort und ergänzte dann hastig: „Jedenfalls nicht heute. Wir wollten Sie sprechen, weil ...“

Das Telefon auf dem Tresen klingelte. Herr Bauer nahm ab. „Motel Bauer.“ Er hörte seinem Gesprächspartner einen Moment lang zu, bevor er antwortete: „Kann ich dich gleich zurückrufen? Ich habe gerade Gäste.“ Nachdem das Telefonat beendet war, sah er meine Mutter interessiert an.

„Wir haben vorhin im Imbiss gegessen, und es hat uns dort sehr gut geschmeckt“, sprach meine Mutter weiter.

„Das freut mich.“ Herr Bauer lächelte wieder sein falsches Lächeln. „Ja, die kochen da ganz ordentlich, nachdem ich sie erst einmal alle eingenordet habe, was wir unseren Gästen servieren wollen.“

„Mein Mann und ich sind auch im Gastronomiegewerbe“, erklärte meine Mutter. „Wir haben vor, uns selbständig zu machen. Vielleicht mit so einem Motel, wie Sie es haben.“

Nun wurde Herr Bauer hellhörig und kam hinter dem Tresen hervor. „Dann sind wir also Kollegen. Freut mich, Frau ...“ Er reichte meiner Mutter die Hand.

„Stack. Yvonne Stack. Das ist mein Mann Günther.“

Herr Bauer schüttelte nun meinem Vater die Hand. „Ich heiße auch Günter mit Vornamen. Das ist ja ein Zufall. Mit oder ohne H?“

„Mit“, antwortete mein Vater.

„Ich ohne. Das ist der feine Unterschied.“ Ein seltsamer Unterton schwang in dieser Feststellung mit.

„Das ist unsere Tochter Susi“, wechselte mein Vater das Thema.

Herr Bauer gab auch mir die Hand. „Freut mich, junge Dame.“ Dann sah er wieder zu meinen Eltern. „Ihnen gefällt die Anlage also.“

„Ja, sehr!“, bestätigte meine Mutter. „Und Sie scheinen damit ja auch sehr erfolgreich zu sein. Jedenfalls ist hier ordentlich was los.“

„Ja, der Betrieb macht Freude“, bestätigte Herr Bauer zufrieden. „Mein Vater hat das Motel Mitte der fünfziger Jahre zusammen mit seinem Bruder errichtet. Ich war damals noch als Maurer tätig und habe selbst auf dem Bau mitgearbeitet. Mein Vater und mein Onkel hatten ein sehr gutes Gespür dafür, wie man Geld macht. Damals kamen Urlaubsreisen groß in Mode, und wir sind hier ja nicht weit von der Grenze entfernt. Viele Reisende haben hier zwischenübernachtet. Dann kam 1960 dieser Film in die Kinos – na, Sie wissen schon: dieser Film, in dem ein verrückter Motelbesitzer mit seiner toten Mutter zusammenlebt und lauter Frauen abmurkst –, und das hat das Geschäft erst so richtig angekurbelt. Alle wollten auf einmal in einem Motel übernachten. Mein Vater und mein Onkel haben schnell gemerkt, dass die Leute außer einem Bett auch gutes Essen wollten. Also wurde ein paar Jahre später der Imbiss gebaut. Anfangs hat meine Mutter dort noch ganz allein gekocht. Bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren hat sie in der Imbissküche das Zepter geschwungen. Leider hatten mein Vater und mein Onkel nicht so lange etwas von ihrem Lebenswerk, denn beide starben kurz hintereinander schon in den sechziger Jahren. Gott habe sie selig. Und da ich der einzige Nachkomme war, ging alles an mich. Ich habe ja auch von Anfang an hier mit angepackt, nachdem ich meine Arbeit als Maurer an den Nagel gehängt hatte. Der Laden mit den Reiseartikeln war übrigens meine Idee. Der ist erst vor ein paar Jahren dazugekommen und läuft auch ...“

Der Bericht von Herrn Bauer wurde durch das erneute Klingeln des Telefons unterbrochen.

„Motel Bauer“, meldete sich der Motelbesitzer. ... „Ja, gleich. Auf Wiederhören.“ Er wandte sich wieder meinen Eltern zu. „Entschuldigung. Wo war ich stehen geblieben?“

„Sie erzählten gerade von Ihrem Laden“, half meine Mutter Herrn Bauer auf die Sprünge.

„Ach so. Ja, also der Laden ist ebenfalls eine Goldgrube“, beendete dieser auf einmal hastig seinen Bericht und sah auf die Uhr. „Ich will nicht unhöflich sein, aber ...“

„Natürlich“, sprach nun mein Vater, der anscheinend froh über die Möglichkeit war, die Unterhaltung zu beenden. „Wir sollten jetzt auch aufbrechen.“

„Wenn Sie einmal wieder in der Gegend sind, zeige ich Ihnen gern die gesamte Anlage“, bot Herr Bauer an. „Nur heute passt es leider überhaupt nicht.“

„Wir möchten uns nicht aufdrängen“, sagte mein Vater.

„Das tun Sie nicht“, widersprach Herr Bauer. Dann holte er ein Buch hinter dem Rezeptionstresen hervor und blätterte darin herum. „Nächsten Samstag hätten wir im Motel noch ein Zimmer frei. Für Ihre Tochter könnten wir ein Klappbett dazustellen. Wenn es Ihnen passt, könnten Sie am Samstagnachmittag anreisen, ich führe Sie herum und zeige Ihnen alles, Sie genießen ein Abendessen in unserem Imbiss und reisen am Sonntag nach einem leckeren Frühstück wieder ab. Auf Kosten des Hauses, versteht sich.“

„Nein, das können wir nicht ...“, begann mein Vater.

„Wieso denn nicht? Sie sind mir nun einmal sehr sympathisch“, erklärte Herr Bauer sein Angebot. „Und noch dazu Kollegen. Also abgemacht?“

„Das ist wirklich sehr großzügig von Ihnen“, freute sich meine Mutter. Sie sah meinen Vater lächelnd an, doch dieser blieb zögerlich. „Ich muss erst einmal sehen, ob mein Dienstplan das zulässt.“

„Ach, Günther“, tat meine Mutter den Einwand ab und erläuterte Herrn Bauer: „Mein Mann ist Restaurantchef. Das wird kein Problem sein.“

„Ja, dann ... steht unserem Vorhaben also nichts im Wege.“ Der Motelbesitzer reichte meiner Mutter und anschließend meinem Vater zum Abschied erneut die Hand. „Auf Wiedersehen. Kommen Sie gut nach Hause. Ich freue mich auf nächsten Samstag.“

Ich ließ ihm keine Gelegenheit, sich auch von mir zu verabschieden, und ging einfach nach draußen.

„Wieso hast du eben Herrn Bauer nicht auf Wiedersehen gesagt?“, wollte meine Mutter auf dem Weg zu unserem Auto von mir wissen. Sie hatte einen Arm um meine Schultern gelegt – ein Zeichen, dass sie gut gelaunt war. Sonst hätte sie für mein Benehmen ganz andere Worte gefunden.

„Der Typ ist widerlich“, stellte ich fest.

„Was? Wieso das denn?“, wollte meine Mutter erstaunt wissen und löste die Umarmung.

Ich zuckte nur mit den Schultern.

„Also mir ist er auch nicht sympathisch“, stellte sich mein Vater auf meine Seite und schloss den Wagen auf. „Ein falscher Fuffziger ist das, wenn du mich fragst.“

„Ihr könnt einem auch alles verderben“, fand meine Mutter, als wir im stickigen Wagen saßen und die Fenster herunterkurbelten. „Wer lässt Fremde schon umsonst in seinem Motel übernachten?“

„Eben“, bestätigte mein Vater und fuhr vorsichtig aus der engen Parklücke.

Die Rückfahrt verlief für mich mit den üblichen Magenbeschwerden, weswegen wir unterwegs zweimal anhalten mussten. Meine Mutter summte die ganze Zeit vor sich hin. Sie war der Überzeugung, das große Los gezogen zu haben, und konnte es, als wir zu Hause waren, kaum erwarten, ihre Schwester, zu der sie sonst kaum Kontakt hatte, anzurufen. Freundinnen, denen sie von ihren Plänen erzählen konnte, hatte sie ja nicht mehr. Zunächst ging bei meiner Tante niemand ans Telefon.

„Die wird sicher noch auf dem Hof oder irgendeinem Feld beschäftigt sein“, meinte meine Mutter unbekümmert. „Egal, ich versuche es nach dem Abendessen noch einmal.“

Groß war mein Hunger nach der für meinen Magen turbulenten Fahrt nicht, und mein Appetit nahm auch nicht zu, als meine Mutter später zum Abendbrot die Lebensmittel auftischte, die wir für das Picknick mitgenommen hatten.

„Die Hackbällchen sind noch tipptopp“, fand meine Mutter, als wir zu dritt am Esstisch saßen. „Und wenn man von den Brötchen den Belag herunternimmt, kann man sie auch noch essen. Den Blattsalat und den Obstsalat habe ich für morgen kaltgestellt. Nur die Eier habe ich sicherheitshalber weggeworfen. Man weiß ja nie.“

„Ich muss noch Schularbeiten machen“, entschuldigte ich mich, um vom Tisch aufstehen zu dürfen. Das durch die Wärme verunstaltete Essen sah einfach ekelhaft aus, so dass ich kaum einen Bissen herunterbekommen konnte.

„Immer am Sonntagabend musst du Schularbeiten machen“, warf mir meine Mutter vor. „Wieso erledigst du das nicht gleich am Freitag nach der Schule? Dann kannst du das Wochenende unbeschwert genießen.“

„Das ist ja wohl meine Sache“, gab ich garstiger als beabsichtigt zurück und verließ die Küche. In meinem Zimmer sah ich mir die zu erledigenden Matheaufgaben an, entschied, dass ich dazu keine Lust hatte, und nahm mir eines der beiden Comicbücher, die mir Oma Tilly an einem Kiosk gekauft hatte, als ich das letzte Mal bei ihr gewesen war. Das war nun schon Wochen her, und ich fragte mich, wann ich sie wiedersehen würde. Schon kurze Zeit später lag ich bäuchlings auf meinem Bett und war in das Lesen der Geschichte vertieft. Erst das Telefonat, das meine Mutter im Flur führte, holte mich zurück in die Realität.

„Hallo Norbi“, begrüßte sie schmeichelnd meinen Onkel Norbert, den Landwirt, den sie nicht ausstehen konnte. „Hier ist Yvonne.“ ... „Was soll das heißen: ‚Welche Yvonne?‘ Kennst du mehrere? Deine Schwägerin natürlich!“ ... Leicht beleidigt sprach sie weiter: „Tut mir leid, ich kann über solche Scherze nicht lachen.“ Ihre Stimme wurde wieder freundlicher. „Ist denn das Geburtstagskind da?“ ... „Das weiß ich doch, aber wir hatten eben viel zu tun. Deshalb rufe ich erst heute an.“ ... „Hallo Karin, alles Gute nachträglich zum Geburtstag! Es tut mir leid, dass ich erst heute anrufe, aber wir hatten in den letzten Tagen schrecklich viel zu tun. Wie geht es dir denn?“ ... „Aha.“ ... „Aha.“ ... „Ein neues Kalb also. Das ist ja schön.“ ... „Bei uns? Also, da du so direkt danach fragst: Günther und ich werden uns selbständig machen.“ ... „Ja, du hast richtig gehört. Wir haben vor, unser eigenes Motel zu betreiben.“ ... „Ach, das weiß ich jetzt doch noch nicht! Wir sind schließlich noch am Anfang unserer Planungen. Heute hatten wir einen Ortstermin mit einem ... Geschäftspartner, und nächstes Wochenende folgt der nächste Termin. Dann sehen wir weiter.“ ... „Riskant?“ Meine Mutter lachte aufgesetzt. „Das sagt gerade die Richtige! Wer von uns beiden schuftet denn von morgens bis abends auf einem Bauernhof ohne Aussicht auf Gewinn?“ Ihre Stimme wurde kleinlaut. „Entschuldige, Karin, es war nicht so gemeint.“ ... „Ja, das weiß ich doch.“ ... „Ja.“ ... „Ich habe mich doch gerade bei dir entschuldigt, oder etwa nicht?“ ... „Mein Gott, nun sei doch nicht so kleinlich! Entschuldigung! Wie oft soll ich es noch wiederholen?“ ... „Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, du bist ganz einfach neidisch!“ Die Stimme meiner Mutter überschlug sich fast. „Natürlich bist du neidisch! Ich habe bald ein eigenes Motel! Und du? Ein dämliches Kalb!“ ... „Weißt du was? Ich auch nicht!“ Damit war das Gespräch beendet, und ich beschloss, an diesem Abend sicherheitshalber in meinem Zimmer zu bleiben.

Stille im Zimmer nebenan

Подняться наверх