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1. Versprechen

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Die nächtliche Stadt strahlt eine eigenartige Kälte aus und schwindet, schrumpft, von Minute zu Minute. Die grauen Fassaden, hier und da erhellt durch gleißend weiße Scheinwerfer, fast verwaiste Straßen, dort wo am Tage sich die Autos stapeln. Alles scheint unwirklich, wenn man das geschäftige Treiben kennt, das hier noch vor ein paar Stunden, bis zum Einbruch der Dunkelheit herrschte. Bürogebäude werben mit leuchteten Logos für die ansässigen Firmen, in wenigen davon brennt sogar noch Licht. Oder wieder? Was treibt Menschen dazu, bis in die Nacht hinein zu arbeiten? An all dem zieht der Zug unberührt vorüber, als wäre es ihm egal, was es wahrscheinlich auch ist.

Ganz in vorderster Reihe, möglichst nah beim Ausgang, als wenn er sich jeder Zeit die Möglichkeit zur Flucht offen halten wollte, sitzt ein grau an mellierter, hoch gewachsener Mann im feinen Anzug. Er ist müde, daran kann kein Zweifel bestehen, denn obwohl er immer wieder dagegen ankämpft, rutschen ihm zu oft und gefährlich lang die Lieder über die Augen, verharren in Ruhestellung, bis dessen Träger sie erschrocken wieder aufreißt. Er will nicht schlafen, er darf es nicht, die nächste Station wird seine sein, noch eine Hand voll Minuten muss er durchhalten, wach bleiben. Gelingt ihm das nicht, rast der Zug mit ihm weiter. Woher soll der auch wissen, das im Inneren jemand sitzt, der sein Zuhause gerade an sich vorbei rauschen sieht? Oder auch nicht, da er längst ins Land der Träume entschwunden ist. Sein Tag war lang, viel zu lang. Um genau zu sein, umfasste er schon fast zwei Tage, denn die Mitternacht haben wir längst hinter uns gebracht.

Gestern also war ein langer Tag. Nicht nur gestern, wohl gemerkt, denn seit er den Posten inne hat, für den er nun schon ein halbes Arbeitsleben kämpft, werden die Tage auffällig lang, die Nächte dafür um so kürzer. Gestern früh hat er sich von Marie verabschiedet, mit einem Versprechen auf den Lippen. Sie lag noch im Bett, wie fast immer wenn er das Haus verlässt. Er hat sie zärtlich über die Wange gestreichelt, ist in einem flüchtigen Anfall von Müdigkeit noch ein Mal kurz zusammen gesackt, so das seine Stirn auf ihrer zum Ruhen kam. Eine Szene, bei der man vermuten könnte, es fände ein Gedankenaustausch statt, geheim und nur durch Berührung. Wortlos. Genau so gab er ihr auch sein Versprechen, ohne ein Wort, aber mit einem Blick, den sie nur zu gut kannte.

Schon seit Wochen wollten sie wieder einmal zusammen ausgehen, der Inder nebenan, das kleine, gemütliche Café mit den bunten Stühlen vor der Tür, nur ein paar Straßen weiter, für beide ein erinnerungsträchtiger Ort. Oder einfach nur die Bank im Park, direkt hinter ihrer Wohnung. So wie sie es früher immer getan hatten. Egal, der Ort würde keine Rolle spielen, nur die Zweisamkeit, die sie nun schon bald zwanzig Jahre verband, bedurfte dringend einer Erneuerung, nur sie wäre wichtig. Was eignete sich dafür passender als ein lauer Spätsommerabend?

Marie wusste mittlerweile nur zu gut, was sie von seinen Versprechen zu halten hatte. Sie wusste dass er es wollte, dass er es versuchen würde, dass er scheitern würde. Irgendwann in der Nacht, nicht mehr lang bis der neue Tag anzubrechen drohte, käme er wie ein reumütiger Sünder in ihr Bett zurück gekrochen, welches den einzigen Berührungspunkt der beiden darstellte. Sie würde sich, wie immer, an ihn schmiegen, ihn wärmen, umklammern. Loslassen war keine Option, aufgeben auch nicht. Er würde eingeschlafen sein, bevor auch nur ein einziges Wort gewechselt werden konnte.

Und er würde es wieder versuchen, den Spagat, das Unmögliche, für sie, ganz allein für sie. War das wirklich er? Hatte er eigentlich nicht viel mehr gewollt damals? Ein wunderschöner Traum, kreativ sein, unabhängig und frei, und dennoch auf alle Zeiten mit der Frau an seiner Seite, der er schon viel mehr versprochen hatte, früher, als alles noch jung und unbeschwert war. Wo war das verträumte, kleine Haus am Fluss, welches sie in Gedanken schon tausende Male gebaut und eingerichtet hatten? Ab wann war alles so kompliziert geworden?

Nun saß er, seine schwarze Aktentasche mit den silbernen Seitenschienen noch fest umklammert, zusammen gesunken im blauen Sitzbezug, kämpfte in jedem Augenblick nicht nur gegen die Müdigkeit sondern auch für Marie, für seinen Job, und gegen sich selbst. Irgendwann wird er den letzten Zug verpassen, den er heute nur noch mit Mühen erreicht hat, in einer Nacht, die schon lang nicht mehr ihm gehörte, nicht heute und nicht gestern ist, nur eine Zwischenstation vor dem Morgen.

Nachtzug

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