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Zweiter Zettelkasten

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Frau von Aufhammer — Kindheits-Resonanz — Schriftstellerei

Das frühe Gepiepe nach Atzung, das die gestern vom Quintaner aus dem Neste adoptierte Drossel schon um zwei Uhr anfing, trieb den Quintus bald in die Kleider, deren Glanzpresse die Hände der besorgten Mutter waren, die ihn zur Rittmeisterin nicht wie einen „lüderlichen Hund“ lassen wollte. Der Pudel wurde inkarzeriert, der Quintaner mitgenommen, desgleichen gute Reglements von der Fixleinin, wie er sich gegen die Rittmeisterin aufzuführen habe. Aber der Sohn versetzte: „Mama, wenn man mit der großen Welt umgeht wie ich, mit einer Fräulein von Thiennette: so muß man doch wissen, wen man vor sich hat und was feine Sitten und Sawer di Wiwer (savoir vivre) fordern.“ — Er langte mit dem Quintaner und grünen Fingern (von den Saftfarben des zerdrückten Laubes am Steige) und mit einer abgefressenen Rose zwischen den Zähnen vor den dicken Lakaien in Schadeck an . . . Wenn die Weiber Blumen sind, so war die Frau von Aufhammer eine gefüllte, mit ihrem Fett-Bauchkissen und Speck-Kubus. Durch die Apoplexie schon mit dem halben Körper vom Leben abgeschnitten, lag sie auf ihrem Fettpolster nur wie in ihrem weicheren Grab; gleichwohl war das, was noch von ihr übrig war, zugleich lebhaft, fromm und stolz. Ihr Herz war ein gießendes Fruchthorn gegen alle Menschen, aber nicht aus Menschenliebe, sondern aus strenger Andacht; sie beglückte, beschenkte und verschmähte die Bürgerlichen und achtete an ihnen nichts, als höchstens Frömmigkeit. Sie nahm den nickenden Quintus mit dem zurücknickenden Air einer Patronatsherrin auf und erheiterte sich menschenfreundlich bei der Ausschiffung der Grüße von Thiennetten.

Sie fing das Gespräch an und setzte es lange allein fort und sagte — ohne daß deswegen die Trommelsucht des Stolzes ihr Gesicht verließ: — „sie werde bald sterben, aber sie werde die Pate ihres Gemahls schon in ihrem letzten Willen bedenken.“ — Ferner sagte sie ihm gerade ins Gesicht: „auf eine Versorgung in Hukelum sollʼ er nicht bauen; aber zum Flachsenfinger Konrektorat (das Bürgermeister und Rat besetzt) hoffe sie ihm zu verhelfen, da sie bei dem regierenden Bürgermeister ihren Kaffee und beim Stadtsyndikus die Lichter (er trieb einigen Grossohandel mit Hamburger Lichtern) kaufe.“ —

Nun kam er zum untertänigen Wort, da sie von ihm Krankenberichte über ihren Senior Astmann abforderte, der sich mehr von Luthers Katechismus als vom Gesundheitskatechismus raten ließ. Sie war weniger Astmanns Patronatsherrin als Patronin und gestand sogar, sie würde einem so treuen Seelenhirten bald nachfolgen, wenn sie auf ihrem Gute hier sein Sterbegeläute vernähme.

Gesetzt auch, der Teufel hätte in irgendeiner müßigen Minute eine oder zwei Hände voll Samenkörner des Neides in die Seele des Quintus gesäet: sie wären doch nicht aufgeschossen; und heute vollends nicht, da ihm ein Mann gepriesen wurde, der sein Lehrer und — ein Geistlicher war. Soviel ist freilich nach der Geschichte auch nicht zu leugnen, daß er bei der Edelfrau geradezu mit der Supplik nachkam: „er wolle zwar gern noch einige Jahre sich in der Schule gedulden, aber dann sehnʼ er sich wohl in ein geruhiges Pfarr-Ämtchen.“

Die Kranke ersuchte ihn, einen Probeschuß zu tun, ihr nämlich eine Vermahnung am Krankenbette zu halten. Beim Himmel! er hielt eine der besten. Ihr Adelstolz kroch vor seinem Amtsund Priesterstolz zurück. —

Auf einem ganz mit Lorbeer vollgeladenen Triumphwagen, an den lauter Hoffnungen gespannt waren, fuhr er abends nach Hause und riet unterwegs dem Quintaner, sich keiner Sache ruhmredig zu überheben, sondern still Gott zu danken, wie er da tue. —

Die nebeneinander aufblühenden Lusthaine seiner vier Kanikularwochen und das fliegende Gewimmel von Blüten darin sind bald auf drei Seiten gemalt. Ich will blindlings in seine Tage greifen und einen herausfangen: einer lächelt und duftet wie der andere.

Man nehme z. B. den Namenstag seiner Mutter Clara, den zwölften August. Am Morgen hattʼ er feuerbeständige Freuden, d. h. Geschäfte. Denn er schrieb, wie ich. Ich kenne nur eine Sache, die süßer ist als ein Buch zu machen, nämlich eines zu entwerfen. Fixlein schrieb kleine Werklein, die er im Manuskript, vom Buchbinder in goldne Flügeldecken geschnürt und auf dem Rücken mit gedruckten Lettern betitelt, in die literarische Stufensammlung seines Bücherbrettes mit einstellte. Jedermann dachte, es wären Novitäten mit Schreiblettern gedruckt. Er arbeitete — ich will die unerheblichen Werke auslassen — an einer Sammlung der Druckfehler in deutschen Schriften; er verglich die Errata untereinander, zeigte, welche am meisten vorkämen, bemerkte, daß daraus wichtige Resultate zu ziehen wären, und riet dem Leser, sie zu ziehen. —

Um auf den Namenstag zurückzukommen: so lief Fixlein nach solchen Anstrengungen hinaus unter die Sangstauden und Rauschbäume und kehrte nicht eher aus der warmen Natur zurück, als bis Schüssel und Stühle schon an den Tisch gestellt waren. — Unter dem Essen fiel etwas vor, das ein Biograph nicht entbehren kann: seine Mutter mußtʼ ihm nämlich die Landkarte seiner kindlichen Welt unter dem Kauen erzählen, woraus von ihm auf seine jetzigen Jahre etwas zu schließen war. Diesen perspektivischen Aufriß seiner kindlichen Vergangenheit trug er dann auf kleine Blätter auf, die alle unsere Aufmerksamkeit verdienen. Denn lauter solche Blätter, welche Szenen, Akte, Schauspiele seiner Kinderjahre enthielten, schichtete er chronologisch in besondere Schubläden einer Kinderkommode und teilte seine Lebensbeschreibung in besondere Zettelkästen ein. Er hatte Kästen für Erinnerungszettel aus dem zwölften, dreizehnten, vierzehnten usw., aus dem einundzwanzigsten Jahre und so fort. Wolltʼ er sich nach einem pädagogischen Baufrontag einen Rastabend machen: so riß er bloß ein Zettelfach, einen Registerzug seiner Lebensorgel heraus und besann sich auf alles.

Ich muß die rezensierenden Stummen, die mir den kurzen Prozeß des Strangulierens an den Hals werfen wollen, ganz besonders bitten, doch nur vorher, ehe sie es darum tun, weil ich meine Kapitel Zettelkästen nenne, nachzusehen, wer daran Schuld ist, und nachzudenken, ob ich anders konnte, da der Quintus selber seine Biographie in solche Kästen abgeteilt: sie sind ja sonst billig.

Nur über seinen älteren Bruder tat er an seine Mutter keine kränkende Frage: denn diesen hatte das Schicksal auf eine eigene Art mit allen seinen genialischen Anlagen am Eisberg des Todes zertrümmert. Er sprang nämlich auf eine Eisscholle, die zwischen anderen Schollen stockte — diese wichen aber zurück und seine schoß mit ihm fort, schmolz schwimmend unter ihm ein und ließ also das Feuerherz zwischen Eis und Wogen untersinken. Es tat der Mutter wehe, daß er nicht gefunden, daß sie nicht erschüttert wurde mit dem Anstarren der geschwollenen Leiche — o, gute Mutter, danke lieber Gott dafür! —

Nach dem Essen ging er, um sich mit neuen Kräften für den Schreibtisch zu rüsten, bloß müßig im Hause herum und durchzog wie ein Feuerschauer alle Ecken seiner Hütte, um aus ihnen irgendeine Kohle der ausgeglommenen Freudenfeuer seiner Kindheit aufzulesen. Er stieg unter das Dach zu den leeren Vogelhäusern seines Vaters, der im Winter ein Vogler war, und musterte flüchtig die Rumpelkammer seiner alten Spielwaren. Er befühlte seinen alten hohen Kinderstuhl, er rückte seine Kinderkutsche; aber er begriff nicht, welche Salbung und Heiligkeit sie so sehr von anderen Kinderkutschen unterscheide. Er wunderte sich, daß ihm Kinderspiele an Kindern nicht so gefielen als die Schilderungen derselben, wenn das Kind, das sie getrieben, schon aufgeschossen vor ihm stand.

Vor einer einzigen Sache im Hause stand er sehnsüchtig und wehmütig, vor einem winzigen Kleiderschrank, der nicht höher war als mein Tisch und der seinem armen ertrunkenen Bruder angehört hatte. Da dieser mit dem Schlüssel dazu von den Fluten verschlungen worden: so tat die zerknirschte Mutter das Gelübde, seinen Spielschrank nie gewalttätig aufzubrechen. Wahrscheinlich sind nur die Spielwaren des Armen darin. Laßt uns wegsehen von dieser blutigen Urne. —

Da die Erinnerungen aus der Kindheit unter die gesunden Dinge rechnen, so waren sie ganz natürlich ein Digestivpulver für den Quintus. Nun konntʼ er sich wieder an den Arbeitstisch begeben und etwas ganz Besonderes machen — Suppliken um Pfarrdienste. Er nahm den Adreßkalender vor und machte für jedes Pfarrdorf, das er darin fand, eine Bittschrift vorrätig, die er solange beiseite legte, bis sein Antezessor verstarb. Bloß um Hukelum hielt er nicht an. Es ist eine schöne Observanz in Flachsenfingen, daß man sich um alle Ämter melden muß, die offen stehen. So wie der höhere Nutzen des Gebets nicht in seiner Erfüllung besteht, sondern darin, daß man sich im Beten übt: so sollen Bittschreiben aufgesetzt werden, nicht damit man Ämter erhalte — das muß durch Geld geschehen — sondern damit man eine Supplik schreiben lerne.

Gegen Abend — sonntags gar — schweifte er im Dorfe herum, wallfahrte zu seinen Spielplätzen und auf den Gemeindeanger, auf den er sonst seine Schnecken zur Weide getrieben — suchte den Bauer auf, der ihn von der Schule her zum Erstaunen der anderen duzen durfte — ging als akademischer Lehrer zum Schulmeister, dann zum Senior — dann in die Episkopalscheune oder Kirche. Das letztere versteht kein Mensch: es brannten nämlich vor dreiundvierzig Jahren die Kirche (der Turm nicht), das Pfarrhaus und — was nicht wieder herzustellen war, die Kirchenbücher ab. Daher wußten in Hukelum die wenigsten Leute, wie alt sie waren, und des Quintus Gedächtnisfibern selber schwankten zwischen dem zwei- und dreiunddreißigsten Jahre. Folglich mußte da gepredigt werden, wo sonst gedroschen wird, und der Same des göttlichen Worts wurde mit dem physischen auf einer Tenne geworfelt: der Kantor und die Schuljugend besetzten die Tenne, die weiblichen Mutterkirchleute standen in der einen Panse, die Schadecker Weiber in der anderen und ihre Männer hockten pyramidenweise an den Scheunenleitern hinauf, und oben vom Strohboden horchten vermischte Seelen herunter. Eine kleine Flöte war das Orgelwerk und eine umgestürzte Bierkufe der Altar, um den man gehen mußte. —

Waren diese Entdeckungsreisen zurückgelegt, so konnte unser Hukelumfahrer noch nach dein Abendgebet mit Thiennetten Blattläuse von den Rosen, Regenwürmer von den Beeten nehmen und einen Freudenhimmel von jeder Minute — jeder Abendtautropfen war mit Freuden- und Nelkenöl gefärbt — jeder Stern war ein Sonnenblickʼder Glücksonne — und im zugeschnürten Herzen des Mädchens lag nahe an ihm hinter einer kleinen Scheidewand ein ausgedehntes Blütenparadies . . . . Ich meine, sie liebte ihn ein wenig.

Er solltʼ es wissen. Aber seine beklommene Wonne verdünnte er, wenn er zu Bette ging, durch kindische Erinnerungen auf der Treppe. Als Kind betete er nämlich wie einen Rosenkranz unter dem Bettzudeck als Abendgebet vierzehn biblische Sprüche, den ersten Vers „Nun danket alle Gott“, das zehnte Gebot und noch einen langen Segen. Um nun eher fertig zu werden, fing er seine Gebete nicht bloß unten auf der Treppe, sondern schon an dem Orte an, wo Alexander den Menschen studierte. — Lief er am Hafen der Flaumwogen ein: so war er mit seiner Abendandacht fertig und er konnte nun ohne eine weitere Anstrengung mit zugedrückten Augen gerade in die Federn und in den Schlummer plumpsen.

Soweit die Hundstage des Quintus Zebedäus Egidius Fixlein. — Ich schließe schon zum zweitenmal die Kapitel dieser Lebensbeschreibung, wie ein Leben, mit einem Schlaf.

Quintus Fixlein

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