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Eine Leerstelle, ja, wenn ich daran zurückdenke, begann es mit einer Leerstelle. Im Winter gab es in meinem Zeitablauf zwischen meinem Abflug vom Flughafen Paris-Roissy am frühen Nachmittag des 14. Dezember und meiner Ankunft am 16. Dezember um 17.15 Uhr am Narita Airport eine Leerstelle von achtundvierzig Stunden. Wir wissen nie alles über das Leben uns nahestehender Personen. Ganze Momente ihres Daseins sind uns verborgen. Es bleiben immer Grauzonen in ihrem Leben, Leerstellen, Lücken, Auslassungen, Abwesenheiten. Selbst bei den Menschen, die man am besten zu kennen glaubt, gibt es unbekannte Territorien. Aber wie steht es mit uns selbst? Sollte nicht eigentlich alles von unserem Leben bekannt sein? Sollten wir nicht ständig erreichbar sein, telefonisch, per Mail oder via Facebook-App? Sind wir heute nicht gehalten, ständig lokalisierbar zu sein? Ist es bei Reisen nicht unentbehrlich geworden, unsere Nächsten jederzeit wissen zu lassen, wo wir uns gerade aufhalten, in welchem Land, in welcher Stadt, in welchem Hotel? Bei dem, was mir in diesen achtundvierzig Stunden passiert ist, in denen niemand aus meiner Familie oder meinem beruflichen Umfeld wusste, wo ich mich befand, handelte es sich nicht um eine jener vorsätzlichen Fluchten, wie sie in Frankreich jährlich tausendfach vorkommen. Es handelte sich auch nicht um eine dieser vorübergehenden Amnesien, eine Gedächtnislücke, ein flüchtiges Aussetzen des Erinnerungsvermögens, das einem übermäßigen Alkoholkonsum nach einem allzu feuchtfröhlichen Abend geschuldet wäre, wenn man sich beim Aufwachen nicht mehr an die Ereignisse der Nacht erinnert, die in unserem vernebelten Hirn nur bruchstückhaft wieder auftauchen, als ob die Dinge, die wir in der vorangegangenen Nacht erlebt hatten (manchmal die lustvollsten, wie etwa ein schnelles sexuelles Abenteuer), gegen unseren Willen geschehen sind und im Nachhinein aus dem Gedächtnis gelöscht worden wären. Nein, unter einem solchen achtundvierzigstündigen Blackout hatte ich nicht zu leiden. Im Gegenteil, ich erinnere mich klar und deutlich an jene beiden Tage, manche Bilder habe ich sogar in halluzinatorischer Klarheit wieder vor Augen. Aber die Leerstelle ist da, diese vorsätzlich gefasste Leerstelle in meinem Zeitplan, diese geheime Paranthese, von mir selbst organisiert, indem ich jede Spur meines Daseins auf der Welt ausradiert habe, als sei ich vom Radar verschwunden, als hätte ich mich buchstäblich in Luft aufgelöst. Von Amts wegen war ich achtundvierzig Stunden lang nirgendwo – und nie hat jemand erfahren, wo ich mich aufhielt.
Bei der Europäischen Kommission, für die ich arbeite, vermutete man mich in Japan. Auch meine Familie dachte, ich sei in Tokio. Meine Teilnahme an dem internationalen Kolloquium Blockchain & Bitcoin prospects war schon lange geplant. Ich war als europäischer Experte eingeladen, am zweiten Tag des Kolloquiums im Tokyo International Forum einen Vortrag zu halten. Professor Nakajima von der Universität Todai hatte meine Reise organisiert und das Programm für mich ausgearbeitet, mir neben meinem Vortrag beim Kolloquium einen weiteren Vortrag an seiner Universität beschafft. Seit einigen Jahren setzte ich mich im Rahmen meiner Tätigkeit für die Gemeinsame Forschungsstelle für Wissenschaftliche Beratung in Brüssel vor allem mit der Blockchain-Technologie auseinander. Ich arbeitete schon lange auf dem Gebiet der Strategischen Zukunftsforschung, zunächst für das Centre d’Étude et de Prospective Stratégique in Paris, jetzt für die Europäische Kommission. Seit mehr als zwanzig Jahren schon beschäftigte ich mich mit der Zukunft. Und in diesen zwanzig Jahren nur Missverständnisse! Wie oft hatte ich richtigstellen müssen, dass die Zukunftsforschung, soweit sie ihren Gegenstand vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, nichts mit Wahrsagerei zu tun hat. Wie oft wurde ich bei Abendessen in der Stadt, in Paris oder in Brüssel, gefragt, wo ich doch Spezialist für Fragen der Zukunft sei, was diese für uns bereithielt. Bestenfalls bezog sich die Frage, Himmel sei Dank, nicht auf die Zukunft als solche (das ist, ich weiß es aus Erfahrung, ein weites Feld), sondern auf den einen oder anderen speziellen Aspekt, die Umwelt oder die Geopolitik, also die Erwärmung der Erde oder die Entwicklung der syrischen Frage. Ich löste mit meinen Antworten in aller Regel nur Enttäuschung und stille Missbilligung aus, ja sogar kaum verhohlenes Misstrauen, weil ich im Bewusstsein meiner eng gefassten wissenschaftlichen Vorgehensweise antwortete, nichts darüber wissen zu können. Dem einverständlichen Schmunzeln, dem Austauschen verstohlener Blicke und den amüsierten Gesichtern, die ich am Tisch wahrnehmen konnte, setzte ich nichts entgegen. Ich versuchte weder mich zu erklären, noch weniger zu überzeugen. Allenfalls machte ich das Eingeständnis, dass zuweilen die Intuition mir zu Hilfe käme. Ich forschte über die Zukunft, ja, wie großartig. Selbst meine Kollegen in der Europäischen Kommission hatten gemeinhin keine Ahnung, worum es dabei ging. Nicht selten kam es vor, dass der eine oder andere Generaldirektor mich wegen der rätselhaften Abteilung, die ich leitete, in meinem Büro besuchte, um mich zu fragen, was es denn genau mit der Zukunftsforschung auf sich habe, um dann wie nebenbei hinzuzufügen, denn das war oft der eigentliche Grund des Besuchs: »Und wie könnte mir das zu Nutzen sein?« Und jedes Mal nahm ich mir die Zeit, gebetsmühlenartig zu erklären, was Zukunftsforschung nicht bedeutete, ich begann, sie negativ zu definieren. Denn was die Zukunftsforschung nicht war, das wusste ich zu Genüge – aber zu wissen, was sie war?
Was die Zukunftsforschung nicht war, nichts einfacher als das. Die Strategische Zukunftsforschung ist keine Hellseherei. Es geht keineswegs um Weissagung oder um Prophezeiung. Sie ist in keinem Fall Wahrsagerei, noch nicht einmal, was die Allgemeinheit im mindesten von ihr erwartet, Prognose. Nein, die Strategische Zukunftsforschung sagt nicht die Zukunft voraus. Die Zukunft ist lediglich der Gegenstand ihrer Forschung, und um sie zu erforschen, verfügen wir über ein breites Spektrum bestens ausgearbeiteter methodologischer Verfahren, die nach dem zweiten Weltkrieg entstanden und seither perfektioniert wurden, Instrumente wie zum Beispiel die Delphi-Methode, Modellierungen, Extrapolationen und Szenarien. Die Zukunftsforscher bilden eine recht eng begrenzte Gemeinschaft, in der wir uns nur auf Englisch verständigen, obwohl wir alle polyglott sind und jeder von uns zwei, manchmal sogar drei oder vier Sprachen beherrscht. Man begegnet zwangsläufig mehr oder weniger immer denselben Gesichtern auf den Symposien und internationalen Konferenzen, bei denen wir uns zwei oder drei Mal im Jahr treffen, etwa beim jährlichen Kongress der World Future Society oder bei der Association of Professional Futurists. Mein Freund Peter Atkins veranstaltet jedes Jahr eine Sommerfrische vor der hochherrschaftlichen ländlichen Kulisse von Hartwell House unweit von London. Wir unsererseits empfangen in Brüssel an die vierhundert Experten aus der ganzen Welt zu unserer Konferenz Analyse Technologique de la Prospective (die das hübsche Akronym ATP ergibt, welches an das der Association of Tennis Professionals erinnert). Wir bilden eine relativ homogene Truppe, und wie jede Gemeinschaft sind wir durch ein unsichtbares Netz von Sympathien und Antipathien, von Freundschaften und Feindschaften verbunden, durch versteckte Eifersüchteleien und Animositäten, Sippschaften und Cliquen, ein Netz, das tief unter der Oberfläche unsere Gemeinschaft durchzieht, ebenso wenig sichtbar wie dessen Verbindungen auf der Oberfläche. Auch wenn wir in einem geschlossenen System leben, sind wir dennoch weniger inzestuös als etwa eine königliche Familie oder ein Philharmonieorchester. Vielfältig Eingebrachtes von außen, von Wissenschaftsexperten, Ingenieuren und Politikern, durchlüftet regelmäßig unseren begrenzten Kreis, und durch den immer wieder erneuerten Mestizenbeitrag von Gedanken wird unser Sumpf unaufhörlich aus seiner Erstarrung gerüttelt. Und diese ganze schöne Welt hat natürlich allein die Zukunft im Sinn. Um es jedoch gleich vorwegzunehmen, die Zukunft existiert nicht – zumindest noch nicht.
So exzellent unsere Methoden auch sein mögen, die Zukunft lässt sich nicht vorhersagen. Wie könnten wir etwas vorhersagen, das noch nicht existiert? Die Zukunft, wenn wir sie vom Heute ausgehend erforschen (und wovon sonst als der Gegenwart könnten wir ausgehen?), bleibt etwas sich ständig Änderndes, Instabiles, Unbestimmtes, Unschlüssiges, wie ein unendlicher, ewig sich im Wind wandelnder Himmel, der eben noch ruhig war, dann plötzlich stürmisch ist. Sie kann verschiedenste Formen annehmen, ihre Konturen dehnen sich in kontinuierlichem Wechsel, vermischen sich, ihre Grenzen werden verschoben, während ihr eigentliches Wesen uns gänzlich unbekannt bleibt. In dem Moment, in dem wir die Zukunft beobachten, ist sie noch nicht erschienen. Durch die grundlegende Ungewissheit und ihre bedrohliche Unbestimmtheit war die Zukunft seit jeher für den Menschen eine Quelle des Unbehagens. Unbehagen, ja. Der Mensch (und ich im Besonderen) hat angesichts der Zukunft schon immer ein irrationales Unbehagen empfunden. Er dachte seit jeher, die Zukunft könne eine Gefahr in sich bergen, und um diese abzuwenden, brachte man seit der Antike alle möglichen Praktiken und Abwehrrituale in Stellung, um diese Angst zu bannen. Jahrhundertelang glaubte der Mensch, die Zukunft erschließe sich ihm nicht, dass sie Gott gehöre, dass sie eine Sphäre sei, die für Mächte reserviert ist, die über seinen Verstand gehen. Um etwas von der Zukunft zu erahnen, um einen Zipfel des Schleiers von dem zu lüften, was sie für uns bereithielt, manchmal etwas vom Besten, meist etwas vom Schlimmsten, zog man Auguren oder Orakel zu Rate. Heute blicken wir mitleidig auf solch archaische Praktiken. Unsere Vorgehensweise versteht sich rationaler, wissenschaftlicher. Wir versuchen nicht, die Zukunft vorherzusagen, sondern nur, sie vorzubereiten, was uns zu der Überlegung führt, das Zukünftige nicht als ein zu erforschendes, sondern als ein zu bebauendes Gebiet zu betrachten. Dem französischen Philosophen Gaston Berger verdanken wir die wesentliche Einsicht, dass die Zukunftsforschung untrennbar mit Handeln verbunden ist. Wenn man sich mit der Zukunft beschäftigt, dann nicht als Ästhet oder passiver Beobachter, sondern in zweckorientierter Absicht, im Dienste des Handelns und der politischen Entscheidung. Die Zukunft darf nicht als etwas bereits Feststehendes betrachtet werden, vielmehr als etwas Offenes, noch zu Konstruierendes, etwas, worauf heutige Entscheidungen noch einen Einfluss haben. Aber der wirkliche Patron der Zukunftsforschung ist der Amerikaner Herman Kahn. Herman Kahn ist Wegbereiter und Legende der Strategischen Zukunftsforschung. Er ist Begründer der berühmten Methode der Szenarien. Als Kahn Mitte der 1950er Jahre einen Überbegriff für seine hypothetischen Darstellungen suchte, die er im Rahmen seiner Zukunftsforschung anwandte, und nach einer Diskussion ein Drehbuchautor aus Hollywood ihm erzählte, der Begriff scenario sei beim Film zugunsten von screenplay fallen gelassen worden, übernahm er einfach den Begriff, um damit seine fiktiven Forschungsberichte zu benennen, die Situationen beschreiben, die sich in der Zukunft ereignen könnten. Wie mein Freund Peter Atkins oft anmerkte, behaupten Franzosen gerne, Amerikaner seien rigide und deterministisch in Sachen Zukunftsforschung, liest man jedoch die Schriften Herman Kahns, wird klar, dass Kahn viel entspannter ist, als man es ihm allgemeinhin zutraut, hatte er doch die Traute besessen, ein aus Hollywood stammendes Wort als Überbegriff der in der Zukunftsforschung ausgearbeiteten Fiktionalisierungen zu wählen. Als Autor des äußerst umstrittenen Buches Über den Nuklearkrieg, mit dem er in den 1960er Jahren in den Medien Aufsehen erregte, hat Kahn viel Zeit darauf verwandt, mögliche Szenarien eines Atomkrieges mit der Sowjetunion zu entwerfen und kühl unter Zuhilfenahme verschiedener Tabellen mögliche Strategien zu entwickeln, mit denen die Vereinigten Staaten einen Atomkrieg »gewinnen« könnten. Er unterschied zehn Arten von Krisen und bemühte sich, den Nachweis zu erbringen, dass ein Überleben der Vereinigten Staaten bei einer vorgeschalteten guten Vorbereitung mit einiger Wahrscheinlichkeit denkbar sei. Die klinisch sauberen Hochrechnungen der Toten in jeder der von ihm erarbeiteten Szenarien, methodisch exakt in Grafiken ausgewiesen, gingen von der niedrigsten Hypothese (zwei Millionen Tote), bis hin zur höchsten (160 Millionen Tote), was bei Veröffentlichung des Buchs einen Aufschrei der Empörung auslöste. Seine Kritiker warfen ihm die Leichtfertigkeit vor, mit der er mit dem nuklearen Feuer spielte, und klagten ihn an, zu einem Massenmord aufzurufen. Kahn war zu diesem Zeitpunkt aber schon zu verstrickt in seine Obsessionen und seine makaberen Hochrechnungen und stand am Ende da wie ein monomaner Illuminat, so sehr, dass er zu einem der Vorbilder wurde für Doktor Seltsam in Stanley Kubricks Film Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben.
Meist weniger berühmt als die legendären Kunstfiguren wie Doktor Seltsam oder Citizen Cane sind die bedeutenden Köpfe der Zukunftsforschung, die dem großen Publikum im Allgemeinen unbekannt bleiben. In diese Porträtgalerie bizarrer Persönlichkeiten gehört das einzigartige Bildnis von Pierre Wack. Der Franzose Pierre Wack, der nicht nur ein Franzose war (also per definitionem leicht verrückt, wie mein Freund Peter Atkins es zu sagen pflegt), sondern ein wahres Original (ein unkonventioneller Franzose, wie es einer seiner Biographen etwas schönfärberisch schreibt), war ein richtiger Hippie, der nach Indien pilgerte, um seinem Guru Swami Prajnanpad einen Besuch abzustatten, und der seine Tage im Büro im Lotussitz meditierend zubrachte. Und diesen komischen Kauz beauftragte die Geschäftsführung von Royal Dutch Shell Mitte der 1960er Jahre, ein neues System für die weltweiten Aktivitäten der Ölfirma einzuführen, von der Förderung des Erdöls bis hin zum Vertrieb des Benzins an den Tankstellen. Pierre Wack (dessen witziger Name an den französischen Komödianten Pierre Dac erinnert) bezog darauf in London im neuen Shell-Hochhaus ein privates Büro, in dem beständig eine Räucherkerze brannte und unser Experte in weißem Kimono und thailändischer Hose barfuß und nachdenklich über den Teppichboden entlang der verglasten Fensterfront des Shell-Hochhauses wandelte, das das Südufer der Themse überragt. Da er die bisher üblichen Fünfjahrespläne von Shell als Auslaufmodell betrachtete und erkannte, dass in den bis dahin zur Anwendung gebrachten Zukunftsmodellen zu wenig die äußeren Gegebenheiten auf diese Industrie mit ins Kalkül einbezogen wurden, führte Pierre Wack von nun an Shell auf den Weg der Szenarien, die von 1971 an schließlich an die Stelle der traditionellen quantitativen Vorhersagen des multinationalen Konzerns traten. Und auch wenn es möglicherweise nur am Weihrauchdunst lag, der der Gestalt Pierre Wacks beim Verlassen des Aufzugs einen Heiligenschein verlieh, begannen die Entscheider bei Shell langsam, sich an seine intuitiven Szenarien und seine Vorstellungen zu gewöhnen, die man anfangs für absurd erachtet hatte, dass der Weltölmarkt Mitte der 1970er Jahre eine gewaltige Schieflage erleben würde und demzufolge einen brutalen Anstieg der Erdölpreise, eine Intuition, die sich mit dem ersten Erdölschock 1973 auf eklatante Weise bestätigen sollte.
In den vergangenen Jahren habe ich hin und wieder Science-Fiction-Romane gelesen. Ich erinnere mich auch, im Kino mehrere Episoden von Star Wars gesehen zu haben. Eine schon vor längerer Zeit, noch im 20. Jahrhundert, vielleicht war es 1999. Was für ein seltsam anmutendes Datum, dieses 1999, mit dieser langsam und still in der Zeit versiegenden Schleppe von Neunern, wie ein Kometenschweif im interstellaren Raum. Und doch haben wir diese Zeit, als wir den Moment lebten, als völlig normal betrachtet, vielmehr die Jahre, die mit 2000 begannen, damals als unnatürlich empfunden. Ich habe die erste Episode von Star Wars, Die dunkle Bedrohung, in Rom mit meinem älteren Sohn Alessandro gesehen, der zu dieser Zeit etwa neun oder zehn Jahre alt gewesen sein dürfte. Ich war für ein langes Wochenende nach Rom gekommen, um Alessandro zu sehen, der dort nach unserer Trennung mit seiner Mutter lebte, und ich hatte ihn mit in Star Wars genommen. Es war ein unerträglich heißer Augusttag, und ich erinnere mich noch an die wohltuende Kühle, die im Dunkel dieses klimatisierten Kinosaals in der Nähe der Piazza Barberini herrschte. Alessando saß neben mir in Shorts und einem Trikot von AS Rom und schaute fasziniert auf die mönchischen Gestalten der Jedi-Ritter, die sich, vermummt in Kapuzen und braunen Wollmänteln, mit Laserschwertern bekämpften. Ich meinerseits schaute gleichermaßen auf die Filmleinwand wie auch auf meinen Sohn, dessen kleine Augen ich in der Dunkelheit kaum wahrnehmen konnte und der mit offenem Mund und starr mit einer Eistüte in der Hand in fast religiöser Hingabe den weisen Sprüchen von Meister Yoda folgte. Il paura è la via per il lato oscuro. Wir sahen einen italienisch synchronisierten Film. Mein Sohn konnte die Untertitel noch nicht fließend lesen. La paura porta a la rabbia. La rabbia porta all’ odio, l’odio conduce alla sofferenza, fuhr Meister Yoda fort (das ist gut, was?, wandte ich mich von Zeit zu Zeit zu meinem Sohn, um ihn zum Zeugen zu nehmen).
Erst vor kurzem, als ich nach einem Arbeitstag in Brüssel abends nichts vorhatte, schaute ich mir gedankenlos im Programm eines flämischen Senders eine neuere Episode von Star Trek in der Originalfassung mit holländischen Untertiteln an. Doch in den Tagen danach, wenn ich über die Art und Weise nachdachte, in der im Film die Zukunft dargestellt worden war, fing auch ich an zu überlegen, wie unsere Welt in einer weit entfernten Zukunft tatsächlich aussehen könnte, wobei ich versuchte, die wirklich denkbaren Entwicklungen der Menschheit hochzurechnen, um in einem idealen Zukunftsfilm einen realistischeren Überblick über die Zukunft zu bekommen. Das war in der Tat genau das, was ich besser hätte sein lassen sollen. Das war die völlige Abkehr von dem, was ich ständig vermeiden wollte, wenn man mich danach fragte, was die Zukunft für uns bereithielt. Aber ich wollte, weil ich schon einmal dabei war, mit meinen Träumereien noch nicht aufhören, trotz des (begründeten) Vorwurfs, den ich mir selbst hätte machen können. Auch wenn die Erkenntnisse, zu denen ich, gestützt auf die neuesten Forschungen der Wissenschaft, gelangt war, sicherlich von keiner großen Bedeutung waren (ich habe sie übrigens alle recht schnell vergessen), war ich doch mit meiner eigenen Schlussfolgerung ziemlich zufrieden, die darauf hinauslief, dass alle Elemente, die man in einen Science-Fiction-Film einbauen kann, alle nur vorstellbaren technologischen Extravaganzen, ob Maschinen, Roboter, Weltraumschiffe oder interstellare Reisen, alle biotechnologischen und transhumanen Spielarten, all dieser futurologische, mit Spezialeffekten vollgestopfte Klimbim nicht an das Wirkungsvollste und wirklich Verblüffendste heranreichen, was es auf der Leinwand zu sehen gibt – denn das Glaubwürdigste und am meisten Bewegende, das Schönste und auch Zauberhafteste sind die Szenen, in denen es regnet.
In der Strategischen Zukunftsforschung spannt sich die Vorhersage allgemeinhin über Zeiträume bis zu etwa fünfzig Jahren, wobei man nie über das Jahr 2100 hinaus forscht, das ist unsere längste Zeitspanne, der nicht zu überschreitende Horizont. Aber der Begriff der längsten Zeitspanne ist sehr relativ, die Experten der IAEO, der Internationalen Atomenergie-Organisation, rechnen bei Halbwertszeiten nuklearer Abfälle mit einem Zeithorizont von hunderttausend Jahren. Das Problem mit diesem in großer Tiefe gelagerten radioaktiven Atommüll liegt darin, wie man künftigen Generationen auf verständliche Weise die Information übermitteln, wie man sie darauf aufmerksam machen soll, dass im Boden hochgiftige nukleare Abfälle mit einer Verfallszeit von einhunderttausend Jahren oder mehr lagern. In welcher Sprache beispielsweise soll man an der Erdoberfläche Hinweise zur Lokalisierung hinterlegen, wie technische Empfehlungen zur Behandlung dieser Abfälle abfassen? Es ist vielleicht ein wenig zu kurz gegriffen, wenn man sich damit begnügt, mit: »auf Chinesisch« zu antworten, wie ich es letztens bei einer internen Sitzung mit einem Augenzwinkern vorgeschlagen habe. Keine Organisationsform der Menschheit ist auf eine solche Zeitspanne hin angelegt. Selbst den Vatikan, eine der am längsten bestehenden, gibt es erst seit dem vierten Jahrhundert. Andererseits heißt in der Welt der neuen Technologien sechs Monate bereits Ende der Vorstellung, so viele Dinge können in diesem sich derart schnell entwickelnden Bereich in nur sechs Monaten passieren. Als ich einmal mit verantwortlichen IT-Experten großer Industriefirmen in Sachen Cybersicherheit zusammenarbeitete, hatten diese größte Schwierigkeiten, sich einen Zeithorizont bis zum Jahr 2020 vorzustellen. Es gab heftigen Protest, es sei völlig unmöglich, sich in eine derart trügerische Zukunft zu versetzen (vier Jahre bedeuteten für sie Jahrhunderte).
Seit einigen Jahren arbeite ich über Quantencomputer, eine Technologie, die eine rasante Entwicklung erlebt und über die man viel Widersprüchliches hört. Auf der einen Seite gibt es Leute, die glauben, es handele sich um einen neuen Godot, der niemals kommen würde. Und auf der anderen Seite gibt es Wissenschaftler, die der festen Überzeugung sind, dass das schon morgen der Fall sein würde, dass ein solcher Quantencomputer in weniger als zehn Jahren zum Einsatz kommen könnte. In kürzester Zeit könnte uns also die Entwicklung des Quantencomputers in ungeahnte Dimensionen katapultieren, ausgestattet mit einer Rechenleistung, die sämtliche vermeintlich als sicher geltende Codes knacken und die Grundprinzipien der Sicherheit der Informationstechnologie auf den Kopf stellen kann. Nach einer ersten Sachverständigentagung im Berlaymont-Gebäude der Europäischen Kommission in Brüssel haben wir die Entscheidung gefällt, uns ernsthafter mit dieser Frage zu befassen. Ein sehr detaillierter, sechzehn Abschnitte umfassender Fragebogen (Software, Finanzierung, Stärken und Schwächen Europas, technische Anwendungen et cetera) wurde in der Folge an zweihundert Experten weltweit verschickt. Real-time Delphi, die Echtzeit-Delphi-Methode, ist eine Variante der konventionellen Delphi-Methode, ein Befragungsverfahren, das über eine freigeschaltete Plattform ermöglicht, dass alle an der Befragung beteiligten Fachleute die nach und nach eingehenden Antworten auf ihren Bildschirmen in Echtzeit einsehen und jeweils ihre eigenen Einschätzungen gegebenenfalls korrigieren können. Die erste Phase der Befragung war jetzt abgeschlossen und das Sichten der Ergebnisse im Gange, wir waren dabei, sie für unseren Schlussbericht zusammenzufassen.
Aber die Frage, der in letzter Zeit meine ganze Aufmerksamkeit galt, war die Blockchain. Die Blockchain ist in der Vorstellung der meisten Leute verbunden mit dem Bitcoin. Aber worum geht es wirklich? Die Blockchain ist eine Speichertechnologie, Äquivalent eines Buchführungsjournals – ein immenses anonymes und manipulationssicheres Register –, das die Historie sämtlicher zwischen den Nutzern jemals durchgeführter Transaktionen dokumentiert. Die Arbeit, einen neuen, gültigen Block zu erstellen, die darin besteht, als Erster eine komplexe mathematische Gleichung zu lösen, nennt man Mining, das Schürfen. Der Schwerpunkt in der Anwendung dieser Technologie und der bei weitem bekannteste sind bislang Zahlungssysteme, wie die in den vergangenen Jahren schnell wachsenden Kryptowährungen, weil diese Systeme absolutes Vertrauen schaffen und den Wert der jeweiligen Währung garantieren. Als der Bitcoin 2008 die Weltbühne betrat, geschah dies nicht auf spektakuläre Weise, sondern im Gegenteil bemerkenswert diskret. Die Identität seines Erfinders Satoshi Nakamato ist noch immer mysteriös. Der Name Satoshi Nakamato ist sicher ein Pseudonym, hinter dem sich eine oder mehrere Personen verbergen, möglicherweise sogar eine ganze Gruppe unsichtbarer Manipulatoren, seine wahre Identität bleibt weiterhin ein Rätsel. Aber außer für den Bitcoin kann die Blockchain eben auch in vielen anderen Geschäftsfeldern eingesetzt werden, und ich erhielt vor wenigen Monaten den Auftrag, einen Bericht über die zukünftigen Perspektiven der Blockchain für das Europäische Parlament zu verfassen. Eine erste Fassung dieses etwa fünfzig Seiten langen, in Englisch geschriebenen Berichts (Is blockchain technology our future?) schickte ich meinem Freund Peter Atkins, der ihn las und mir ein Dutzend Änderungen in Details vorschlug, die ich bei der Veröffentlichung berücksichtigt habe.
Im Herbst 2016 fand die öffentliche Vorstellung meines Berichts im Europäischen Parlament statt. Woraufhin ich von Lobbyisten angesprochen wurde. Es ist gut denkbar, dass dies ein normaler Vorgang ist, aber ich für meinen Teil wurde in den mehr als zehn Jahren meiner Tätigkeit in Brüssel (ich bin 2004 zur Europäischen Kommission gekommen) niemals auf eine derartige Weise angegangen. Natürlich trifft man im Laufe der Jahre auf den Straßen des Europaviertels häufiger auf einen Lobbyisten. Nichts in seiner Haltung oder Wortwahl unterscheidet den Lobbyisten von einem Europabeamten. Sie haben das gleiche Erscheinungsbild, haben dasselbe studiert, wissen genau, wie die Institutionen funktionieren. Wie alle anderen hier sprechen sie ein mehr oder weniger globalisiertes Englisch und teilen mit uns dieselben sprachlichen Gewohnheiten, eine für normale Menschen undurchsichtige, weil kodierte Sprache, die wie ursprünglich jeder Dialekt dazu dienen soll, eine klar umrissene Gruppe zu bilden und ihren Zusammenhalt zu festigen. Bei Lobbyisten – die sich gerne in aller Bescheidenheit als »Interessenvertreter« bezeichnen – handelt es sich nebenbei bemerkt häufig um frühere Kollegen, die in die Privatwirtschaft gewechselt sind, die gemäß dem hübschen Ausdruck »Drehtür-Effekt« den Sprung geschafft haben und aus dem paradiesischen Licht der Europäischen Kommission (die, wie jeder weiß, das Gemeinwohl schützt) in den mephistophelischen Schatten des Schutzes privater Interessen gewechselt sind. Lobbyisten üben unsichtbare Einflüsse aus. Sie stellen persönliche Verbindungen bis in höchste Kreise her, sie steuern unsichtbare Initiativen und handeln im Verborgenen, um für spätere Dossiers Vorteile zu schaffen, wenn nicht für die Privatinteressen, die sie vertreten, dann für das öffentliche Gemeinwohl, das sie in Ehren halten. In Brüssel gibt es dreißigtausend Lobbyisten, fast so viele wie in Washington, der Stadt mit der höchsten Anzahl weltweit, und sie sind verpflichtet, in der Ausübung ihrer Aufgaben bei jeder Gelegenheit und an jedem Ort zuvorkommend und höflich lächelnd aufzutreten (oder hat man jemals unsympathische Schwindler gesehen?).
Nachdem ich im September meinen Bericht vorgestellt hatte, wurde ich also in einem Gang des Parlaments von zwei Männern angesprochen, und hier hätte die Geschichte auch schon enden können, denn ich war durchaus entschlossen, nicht auf ihre Avancen einzugehen. Mit meinen Unterlagen unter dem Arm durchquerte ich die Menschenmenge weiter in Richtung Ausgang, hörte ihnen kaum zu, als sie mir zu meinem Vortrag gratulierten und sich in einem hohen Maß an meiner soeben gemachten Ankündigung einer von Europa entwickelten Blockchain interessiert zeigten. Sie würden sich glücklich schätzen, von mir mehr darüber zu erfahren, und wünschten, mich innerhalb der nächsten Tage noch einmal zu treffen, um den Punkt zu vertiefen. Instinktiv war ich vor ihnen auf der Hut und versuchte, sie mit dem Hinweis auf die öffentliche Ausschreibung der Gemeinsamen Forschungsstelle für Wissenschaftliche Beratung abzuwimmeln. Aber die beiden Männer ließen sich nicht entmutigen, geduldig lächelnd folgten sie mir weiter taktvoll an meiner Seite durch die Gänge des Europäischen Parlaments, ohne auch nur ein wenig von mir zu lassen. Sie erlaubten sich in aller Höflichkeit, nochmals auf ihr Anliegen zurückzukommen und erklärten mir, sie würden für eine sehr wichtige internationale Klientel arbeiten, vor allem aus Asien. An diesem Tag war ich in Eile (ein Taxi wartete auf mich an der Place du Luxembourg), und ich beließ es beim Austausch von Visitenkarten, bevor ich mich verabschiedete. Im Taxi warf ich einen schnellen Blick auf ihre Karten, mit ihren Namen und Funktionen und einem esoterischen Firmenlogo. Sie arbeiteten für eine Beratungsgesellschaft mit Sitz in Brüssel, die XO-BR Consulting, der eine hieß John Stavropoulos, der andere Dragan Kucka. Ich steckte die Karten in mein Jackett und dachte nicht mehr daran. In den folgenden Tagen wurde ich erneut von John Stavropoulos kontaktiert, der nicht davon abließ, mich zu einem Treffen überreden zu wollen. Ich antwortete wieder ausweichend, etwas willenloser dieses Mal, ich war doch neugierig geworden wegen des Begriffs »Blockchain«, der im Namen der Gesellschaft, für die er arbeitete, auftauchte, Consulting company for the development of blockchain and digital currencies. Er kam erneut darauf zu sprechen, dass die XO-BR Consulting eine spezialisierte Beratungsfirma für die Entwicklung von Blockchain-Technologien sei, und versicherte mir, seine Gesellschaft kenne sich so gut wie keine andere auf dem europäischen Markt aus. Ihm zufolge waren sie überhaupt die Einzigen in Brüssel, die in der Lage waren, eine hundertprozentig europäische Blockchain auf die Beine zu stellen, die zudem noch ausschließlich auf unserem Kontinent entwickelt werden könnte, ohne die Hilfe großer amerikanischer oder chinesischer Unternehmen in Anspruch nehmen zu müssen. Nachdenklich geworden hörte ich ihm am Telefon zu. Ich war aufgestanden und überlegte, starrte durch das große Glasfenster meines Büros auf ein Ensemble von Gebäuden weit entfernt im Herbstgrau. Seit mehreren Monaten schon dachte ich darüber nach, wie dringend notwendig die eigenständige Entwicklung einer unabhängigen europäischen Blockchain wäre. Es war für uns unumgänglich, uns bei einer so sensiblen Technik von der Abhängigkeit von China oder von den Vereinigten Staaten zu befreien. Es handelte sich mit Sicherheit um das große Thema zukünftiger Geopolitik. Früher oder später würde es die Organisation unseres Geldverkehrs, unseres Gesundheitswesens und sogar unserer Sicherheit betreffen, die einmal von der Blockchain-Technologie verwaltet werden könnten. Europa durfte sich nicht den Luxus erlauben, auf diesem Gebiet von China oder den Vereinigten Staaten abhängig zu sein (die angebliche Neutralität dieser Technologie ist natürlich nichts als Augenwischerei). Aus diesem Grund war ich trotz meines Misstrauens John Stavropoulos gegenüber von dem gefesselt, was er mir zu erzählen hatte. In meiner Neugier, mehr über die Aktivitäten der XO-BR Consulting zu erfahren, stimmte ich schließlich einem Treffen zu.
Nach diesem ersten Aufeinandertreffen hatten sie mich in gewisser Weise am Haken, und ich sah John Stavropoulos und Dragan Kucka noch mehrere Male. Ich traf sie jeweils in aller Diskretion und war mir völlig darüber im Klaren, dass unsere Treffen gegen die Regeln der Kommission verstießen, die ausdrücklich inoffizielle Beziehungen zu Lobbyisten untersagten. Bei unserem ersten Treffen war ich auf der Hut geblieben, hatte sorgfältig darauf geachtet, mich nicht zu weit vorzuwagen, keine vertraulichen Informationen preiszugeben. Ich für meinen Teil hatte nur eine rein theoretische Vorstellung von der Blockchain. In meinem Büro hatte ich mir anhand von Quellen und Berichten eine Meinung gebildet, während Stavropoulos und Kucka praktische Erfahrung auf dem Gebiet vorzeigen konnten. Sie kannten bestens die einschlägigen Firmen und unterhielten enge Beziehungen zu deren Managern. Um an diesem konkreten Wissen teilzuhaben, wollte ich den Kontakt zu den beiden nicht abbrechen lassen. Tatsächlich handelte es sich, um genau zu sein, bei den beiden Lobbyisten, die sich um mich kümmerten, um drei (eigentlich sogar um vier, wie bei den drei Musketieren), alle vier akkreditiert bei der Europäischen Kommission mit freiem Zugang zum Parlament. Sie kamen nie gemeinsam, sondern in verschiedenen Konstellationen, deren Bedeutung mir entging, es war jedoch die ursprüngliche Besetzung mit dem Paar Stavropoulos und Kucka, mit der ich es hauptsächlich zu tun bekam, den beiden Vögeln, die mich am ersten Tag nach meiner Präsentation im Parlament abgefangen hatten. Bei unserem dritten Treffen sah ich sie aber zu dritt kommen, ein ziemlich magerer Typ hatte sich ihnen angeschlossen, der kein einziges Mal den Mund aufmachte, dann kamen sie mit einer Frau, die mir als Yolanda Paul vorgestellt wurde, eine hübsche junge Frau im Trenchcoat, mit Schal und Sonnenbrille. Auf ihrer Visitenkarte war als Funktion angegeben: Senior Managing Director Financial Services, Growth & Strategy, ein recht schnarchiger Titel, der mir nicht gerade auf die Sprünge half, was genau sie machte. Mir gelang es auch nicht, genau herauszufinden, welcher Nationalität sie angehörte, weder ihr Name (Yolanda Paul) noch ihr Akzent (ihr Akzent im Englischen, weil unsere Gespräche immer auf Englisch stattfanden) erlaubten mir, klarer zu sehen. Vor allem verstand ich nicht, welche Rolle sie innerhalb der Gruppe spielte, stand sie in der Hierarchie über den anderen und war gekommen, um die beiden zu kontrollieren, oder sollte sie mir gegenüber eine andere, zwiespältigere Rolle spielen, um nicht zu sagen eine explizit sexuelle (ich war auf alles gefasst). Jedenfalls gelang es ihr einmal, mich allein zu treffen. Ich kam gerade aus meinem Büro, als sie mir auf der anderen Straßenseite auffiel, wie sie mir auflauerte. Sie setzte sich sofort in Bewegung, kam quer über die Straße auf mich zu und schlug vor, ein Glas im Viertel trinken zu gehen. Mir fiel auf, dass sie geschminkt und sorgfältig gekleidet war, elegant und gut aufeinander abgestimmt. Wir gingen in das erstbeste Café, und sie erklärte mir detailliert die Ziele ihrer Gesellschaft, die Geschäfte zwischen osteuropäischen Unternehmen und großen Auftraggebern in China vermittelte. Sie ließ mir ihre private Telefonnummer und bot mir an, ich könne sie anrufen und mit ihr abendessen gehen. Aber ich kam nicht auf ihr Angebot zurück. Ich hatte nur unter der Bedingung die Gespräche mit ihr und den anderen akzeptiert, dass diese strikt vertraulich blieben. Ich vermied es, soweit es möglich war, mit ihnen in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Von Anfang an hatte ich Sorge getragen, nur auf strikt persönlicher Ebene zu handeln, ohne in irgendeiner Weise die Welt der Gemeinsamen Forschungsstelle für Wissenschaftliche Beratung miteinzubeziehen. Und natürlich empfing ich sie nie in meinem Büro, wo sämtliche Termine von der Security registriert werden. Ich hatte weder etwas unterschrieben noch etwas versprochen. Ich war ihnen in keiner Weise verpflichtet.
Schon bei unserem ersten Treffen hatte mich John Stavropoulos wissen lassen, dass die Beratungsfirma, für die er arbeite, die Interessen einer Gesellschaft für elektronische Datenverarbeitung in Bulgarien vertrete, die Kaliakras Ltd. hieß und im Verteidigungs- und Sicherheitswesen arbeite und die, wie er es ausdrückte, großes Entwicklungspotenzial habe. Er fügte hinzu – nur unter uns und unter dem Siegel der Verschwiegenheit –, dass seine Firma, die XO-BR Consulting, exzellente Kontakte zu höchsten Stellen unterhalte, sowohl zu einem im Amt stehenden bulgarischen Minister (er dürfe mir hier nicht mehr sagen) als auch innerhalb der Europäischen Kommission. Nach den ersten Treffen sah ich klarer. Es ging um eine öffentliche Ausschreibung der Kommission, die bulgarische Gesellschaft für Datenverarbeitung Kaliakras Ltd. beabsichtigte, Mining-Maschinen zu erwerben (fünfhundert Mining-Maschinen ASIC, Application-specific integrated circuit), und zwar von der BTPool Corporation, einer chinesischen Firma mit Sitz in Dalian, um ihre geschäftlichen Aktivitäten in der Region von Haskovo oder Plovdiv in Bulgarien auszubauen, die Wahl des Standorts stand noch nicht fest. Die Kaliakras Ltd. hatte wiederum vor, bei der Europäischen Kommission Fördermittel aus dem regionalen Innovationsfonds zu beantragen und so die Voraussetzung zu schaffen, Finanzierungshilfen aus dem Forschungsetat zu erhalten. Die Unterlagen für den Antrag lagen vor, das war der Grund, warum man an mich herangetreten war, ich sollte diese Unterlagen lesen und auf die Übereinstimmung mit der europäischen Rechtsprechung hin prüfen, und wenn nötig, sie an diese anpassen. Kurz, sie erwarteten von mir, jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, eine diskrete juristische Beratung. Aber mehrere Faktoren waren mir von Beginn an verdächtig erschienen. Eine der ersten befremdlichen Feststellungen, die ich bei meinen Nachforschungen im Internet machte, war, dass die XO-BR Consulting nicht im Transparenzregister der Europäischen Kommission gelistet war, alle Lobbyisten sind grundsätzlich verpflichtet, sich dort einzutragen. Die zweite merkwürdige Entdeckung, die ich machte, war, dass die bulgarische Firma Kaliakras Ltd. zwar mit einer englischen Website vertreten war und im Netz offenbar einiges Ansehen genoss, über die chinesische BTPool Corporation dagegen nur spärliche Informationen zu finden waren, die sich in undurchsichtigen Verästelungen verloren. Einigen Quellen zufolge war sie eine Filiale der ViaBTC, andere Quellen wiesen auf eine Verbindung mit der Bitmain Technologies Holding hin, des größten chinesischen Herstellers von Mining-Hardware. Welche Rolle genau die XO-BR Consulting spielte, blieb im Dunkeln.
Mit der Zeit wartete ich immer ungeduldiger auf diese Gespräche, die mich aus dem täglichen Einerlei meiner Arbeit herausholten, die sich mit der Zukunft bestimmter Industrien befasste, zum Beispiel so verführerischer Branchen wie Fairtrade-Textilien oder Buntmetalle. Ich ertappte mich dabei, auf das nächste Treffen zu lauern, es sogar ungeduldig zu erwarten, ich schaute ständig auf mein Telefon, verging vor Langeweile im Büro, wenn ich über mehrere Tage hinweg keinen Anruf erhielt. Ich hatte natürlich die Gefahr im Hinterkopf, die solche Treffen für mich bedeuten könnten, blieb weiterhin vorsichtig. Aber ich wollte diese Treffen fortsetzen, um die Rollen besser zu verstehen, die die Protagonisten in diesem Spiel über drei Banden spielten. Nach und nach gelang es mir, die Fäden dieser kompliziert verwurstelten Perücke geduldig zu entknoten, und ich konnte jedem der Beteiligten seine Aufgabe zuordnen. Soweit ich es verstanden hatte, bestand die offizielle Funktion der XO-BR Consulting darin, zwischen der bulgarischen Kaliakras Ltd. und der chinesischen BTPool Corporation bei der Anschaffung der Mining-Maschinen zu vermitteln. Für eine solche Akquisition war das tatsächlich notwendig, denn der Kauf durfte nicht direkt von einem außereuropäischen Lieferanten erfolgen, in diesem Fall von einem chinesischen, da die Kommission nur Firmen mit Sitz innerhalb der Europäischen Union förderte. Bei einer solchen Transaktion nun kam die XO-BR Consulting als Repräsentantin der Interessen der bulgarischen Kaliakras Ltd. ins Spiel, um in ihrem Namen die Mining-Computer in China zu kaufen, Hardware, die die Kaliakras Ltd. dann anschließend an die Europäische Kommission im Rahmen der vorliegenden Ausschreibung weiterverkaufen würde. Aber ich verstand nicht, in welchem Verhältnis die XO-BR Consulting zu der chinesischen BTPool Corporation stand. Arbeitete sie auch im Auftrag der BTPool Corporation? Vertraten sie auch deren Interessen? Oder anders gesagt: Spielte John Stavropoulos ein doppeltes Spiel?
Die Art und Weise, in der bislang unsere Begegnungen vonstattengingen, wir verabredeten uns im gedämpften und wispernden Halbdunkel anonymer Bars großer Brüsseler Hotels, unterschied sich wesentlich von den sonstigen Terminen, die ich in meiner Funktion innerhalb der Europäischen Kommission wahrnahm. John Stavropoulos, der geschmeidig und gewandt in diesem Tanz führte, war zu meinem wichtigsten Gesprächspartner geworden, genauer gesagt zum einzigen, die anderen verblassten mehr und mehr an seiner Seite zu Statisten oder Komparsen. Mit seinem ewigen beigen Gabardinemantel und seinem welligen, blonden Haar, das einen Stich ins Rötliche hatte, war John Stavropoulos vom Typ her Schauspieler, eine altmodische, fast anachronistische Erscheinung. Er hatte einen schmalen, an den Enden leicht nach oben gebogenen Oberlippenbart, den er mit den Fingern und Gel gezwirbelt haben musste, um dessen spitzen Enden den letzten Schliff zu geben. Mit seinen aufgedunsenen Lippen, seinem blassen Teint und dem hochmütigen Gesicht erinnerte er an einen von Velázquez gemalten spanischen Monarchen, der verweichlichte Dünkel um sein Kinn herum und sein beleidigter Überdruss, das abgehoben Aristokratische zeugten von einer etwas stumpf gewordenen Gerissenheit. Immer wenn er einen mit seinen hervortretenden Augen direkt ansah, konnte man fürchten, er würde einen auf dem Sofa hypnotisieren wollen. Dann entspannten sich seine Züge wieder, und er schenkte einem ein Rattenfängerlächeln, das den harten, seine Miene noch wenige Momente zuvor beherrschten Ausdruck dahinschmelzen ließ. Es gab wohl nicht viele von seiner Sorte, die in der Lage waren, Menschen ein derartiges Vertrauen einzuflößen und eine solche weltläufige, gesellige, für persönliche Gespräche und geschäftliche Vertraulichkeiten förderliche Atmosphäre herzustellen. Er zeigte sich in jeder Hinsicht geduldig, konziliant und verständnisvoll. Er erriet immer meine Vorbehalte, bevor ich sie äußerte, verstand sie und nahm sie gnädig hin, ohne dass irgendetwas von dem je ausgesprochen worden wäre, was er von mir wollte (ohne dass es ihm bis zu diesem Zeitpunkt gelungen wäre), das war ein einfaches mündliches Einverständnis, ein informelles Versprechen, nichts Schriftliches, keine Spuren, kein Vertrag, keine Unterschrift. Tatsächlich hatte ich zu keiner Zeit ernsthaft daran gedacht, auf sein Angebot einzugehen. Auch wenn er mir versicherte, die europäische Rechtsprechung skrupulös zu befolgen und in strikter Rechtmäßigkeit zu handeln – in strikter Rechtmäßigkeit, das betonte er nachdrücklich –, so war seine Art, immerfort mit der Fahne der Rechtmäßigkeit herumzuschwenken, mehr noch, der strikten Rechtmäßigkeit (für ihn war, wie ich vermute, die strikte Rechtmäßigkeit legaler als die normale Rechtmäßigkeit), nicht wirklich überzeugend. Aber ich machte die Tür nie ganz zu. Ich sagte nicht nein, ich beobachtete, spielte auf Zeit. Angesichts meiner Unschlüssigkeit schlug John Stavropoulos, der über die Mittel verfügte, mir vor, doch selbst nach Sofia zu reisen und dann weiter nach China, um dort die Manager beider Firmen zu treffen. Im Geschäftsleben, und das gelte für die ganze Welt, ersetze nichts den zwischenmenschlichen Kontakt, erklärte er mir, man müsse immer die persönlichen Beziehungen in den Vordergrund stellen, es sei sehr wichtig, dass Leute sich kennenlernten. Ich antwortete ihm kühl, dass es außer Frage stehe, wen auch immer von der Kaliakras Ltd. zu treffen, und erinnerte ihn daran, dass mir während der Zeit der Ausschreibung jeglicher Kontakt mit einer für eine Förderung in Frage kommenden Firma nicht gestattet war, was im Falle der Kaliakras Ltd. ja durchaus der Fall sein dürfte. Was er zugestehen musste. Nach einer kurzen Zeit des Nachdenkens bemerkte er aber, es würde mich dann ja nichts daran hindern, die chinesischen Manager zu treffen. Er fügte hinzu, dass er einen persönlichen Draht zu Gu Zongqing habe, den geschäftsführenden Direktor der BTPool Corporation, der sicherlich für ein Treffen mit mir in Dalian bereit wäre, um mir seine technischen Anlagen vorzuführen. Und, um mich vollends zu überzeugen, führte er nochmals ins Feld, dass die BTPool Corporation nichts mit der Ausschreibung der Kommission zu tun habe. Es gebe also für mich keinerlei Risiko eines Interessenkonflikts. Nicht wahr? Darf ich also für Sie ein Treffen in Dalian vereinbaren?, fragte er in einem heiteren Ton, als hätte er mich gerade auf einen zweiten Kaffee eingeladen.
John Stavropoulos war ein sympathischer Mensch, er hatte etwas Überzeugendes und Verführerisches. Er war einer von denen, die im wirklichen Leben den Eindruck vermitteln, sich in einem Universum der Fiktion zu bewegen, und seine romanhafte Gegenwart mir gegenüber schien aus der Szenerie des Hotels Thon Hotel Bristol Stephanie, in dem er sich mit mir an diesem Tag verabredet hatte, so völlig herauszufallen. Es war ein unwirklich erscheinendes Hotel in der Avenue Louise, die Gäste waren meist aus dem Mittleren Osten. Aber zu dieser Stunde waren die Räume leer. Wenn wir uns trafen, versuchte John Stavropoulos die geschäftliche Seite in den Hintergrund zu rücken und mich auf ein persönlicheres, fast privates Terrain zu lotsen, so als ob zwei alte Freunde von der Universität einmal die Zeit für einen Kaffee zwischen zwei Terminen gefunden hätten. Er verstand es, Wogen zu glätten, und ließ gerne das eine oder andere Mal eine persönliche Anspielung einfließen, zögerte niemals, um die Komplizenschaft zu verstärken, die er zwischen uns herzustellen versuchte. Zum Beispiel erwähnte er das Netzwerk Futuribles International, für das ich in den 1990er Jahren gearbeitet hatte, bevor ich zur Europäischen Kommission gewechselt war. Und wie groß war meine Überraschung, als er von einem Satz zum anderen wie beiläufig vom Englischen ins Französische wechselte und mir in seinem unmöglichen Akzent von der »roue sainte gai home« erzählte (im ersten Moment hatte ich nicht einmal verstanden, dass er von der Rue Saint-Guillaume sprach). Ich habe sogar vergessen, was er vorher gesagt hatte, die Rue Saint-Guillaume schien urplötzlich und ohne schlüssigen Zusammenhang in unserem Gespräch aufgetaucht zu sein. Ich blieb bewegungslos sitzen, mein Blick wurde starr. Ich war an diesem regnerischen Oktobernachmittag hier in Brüssel in Begleitung von John Stavropoulos in einem Salon des Thon Hotel Bristol Stephanie, verharrte in nachdenklicher Stimmung, während langsam Erinnerungen an meine Jugend in Paris in mein Gedächtnis eindrangen. Denn die Rue Saint-Guillaume hatte für mich, mehr noch als für irgendeinen anderen ehemaligen Studenten der Sciences Po, eine ganz besondere Bedeutung, da sie mir sowohl die Nummer 27 der Rue Saint-Guillaume in Erinnerung rief, wo sich das Institut der Politikwissenschaften befindet und wo ich studiert hatte, aber sie beschwor vor allem für mich, und nur für mich allein – und wie konnte John Stavropoulos das wissen? – Erinnerungen an das Haus mit der Nummer 12, in dem ich von den 1970er Jahren an mehr als fünfzehn Jahre mit meinen Eltern lebte.
Genau unter dieser Adresse, in der Rue Saint-Guillaume Nummer 12 hatten sich nämlich meine Eltern Mitte der 1970er Jahre niedergelassen, die ganze Familie hatte Brüssel verlassen, wo wir bis dahin gewohnt hatten, um nach Paris zu ziehen, weil mein Vater einen Ruf an die UNESCO bekam. Es ist mir schleierhaft, wie John Stavropoulos Kenntnis von diesem Detail meiner Biographie hatte bekommen können, aber seine Erwähnung der Rue Saint-Guillaume, ob schlichte Andeutung oder kalkulierte Anspielung, brachte mich aus dem Konzept. Ich hatte das unangenehme Gefühl, er hätte diesen Wink mit dem Zaunpfahl gezielt eingesetzt, um mir deutlich zu machen, dass er nicht nur alles über mich wusste, sondern es ihm auch darauf ankam, mich das wissen zu lassen, um mir klarzumachen, dass ich in meiner Wahl, seinen Vorschlag anzunehmen oder nicht, vielleicht doch weniger frei war, als ich es bis dahin angenommen hatte. Zum ersten Mal wurde mir in solcher Deutlichkeit bewusst, dass hinter all seiner Redseligkeit und Konzilianz etwas Eisiges in John Stavropoulos’ Haltung steckte. Er hatte sich im Vorfeld unserer Treffen über mich erkundigt, das stand fest. Akribisch musste er über meine Vergangenheit Erkundigungen eingezogen haben und kannte viele Details aus meinem Privatleben (vielleicht sogar mehr, als ich vermuten konnte), und er würde nicht zögern, sie gegen mich zu verwenden, wenn es nötig werden würde. Aber noch mehr Unbehagen bereitete mir, dass er bei eben jenem Treffen noch eine Bemerkung über meinen Vater fallen ließ, die mir unpassend erschien, sogar unschicklich. Es stimmt, mein Vater war für mich ein heikles Thema (und sicherlich nicht nur für mich, es gilt für die meisten Vater-Sohn-Beziehungen). Wir waren in unserem Gespräch wieder auf die Politik der Forschungsförderung zurückgekommen und gingen all jene öffentlichen Organisationen durch, die in Europa solche Fördertöpfe unterhalten, als John Stavropoulos ziemlich direkt auf meinen Vater zu sprechen kam. Jean-Yves Detrez, das ist doch Ihr Vater, nicht wahr?, fragte er mich plötzlich. Meinen Sie, es wäre denkbar – und er unterbrach sich sofort, vielleicht wegen meines schwarzstarr gewordenen Blicks. Ich verstand, er wollte bei aller Vorsicht und ohne ausdrücklich eine unangemessene Bitte zu formulieren, das Terrain sondieren, um zu sehen, ob es nicht möglich war, auch meinen Vater mit in die Sache hineinzuziehen – meinen Vater, der früher einmal der für Forschung und Bildung zuständige Europakommissar gewesen war. Aber er fing sich sofort wieder und fuhr mit der Unterhaltung fort. Wie geht es Ihrem Vater, fragte er mich, lebt er noch? Ich bejahte, mein Vater lebt noch und, ohne weiter darauf einzugehen und um diese Ebene zu verlassen, das Thema unseres Gesprächs zu wechseln, sagte ich trocken, wie mechanisch, mit einer der Situation perfekt angemessenen Formel, es geht ihm gut.
In den Tagen nach diesem Treffen hörte ich nichts mehr von John Stavropoulos. Ich vergrub mich wieder in meine tägliche Arbeit, verbrachte lange Tage im Büro, bearbeitete meine Unterlagen, langatmige Studien über die Sicherheit von Lebensmitteln oder künftige Tendenzen der Migration. Ich versah die aktuellen Dossiers mit Anmerkungen, empfing das Team in meinem Büro. Zu dieser bereits beträchtlichen Arbeit kam die Vorbereitung der Arbeitsgruppe, die sich mit der Auswertung der ersten Ergebnisse unserer Delphi-Befragung zum Quantencomputer befassen sollte. Diese Untersuchung zur Quantentechnologie wurde gemeinsam mit einer Einheit durchgeführt, die ihre Basis in Ispra in Italien hatte und mit der wir in Fragen der Datensicherheit zusammenarbeiteten. Ich fuhr normalerweise ein- oder zweimal im Jahr dorthin, das Gelände, das der Gemeinsamen Forschungsstelle für Wissenschaftliche Beratung gehört, umfasst etwa hundert Gebäude und Laboratorien, die verteilt sind auf einem mehrere Hektar großen, abgesicherten Gelände etwas außerhalb des Dorfs am Ufer des Lago Maggiore. An die zweitausend Leute arbeiten hier, EU-Beamte, Forscher und Wissenschaftsexperten aus ganz Europa. Da mein Terminkalender bereits übervoll war und ich mir in der kommenden Woche keine Dienstreise nach Ispra erlauben konnte, erledigte ich alles für die Vorbereitung der Arbeitsgruppe Nötige in Videokonferenzen. Etwa zwanzig Teilnehmer wurden in Brüssel zu dieser Arbeitsgruppe über den Quantencomputer erwartet, die in unseren Räumen stattfinden sollte, und als Einladende oblag es uns, die Abwicklung und Organisation sowie die Vorbereitung der Tagesordnung des Treffens zu übernehmen.
Ich arbeitete den ganzen Tag an der Zukunft. Die Zukunft war für mich ein völlig abstrakter Begriff geworden, ein einfacher Begriff, Datenmaterial letztlich, das ich mit den Werkzeugen, die mir zur Verfügung standen, in meine Arbeit integrierte, um von ihr ein Modell zu erstellen und sie in spekulativer Weise zu bearbeiten, in einem abgegrenzten Rahmen und nach präzisen Regeln. Ich war ein Experte für die Zukunft geworden, aber einer für die Zukunft der Lebensmittelversorgung, für die Zukunft der Nato – für die Zukunft der Welt, aber niemals für meine eigene Zukunft. Hätte man mich zu diesem Zeitpunkt gebeten, einen Augenblick über meine eigene Zukunft nachzudenken, darüber, was die nächsten Monate oder Jahre für mich bereithielten, hätte man mich gefragt, was mir die Zukunft bringen würde, was ich in zwanzig Jahren sein würde oder auch nur in zwei Jahren, ich wäre zu keiner Antwort fähig gewesen. Ich hatte das Gefühl, keine eigene Zukunft mehr zu besitzen. Seitdem die Ehe mit Diane schwierig geworden war, erschien mir mein eigener Horizont unwiderruflich blockiert. Seit Monaten fühlte ich mich wie festgefahren in einer ewigen Gegenwart. Diane und ich sprachen nicht mehr miteinander, wir sprachen nicht mehr seit dem Sommer (und selbst davor nicht, ich frage mich, ob wir je einmal miteinander gesprochen haben). Unsere Beziehung hatte sich im Laufe der Jahre Schritt für Schritt aufgelöst. Unsere Ehe, oder was davon übriggeblieben war, brach schließlich auseinander. Gut zwei Jahre schon hatten wir nebeneinander her gelebt, wie Schatten, als Fremde, in der großen Wohnung in der Rue Belle-Vue, mit Thomas und Tessa, unseren Zwillingen, die in die Grundschule gingen, und teilten sie uns für die Ferien auf (jeder von uns könnte je einen der beiden übernehmen, hatte ich vorgeschlagen, was Diane nicht zum Lachen fand, sie hatte mich nur fassungslos angeschaut). Nein, ich brachte Diane nicht zum Lachen, überhaupt nicht, sie hatte schon längst vergessen, dass ich sie überhaupt einmal zum Lachen habe bringen können. Dann am Sommeranfang, in einem Aufbäumen meiner Energie und um irgendetwas zu machen, zu reagieren, als ob ich mich plötzlich schütteln musste, um mich aus dieser tödlichen Apathie zu befreien, in die ich mich hatte hineintreiben lassen, hatte ich im selben Viertel eine neue Wohnung für mich gesucht und auch gefunden, eine Einzimmerwohnung an der Place du Châtelain. Seit September lebte ich allein in dieser Wohnung. Diane war nicht mehr meine Zukunft.
Mein letztes Treffen mit John Stavropoulos nahm eine unerwartete Wendung. Ich war in meinem Büro, als eines Morgens das Telefon in meiner Hosentasche vibrierte und eine eingehende SMS meldete. Da ich nicht allein im Zimmer war, wartete ich mit dem Lesen der Nachricht, bis mein Besucher gegangen war. John Stavropoulos hatte mir geschrieben: »Sofitel Brussels Europe 4 p.m.?« Typisch er, dachte ich, eine so kurze und prägnante Frage, ob ich an diesem Nachmittag frei wäre, um mit ihm ein Glas im Sofitel an der Place Jourdan zu trinken, weil er mir etwas Wichtiges mitzuteilen hätte. Alles das ausgedrückt in der lakonischen Botschaft »Sofitel Brussels Europe 4 p.m.?« Diese Nachricht hatte nichts von einem Befehl, weder war es eine Aufforderung noch eine Vorladung, das Fragezeichen am Ende ließ mir einen gewissen Spielraum, erlaubte mir sogar, die Einladung abzulehnen, für den Fall, dass ich nicht frei wäre oder ihn nicht sehen wollte. Ich stellte mir natürlich die Frage, was John Stavropoulos Neues für mich hätte, und dieser Gedanke beschäftigte mich den ganzen Vormittag. Ich erinnerte mich am Nachmittag wieder daran. Ich hatte einen Termin in meinem Büro um 15.00 Uhr mit einem Spezialisten für Quantentechnologie. Aber danach stand in meinem Kalender glücklicherweise kein weiterer Termin und auch keine andere professionelle Verpflichtung, und nachdem ich gegen 15.30 Uhr meinen Besuch zum Aufzug begleitet hatte, zog ich meinen Mantel an und sagte meiner Assistentin, ich würde gehen und sicherlich an diesem Tag nicht mehr ins Büro zurückkommen. Ich verließ das Gebäude und lief zu Fuß in Richtung Place Jourdan. Es regnete. Langsam schritt ich unter meinem Regenschirm einher und fragte mich immer wieder, was John Stavropoulos mir wohl mitzuteilen hatte.
Als ich die Bar des Sofitel betrat, erkannte ich John Stavropoulos sofort, er hatte sich erhoben und winkte mir aus der Entfernung zu, um auf sich aufmerksam zu machen. Er war in Begleitung von Dragan Kucka, die beiden Männer saßen nebeneinander auf einem Kanapee vor einem niedrigen Tischchen, auf dem ihre Kaffeetassen standen. John Stavropoulos hatte seinen Gabardinemantel ausgezogen und neben sich auf die Armlehne des Kanapees gelegt. Neben ihm hielt Dragan Kucka eine elektronische Zigarette in der Hand, sie war ausgeschaltet, dünstete dennoch einen Übelkeit erregenden schlechten Geruch nach desinfizierter Kokosnuss aus. Die Bar des Sofitel war an diesem frühen Nachmittag so gut wie ausgestorben, ein untätiger Barkeeper döste hinter seinem Tresen. Ich ging zu ihnen hin und nahm ihnen gegenüber in einem Sessel Platz. Durch die großen Fensterscheiben erahnte man die Place Jourdan im Nieselregen. In einigen Cafés brannten ein paar Lichter, ein Auto parkte im Herbstgrau. John Stavropoulos teilte mir mit, dass er zwei gute Neuigkeiten für mich hätte. Die erste, er habe mit Gu Zongqing telefoniert, dem geschäftsführenden Direktor der BTPool Corporation. Er habe auch die Gelegenheit gehabt, mit ihm über mich zu sprechen, offenbar mit besten Ergebnissen, denn Gu Zongqing sei hocherfreut, meine Bekanntschaft zu machen. Er erwartet Sie in Dalian Anfang des Jahres, sagte er mir, sichtlich zufrieden mit seiner Ankündigung. Ich sagte darauf nichts. Dragan Kucka, der weiter am Mundstück seiner ausgeschalteten elektronischen Zigarette herumgelutscht hatte, antwortete an meiner Stelle und sicher auch mit der Emphase, die man von mir erwartet hatte, es sei doch eine wunderbare Gelegenheit, die man beim Schopfe packen müsse (schon ein Vorteil, wenn man zu zweit ist und sich die Bälle zuwerfen kann). Ich sagte noch immer nichts. Ich wartete auf das, was noch kommen würde. Ohne sich durch meine fehlende Begeisterung aus dem Konzept bringen zu lassen, spielte John Stavropoulos sein zweites Ass aus. Nach Rücksprache mit seinen Vorgesetzten habe er das Vergnügen, mir mitteilen zu können, dass sämtliche Kosten für Reise und Übernachtung in China von der BTPool Corporation übernommen würden. Unser Gespräch begann eine Wendung zu nehmen, die mir unangenehm war. Die Karten, die er wie ein abgewirtschafteter Taschenspieler vor mir aus seinem Ärmel purzeln ließ, waren gezinkt, ich erkannte ihre wahre Natur, sie waren armselig, alles war eine oberfaule Täuschung. Denn wie sonst sollte man die Tatsache benennen, mir eine Auslandsreise anzubieten, bei der sämtliche Kosten bezahlt waren, mir, einem Europabeamten in Ausübung seiner Funktionen – wenn nicht als Korruptionsversuch? Das Lächeln war mir vergangen, mein Blick hatte sich verdüstert. Ich fühlte mich mit einem Mal miserabel. Ich hatte, was mein Berufsethos anbelangt, schon immer einen geschärften Sinn. Ich hatte das von meinem Vater geerbt, diesem aufrechtesten und integersten Mann, den man sich vorstellen kann. Ich wusste indes genau, dass ich mir nichts vorzuwerfen hatte. Ich hatte niemals Geld angenommen und ich würde es auch niemals annehmen. Doch allein schon die einfache Tatsache, diese beiden Mittelsmänner in meine Nähe gelassen und sie über Wochen hinweg getroffen zu haben, ohne jemanden aus meinem Team oder meinen Vorgesetzten ins Vertrauen gezogen zu haben (ich hatte keine Kollegen informiert, niemand wusste, dass ich die beiden traf), dieses Versäumnis brachte mich in die Bredouille. Meine Haltung hatte mit Sicherheit nichts Unrechtmäßiges, konnte aber als moralisch bedenklich bewertet werden. So sah ich es im Moment, so hätte es auch mein Vater gesehen, wenn er von dieser Situation erfahren hätte. Immer wieder gingen mir diese düsteren Gedanken durch den Kopf, ohne etwas zu erwidern, starrte ich durch die Glasfront auf die Place Jourdan. Mehr als je zuvor spürte ich, dass dies mein letztes Treffen mit John Stavropoulos gewesen war. Trotz meiner immer noch bestehenden Neugier, trotz meines nicht nachlassenden Verlangens, mehr zu erfahren, würde ich zweifelsohne genau hier abbrechen und unserer Beziehung ein definitives Ende setzen. Was bedeutete, dass dies auch mein letztes Rendezvous mit John Stavropoulos sein würde. Aber nicht, wie ich das dachte, niemals hätte ich in diesem Moment den weiteren Verlauf der Ereignisse vorhergesehen.