Читать книгу Ich und Du: dem anderen als Mensch begegnen - Jean Vanier - Страница 8
ОглавлениеIch ging 1942 mit dreizehn zur britischen Marine, der Royal Navy. Zu einer Zeit, in der jedes fünfte Schiff versenkt wurde, überquerte ich den Atlantik. Bevor ich diesen Schritt tat, ging ich zu meinem Vater und bat ihn um die Erlaubnis, zur Marine gehen zu dürfen. Er fragte mich, warum ich das tun wolle. An meine Antwort entsinne ich mich nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass er zu mir sagte: »Ich vertraue dir. Wenn es das ist, was du tun willst, dann musst du es tun. Ich vertraue dir.« So konzentriert sich bei mir die gesamte Frage, wie man Frieden stiften kann, auf das Vertrauen. Hab das Vertrauen, dass du wichtig bist, dass du kostbar bist und dass du der Welt und auch mir etwas Wichtiges zu geben hast. Was passiert, wenn wir nicht glauben, dass wir kostbar sind? Wir bekommen Angst.
Für mich besagt die Botschaft des Evangeliums, dass jede und jeder von uns ein Geschenk zu vergeben hat: Jede und jeder ist kostbar; jede und jeder hat das Bedürfnis, geliebt zu werden und irgendwo dazuzugehören.
Das Grundprinzip des Friedens ist die Überzeugung, dass jeder Mensch wichtig ist. Selbst wenn du nicht reden kannst, selbst wenn du nicht gehen kannst, selbst wenn du aufgegeben worden bist, kannst du den anderen mit etwas beschenken. Glaubst du, dass du wichtig bist? Glauben wir – wir alle – dass wir etwas tun können, um diese Welt zu einem besseren Aufenthaltsort zu machen? Warum wird die Kluft zwischen den Reichen und den Armen, den Mächtigen und den Ohnmächtigen immer breiter? Es kann keinen Frieden geben, solange wir uns nicht dessen bewusst werden, was der Grund für diese sich ständig vergrößernde Kluft ist.
Zuweilen kommt es vor, dass solche von uns, die mehr Macht, mehr Geld, mehr Zeit oder mehr Wissen haben, sich zu denen herunterbeugen, die weniger Macht, weniger Wissen oder weniger Reichtum haben. Es gibt die Bewegung von den »Höheren« hinab zu den »Niedrigeren«. Wenn Menschen großzügig sind, haben sie alles im Griff. Stell dir etwa vor, da stürzt jemand auf offener Straße und du eilst diesem Menschen zu Hilfe, damit er wieder aufstehen kann. Aber dann passiert etwas weiteres: Du hörst diesem Menschen zu und ihr werdet Freunde. Vielleicht merkst du, dass er oder sie in großen Nöten ist und wenig Geld hat. Und dann bist du nicht bloß großzügig, sondern du lässt dich auf eine Beziehung zu ihm ein, die dein Leben verändern wird. Damit hast du nicht mehr alles unter Kontrolle. Du bist verwundbar geworden. Du hast diesen Menschen lieben gelernt. Du hast dir seine Geschichte angehört. Dich hat dieser unglaublich wunderbare Mensch, der etwas unglaublich Schwieriges durchgemacht hat, innerlich angerührt. Du hast nicht mehr alles im Griff. Du bist nicht mehr bloß der großzügige Mensch, sondern du bist verwundbar geworden. Du bist ein Freund geworden.
Im Lukasevangelium gibt es einen recht verstörenden Text. Da sagt Jesus: Wenn du ein Festmahl gibst, dann lade dazu nicht deine Familienmitglieder, deine Freunde oder reiche Nachbarn ein. Wenn du ein wirklich großartiges Mahl veranstaltest, ein richtiges Bankett, dann lade Arme, Behinderte, Lahme und Blinde ein und du wirst gesegnet sein (Lukas 14,13–14). In der Sprache der Bibel bedeutet ein Festmahl geben oder bei einem Festmahl sein, dass man zum Freund wird. Man tritt dann in eine Beziehung ein, die den Charakter eines Bundes hat. So fordert Jesus uns hier also auf, wir sollten hinter den Mauern unserer Gruppe hervorkommen und unser Herz für diejenigen öffnen, die wegen ihrer Armut oder wegen ihrer Behinderung an den Rand gedrückt worden sind, und ihnen zum Freund zu werden. Im Herzen Christi gibt es die starke Sehnsucht, die Menschen zusammenzuführen, damit sie Freunde werden. Will man diesen Schritt über die bloße Großzügigkeit hinaus zur engen Herzensgemeinschaft hin machen, bringt das unvermeidlich eine neue Lebensart mit sich. Zu ihr wird gehören, dass wir uns verwandeln lassen, denn wir werden dabei an Macht verlieren.
1 Anmerkung des Übersetzers: Im Englischen sind diese beiden Eigenschaftswörter ganz eng verwandt: holy und whole.