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Die Frau

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Ihre eiskalten Finger umklammerten steif die lederne Businessaktentasche. Sie fühlte sich mehr denn je unter Beobachtung. Die Furcht, dass die Männer jenseits der Überwachungskameras wussten, was sie verbarg und um jeden Preis an die Öffentlichkeit bringen wollte, versetzte ihre Sinne in den allerhöchsten Alarmzustand. Jede Faser ihres Körpers brannte vor Anspannung. Unter ihrer braunen Lockenmähne prickelte beängstigend die Kopfhaut. Dazu kam der gefährlich klingende Widerhall ihrer Stiefelabsätze, die ihr erbarmungslos kühle Schauer über den Rücken jagte. Dagegen half auch ihr knielanger Wintermantel nicht. Trotz ihrer zügigen Gangart schien der kahle Korridor mit den kalt flutenden Neonröhren kein Ende nehmen zu wollen. Der psychische Druck in ihr wuchs unaufhörlich. Jeden Tag in den letzten Jahren erinnerte sie sich daran, wie traumatisiert sie von der Erkenntnis gewesen war, als sie herausfand, in welche Richtung ihre Forschungen tatsächlich gingen. Und es war nicht einmal besorgniserregend, an was sie mit dem international zusammengestellten Team arbeitete, sondern welche teuflischen Grausamkeiten im Hintergrund mit ihrer Arbeit einher gingen. Nicht zuletzt wurde ihr unmissverständlich gedroht, sie als Wissende eines geheimen, illegalen Forschungslaboratoriums, das wertvolle Lebenslicht zu löschen, falls sie es wagte sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Die darauffolgenden Monate arbeitete die Wissenschaftlerin wie in Trance. Ihr Geist und ihr Körper waren wie erstarrt. Die Abläufe während der Arbeit roboterhaft. Nach mehr als einem Jahr revoltierte endlich ihr Geist und die junge Frau, die hinterhältig in ein Experiment hineingezogen worden war, kam zu sich. Sie beschloss, dass es nicht so weitergehen konnte. Sie fasste in ihrem Kopf einen detaillierten Plan für eine umfassende Datensammlung der abscheulichen und gesetzeswidrigen Handlungen, die sie mit äußerster Vorsicht zusammentragen wollte, die Namen der Hintermänner, sowie den Kopf der Institution. Niemanden sonst weihte sie ein. Zu riskant. Außerdem plante sie minutiös ihre Flucht.

Und heute Nacht war es endlich soweit.

Verdammt! Entspann dich endlich, Madeleine! Selbst im Zwiegespräch mit sich selbst klang ihre innere Stimme, die ihr eigentlich den richtigen Weg weisen sollte, hysterisch. Du darfst jetzt keinen Verdacht erregen! ermahnte sie sich. Sie werden es sofort bemerken, melden und dich kontrollieren, noch bevor du das Gebäude verlassen kannst. Dann wäre alles aus! Das darfst du auf gar keinen Fall zulassen! Es steht zu viel auf dem Spiel! Das weißt du genau. Lass es nicht zu! Lass- es- nicht- zu!

Die Angst wurde nicht weniger und sie fürchtete mit jedem Schritt ihrem eigenen Tod näherzukommen. Es sei denn, ihr explosionsartiger Pulsschlag riss ihre Blutgefäße und Eingeweide zuvor in Fetzen.

Die Flucht raubte ihr die Kraft.

Äußerlich zeigte sie sich ruhig und gefasst, eine lange einstudierte Maske doch wer ihr in die Augen sah, bemerkte unwillkürlich das unbeherrscht panische Flackern, gepaart mit dem abgrundtiefen Schrecken vor den vor Mord nicht zurückschreckenden Hintergangenen darin.

Er würde sich an ihr rächen. Schnell und schmerzlos oder lieber langsam und qualvoll?

Der Tod geht um, dreh dich nicht um ... .

Sie betete und hoffte inbrünstig, dass sie es ohne Probleme schaffte den Komplex zu verlassen. Lebend! Lebend inklusive der höchst brisanten Informationen! Die Öffentlichkeit musste erfahren, in welcher Gefahr sie schwebte. Es konnte jeden treffen. Ohne Vorwarnung. Ohne Zwischenfälle erreichte sie den spiegelfreien Aufzug, trat durch die aus Sicherheitsgründen stets offen stehenden Fahrstuhltüren ein, drehte sich um und ...

… sah den leeren Korridor mit der codierten Stahltür und den Überwachungskameras ruhig und verlassen daliegen. Alles ruhig! Friedhofsstille. Nichts Verräterisches? Sie hielt für einen Moment den Atem an und lauschte. Nein. Nichts. Ein Glück! Ein kühler Lufthauch huschte in allerletzter Sekunde in den Lift, als sich die Aufzugstüren schlossen, und ließ die Frau frösteln. Ein Gefühl, als stände direkt jemand neben oder hinter ihr. Ein unbekannter, kalter und doch intimer Odem, der sie bewachte, beobachtete und sich ihrer geheimsten Gedanken annahm, um sie in einem unvorbereiteten Augenblick mühelos zu entlarven. Die Frau schüttelte sich kurz und drückte leicht zitternd die Taste für die Tiefgarage. Sie war erleichtert, dass die Türen sich schlossen und zugleich fühlte sie sich wie in einem Gefängnis. Mit kaum wahrnehmbaren Bewegungen fuhr der Fahrstuhl an. Langsam, viel zu langsam hob er die Passagierin nach oben. Überreizt und äußerst ungeduldig starrte die Frau auf die noch dunkle Anzeige für die Tiefgarage. Ihre Hände umschlossen noch fester und steifer die Businessaktentasche. Ihre Nerven lagen so blank und verletzlich wie Baumstämme ohne schützende Rinde. Im Gewirr aus Angst spürte sie aber auch einen Funken Hoffnung an die Oberfläche dringen, denn ihre Freiheit lag in denkbar greifbarer Nähe.

Tempo! Schneller! Nun mach schon! Den unliebsamen Gedanken, dass der Aufzug von außerhalb angehalten werden konnte, schob sie genauso schnell zur Seite, wie er sich ihr aufgedrängt hatte. Bis jetzt ging schließlich alles glatt. Wenn nur nicht die elenden Zweifel wären.

Es dauerte eine gefühlte halbe Ewigkeit, bis das Symbol U1 für die Tiefgarage endlich gelb aufleuchtete und die Türen sich wieder öffneten. Die Erleichterung darüber wich jedoch rasch wieder einer extremen Anspannung. Die Gefahr war noch keineswegs vorüber. Noch immer erwartete sie, auf ein Hindernis zu stoßen, welches sie nicht zu überwinden vermochte. Menschen ohne Mitleid für den Nächsten, mit tödlichen Waffen in den Händen, denen sie völlig ausgeliefert wäre. Ohne Chance auf Entkommen. Ausdruckslose Gesichter mit kalten Augen. Schüsse hallten wider. Sie wurde brutal zurückgeschleudert, als die Geschosse sich mit zerstörerischer Gewalt durch ihren Leib bohrten. Sofort quoll und spritzte dunkelrot Blut aus den Schusswunden, die sie an verschiedenen Stellen ihres Oberkörpers unerträglich schmerzhaft trafen, ihr die kostbare Besinnung für immer raubten; und sie trieb mit starrem Blick dahin, in einen Abgrund ohne Wiederkehr. Ein mörderischer Tagtraum, der ihr für einen erschreckend langen Moment den lebensnotwendigen Atem raubte. Sie schluckte schwer und versuchte, nicht mehr daran zu denken. Auf gar keinen Fall durfte sie jetzt die Kontrolle über sich verlieren. Bleib stark! Sie musste sich ausnahmslos auf ihre Mission konzentrieren. Alles andere ausblenden. Das sagte sich so leichthin. Der enorme psychische Druck der auf ihr lastete sprengte einfach jegliche Skala. Die Frau trat aus dem Aufzug, die Türen schlossen sich und der Lift sank automatisch wieder hinab in die schwer bewachte Unterwelt des Gebäudes. Wieder richteten sich elektronische Augen auf sie. Überall diese verfluchten Kameras, dachte sie bei sich. Der kurze, sehr schmale und videoüberwachte Gang war schnell durchschritten. Ohne inne zu halten machte sich die Frau daran, die von innen und außen codierte Sicherheitsstahltür mit der entsprechenden Zahlenkombination und ihrem rechten Daumenabdruck zu öffnen. Zwei Sekunden des Schreckens verstrichen in einem gefühlten Zeitraum von Minuten. Ein kleines Lämpchen leuchtete auf und gab …

Ungewollt durchfuhr sie ein eiskalter Schauder.

... den Weg frei. Tiefgehende Erleichterung.

In der grauen, kühlen Tiefgarage herrschte gedämpfte Stille. Automatisch flackerte das Neonlicht auf, als sie weiter vordrang. Der Klang ihrer Absätze wurde mehrfach und schaurig von den Wänden der unterirdischen Halle zurückgeworfen. Mehrere Fahrzeuge befanden sich in ihrer Sichtweite. Zwei von denen, luxuriöse Sportwagen, konnte sie ihren noch arbeitenden Kollegen zuordnen. Sie würden in wenigen Minuten folgen. Die anderen, weniger kostspieligen Wagen gehörten dem zahlenmäßig überlegenem Sicherheitspersonal. Ihr eigenes stand nicht weit von ihrer jetzigen Position. Nur ein paar Schritte. Sie blickte sich instinktiv um, als sie irgendwoher ein leises Knacken und Rascheln vernahm. War ihr doch jemand gefolgt? Sämtliche Härchen auf ihrer Haut schienen sich innerhalb einer Sekunde aufzurichten und stachen auf ihr Nervenkostüm ein. Nein! Nicht jetzt! Sie hatte es doch fast geschafft! Ihr Herz raste und pumpte. Adrenalin schoss durch ihre Adern. Oh Gott, ihr wurde beinah schwindlig davon. Ihre Kehle schien wie zugeschnürt. Energisch versuchte sie sich zu beherrschen. Sie durfte sich keinen Fehler leisten. Dafür hatte sie zu viel riskiert. Ihr Leben riskiert! "Hallo?" rief sie mit viel zu viel Angst in der Stimme.

Niemand gab ihr eine Antwort.

Eine Überwachungskamera summte leise in der Nähe ihres Kopfes, um ihren Blickwinkel zu verändern. Sie empfand das Geräusch als viel zu laut und aufdringlich. Und furchteinflößend. Wie gierig das Ding sie anstarrte. Ihr Körper bebte.

Wieder diese unheimliche Friedhofsstille.

Etwas zu hastig lief sie auf ihren Wagen zu, als wäre er eine Art Rettungsboje, während sie hektisch und mit eiskalten Fingerspitzen den Autoschlüssel aus der Manteltasche hervor nestelte. Unwillkürlich stieg die Nervosität in ihr wieder an, jetzt, wo sie sich schon fast in Sicherheit wähnte. Mit einem Fingerdruck auf die in Wagenfarbe lackierte Fernbedienung und einem kurzen, aber intensiven Doppelton entriegelte sich die Fahrertür. Mit einer einzigen fließenden Bewegung, schon hunderte Male vollzogen, stieg sie in den flachen, deutschen Sportwagen. Die Tasche legte sie mit einem beschützenden Blick auf dem Beifahrersitz ab, während sie mit der linken Hand den 385 PS starken Motor startete. Sofort erwachte das wilde Tier unter der edlen Karosserie und spie sein dunkles, dumpfes Röhren heraus, welches in jede Ecke der Tiefgarage drang. Noch schnell den Sicherheitsgurt und das Abblendlicht. Ihre routinierten Bewegungen kamen ihr allesamt viel zu langsam vor, so, als hindere eine zähe Masse sie daran, schneller zu agieren. Dann rauschte sie mit Adrenalin geladenem Fuß zum Ausgang. Niemand hielt sie auf. Sie blickte hektisch in den leicht vibrierenden Innenrückspiegel. In die Außenspiegel. Da! Verdammt! Sie schluckte vernehmbar den dicken Kloß in ihrem Hals hinunter. An einem der Betonpfeiler! Sie kreischte innerlich auf. Ein Schatten! Ihre Gesichtszüge fielen in sich zusammen, als wäre kein Muskel da, der sie hielt. Ihre Augenlider flatterten vor Nervosität. Sie zwinkerte. Das Bild veränderte sich. Der Schatten? Verschwunden. Nur eine optische Täuschung? Gaukelten ihre Sinne ihr etwas vor? Verzweifelt suchte sie visuell nach Hinweisen. Keine. Keine Menschenseele. Ihr Atem ging nur noch stoßweise, hielt mit der Frequenz ihres rasanten Pulses stand. Sie redete sich ein, dass es vielleicht doch der schwarze Hauskater war, der auf der Suche nach Mäusen und Ratten in der Tiefgarage herumschlich. Das tat er jedenfalls jede Nacht und so ziemlich um die gleiche Zeit. Ein Ablenkungsmanöver für ihre überspannten Nerven. Sie seufzte tief und die Beklemmung löste sich merklich. Ein so wohltuendes Gefühl, welches sie jedoch nicht lange genießen konnte. Schließlich befand sie sich auf einer lebensgefährlichen Mission. Und auf der Flucht. Jede Sekunde, die sie sinnlos vertrödelte, konnte ihr Ende bedeuten. Ein alles verzehrender Gedanke, der einem Menschen auch noch den letzten Funken Hoffnung rauben konnte. Doch sie blieb tapfer. Das Schlimmste hatte sie schließlich überwunden. Die Flucht aus dem unterirdischen Gebäudekomplex. Niemand war auf den Gedanken gekommen, sie aufzuhalten. Offensichtlich hatte keiner der Angestellten etwas bemerkt. Ein großes Glück. Jetzt nur noch schnell die Tiefgarage verlassen. Das sollte kein Problem darstellen.

Ein neuer Gedanke überschwemmte eiskalt ihr Bewusstsein und schoss gleich einem Hochgeschwindigkeitszug durch ihren Kopf. Sie musste unbedingt den Flug noch erreichen! Ihr Gepäck, gültiger Reisepass und das Flugticket lagerten bereits in einem der Schließfächer des hiesigen Flughafens. Sie warf einen Blick auf die Uhr im ledernen Armaturenbrett. Ihre Augen glühten dramatisch auf. 23 Uhr und 27 Minuten. Viel zu knapp! Sie musste es einfach schaffen! Sie musste! Denn es gab für sie kein Zurück mehr! Ihre Nerven wollten sich nun kaum mehr beruhigen. Sie fühlte sich wie unter Hochspannung.

Doch das war noch längst nicht alles. Das i-Tüpfelchen, welches die Mission endgültig zum Scheitern verdammte, bekämpfte ihr Bewusstsein. Ausgerechnet jetzt und zu ihrem vollsten Unverständnis zeigten sich hartnäckig Symptome einer fortgeschrittenen Unterzuckerung. Kalter Schweiß brach schlagartig aus sämtlichen Poren. Ihre Kleidung sog sich sofort damit voll und klebte wie ein feuchter Film auf ihrer Haut. Brennender Durst schien ihren Rachen in Flammen aufgehen zu lassen und das Schwindelgefühl gaukelte ihren Sinnen Phantasiebilder vor. Hektisch griff sie nach einer Schachtel Traubenzucker-Tabs, die, wie gewohnt, in einer kleinen Mulde der Mittelkonsole lagen. Gierig schob sie sich eine kleine Handvoll davon in den Mund. Eilig zerkaute sie den Treibstoff für ihr Blut und spülte mit einem kräftigen Schluck Wasser aus einer kleinen Flasche nach, die in einer Halterung am Armaturenbrett klemmte. Sie hatte keine Zeit darauf zu warten, dass sie wieder fahrtauglich wurde. Wie eine Betrunkene steuerte sie den Wagen durch die Tiefgarage. Nur nicht gegen einen der Betonpfeiler fahren. Sie konnte nicht glauben, dass das passierte! Es war praktisch unmöglich und wissenschaftlich nicht erklärbar! Das Abendessen wie auch das Spätstück gaben ihr mehr als ausreichend Kohlenhydrate. Kurz- und Langzeitinsulin spritzte sie nach Schema. Möglicherweise lag es am Stress? Obwohl in den meisten Fällen der Blutzuckerwert bei Stress in die Höhe schnellte. Und sie hatte gewaltigen Stress! Sie glaubte beinah, ihr Körper bestehe nur noch aus Cortisol. Was für ein Irrsinn! Doch im Moment schien sie ohne erkennbaren Grund unterzuckert zu sein. Wo, verdammt nochmal, lag denn nun der Fehler? Paradox! Einfach nur unlogisch und für sie als Wissenschaftlerin nicht nachvollziehbar. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Komplikationen während ihrer Flucht. Und dabei hatte sie monatelang alles minutiös geplant und organisiert.

Alles wird gut, Madeleine! Alles wird gut! Gleich geht es dir besser. Ihre innere Stimme, die sie eigentlich beruhigen sollte, klang hysterisch.

Ein Hindernis erschien vor der flachen Motorhaube ihres Sportwagens. Beinah zu spät trat sie auf das Bremspedal. Ihr Körper wurde unsanft nach vorn geschleudert und blieb im Gurt hängen. Nach einer kurzen Orientierung senkte sie per Knopfdruck das Seitenfenster. Zitternd schob sie die Code-Karte, die sie kaum zwischen ihren Fingern spürte, in den schmalen Schlitz der gelben Bediensäule der Schrankenanlage. Extreme Anspannung. Ihre gesamte Muskulatur bestand aus übermäßig gestrafftem Drahtseil. Ihre Augen saugten sich an dem Schlitz fest. Sekundenlang geschah gar nichts. Madeleine hielt unwillkürlich die Luft an. Funktionierte die Karte noch? Sie würde die Aluminiumschranke auf jeden Fall durchbrechen müssen, falls ...

Es surrte mehrmals und das Gerät spuckte die Karte zügig wieder heraus. Hastig nahm die Frau diese an sich und warf sie achtlos in ein Ablagefach. Sie würde dieses Teil in ihrem ganzen Leben nicht mehr brauchen. Die schwarz-gelbe Schranke der Tiefgarage hob sich schwungvoll und ließ den rubinroten Porsche 911 Carrera 4S ohne Problem passieren, während Madeleine die Seitenscheibe der Fahrertür wieder nach oben surren ließ, denn draußen herrschte bittere Kälte unterhalb des Gefrierpunktes. Und Kälte konnte sie noch nie gut leiden. Sie sehnte sich nach einem behaglichen, sorgenfreien Urlaub auf den traumhaften Malediven: Schnorcheln in der bildgewaltigen Unterwasserwelt, barfüßige Spaziergänge am Strand und die Genüsse eines luxuriösen Spa. Nach einem kurzen Abstecher in ihre Wunschwelt kehrten ihre Sinne schmerzhaft zurück in die kalte Realität mit all ihren viel zu anhänglichen Problemen, die sich schier unendlich hoch in ihrem Kopf türmten und sie in den Wahnsinn zu stürzen drohten. Hatten die tatsächlich nichts bemerkt? Oder hatten die sie absichtlich laufen lassen? War es tatsächlich ein Kinderspiel, die Initiatoren der Sache und deren Helfershelfer zu hintergehen und ihnen das zu entreißen, was eigentlich niemals für die Öffentlichkeit bestimmt sein sollte? Sie wischte die aufdringlichen und obendrein unnötigen Fragen energisch aus ihrem Kopf und merkte, dass sie schnell ruhiger wurde. Sie war denen entkommen. Und nur das zählte. Sie wiederholte diesen Gedanken mehrmals leise vor sich hin murmelnd und motivierte sich damit gleichzeitig, positiver in die Zukunft, ihre Zukunft, zu blicken. Ich habe es geschafft! Ihre Körperfunktionen, die noch vor ein paar Minuten einem bunten Feuerwerksspektakel glichen, normalisierten sich erheblich. Und auch der Blutzuckerspiegel kehrte gefühlsmäßig auf ein normales Niveau zurück.

Der nächtliche Verkehr von frostigen Minusgraden beherrschten New York nahm sie auf, in dem sie sich einigermaßen sicher fühlte, als eine unter vielen, und schwemmte sie, trotz der schnee- und eisfreien Straßen, viel zu langsam ihrem Ziel entgegen. Hinzu kamen Kehrmaschinen und Streufahrzeuge des Department of Sanitation, der Stadtreinigung, die in einer Seelenruhe ihren Job verrichteten. Noch immer nervös, weil unter enormen Zeitdruck, saß die Frau auf ihrem schwarzen, beheizten Ledersitz und trommelte immer wieder mit den Fingern ungeduldig gegen das Lederlenkrad. Unzählige Male starrte sie auf die Uhr, als verginge so die Zeit langsamer.

0 Uhr und 17 Minuten. Die Zeit wurde immer knapper. Sie leerte die kleine Flasche Wasser, um das trockene, brennende Gefühl in ihrem Rachen gänzlich zu vertreiben, während sie immer wieder rote Ampeln unfreiwillig zum Anhalten zwangen. Sie seufzte tief auf. Unfassbar. Der Stresslevel in ihr stieg explosionsartig an. Die Zeit sitzt mir im Nacken und jede verdammte Ampel quält mich mit ihrem Rotlicht! Das darf doch nicht wahr sein! Linker Hand näherte sich eine Streife der NYPD. Gemächlich kam das Fahrzeug neben ihr an der fetten Haltelinie zum Stehen. Madeleine Kurz nahm nervös die Gegenwart der Polizei aus dem Augenwinkel wahr, zügelte sich jedoch, einen direkten Blick nach links zu werfen. Während sich dessen Fahrer auf den Verkehr konzentrierte, begutachtete sein Kollege auf dem Beifahrerplatz die offensichtlich überstrapazierte Porschefahrerin mit versteinerter Miene. Madeleine spürte förmlich, wie sich seine Augen in ihren Kopf bohrten. Grün. Doktor Kurz wäre am liebsten mit durchgetretenem Gaspedal davongerauscht, als das Signal der Ampel die Fahrt freigab, doch sie beherrschte sich und fuhr langsam an. So konnte sie sehen, dass die Polizeistreife links abbog, um ihre nächtliche Patrouille fortzusetzen, und sie in Frieden ließ. Die ungewollte Anspannung fiel spürbar von ihr ab und sie konzentrierte sich wieder besser auf den Verkehr. Doch mit der Ruhe war es nach wenigen Straßenzügen schnell wieder vorbei. Beim routinemäßigen Blick in den Rückspiegel erregte ein monströses Quad mit viel zu hoch eingestellten Scheinwerfern ihre Aufmerksamkeit. Wer, zum Kuckuck, fuhr um diese Jahreszeit und diesen Temperaturen mit so einem Gefährt? Eine stämmige, schwarze Gestalt saß angriffslustig darauf. Seine aufdringliche Fahrweise ließ das gestresste Herz der Frau beinah stillstehen. Von erneuter Panik erfüllt, rechnete sie jede Sekunde mit einem Anschlag auf ihr Leben. Was sollte sie jetzt, um Himmels Willen, tun? Einfach am Straßenrand anhalten und beobachten, was der Quadfahrer tat? Sie rechnete sich das Schlimmste aller Szenarien aus. Flüchten, bis der Quadfahrer sie nicht mehr einholen konnte? Die Polizei würde sofort auf sie aufmerksam werden und sie wie eine Verbrecherin gnadenlos jagen. Eine Nacht in der Gefängniszelle konnte sie sich auf gar keinen Fall leisten. Und nun? Ihre Reaktionszeit betrug weniger als eine Sekunde. Sie gab mehr Gas und merkte, dass ihr Verfolger unverzüglich aufholte. Wechselte sie die Spur, blieb er wie ein Schatten an ihr kleben. Ihr Atem ging schneller. In ihren Augen loderte Angst und Wahnsinn mit brennend heißer Lust. Ein spürbarer Schweißfilm bildete sich auf ihrer Haut, der sie unvermittelt frösteln ließ. War es jetzt soweit? Verzweifelt biss sie sich auf die Unterlippe, dass es schmerzte. Würde sie nun für ihren Verrat bezahlen? Für den Mut zur Wahrheit? Sie sah einfach nur noch das Böse in dieser Welt. Welcher von Grahams Leuten steckte wohl in der Kluft des Quadfahrers, um ihr Lebenslicht auszublasen? Madeleine drückte das Gaspedal unbewusst weiter nach unten. Der Porsche beschleunigte mit unverfrorener Leichtigkeit. Sie spürte, wie sich die Angst wieder durch ihre Eingeweide fraß und ihren Geist lahm zu legen drohte. Krampfhaft klammerten sich ihre Finger um das Lenkrad, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie wagte es kaum zu atmen. Ihre Panik lodernden Augen hafteten über die Rückspiegel wie magnetisiert an dem Verfolger. Ich bin verloren. Plötzlich schwenkte der Fahrer nach links, positionierte sich direkt neben die Fahrertür und hielt der Geschwindigkeit des Porsche stand. Das dunkle Visier wand sich immer wieder der Fahrerin zu. Madeleine saß wie gelähmt in ihrem Ledersitz, unfähig zu reagieren. Dann, als beide Fahrzeuge auf eine weitere Ampel zufuhren, richtete die dunkle Gestalt auf dem Quad ihre rechte Hand auf die Insassin des Sportwagens und ...

Madeleine tat das einzig richtige, auch wenn sie damit einen Auffahrunfall provozierte. Sie presste ihren Körper in den Sitz und versteifte sich. Dann legte sie eine Vollbremsung hin. Sofort ging die Warnblinkanlage an, um den nachfolgenden Verkehr zu alarmieren. Dieser reagierte mit einem Hupkonzert, wich jedoch dem stehenden Hindernis aus, welches auf der mittleren Spur stand. Madeleine ignorierte ihre verärgerten Mitmenschen und starrte dem Quadfahrer entgeistert hinterher, der an einer der nächsten Kreuzungen links abbog und aus ihrem Sichtfeld verschwand. Ihr Puls raste immer noch. War sie tatsächlich einem Attentat entgangen? Wie in Trance lenkte sie den Wagen an den Fahrbahnrand und stellte den Motor ab. Er hat einen Mörder auf mich angesetzt. Er weiß es! Er weiß alles! Zitternd und kurzatmig, aber auch völlig entkräftet hing sie in ihrem Sitz. Das kann nicht wahr sein! Das Bild des mörderischen Quadfahrers in der schwarzen Lederkluft drängte sich ihr wieder auf und sie glaubte gesehen zu haben, dass er ihr den Mittelfinger erhoben entgegenstreckte. Verwirrt fragte sie sich, ob ihre Sinne sie betrogen, denn für einen entsetzlich langen Moment dachte sie vorhin tatsächlich, es sei aus und vorbei, der aufdringliche Quadfahrer würde eine Schusswaffe aus seiner wuchtigen Lederjacke hervorziehen, diese zielsicher auf sie richten und ... . Ihre Sinne spielten verrückt. Kein Wunder nach all den Wochen und Monaten höchster Konzentration und Anspannung. Ein Klopfen an der Scheibe der Fahrertür riss sie aus ihren Gedanken. Polizei. Unverzüglich senkte Madeleine Kurz das Seitenfenster.

Eine stämmige, afroamerikansche Polizistin beugte sich zu ihr hinab und meinte mit rauchiger Stimme: "Мa'am, Sie stehen hier im absoluten Halteverbot!" Sie wies auf das schon reichlich mitgenommene, rote Verkehrsschild mit der leicht verbogenen, weißen Schrift NO STOPPING ANYTIME hin. Selbst im Schein der bescheidenen, nächtlichen Beleuchtung erkannte sie jedoch schnell, wie blass und mitgenommen die Porschefahrerin aussah. "Geht es Ihnen nicht gut? Brauchen Sie einen Arzt?"

"Entschuldigen Sie, Officer! Mir geht es tatsächlich nicht gut. Ich bin Diabetikerin."

"Sie sind hypoglykämisch?"

"Ja log sie. Ich habe bereits Traubenzucker eingenommen. Wenn ich vielleicht noch ein paar Minuten hier stehen dürfte, bis es mir wieder besser geht, Officer? Bitte!"

Der nächtliche Verkehr rauschte an ihnen ruhig vorbei.

"Nur ein paar Minuten, Ma' am. Ich bin ja kein Unmensch. Ich bleibe genau fünf Minuten mit eingeschaltetem Blaulicht hinter Ihnen stehen. Dann muss ich Sie bitten weiterzufahren und sich einen Parkplatz zu suchen."

"Danke, Officer! Ich weiß das zu schätzen."

Die Beamtin nickte und kehrte zu ihrem Streifenwagen zurück.

Das ist ja nochmal gut gegangen. Fünf Minuten, in denen sie sich im Schutz der Polizei erholen konnte. Noch bevor die besagte Zeit vorbei war, reihte sich die junge Frau wieder in den nächtlichen Strom der Autos ein. Sie war so unendlich froh mit heiler Haut davongekommen zu sein. Madeleine verspürte das Gefühl, dass nun alles gut werden würde. Und tatsächlich, die weitere Fahrt zum Airport verlief ereignis- und vor allem gefahrlos. Jede weitere Aufregung ginge sonst auf Kosten ihrer schon zur Genüge strapazierten Nerven. Davon hatte sie nun wirklich genug. Sie gelangte zu einem der Langzeit-Parkhäuser des John F. Kennedy Airport am Lefferts Boulevard, wo sie den Porsche eilig in einer viel zu engen Parklücke abstellte - sie hatte jetzt einfach keine Zeit, einen geeigneteren Platz zu suchen - und sich mit der Businessaktentasche unter dem Arm und anderen Fluggästen, die voll bepackt mit Koffern, Rucksäcken und Taschen waren, von einem Flughafen-Shuttle in wenigen Minuten zu Terminal 8 bringen ließ. Dort eilte sie zielstrebig, sich durch die Menschenmassen unterschiedlichster Kulturen schlängelnd, zu einem der zahlreichen Schließfächer. Mit dem passenden Schlüssel öffnete sie dies, entnahm den darin befindlichen Hartschalen Reisekoffer, ihren Reisepass sowie das Flugticket. Im Laufschritt hetzte sie zum First-class Check-in von American Airlines. Gerade noch rechtzeitig. Die Dame am Schalter wollte soeben schließen.

"Warten Sie! Warten Sie, Miss!" rief die Frau mit ihrem Ticket am erhobenen Arm wedelnd der Airline-Angestellten zu.

Neugierige Fluggäste in ihrer Nähe blickten sich stirnrunzelnd um, um den Auslöser der Rufe zu lokalisieren.

"Sie kommen sehr spät, Ma'am!" wurde sie begrüßt.

"Der Verkehr." Doktor Kurz lächelte gequält.

"Verstehe. Die Straßen von New York sind kein leichtes Pflaster. Nicht einmal nachts." Die Flugbegleiterin nahm sich freundlich Zeit für die verspätete Passagierin und wünschte abschließend einen guten Flug. Anschließend hastete die Wissenschaftlerin durch die Sicherheitskontrollen, wo sie nicht länger als notwendig aufgehalten wurde, durch die Flagship Lounge der First-class von American Airlines und zu Gate 5 von Terminal 8, wo bereits an einer der Anzeigetafeln das Boarding für ihren Flug blinkte, und reihte sich mehr als erleichtert als Letzte in die kleine Reihe der First-class Passagiere ein, die sich bereits auf der überdachten Fluggastbrücke in Begleitung einer persönlichen Angestellten zum Flugzeug befanden.

"Willkommen an Bord von American Airlines, Ma'am!" begrüßte sie eine professionell lächelnde Angestellte der Airline. "Dürfte ich bitte Ihr Ticket sehen?"

"Natürlich", erwiderte Madeleine, noch leicht außer Atem.

"Vielen Dank!" Die Flugbegleiterin studierte es mit geschultem Blick. "Alles in Ordnung, Miss Kurz", meinte sie lächelnd und gab das Ticket zurück. "Ich begleite Sie zu Ihrem Platz. Darf ich Ihnen das Handgepäck abnehmen?"

Madeleine verneinte und folgte der uniformierten, jungen Frau, die ihr wie ein Top-Model erschien.

Die First-class Abteilung des Flugzeuges empfing Doktor Madeleine Kurz mit einer gediegenen Atmosphäre und leisen, beruhigenden, musikalischen Klängen. Sehr angenehm. Die meisten Reisenden saßen bereits in ihren Suiten und warteten auf das Taxing und dem anschließenden Take-off.

"Hier ist Ihre Suite, Ma'am. Darf ich Ihnen aus dem Mantel helfen?"

"Gerne."

Stets ihre Businessaktentasche nervös im Blick, ließ sich die Passagierin aus dem warmen Wintermantel helfen. Die Angestellte verstaute diesen nicht etwa in dem über der Suite befindlichen Ablagefach, sondern hängte ihn mit einem Bügel in der First-class eigenen Garderobe auf.

"Benötigen Sie eine Einweisung in ihre Suite, Miss Kurz?"

"Danke, das ist nicht nötig. Ich bin mit den Annehmlichkeiten vertraut."

"Wie Sie wünschen. Ich werde Ihnen gleich ein Glas Champagner bringen. Haben Sie sonst einen Wunsch, Ma'am?"

"Danke. Vielleicht später."

Die Flugangestellte lächelte freundlich nickend. "Einen angenehmen und erholsamen Flug!"

"Den werde ich haben!" Sie lächelte knapp und ließ sich erschöpft, aber zufrieden auf dem breiten, luxuriösen Liegesitz ihrer Suite, gleich an einem der Fenster, nieder. Auf einer breiten Konsole, der sich an der rechten Armlehne anschloss, stand eine Schale mit verschieden verpackten Pralinen und eine kleine Flasche Tafelwasser nebst Glas. Ihre Businessaktentasche legte sie, stets griffbereit, neben sich ab. Mit geschlossenen Augen atmete sie einmal tief ein und aus. Ja! Ich habe es geschafft! Ich habe es geschafft! Keiner hat mich verfolgt. Niemand hat mich aufgehalten. Es ist ein Wunder! Ein Wunder! Sie verspürte ein gutes Gefühl in sich aufkommen. Eine Welle aus zufriedenen Hormonen wälzte sich gemächlich durch ihren Körper und erfüllte ihn auf eine angenehme, himmlische Weise. Jetzt würde alles gut werden. Genießerisch ließ sie das luxuriöse Ambiente ihrer Suite auf sich wirken.

Und er würde endlich untergehen! Nichts anderes hatte er verdient!

Nur um einen tat es ihr leid. Schrecklich leid! Schrecklich weh! Jack! Sie zitterte innerlich vor Sehnsucht. Er wusste nichts von all dem Übel, den außerordentlich bedrohlichen Schwierigkeiten, in denen sie bereits seit Jahren steckte. Wo sie arbeitete. An was sie arbeitete. Und dass sie just in diesem Moment auf der Flucht nach Deutschland war. Sie hatte ihm nichts hinterlassen. Kein einziges Wort. Nicht einmal einen Abschiedsbrief. Er durfte es nicht wissen. Nicht mit hineingezogen werden. Es war viel zu gefährlich. Aber es würde nicht lange dauern, bis er herausfand, dass sie fort war und welcher Grund dahintersteckte. Schließlich war er Journalist und verfügte über weit reichende, informationstragende Beziehungen. Er würde sämtliche Hebel in Bewegung setzen, um sie zu finden und wieder in die Arme schließen zu können. Das war ihr so klar wie der Morgentau auf einem Grashalm. Denn er liebte sie, wie sie ihn liebte. Ohne Wenn und Aber. Und von ganzem Herzen. Mit Leib und Seele. Oh Jack! Ich liebe dich! Ich werde dich immer lieben! Es tut mir so leid, dass ich Amerika, dass ich dich verlassen muss. Wenn du nur wüsstest. Im Moment ist es so besser. Glaub mir! Besser so. Ob wir uns wohl eines Tages wiedersehen werden? Wenn der ganze Wahnsinn vorbei ist? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Sie schluckte schwer und wischte sich die Träne weg, die sich heimlich aus dem rechten Auge stahl. Doktor Kurz sammelte sich. Es würde alles gut werden. Positiv denken. Madeleine Kurz legte unwillkürlich die Stirn in Falten. Etwas kam ihr seltsam vor. Oder bildete sie sich das nur ein? Eine innere Unruhe bemächtigte sich ihrer. Kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Haut. Ihre Mundschleimhaut schien so trocken wie feines Sandpapier und gleichzeitig hatte sie einen unglaublichen Heißhunger. War sie schon wieder hypoglykämisch? Das zweite Mal während dieser Nacht? Das konnte doch nicht sein? Hatte ihr Körper so viel Kohlenhydrate verbraucht? Wirkte ihr Insulin nicht? Es kamen ihr beide Varianten höchst unwahrscheinlich vor. Hastig kramte sie das handliche Blutzuckermessgerät hervor. Ein kleiner Tropfen Blut auf die Auftragzone des Teststreifens und der Wert stand nach wenigen Sekunden fest. Ihr Verdacht bestätigte sich 2,7 mmol/l Unterzucker. Doktor Kurz nahm sich gleich mehrere Traubenzucker Tabs aus ihrer Tasche und verschlang sie gierig, ohne Aufmerksamkeit bei den anderen Passagieren zu erregen. Als das Flugpersonal den Champagner servierte, griff sie erfreut und dankbar nach einem Glas mit dem perlenden Genuss. Erleichtert und sich in Sicherheit wägend, lehnte sie sich zurück. Sie war sich sicher, dass auch die letzte Unruhe aus ihrem Körper wich, wenn das Flugzeug erst einmal abgehoben hatte. Ihr Blick ging zu einem der beiden Fenster ihrer Suite hinaus, während sie ihren Gaumen mit dem köstlichen Getränk verwöhnte, und blieb nachdenklich an der Flugzeugwand einer anderen, in starkem Scheinwerferlicht stehenden American Airline Maschine kleben. Wenn ich doch schon zuhause wäre. Die Geborgenheit und Sicherheit meiner eigenen vier Wände. Ihre manikürten Fingernägel fuhren unbewusst über ihr Dekollete. Dieser Juckreiz machte sie noch wahnsinnig. Es lag wohl an dem enormen psychischen Druck, dem sie seit Monaten ausgesetzt war. Psychosomatisch. Er würde ganz sicher verschwinden, wenn sie erst einmal daheim war, dem mit Abstand schönsten Ort auf der Welt. Zufrieden mit der positiven Prognose zeichnete sich ein Schmunzeln auf ihrem Gesicht ab, welches sich in der rundlichen Scheibe des Fensters widerspiegelte. Eine halbe Stunde später befand sich das Flugzeug in dem nächtlichen Luftraum über der Ostküste Nordamerikas Richtung Europa. In etwa acht Stunden würde es auf dem Londoner Flughafen Heathrow landen. Nach einem kleinen Aufenthalt ginge es dann mit der Lufthansa weiter nach Deutschland.

Good bye, Jack!

* * * * *

"Ma'am?"

"Mrs. Kurz!"

Die Angesprochene kam nur unter kräftezehrenden Bemühungen ihres abdriftenden Bewusstseins zu sich. Verschwommen blickten die Augen in die schemenhaften Gesichter von gespensterhaften Wesen. Wie aus weiter Ferne nahm sie dumpfe, verzerrte Stimmen und Geräusche wahr, konnte diese jedoch niemanden zuordnen. Ihr Körper fühlte sich schwer wie Blei an. Auf ihrer Haut lag klebriger, kalter Schweiß. Heißhunger marterte sie. In ihrem Kopf schien sich kein einziger Gedanke zu befinden. Sie fühlte sich unendlich hilflos. Panik stieg in ihr auf und überrollte sie im nächsten Augenblick mit unbändiger Wucht, und sie konnte nichts dagegen tun. Keine Kontrolle mehr. Gefangen im eigenen Körper. Die junge Frau war auf fremde Hilfe angewiesen. Hil-fe!

„Ma'am, Sie sehen ganz blass aus. Fühlen Sie sich nicht wohl?" erkundigte sich ein männlicher Passagier mitfühlend nach ihrem Befinden. "Sie scheint nicht ganz bei Bewusstsein zu sein", stellte er gleich darauf fest. "Ist denn hier kein Arzt an Bord?" monierte er sich lautstark.

"Tut mir leid, Sir, die medizinische Ver... ", versuchte ihm eine der Flugbegleiterinnen höflich und verunsichert zugleich zu erklären.

Mit einem vernehmbaren "Тschscht!" brachte er sie umgehend zum Schweigen. "Sie will uns etwas mitteilen!" Gebannt starrten die um die Suite versammelten Fluggäste auf den Mund der gesundheitlich angeschlagenen Passagierin.

"Undr-suckr ... ", lallte sie benommen und musste dabei ihre ganze Kraft aufwenden, um das Wort mit Lippen und Stimme zu formen, welches sie zuvor krampfhaft in sämtlichen Schubladen ihres Gedächtnisses gesucht und Gott sei Dank fand. Sie hatte allerdings nicht das Gefühl, dass sie jemand verstand.

"Ein Glas Wasser und Traubenzucker!" befahl der Besitzer der männlichen Stimme.

"Sofort, Mister Jackson!" erwiderte eine junge Frauenstimme und eilte auf dem Trittschall gedämpften Teppich davon.

"Ma'am, bitte bleiben Sie bei Bewusstsein!" bat die männliche Stimme eindringlich und sorgenvoll zugleich. "Die Flugbegleiterin bringt gleich den Traubenzucker. Verstehen Sie mich! Ihnen wird gleich geholfen! Bleiben sie wach! Kämpfen Sie gegen die Benommenheit an!" Während er zu ihr sprach, rüttelte er an ihren Schultern. Die Frau stöhnte und verspürte das Gefühl, gleich in eine Dunkelheit abzudriften, aus der sie ohne ärztliche Hilfe nicht mehr auftauchen würde. Eine gruselige Vorstellung.

"Trinken Sie!"

Ein Glas wurde an ihren Mund herangeführt. Teilnahmslos ließ sie es geschehen. Die ersten Tropfen gingen daneben und benetzten Kinn, Bluse und Kostümjacke. "Trinken! Trinken Sie!" Die männliche Stimme klang jetzt viel energischer und lauter. Nur so konnte er vielleicht noch zu der stark hypoglykämischen Diabetikerin durchdringen. Was die anderen Passagiere über ihn dachten, interessierte ihn dabei nicht im Geringsten. Hier ging es schließlich um das Leben eines Menschen.

Irgendjemand schien ihren Kopf zu halten. Mühsam wurde ihr der erste Schluck des gesüßten Wassers eingeflößt.

"Schlucken!" befahl ihr die männliche Stimme.

Ihr Gehirn reagierte nicht auf den Befehl, doch als die Flüssigkeit Richtung Rachen floss, setzte automatisch der Schluckreflex ein.

"Sehr gut, Mrs. Kurz!" sagte die männliche Stimme nun wieder sanfter und der nächste kleine Schluck floss bereits über ihre Lippen in den Mund. Und so ging es mühsam und zeitaufwendig weiter, bis das Glas keinen Tropfen mehr hergab. Dafür sank die Rückenlehne des komfortablen Sitzes allmählich nach unten in eine angenehme Schräglage. Das Polster für die Beine verlängerte sich zur selben Zeit und summte sich leise nach oben. Eine weiche Decke wurde über ihren Körper ausgebreitet, deren Wärme sie als sehr wohltuend empfand. Wenig später ruhte ihr Kopf auf einem ebenso weichen, wie wohlriechenden Kissen. Sie fühlte sich mit einem Mal gut behütet. Ohne Probleme. Ohne Sorgen. Wie herrlich. Die Zeit verstrich und Madeleines Sinne schärften sich allmählich wieder. Stimmen und Geräusche wurden von ihr wieder normal und vertraut wahrgenommen. Die bleierne Erschöpfung wich Stück für Stück aus ihrem Körper und die Wärme kehrte zurück. Sie genoss die Genesung erleichtert. Wieder zurück im Leben. Minutenlang blieb sie noch mit geschlossenen Augen liegen, bis sie sich wirklich besser fühlte. Ein spürbar bohrender Blick von links ließ sie jedoch bald darauf die Augen aufschlagen. Sie zwinkerte einige Male, um ein klares Bild zu erhalten. Ein unverschämt attraktiver Mann, um die Fünfzig, silbergraues Haar, markante Gesichtszüge und in einen erlesenen Anzug mit Krawatte gehüllt, saß mit einer geradezu unerschütterlichen, aufrechten Haltung unmittelbar neben ihr auf der stabilen Lehne ihres Sessels und blickte milde lächelnd aus seinen stahlblauen Augen auf sie herab. Seine Hände lagen entspannt auf seinem Oberschenkel. Ohne mit der Wimper zu zucken versprühte er seinen magnetisierenden Charme, der ihn wie eine unsichtbare, aber spürbare Aura umgab.

"Geht es Ihnen besser?"

Ein sanftes Kribbeln durchfuhr sekundenlang Madeleines Eingeweide. Oh verdammt, seine dunkle, weiche Stimme erregte sie sofort. Ihre Knie schienen selbst im Liegen weich zu werden wie Pudding und ihr Herz klopfte mehr als deutlich gegen die darüber liegenden Rippen. Sie schämte sich zutiefst für ihr Verhalten, einen absolut Fremden aus reiner Gefühlsduselei anzustarren. Dennoch gelang es ihr kaum die Augen von den seinen abzuwenden. Als würde er sie hypnotisieren. "Ja. Danke!" erwiderte die Frau mit einem Hauch von Stimme und versuchte ihm ein dankbares Lächeln zu schenken, was ihr überraschenderweise mehr als großzügig gelang. Sie räusperte sich. "Ich glaube, Sie haben mir soeben das Leben gerettet", sprach sie leise weiter. Sie spürte, wie ihr Blutdruck sich mühelos nach oben schraubte und ihr Körper ungewollt eine Hitze aufbaute, die sie völlig ausfüllte. Davon blieben auch ihre Wangen nicht verschont. Ihr Puls musste bereits in himmlischen Höhen schlagen. Kaum noch messbar.

Der ältere Herr sprang auf. "Verzeihen Sie mir meine Impertinenz, dass ich es wagte, mich in Ihrer Nähe niederzulassen."

Madeleine Kurz hob überrascht die Augenbrauen über die ungewohnte Art des Ausdrucks.

"Ihr Gesundheitszustand zeigte ein äußerst kritisches Stadium und ich erbot mich, auf Sie zu achten, bis Sie das Bewusstsein wieder erlangten. Dies ist ja nun erfreulicherweise geschehen."

Madeleine hing an seinen Lippen während er sprach. Sie befand sich immer noch in seinem Bann. Doch dann. Sie wand sich irritiert ab. Oh Gott, was, um Himmels Willen tu ich hier? Ich starre diesen Mann an wie ein Fan seinen Lieblingssänger. Jack! Ich bin nicht mehr ich selbst!

"Ich werde mich nun in meine Suite zurückziehen, Mrs. Kurz. Wenn Sie etwas benötigen, werde ich gerne für Sie die Stewardess rufen."

Doktor Kurz blickte mit einer schnellen Kopfbewegung zu ihm zurück. "Sie kennen meinen Namen?" fragte sie sichtlich konsterniert. Ein heftiger Stich in die Magengrube folgte.

"In der First-class ist dies wohl kein Geheimnis. Schließlich werden wir in diesem Ambiente mit Namen angesprochen."

"Oh. Ja. Natürlich." Madeleine entspannte sich spürbar. Ihre Blicke begegneten sich erneut. "Übrigens: Vielen Dank, Mister ... ?"

"Jackson. Bernhardt Jackson." Er neigte ein wenig sein Haupt als Ehrerbietung. "Es war mir ein Vergnügen." Seine Worte klangen wie ein endloses, betäubendes Rauschen in Madeleines Ohren, während er sich bereits in seine Suite zurückzog, sein Jackett ablegte und sich in eine englischsprachige Zeitung vertiefte.

Doktor Kurz schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Wie konnte das nur passieren? Es musste eine Ursache geben für ihre ständige Unterzuckerung. Sie beschloss, in ihrer Heimatstadt eine befreundete Ärztin zu kontaktieren, um der Sache auf den Grund zu gehen. Sie brachte sich per Fernbedienung in eine aufrechte Position, entfernte Kissen und Decke, die eine nahende Flugbegleiterin ihr sogleich abnahm und ließ sich die Speisekarte bringen. Den Blutzuckerwert zu stabilisieren war jetzt von höchster Priorität. Sie maß nach und konnte beruhigt aufatmen. Während sie die Utensilien wegpackte, sinnierte sie, dass sie um ein Haar das Zeitliche gesegnet hätte, und all ihre gefährlichen Bemühungen, die von ihr entwendeten Informationen von Messerschmidt-Hancock Enterprises an die Öffentlichkeit zu bringen, wären umsonst gewesen. Wer, außer sie, kämpfte dann für die vielen, unschuldigen Seelen, die für Grahams abartige Experimente ihr Leben geben mussten und noch müssen?

Nicht jeder besaß den Mut, sich mit einem Giganten anzulegen. Aus welchem Grund auch immer.

Es gibt doch noch gute Menschen auf dieser Welt, dachte Doktor Madeleine Kurz erleichtert und blickte zu einem der ovalen, halb vereisten Flugzeugfenster hinaus. Unter ihnen herrschte absolute Dunkelheit. Nur hin und wieder entdeckte sie einen hellen Flecken, den sie als Kreuzfahrtschiff identifizierte. Sie mussten sich demzufolge über dem Atlantischen Ozean befinden. Was für ein friedlicher Ausblick. Als gäbe es gar keine Ungerechtigkeit auf der Welt.

"Mrs. Kurz!"

Die Angesprochene drehte unerschrocken den Kopf. Eine freundlich lächelnde Flugbegleiterin stand vor ihr.

"Der Flugkapitän lässt fragen", fuhr die Stewardess in diskreten Ton fort, "ob es Ihnen wieder besser geht?"

"Danke der Nachfrage. Es gibt keinen Grund mehr zur Sorge. Mein Blutzuckerspiegel hat sich wieder normalisiert", gab die Angesprochene ruhig zurück.

"Darüber wird er sehr erleichtert sein. Darf ich Ihnen etwas bringen?"

"Ich gebe Ihnen Bescheid, wenn ich das Menü durchgesehen habe."

"Sehr gerne, Mrs. Kurz."

Die Biologiewissenschaftlerin studierte das hervorragende Angebot an Salaten, Vorspeisen, Hauptgängen, Desserts und Snacks sowie die alkoholischen und nicht alkoholischen Getränke. Sie nahm einen bunten Salat mit gegrillten Garnelen, danach eine Miniportion Wiener Tafelspitz in Meerrettichsoße, dazu frische Bohnen mit Kartoffelklößchen und als Abschluss ein Orangensorbet. Als Getränk wählte sie einen Spätburgunder Rotwein, halbtrocken. Wenig später wurde ihr das Menü auf weißem Porzellan serviert, mit einer weißen Stoffserviette und einer roten Rose, dazu edles Metallbesteck.

"Guten Appetit!" wünschte die servierende Flugbegleiterin.

"Danke!" Genussvoll ließ es sich die Wissenschaftlerin schmecken. Jeden Happen ließ sie sich auf der Zunge zergehen. Besonders der Rotwein schmeichelte ihrem Gaumen.

Bernhardt Jackson, der zur selben Zeit einen Chefsalat verzehrte und dazu ein spritziges Wasser genoss, äugte gesprächsbereit zu seiner Sitznachbarin hinüber. "Verzeihen Sie bitte, Doktor Kurz, wie ist der Wiener Tafelspitz?“

"Ausgezeichnet!" lobte sie, ohne aufzusehen. "Das Essen an Bord ist jedes Mal erste Klasse." Ist er sich eigentlich seiner immensen Anziehungskraft bewusst? stöhnte sie innerlich auf.

"Sehr treffend ausgedrückt. Sie fliegen meines Erachtens häufiger diese Linie?"

Sehr neugierig dieser Bernhardt Jackson. Erwähnte ich schon, dass ich ruhebedürftig bin? Auf acht Stunden Kommunikation kann ich wirklich verzichten. - Woher weiß er überhaupt, dass ich einen Doktortitel besitze? Wahrscheinlich auch von der Flugbegleiterin. Dennoch blieb Madeleine Kurz höflich. "Ja, ich ... ." Die Angesprochene bekam einen kurzen, aber heftigen Stich in der Herzgegend. Die Luft wollte ihr wegbleiben und auch ein wenig Übelkeit gesellte sich dazu.

Mister Jackson starrte sie sorgenvoll an. "Мrs. Kurz ... ", begann er konsterniert.

"Sie entschuldigen mich!" Nervös blickte sie sich um. Meine Tasche! Die Informationen! Ich ich habe sie doch rechts von mir abgelegt! Als sie ihr Eigentum nicht fand, schwenkte sie den Esstisch hektisch zur Seite, dass ein wenig Wein überschwappte, schwang sich aus dem Sitz und wühlte wie besessen in der oberen Gepäckablage. Wo ist sie? Wo ist sie? Um Gottes Willen, wenn die Informationen in die falschen Hände geraten! Endlich fanden Hände und Augen sie. Gierig klammerten sich ihre Finger darum. Dann eilte sie überstürzt zum WC. Jackson und auch einige andere in ihrer Ruhe oder im Schlaf gestörte Fluggäste blickten der Frau stirnrunzelnd oder kopfschüttelnd nach. Solch einen unschicklichen Tumult waren sie nicht gewöhnt. Schließlich befanden sie sich hier in der First-class. Da war schon die Lautstärke der Triebwerke das absolute Maximum, was es zu ertragen galt.

"Entschuldigen Sie, bitte!" sagte sie hastig zu einer Frau, die gerade die selbe Toilette für ihre Bedürfnisse nutzen wollte, da alle anderen Gelegenheiten in der Economy-class dauernd besetzt waren und man anstehen musste oder unter unappetitlicher Fehlfunktionen litten, was auch mal vorkam.

"Ähm ja, okay! Aber beeilen Sie sich!"

Ohne zu erwidern glitt die Frau durch die schmale Tür in die geräumige Sanitärzelle und verschloss diese. Ihr Herz klopfte so wild, dass es ihr beinah Brust und Hals zerriss. Übernervös und zittrig kramte sie eher planlos in ihrer Businessaktentasche. Wo, wo ist er? Verdammt! Er kann doch nicht weg sein! Madeleine schwitzte und fror gleichzeitig. Sie konnte die Panik kaum noch ertragen. Am liebsten hätte sie ihr Elend hinaus geschrien. Endlich bekam sie ihn zu fassen. Die kalt gewordenen Hände umschlossen erleichtert den mittelgroßen, runden Handspiegel. Unter Zuhilfenahme einer ihrer gestärkten Fingernägel löste sie vorsichtig den Boden vom Spiegel. Klick! Sie hielt automatisch die Luft an. Ihre Augen weiteten sich auf die Größe von Tischtennisbällen. "Gott sei Dank!!" flüsterte sie und eine immense Last schien von ihrem Körper abzufallen. Die Daten Minidisc befand sie an dem Platz, an dem sie sie vor etlichen Stunden versteckte. Im nächsten Moment hätte sie sich ohrfeigen können. Wie leichtsinnig von mir, die Disc unbeaufsichtigt zu lassen, an einem Ort, wo sie sich jeder Dahergelaufene nehmen kann. Pass gefälligst besser auf! Die Disc darf weder verloren gehen noch in die falschen Hände geraten! Und jetzt beruhige dich endlich! Deine Nerven sind schon genug strapaziert worden. Reiß dich zusammen, Madeleine! Mit diesem an sich selbst gerichteten Befehl packte sie ihre Sachen wieder sorgsam zusammen und verschloss die Tasche zu guter Letzt sorgfältig. Ihr Blick glitt in den kleinen Kristallspiegel, der direkt vor ihr an der exklusiven Innenverkleidung der Kabine klebte. Ein Knopf ihrer weißen Bluse stand offen, so dass ihr Dekollete mehr preisgab, als sie es in der Öffentlichkeit beabsichtigte. Madeleine erschrak und zuckte gleich darauf zusammen. Ihre Augen verengten sich. Kleine, feuerrote Punkte von regelmäßiger Form zeichneten sich zwischen ihren von einem weißen Spitzen-BH gehaltenen Brüsten ab. Oh mein Gott? Was um Himmels Willen ist das? Sofort rasten ihre Gedanken zu ihrem verabscheuungswürdigen Arbeitsplatz, den sie nie wieder in ihrem Leben betreten würde. Hatte sie sich möglicherweise im Labor infiziert? Ihr inneres Auge fuhr die gesamte Strecke bis zum Flughafen in rasantem Tempo ab. Oder eventuell unterwegs unbekannte Krankheitserreger aufgeschnappt? Heutzutage konnte man schließlich nicht mehr sicher genug sein. Bakterien und Viren waren viel aggressiver als noch vor zwanzig, dreißig Jahren. Sie klebten und flogen überall. Zitternd fuhren ihre Fingerspitzen über die Hautveränderungen. Sie spürte kleine Erhebungen. Wie kleine Pickel, wie sie sie in der Pubertät ertragen musste. Daher stammte also der Juckreiz. Sie stellte ihre Tasche kurzerhand noch einmal beiseite, streifte die grau melierte Kostümjacke elegant ab, öffnete vollständig ihre Bluse und zog sie aus, um ihren gesamten Oberkörper zu inspizieren. Zu ihrem Unglück entdeckte sie, neben kleinen, verblassenden blauen Flecken und den Einstichstellen der Injektionskanülen vom Insulin, weitere Flecken auf dem sacht gewölbten Unterleib, die sich unregelmäßig darüber verteilten.

"He, Ma'am! Sind Sie endlich fertig? Hier draußen stehen ein paar Leute, die auch mal dringend müssen!" rief eine verärgerte Frauenstimme von jenseits der Tür, während sie zwei Mal energisch dagegen pochte.

"Einen kleinen Moment, bitte!" rief Madeleine erschrocken zurück, zog sich hastig an und nahm ihre Tasche an sich. Dann drückte sie die Spültaste an dem exquisiten Porzellantoilettenbecken als Zeichen, dass sie ihr Geschäft beendet hatte und entriegelte die Tür.

Ein genervtes, mürrisches Frauengesicht blickte ihr entgegen. Man sah ihr an, dass ihr das Wasser bis zum Hals stand und ihre Blase kurz vor der Explosion.

"Na endlich! Das wurde ja auch mal Zeit!" stöhnte ein anderer Passagier im Hintergrund.

"Genau. Die Reichen meinen auch, sich alles erlauben zu können", knurrte ein anderer mit erhobener Faust. "Wir sind ja nur zweitklassig. Wir können warten."

"Harry, wirst du wohl still sein!" wies ihn eine Frau giftig zurecht. "Sonst fliegen wir noch raus."

"Herta", stöhnte ihr Mann, "wir sind hier in einem Flugzeug. Aber davon verstehst du ja nichts."

"Entschuldigung! Mir geht es nicht besonders gut."

Die andere Frau, die an erster Stelle der Schlange stand, erwiderte nichts. Stattdessen verschwand sie eilig in der Toilette.

Die Tasche fest unter den Arm geklemmt, wanderte Madeleine Kurz zurück zu ihrem Sitz in der First-class, auf dem sie sich angespannt nieder ließ. Ihr Dessert und das noble, rote Getränk standen noch an ihrem Platz. Der verschüttete Rotwein war entfernt worden.

"Geht es ihnen noch nicht besser, Mrs. Kurz? Sie sehen angespannt und sehr blass aus", sprach sie Bernhardt Jackson mit leisem, besorgten Ton an.

"Es es geht schon wieder", entgegnete sie kurz angebunden. Ungewollt fügte sie noch einen Kommentar hinzu, der mehr einer Rechtfertigung glich. "Ich glaube, die letzten Arbeitstage waren ein wenig zu lang und intensiv gewesen."

"Ich verstehe. Wenn Sie gestatten", Jackson schielte mit Adleraugen auf Mrs. Kurz ihre Businessaktentasche, "lege ich Ihre Tasche zurück in das Fach über Ihnen." Er wollte bereits aufstehen, um ihr diesen kleinen Gefallen zu erweisen, als er von ihrer Antwort zurück in seinen Liegesitz katapultiert wurde. Überrascht zog er die Augenbrauen hoch.

"Nein!" erwiderte Madeleine gereizt. Erschrocken besann sie sich. "Ich ich werde sie lieber bei mir behalten." Sie ärgerte sich im Nachhinein, dass sie kurz überreagierte. Mister Jackson sollte nicht glauben, dass sie etwas verbarg. Sie legte die Tasche auf der breiten, holzgemaserten Konsole ab. "Das Equipment, dass ich als Diabetikerin benötige, bleibt besser in greifbarer Nähe", meinte sie etwas ruhiger. "Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich benötige etwas Ruhe." Madeleines Selbstsicherheit war machtvoll zurückgekehrt. Sie war nun wieder sie selbst.

"Selbstverständlich", erwiderte ihr Nachbar verständnisvoll lächelnd und vertiefte sich sogleich in seine Zeitung. Eine Flugbegleiterin brachte ihm einen Weißwein, woraufhin er sich ebenso lächelnd bedankte.

Mit dem Glas des attraktiv schmeckenden Rotweins in der Hand, starrte Frau Doktor Kurz zu den beiden Flugzeugfenstern hinaus, obwohl ihr dort hauptsächlich Dunkelheit begegnete. Ihr Blick kehrte sich jedoch schnell nach innen. Sie wünschte sich sehnlichst eine angemessene Auszeit, denn die hatte sie sich redlich verdient nach den gefahrvollen Strapazen der letzten Monate. Doch zu ihrem Unwillen zog sich der Flug noch einige Stunden hin. Außerdem gab es für sie in Deutschland noch jede Menge zu organisieren in Bezug auf die Veröffentlichung der von ihr entwendeten, explosiven Daten. Erst dann konnte sie gänzlich untertauchen und entspannen. Von den Vereinigten Staaten aus war es ihr nicht möglich gewesen Kontakt zu Behörden und Presse in ihrer Heimat aufzunehmen. Die Gefahr enttarnt zu werden war extrem hoch. Auch den Kontakt zu ihrem Verlobten musste sie in den letzten Tagen bedauerlicherweise unterlassen. Sie durfte sich nur auf sich selbst verlassen. Falls doch etwas schiefgehen sollte, hatte sie noch ein gewaltiges Ass im Ärmel. Sie hoffte allerdings, dass es nicht zum Einsatz von Plan B kam, denn das bedeutete auch, das sie tot war. Madeleine schüttelte sich. Nein, an so etwas durfte sie gar nicht erst denken. Bis dato lief alles nach ihrem Plan. Sie stellte ihr leeres Rotweinglas ab und wand sich dem Orangensorbet zu, welches sie sich Löffel für Löffel auf der Zunge zergehen ließ. Anschließend gönnte sie sich erschöpft und zufrieden, sowie mit der Tasche an ihrer Seite, einige Stunden Schlaf.

*****

"Miss Kurz! Bitte wachen Sie auf!"

Frau Doktor Kurz war sofort hellwach. "Was ist passiert?" Ihr Herz hämmerte vor Schreck und Angst, beruhigte sich jedoch schnell, als die Wissenschaftlerin in das freundliche Gesicht einer der Reisebegleiterinnen blickte.

"Wir landen in einer halben Stunde auf dem Flughafen London Heathrow, Ma'am. Ich muss Sie bitten, Ihren Sitz in eine aufrechte Position zu bringen und sich anzuschnallen. Wenn Sie es wünschen, bin ich Ihnen gern dabei behilflich."

"Ja. Ja, natürlich."

"Ich nehme Ihnen die Decke und das Kopfkissen ab, Miss Kurz."

"Gut. Danke!" Sie riskierte einen unauffälligen Blick zur Seite. Ihr Nachbar schien sich nicht mehr für sie zu interessieren. Nach wie vor beschäftigte er sich mit unterschiedlichen Gazetten. Darin schien er sehr ausdauernd zu sein. Das konnte Madeleine nur recht sein. Sie schaute auf die Zeitangabe auf dem Monitor - 17.46 Uhr inklusive der Zeitumstellung. Gewissenhaft stellte sie ihre eigenen analoge Armbanduhr danach. Ihr Blick ging nach draußen. Außerhalb der kleinen, ovalen Flugzeugfenster bedeckte immer noch Dunkelheit den Ozean und das europäische Festland. Die britische Hauptstadt darin erschien ihr wie ein großer, leuchtender Stern, der seine vielen unterschiedlichen Zacken in sämtliche Himmelsrichtungen ausstreckte. Ein Glücksgefühl überrollte sie plötzlich und sehr heftig. Jetzt war es nicht mehr weit bis nach Deutschland. Ihre Heimat. In ihrem Geiste durchwanderte sie geliebte Plätze und Landschaften. Mein Zuhause. Wie lange war es her, seitdem sie ihre heimische Wohlfühloase, wie sie es für sich nannte, verließ? Viel zu lange, Madeleine, viel zu lange, beantwortete sie ihre Frage. Sie konnte die heimische Atmosphäre förmlich auf der Haut spüren und ihre vertrauten Düfte schmecken, wenn sie die Augen schloss. Ihre Haut kribbelte vor Erregung. Nein, tat sie nicht. Ihr Dekollete juckte. Sie seufzte genervt und ignorierte das Symptom, da es ihrer Ansicht nach eindeutig psychosomatischen Ursprungs war. Stattdessen maß sie ihren Blutzuckerwert. Dieser lag zwar im etwas erhöhten Bereich, doch das war ihr im Moment lieber, als eine erneute Hypoglykämie. "Мiss!" rief sie eine Flugbegleiterin an, die gerade in ihrer Nähe stand. "Вringen Sie mir bitte noch ein großes Glas Stilles Wasser!"

„Selbstverständlich!“

Madeleine genoss das kühle Nass, welches sie recht zügig trank, und legte dann den Sicherheitsgurt an.

Bernhardt Jackson legte seine Zeitung beiseite, die Ausgabe eines deutschen Tagesblattes. "Gott sei Dank haben wir in ein paar Minuten wieder festen Boden unter den Füßen. Obwohl ich von Berufswegen dazu verdammt bin, in der Welt umher zu jetten", gestand er und gestattete sich einen wehmütigen Seufzer. "Wie steht es mit Ihnen, Mrs. Kurz?" Ihr Name schmolz ihm förmlich über die Lippen, die Augen waren ein einziger Magnet, mit dem Ziel alles Weibliche zu hypnotisieren.

Die Angesprochene widerstand problemlos, denn sie war keineswegs erpicht darauf, mit ihm wieder ins Gespräch zu kommen. Jackson sollte sie einfach nur in Ruhe lassen. Sie hatte schon genug durchgemacht. Da musste nicht auch noch ein unverschämt attraktiver Mann in ihr Leben treten und sie um den kleinen Finger wickeln wollen. Sie wollte jedoch nicht unhöflich sein. Während sie ihn absichtlich nicht anblickte und dabei ihre Kleidung und das Haar geschäftig zurecht zupfte, erwiderte sie: "Mir macht die Fliegerei nichts aus. Ich neige dazu, die Stunden an Bord der Entspannung zu widmen und diese auch zu genießen."

"Dafür muss ich Sie aufrichtig bewundern."

"Was soll daran bewundernswert sein?"

"Sie nehmen die Fliegerei hin, als würden Sie mit dem Bus zum Meeting fahren."

Madeleine widerstand erneut der Versuchung ihm direkt in die hypnotisierenden Augen zu schauen. Doch sein verlockender Ruf. Autsch. Er war wie eine männliche Sirene, dachte sie bei sich. Doch bei ihr hatte er keine Chance mehr, denn in seinem alles einnehmenden Charme lag auch etwas Unheimliches. Stattdessen öffnete sie den Mund und wollte höflich erwidern, als ihre Aufmerksamkeit und die der anderen Passagiere auf eine Ansage gerichtet wurde.

"Sehr geehrte Damen und Herren!" wurden die Gesprächspartner unterbrochen. "In wenigen Minuten erreichen wir den Londoner Flughafen Heathrow. Auf den Monitoren können Sie die Landung mitverfolgen. Wir hoffen, Sie hatten einen angenehmen Flug und würden uns freuen, Sie bald wieder als Fluggast an Bord von American Airlines begrüßen zu dürfen. Auf Wiedersehen und eine angenehme Heim- oder Weiterreise wünscht Ihnen ihr Flugkapitän Thomas Morgan im Namen aller Crewmitglieder."

Noch ein paar ereignislose Minuten verstrichen, dann begann der Sinkflug. Kurz darauf wurden die Fahrwerke vernehmbar ausgefahren.

Das begonnene Gespräch zwischen Kurz und Jackson war nicht mehr von Belang.

"Ich hasse es!" knurrte Jackson sichtlich nervös, während Madeleine ganz entspannt auf ihrem Platz saß und die Landung auf dem Monitor interessiert und gelassen verfolgte, ohne ihrem Nachbarn Aufmerksamkeit oder Gehör zu schenken. Sie ließ ihn sozusagen links liegen.

Die hell erleuchtete Landebahn mit ihren weißen, fluoreszierenden Markierungen kam in Sichtweite. Im Hintergrund leuchtete ihr ein Meer aus künstlichem Licht entgegen. Nur wenig später nahmen die Räder der Boeing Kontakt mit dem Boden auf. Rumpelnd und mit abnehmender Geschwindigkeit rollte die Maschine über den scheinbar sehr unebenen Asphalt, während die Passagiere in der Touristenklasse für die gelungene Landung klatschend und pfeifend Beifall jubelten. Die Passagiermaschine kam nach einer längeren, holprigen Fahrt zum Halten, die Flugbegleiterinnen wuselten bereits wieder geschäftig zwischen den Sitzreihen umher und halfen den Komfort und Service gewohnten First-class Fluggästen bei Bekleidung und Handgepäck, während zwei komfortable Fluggastbrücken für die erste und die Touristenklasse an ihren Ausgängen andockten und die Bordtüren geöffnet wurden. Die Passagiere der Touristenklasse drängelten sich in den schmalen Gängen des Flugzeugbauches, bepackt mit Winterjacken und dem Handgepäck.

Bernhardt Jackson griff nach seinen Sachen in der oberen Ablage. Von einer Stewardess ließ er sich in seinen langen Wintermantel helfen. Mit einer Selbstverständlichkeit blickte er zu seiner Nachbarin rechts von sich. "Vielleicht treffen wir uns eines Tages wieder, Mrs. Kurz", sagte er plötzlich mit einem sanften, freundlichen Lächeln. "Man trifft sich immer zwei Mal im Leben." Spiegelte sich da etwa Bedauern in seinen strahlenden Augen wider? Fühlte er sich etwa von ihr angezogen?

"Das steht wohl in den Sternen, Mister Jackson", antwortet Doktor Kurz und ließ sich ebenfalls in den Wintermantel helfen.

„Gewiss, gewiss", stimmte er ihr unumwunden zu, ohne einen weiteren Anflug von Emotion öffentlich zu zeigen. "Ich bin entzückt Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben, Mrs. Kurz. Auch wenn es nur ein kurzes Vergnügen war. Ich wünsche einen angenehme Weiterreise. - Und achten Sie auf ihren Blutzuckerspiegel!" meinte er und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Damit verschwand Bernhardt Jackson aus Doktor Madeleine Kurz' Leben.

Madeleine fiel sprichwörtlich ein Stein vom Herzen, als er aus ihrem Sichtfeld verschwand und sie hoffte sehr, ihn in dem weitläufigen Flughafengebäude nicht doch noch einmal über den Weg laufen zu müssen. Auf diese Art von Zufall konnte sie gut und gerne verzichten.

Die Wissenschaftlerin gehörte zu dem letzten Schwung von Passagieren der ersten Klasse, die das Flugzeug durch das witterungsschützende Gateway verließen. An der Passkontrolle wurde ihr Dokument nach einem eingehenden Studium ohne Einwände an sie zurückgegeben. An der Gepäckausgabe für First-class und Business Reisende bekam sie zügig und persönlich ihren unbeschädigten Koffer überreicht. Danach passierte sie den blauen Zoll-Ausgang für EU-Staatsbürger, ohne einer aufwendigen Kontrolle ihres Gepäcks. Soweit sie dies aus den Nachrichten wusste, war der Brexit noch nicht durch. Laut Aushang ging ihr Flug nach Leipzig erst in dreieinhalb Stunden. Viel Zeit! Zu viel Zeit! Vergeudete Zeit! Aber leider nicht zu ändern. Sie marschierte die Gänge entlang zum Check-in der First und Business-class für ihren Flug der Lufthansa, wo sie innerhalb von ein paar Minuten ihr Gepäck aufgab. Danach passierte sie die Sicherheitszone zur Aufenthaltslounge der Lufthansa für die gut betuchten Passagiere, die sie mit gediegener Musik, komfortablen Sitzgelegenheiten, einem sehr reichhaltigen Buffet und einer beachtlichen Auswahl an Getränken empfing. Verschiedene Zeitschriften und eingeschaltete TV-Monitore boten sich an, die lange Zeit bis zum Aufruf ihrer Maschine sinnvoll zu nutzen. Wenn sie sich dem Schweiß und Schmutz von der langen Reise entledigen wollte, konnte sie sogar die ausgewiesenen Duschen von höchstem Komfort und Ausstattung als kostenfreie Serviceleistung in Anspruch nehmen. Unwillkürlich griff Madeleine an ihr Dekollete. Ihre Fingernägel zogen unerwartet hellrote Streifen über die verletzliche Haut. Der immer wiederkehrende Juckreiz hatte ohne erkennbaren Grund an Intensität zugenommen und verärgerte sie. Die junge Frau seufzte leidgeprüft, nahm sich im Vorübergehen eine Karotte von der appetitlich angerichteten Gemüseplatte und eilte im Laufschritt zur Damentoilette. Sie betrat eine der großzügigen und exklusiven Kabinen. In Gedanken nur noch mit ihrem seltsamen Hautproblem beschäftigt, stellte sie ihre Aktentasche unaufmerksam auf dem breiten, marmornen Waschtisch, neben all den kostenfreien Kosmetika und weißen Handtüchern ab. In unklarer Erwartung entfernte sie die Bekleidung, die ihren Oberkörper bedeckte. Sie erschrak bis ins Mark, dem ein kurzer, unsanfter Stich mitten ins Herz folgte. Die Knie begannen ihr unkontrolliert zu zitterten. Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Die ursprünglich minimalen Hautveränderungen hatten an Intensität zugenommen. Diffuse Fleckenherde überzogen nun die sensible Hautpartie und sonderten eine klare Flüssigkeit an ihre Umgebung ab. Konnte sie diese Symptome noch einer psychischen Überbelastung zuordnen oder lagen sie einer Unverträglichkeit oder allergischen Reaktion zugrunde? Ein Ekzem, durch Stress verursacht? Nach Luft ringend stützte sich Madeleine auf dem Waschtisch ab. Was, um Himmels Willen, geschah hier mit ihr. Sie wollte sich einreden, dass es nichts schlimmes war. Doch ihr Bauchgefühl und ihr Unterbewusstsein sagten eindeutig etwas anderes. Beide signalisierten Gefahr! Aber wovor? Gab es möglicherweise eine Verbindung zu ihren nicht nachvollziehbaren Unterzuckerungen? Überdies gab es immer wieder kleine Momente, in denen sie sich einfach ... seltsam fühlte. Sie konnte es selbst nicht sinnvoller beschreiben. Gab es dahingehend einen logischen Zusammenhang? Madeleine war nicht fähig eine Diagnose zu stellen. Sie brauchte fachärztlichen Rat und wusste bereits an wen sie sich wenden würde, wenn sie denn erst einmal in Leipzig ankam. Nachdem der anfängliche Schock allmählich dem Verstand wich, untersuchte Dr. Kurz die großflächige Wunde nun als Wissenschaftlerin unter dem hellen, kalten Licht der Damentoilette im Spiegel nun eingehender. Sie konnte sich nicht erklären, woher die Rötungen kamen und weshalb sich diese hauptsächlich auf ihren Oberkörper begrenzten. Ihre Brüste wurden bereits in Mitleidenschaft gezogen und deren Haut spannte unnatürlich. Sie resümierte die letzten Tage, an welchen Orten und Plätzen sie war, mit welchen Gegenständen und Personen sie Kontakt hatte. Hatte sie alle Sicherheits- und Hygienemaßnahmen eingehalten? Wurde sie versehentlich über die Haut oder über die Atemwege mit nicht keimfreien Material kontaminiert? Befand sich eine toxische Substanz in ihrem Essen oder in den Getränken? Oder hatte jemand sogar ihr Insulin manipuliert? Sie kam zu keinem Resultat. Nur die grauenhaften Bilder ihres unwürdigen Arbeitsplatzes bohrten sich immer wieder hartnäckig in ihr Bewusstsein. Gab es da tatsächlich eine Verbindung? Oder spann sie sich irgendetwas zusammen? Sie seufzte schwermütig. Auf dieser englischen Damentoilette würde sie umsonst auf eine Lösung hoffen. Das beste wäre, gleich nach ihrer Ankunft in Leipzig die befreundete Ärztin anzurufen, die der Angelegenheit ein Krankheitsbild zuordnete und eine Diagnose gab. Hoffentlich! Die Ungewissheit machte sie regelrecht mürbe. Sie zog sich wieder an und drapierte ihr Dekolette mit einem bunten Tuch aus ihrer Tasche. Anschließend ermittelte sie ihren Blutzuckerwert. 12,5 mmol/l. Das hatte sie erwartet. Sie nahm ihr Spritzenschema zur Hand und injizierte sich die angegebene Menge Kurzzeitinsulin in den rechten Unterbauch und die feststehenden Einheiten Depotinsulin in den rechten Oberschenkel. Anschließend nahm sie ihr Handgepäck an sich und verließ das Damen-WC. In der Lufthansa Lounge steuerte sie auf einen der bequemen Ledersessel zu, nahm Platz und begann zu warten, während sie zwischenzeitlich ihr Frühstück einnahm, einen Espresso genoss, die Zeitschriften durchstöberte oder einfach nur zur Anzeigentafel der Flight Connections hoch starrte. Die anderen Reisenden, die sich in der Lounge aufhielten, interessierte sie weniger, im Grunde überhaupt nicht. Sie wollte und brauchte Ruhe. Gedankenverloren aß sie noch einen kleinen Reissnack und spülte die Reste in ihrem Mund mit einem Schluck Wasser hinunter, um anschließend Leib und Seele etwas Ruhe zu gönnen. Madeleine dämmerte gerade vor sich hin, als der Aufruf zu ihrem Flug klar und deutlich aus den Lautsprechern erklang. Sie war sofort hellwach und katapultierte sich regelrecht von ihrem Sitzplatz. Eilig, die lederne Aktentasche wieder fest unter den Arm geklemmt sowie den korrekten Sitz ihres seidenen Schals überprüfend, folgte sie den anderen Passagieren, deren Ziel ebenfalls Leipzig hieß. Nach der Bordkartenkontrolle floss der Schwarm der Reisenden durch ein Gateway und an Bord eines Airbus A 321-200 der deutschen Lufthansa. Der junge, charmante Flugbegleiter wies Frau Doktor Kurz beinah ehrerbietig lächelnd in die hochwertig ausgestattete Business-class. Auf Kurzflügen wurde ausnahmslos auf die erste Klasse verzichtet. In jeder Reihe befanden sich links und rechts des Ganges je zwei komfortable, sesselartige Sitze. Die Beinfreiheit zum Vordersitz war auch für sehr große Passagiere mehr als genug. Eine extra breite Armlehne sorgte für genügend Abstand zum Sitznachbarn, und den brauchte Madeleine auch. Der zuvorkommende Flugbegleiter half ihr aus dem Mantel und verstaute diesen sorgfältig in der oberen Ablage. Kurz bedankte sich. Ehe sie mit ihrer Tasche und dem wertvollen, unersetzlichen Inhalt Platz nahm, begrüßte sie ihre Sitznachbarin am Fensterplatz, die mit einem sehr abschätzenden Blick auf Madeleine und einem verkniffenen "Hello!" antwortete. Damit war alles gesagt. Die vielleicht zehn Jahre ältere Geschäftsfrau in ihrem geradezu lächerlich aussehenden, rosa karierten Hosenanzug und der überdimensionalen Kette aus ungeschliffenen blauen und grünen Edelsteinen hegte keinerlei Interesse an einer Kommunikation mit ihr. Madeleine konnte dies nur recht sein. Auch sie wollte möglichst in Ruhe gelassen werden. Sie war viel zu müde für anspruchsvolle Gespräche, bei dem sie jedes Wort auf die Waagschale legen musste. Mit der Tasche an ihrer Seite machte es sich Doktor Kurz in dem komfortablen Sessel bequem und schlief wenige Minuten später ein, noch bevor sich der Airbus auf den Weg zum Rollfeld machte. Zu ihrer Überraschung wachte sie erst wieder durch das Rütteln der Lufthansa-Maschine auf, die soeben auf dem großen, mitteldeutschen Flughafen Halle-Leipzig gelandet war. Verschlafen schaute sie auf die Uhr. Sie zeigte 0.33 Uhr MEZ an. Madeleine bemühte sich schnell wacher zu werden, um ihre Umwelt wieder bewusster und klarer wahrzunehmen. Sie bewegte die steifen Arme und Beine, um Blutfluss und Stoffwechsel wieder anzukurbeln. Trotz dem wohltuenden Gefühl, endlich in Sicherheit zu sein, wollte sie nicht nachlässig werden. Grahams Beziehungen reichten um den ganzen Globus. Sie wäre wahrlich leichtsinnig, zu denken, dass ihr Feind sie einfach so in Ruhe ließe. Nein. Nicht Graham. Aber bis er und seine Schurken herausfanden, wo sie wohnte, wäre sie längst wieder über alle Berge. Ihr ehemaliger, abgrundtief verachtenswerter Auftraggeber glaubte alles unter seiner Kontrolle zu haben, doch Doktor Madeleine Kurz war auch nicht auf den Kopf gefallen. Sie horchte in sich hinein. Ihr Körper meldete keinerlei Symptome einer Unterzuckerung. Während sie sich wieder aufrichtete und ihre leicht verschobene Bekleidung ordnete, konnte sie ein zufriedenes Lächeln nicht unterdrücken. Endlich, endlich war sie wieder zu Hause. Sie stellte sich bereits vor, wie sie daheim unter der Dusche mit warmen, prickelndem Wasser stand und ihren Körper mit einem der ausgezeichneten und verführerisch duftenden Duschpeelings von Yves Rocher verwöhnte. Sie spürte die Tasche mit dem wertvollen Inhalt sicher neben sich und ein inneres, triumphierendes Lächeln flutete berauschend ihren Körper. Jetzt ging es ihm und seiner Firma an den Kragen. Die US-amerikanischen Behörden würden ihn und seine dubiose Firma auseinander nehmen, dass kein Stein auf dem anderen blieb. Kopfkino. Sie sah ihn vor sich, wie er auf das heftigste protestierend, mit hochrotem Kopf und mit Handschellen aus dem Gerichtssaal geführt wurde. Im Hintergrund seine völlig konsternierten Anwälte. Eine äußerst befriedigende Vorstellung.

SERUM

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