Читать книгу Ewig schön - Jeff Strand - Страница 5
ОглавлениеAch, Scheiße, dachte Charlene, als sie ins Hinterzimmer kam und die Neue erblickte, die an der Wand lehnte und weinte. Musste sie das Mädel jetzt etwa fragen, was los war? Versuchen, sie zu trösten? Oder sollte sie einfach leise wieder gehen und hoffen, dass sie sie nicht bemerkt hatte?
Die Neue registrierte ihr Eindringen sofort und tupfte sich schnell die Augen trocken. »Tut mir leid. Es tut mir leid.«
Charlene war ziemlich sicher, dass das Mädchen gesagt hatte, ihr Name sei Gertie. Beim Vorstellen hatte sie gesagt: »Ja, wie Drew Barrymore in E.T.«, und wenn Drew in diesem Film jemanden namens Gertie gespielt hatte, dann musste die Neue so heißen. Charlene hatte E.T. nie gesehen und wäre nicht darauf gekommen, den Namen damit in Zusammenhang zu bringen. Stattdessen war ihr eine unglaublich unanständige Bemerkung über Aliens in den Sinn gekommen, doch erstens war Charlene auf der Arbeit und zweitens war sie Gertie gerade erst begegnet, also hatte sie sich zurückgehalten und den saukomischen, unfeinen Alien-Kommentar für sich behalten.
Darauf war sie stolz. Denn sonst sagte sie andauernd ungefiltert Dinge, die ihr gerade durch den Kopf gingen. Viele, viele Dinge.
Gertie war attraktiv, aber nicht Charlenes Typ. Sie bezweifelte, dass Gertie auch nur ein einziges Tattoo besaß. Charlene wurde lieber verführt, als selbst die Verführerin zu geben. Auch wenn es inzwischen, mit 26 Jahren, schwierig war, Momente zu erleben, in denen sie sagen konnte: »Um Himmels Willen, das habe ich ja noch nie gemacht!« Gertie machte einen unverdorbenen Eindruck. Nicht jungfräulich, aber auch niemand, der sich beim Liebesspiel würgen ließ. Durchschnittlich groß, aber extrem dünn – nicht, auf eine magersüchtige Weise, aber dennoch verdammt schlank. Wahrscheinlich kam sie frisch vom College und ihre Tränen waren der Erkenntnis geschuldet, dass ihr das vierjährige Studium einen Job als Bedienung in einem mittelmäßigen italienischen Restaurant eingebracht hatte.
»Ist alles okay?«, fragte Charlene. »Ich meine, offensichtlich nicht; war eine blöde Frage. Was ich sagen wollte ist, kann ich irgendetwas für dich tun?«
»Nein. Ich brauchte nur eine Minute für mich, und die Toilette war schon besetzt.«
»Bist du sicher?« Charlene wusste nicht, wieso sie überhaupt nachfragte, ob Gertie sicher war. Mist, sie hatte die Gelegenheit gehabt, sich höflich zurückzuziehen – wieso hatte sie diese nicht ergriffen?
Gertie nickte. »Ein Gast war gemein zu mir. Ist keine große Sache. Ich werde mich daran gewöhnen.«
»Welcher Tisch?«
»Acht.«
»Die Dame im blauen Kleid?«
»Ja, genau.«
»Die sieht aus wie eine Oberzicke. Weiß sie, dass du neu bist? Du hast doch bestimmt die ersten paar Tage unter Jasons Aufsicht bedient, oder?« Charlene hatte Dienstag und Mittwoch frei gehabt. Den gesamten Dienstag hatte sie vor dem Fernseher verbracht und Serien geschaut, und am Mittwoch ihren Eltern geholfen, deren Haus zu streichen.
»Ja. Es ging nicht mal darum, dass ich etwas durcheinandergebracht hätte. Sie ist einfach nur eine von denen, der einer abgeht, wenn sie andere runtermachen, die sich nicht wehren können. Aber ich sag ja, ist kein Ding. Ich war in letzter Zeit etwas durch den Wind und war nicht darauf eingestellt, dass es gleich so losgeht, wenn ich mit meiner Schicht anfange. Das war der allererste Tisch, den ich allein bedient habe.«
»Möchtest du, dass ich mich darum kümmere?«, fragte Charlene.
»Nein, das ist schon okay. Du hast doch deine eigenen Tische.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Was denn dann?«
»Wiedergutmachung.«
Gertie bedacht sie mit einem Blick, der sagte, du machst doch wohl Witze, aber dann schien ihr rasch aufzugehen, dass es Charlene ernst meinte.
»Oh, nein, nein, nein, das ist überhaupt nicht nötig. So schlimm war sie auch wieder nicht.«
»Sie hat dich zum Weinen gebracht.«
»Stimmt. Ja, doch, sie war echt schlimm. Sie kommt direkt aus der Hölle. Aber nein, du brauchst trotzdem nichts zu unternehmen.«
Charlene ging zu ihr hinüber. »Ich sag’s dir ganz ehrlich: Dieser Job ist Kacke und mir ist es egal, ob ich gefeuert werde. Also wird es mir ein Vergnügen sein, etwas gegen dein Problem zu unternehmen.«
»Ich will aber nicht, dass du Ärger bekommst.«
»Gerade habe ich doch gesagt, dass mir scheißegal ist, ob ich gefeuert werde. Ich werde ihr schon nicht mit der Gabel ein Auge ausstechen. Aber wenn ich etwas mache, wird es dir besser gehen, das verspreche ich.«
»Nein. Mach das nicht.«
»Tut mir leid. Der Zug ist abgefahren. Wenn du mich aufhalten willst, wirst du mich zu Boden ringen müssen.«
Charlene drehte sich um und verließ das Hinterzimmer. Sie ging zur Theke und nahm ein Tablett, das für Tisch 14 gedacht war, marschierte damit in den Gastraum. Sie steuerte auf Tisch 8 zu, wo eine Frau mittleren Alters saß, die aussah, als würde sie in ihrer Freizeit zum Spaß Delfine verprügeln. Ihr gegenüber saß ein weit älterer Mann, der aussah, als würde er ihr die Delfine besorgen, damit sie zum Spaß draufknüppeln konnte.
»Ihre Kellnerin musste wegen eines Notfalls in der Familie gehen«, informierte Charlene die beiden.
Die Frau schien verärgert über diese Aussage. Der Mann zuckte die Achseln und gab ein unverbindliches Brummen von sich.
»Wer bekommt die Lasagne?«
»Das ist nicht unsere Bestellung«, erwiderte die Frau. Sie hatte recht; es war nicht ihre Bestellung, aber die pampige Art, wie sie es sagte, machte zweifelsfrei klar, dass Gertie nicht übertrieben hatte, was ihr unangenehmes Wesen anging.
»Ist sie nicht?«, vergewisserte Charlene sich. »Sind Sie sicher?«
»Wir sind nicht senil. Wir wissen doch wohl selbst am besten, was wir bestellt haben.«
Charlene blickte sich kurz in Richtung Küche um. Gertie stand im Durchgang und beobachtete sie sehr genau. Sie wirkte nervös wegen dem, was Charlene womöglich tun würde. Es schien, als würde sie es jetzt bereuen, sie vorhin nicht doch zu Boden gerungen zu haben. Tja.
»Hm, mir wurde aufgetragen, Ihnen diesen Teller Lasagne zu bringen. Vielleicht habe ich mich auch verhört. Manchmal bin ich schrecklich zerstreut. Die sagen mir immer wieder, mir sollte man mal den Kopf zurechtrücken, doch höre ich deshalb besser hin? Nee. Mein Kopf sitzt immer noch schief. Sehen Sie?«
Sie legte den Kopf schief. Dann kippte sie den Teller mit der Lasagne und verschüttete alles über das Kleid der Frau.
»Oh nein!«, rief Charlene, während sich alle im Restaurant zu ihnen umdrehten und hinüberstarrten. »Oh je!«
»Verflucht nochmal!« Die Frau stand hastig auf. Tomatensauce, Käse und Pasta rutschten an ihrem Kleid hinab.
»Das tut mir schrecklich leid! Ich bin so ungeschickt!«
Charlene sah sich zu Gertie um. Die starrte erschrocken zurück, die Hand auf dem Mund. Charlene konnte nicht sagen, ob ihr der Aufruhr gefiel oder nicht Aber das spielte auch keine Rolle – er gefiel Charlene.
Sie stellte das Tablett ab, nahm eine Stoffserviette und tupfte damit am Kleid der Frau herum. »Zumindest waren es keine Spaghetti. Die wären viel glitschiger. Lassen Sie mich helfen.«
Die Frau schlug ihre Hand weg. »Sparen Sie sich die Mühe.«
»Ich bitte um Verzeihung. Wir werden Ihnen die Lasagne nicht berechnen.«
»Ich hatte keine gottverdammte Lasagne bestellt!«
»Es macht Gott traurig, wenn Sie solche Ausdrücke benutzen.«
Die Frau bedachte sie mit einem Blick voll ungefiltertem Hass.
Jetzt musste Charlene eine extrem wichtige Entscheidung treffen. Auf dem Tablett befand sich immer noch ein großes Glas Coke. Ginge das zu weit oder wäre es genau die richtige Menge Vergeltung? Vielleicht wusste die Frau ja zu schätzen, wenn das heiße Pasta-Gericht durch eine eiskalte Cola kompensiert würde. Vielleicht würden ihre Nippel davon hart werden. Jeder mochte doch harte Nippel.
Sie hob das Tablett hoch, hatte sich noch nicht entschieden, ob sie es tun sollte. Vielleicht blieb die Coke ja auch stehen. Vielleicht aber auch nicht. Es hing ganz davon ab, ob die Frau in den folgenden Sekunden aufhören würde, ein grimmiges Gesicht zu machen.
Die Frau hörte nicht auf, ein grimmiges Gesicht zu machen.
Charlene, die ein durchgeknallter Tollpatsch war, hielt das Tablett absichtlich schräg, sodass die Coke umkippte und die Frau vollspritzte. Weil diese inzwischen stand, traf das Getränk sie weiter unten als die Lasagne; sonst hätte die Flüssigkeit womöglich sogar geholfen, etwas von der Tomatensauce wegzuspülen. Die Frau stieß einen prächtigen Schrei aus.
»Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade getan habe. Es ist, als hätte ich meine Ausbildung komplett vergessen. Es tut mir ja so, so, so, so, so, so, so, so furchtbar leid.«
»Sie strunzdumme Idiotin!«
»Strunzdumme Idiotin? Ich verstehe, dass Sie sich aufregen, aber das ist kein Grund, redundant zu werden.«
»Ich will Ihren Vorgesetzten sprechen.«
»Der wird gleich hier sein. Ich bin sicher, er hat ihr Geschrei gehört.«
Charlene saß im Hinterzimmer. Travis, der Manager von Davey’s Italian Grill, der keine Spur italienischen Bluts in sich hatte, saß ihr mit strengem Gesicht gegenüber. Er rieb sich die Augen, fuhr sich mit der Hand durch sein grau werdendes Haar, kratzte sich am Kopf, rieb erneut seine Augen, seufzte und machte dann den Mund auf. »Du weißt, was ich jetzt sagen werde, richtig?«
»Ich bin gefeuert?«
»Natürlich bist du nicht gefeuert. Wir sind jetzt schon knapp besetzt. Ich schneide mir doch nicht ins eigene Fleisch.«
»Ich habe nie verstanden, was das heißen soll.«
Travis wirkte überrascht. »Es heißt, dass man sich selbst bestraft, wenn man jemanden feuert und sich damit nur noch mehr Arbeit aufhalst. Es tut weh, sich ins eigene Fleisch zu schneiden.«
»Warte, ich wusste doch, was das bedeuten soll. Es war das andere, wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass; das habe ich nie verstanden.«
»Wenn dir jemand den Pelz wäscht, bist du nass; anders geht es nicht. Du kannst nicht beides haben, kannst nicht gewaschen werden, ohne dabei nass zu sein.«
»Ah, verstanden«, gab Charlene zurück. »Wenn Sie nicht sagen wollten, dass ich gefeuert bin, was wollten Sie mir dann sagen?«
»Ich ziehe dir die Kosten der Reinigungsrechnung vom Gehalt ab.«
»Oh.«
»Du bist doch auch der Meinung, dass das eine faire Konsequenz darstellt?«
»Ich gebe meine Klamotten nie in die Reinigung«, sagte Charlene. »Ich weiß nicht, wie viel das kostet.«
»Ist nicht allzu teuer.«
»Okay, gut.«
»Sie sagt, du hättest es mit Absicht getan.«
»Das klingt nicht nach mir.«
»Du bist sarkastisch, doch es klingt wirklich nicht nach dir«, stellte Travis fest. »Deswegen tue ich auch so, als müsste ich dich mangels Beweisen freisprechen.«
»Das weiß ich zu schätzen.«
»Sie war schon einmal hier. Sie ist ein echter Albtraum. Aber das heißt nicht, dass du sie mit Essen bewerfen kannst. Was, wenn du sie verletzt hättest?«
»Mit Lasagne?«
»Was, wenn sie allergisch auf Tomaten wäre?«
»Ich habe ihr doch nichts über die nackte Haut geschüttet.«
»Hätte aber passieren können. Als du sie vollgekleckert hast, wusstest du nicht, wo genau die Sauce landen würde. Wenn du jemanden mit einer Tomatenallergie mit Lasagne einsaust, haben wir ernsthafte, rechtliche Probleme.«
»Darauf bin ich gar nicht gekommen.«
»Du tust so, als wäre das hier eine augenzwinkernde Unterhaltung, aber es ist mir durchaus ernst, was das Risiko angeht.«
»Normalerweise kann ich den Ton unserer Unterhaltungen nie einschätzen.«
»Gerade sind wir bei ›Wütender Chef spricht mit verantwortungsloser Angestellter‹, allerdings durchaus noch mit Wohlwollen.«
»Ist registriert. Wird nie wieder vorkommen. Ich war bloß sauer, weil sie die Neue zum Weinen gebracht hat.«
»Ich habe Gertie mit Absicht an ihren Tisch geschickt. Wenn du diese Schnepfe überlebst, kommst du mit jedem anderen Gast klar. Es war ein Test.«
»Sie hätte ihn bestanden. Sie brauchte nur eine Minute, um sich wieder zu beruhigen. Gertie war nicht damit einverstanden, ihr die Lasagne übers Kleid zu kippen. Sie hat versucht, mich davon abzuhalten, aber eben nur mit Worten, und das hat nicht funktioniert.«
»Du brauchst sie nicht zu beschützen. Sie wird auch nicht gefeuert. Aber mach sowas nochmal, ganz egal, wie lustig und befriedigend es auch sein mag, dann steht uns eine ganz andere Unterhaltung ins Haus. Verstanden?«
»Ja, Sir.«
»Dann geh zurück an die Arbeit.«
Im Restaurant herrschte jetzt der übliche Hochbetrieb fürs Abendessen, also hatten Charlene und Gertie keine Gelegenheit, sich zu unterhalten. Sie zeigte den erhobenen Daumen, um ihr zu signalisieren, dass sie nach wie vor Arbeit hatte, auch wenn Gertie das sicher bereits aus der Tatsache schließen konnte, dass Charlene mit einem voll beladenen Tablett in den Gastraum kam.
Beide mussten heute bis Ladenschluss arbeiten. Charlene hatte noch einen Tisch, dessen Gäste es nicht eilig hatten, zu gehen, aber es handelte sich um ein nettes Paar und es machte ihr deshalb nichts aus. Gegen 22:30 Uhr verließ sie den Gastraum und freute sich darauf, ihren schmerzenden Körper in einem Schaumbad einzuweichen. Gertie, deren letzter Tisch vor 20 Minuten gegangen war, wartete auf sie.
»Und, wie war dein erster Tag?«, fragte Charlene.
»Dritter Tag. Er war sehr interessant.«
»Dieser Job ist beschissen, nicht wahr?«
»Nee«, erwiderte Gertie. »Ich hab nur einmal geheult. Wenn ich eine ganze Schicht überstehe, ohne vor lauter Stress zu kotzen, dann ist es ein guter Job.«
»Was für Jobs hattest du denn vorher so?«
»Kundenbetreuung.«
»Ach so. Verstehe.«
»Jedenfalls, ich wollte dir danken für das, was du gemacht hast. Du musstest das nicht tun. Du hättest es wahrscheinlich lassen sollen. Du hättest es definitiv lassen sollen. Aber ich wollte mich trotzdem bedanken, und zwar auf die beste Weise, die ich kenne.«
»Und das wäre?«, fragte Charlene.
»Hochprozentige Milchshakes.«
»Oh, da bin ich aber sowas von dabei.«
»Drei Blocks von hier gibt es einen Laden, wenn du nicht zu müde bist.«
»Ich war zu müde, bis du was von hochprozentigen Milchshakes gesagt hast. Dann habe ich plötzlich diesen Energieschub verspürt, so als könnte ich alles schaffen, solange es nur hochprozentige Milchshakes zu trinken gibt.«
»Dann los.«
Sie saßen an der Bar, jede mit einem Vanilleshake vor sich, der mit einem Schuss Bailey’s aufgewertet worden war. Gertie hatte die erste Hälfte ihres Shakes in beeindruckender Geschwindigkeit geleert.
»Und wie lange arbeitest du schon dort?«, wollte Gertie wissen.
»Ein paar Monate.«
»Und du brauchst den Job nicht unbedingt?«
»Oh doch. Ich brauche den Job sehr wohl. Ich meine, ich brauche irgendeinen Job. Das heute war ein ›unbesonnener Moment‹, so nenne ich das. Ich würde dir ja gern erzählen, dass es der erste war, aber dann würde ich lügen wie gedruckt. Es war eher … ich weiß nicht, der unbesonnene Moment Nummer 22.118? Oder 22.119? Sowas in dem Dreh. Ich denke tendenziell nicht lange nach, bevor ich handle. Und ich habe das Gefühl, du bist das genaue Gegenteil.«
»Wieso denkst du das?«, fragte Gertie.
»Ist nur der erste Eindruck.«
»Der trügt. Ich bin sehr impulsiv.«
»Okay. Das ist gut. Nenn mir ein Beispiel.«
»Ich wüsste eins, aber dann denkst du, dass ich irre bin.«
»Ich mag Irre. Erzähl schon.«
»Erst bei der zweiten Runde Shakes«, sagte Gertie.
»Wie zum Teufel schaffst du es, so dünn zu bleiben, wenn du zwei Milchshakes auf einmal runterkippst?«
»Ich gehe viel zu Fuß.«
»Na schön. Aber ich bleibe bei einem.«
»Dann ist das ein billiges Date.«
»Finanziell gesehen vielleicht. Aber frag meine Exfreundinnen doch mal nach dem psychischen Preis, den sie gezahlt haben.«
Gertie lachte, zog dann die Brauen zusammen. »Oh, du bist … ich wusste nicht … ich habe nur einen Witz gemacht, als ich gesagt habe, es wäre ein Date … ich hatte nicht vor …«
»Du bist hetero. Schon verstanden.«
»Ich bin nicht mal ein kleines bisschen bi. Tut mir leid. Ich hatte nicht …«
»Ich habe deine Einladung nicht angenommen, damit ich dich später lecken kann.«
Gertie erwiderte nichts darauf. Hier drinnen war es nicht sehr hell, doch Charlene nahm an, dass ihre Wangen flammend rot geworden waren.
»Ich bin keine notgeile Lesbe. Ich bin durchaus in der Lage, mich mit heterosexuellen Frauen anzufreunden, und es ist voll okay für mich, dass da keine Leckereien stattfinden werden. Ich versichere dir, ich sehe dich nur als eine Freundin, sonst nichts.«
»Und was ist, wenn ich doch ein bisschen bi wäre?«
»Dann wärst du trotzdem nur eine Freundin.«
»Du hast mir ein Kompliment für meine Figur gemacht.«
»Nein, ich habe gesagt, dass du dünn bist. Und ich würde auch Ryan Reynolds ein Kompliment für seine Figur machen, wenn er neben mir säße. Der kommt meiner Muschi aber auch nicht zu nahe.«
»Warum nur eine Freundin?«
»Bist du sicher, dass das heute Abend dein erster Milchshake war?«
»Es war ein sehr starker Milchshake. Wahrscheinlich sollte ich es bei einem belassen. Wieso nur eine Freundin?«
»Wie viele Tattoos hast du? Gar keine, richtig?«
»Eins.«
»Auf deiner Titte?«
»Auf meinem Fußknöchel.«
»Ein Totenkopf?«
»Eine Seekuh.«
»Eine Seekuh mit Reißzähnen?«
»Nein.«
»Siehst du, und das ist ein Problem. Sind deine Nippel gepierct?«
»Aua. Nein.«
»Ein weiteres Problem. Woran soll ich denn dann mit meiner Zunge spielen? Außerdem stehe ich eher auf Frauen, die emotional gesehen schwarze Löcher sind. Du scheinst irgendwie sensibel zu sein. Und ich bin mir sicher, dass du im Bett egoistisch wärst. Nur nehmen würdest du, nichts geben. Vielleicht deine Finger, doch Finger habe ich selbst.«
»Ich ziehe all meine Fragen zurück«, erwiderte Gertie.
»Wenn du dich je entschließen solltest, die Seiten zu wechseln, kann ich dich gern verkuppeln, aber ich fürchte, unser Verhältnis wird für immer platonisch bleiben.«
»Tut mir leid, wenn ich dir schräg gekommen bin.«
»Gar kein Problem. Um mich herum ist immer alles schräg.«
»Wusstest du schon immer, dass du lesbisch bist?«
»Nee.«
»Wann ist es dir klar geworden?«
»Als ich gerade einen Penis im Mund hatte.«
»Verstehe.«
»Ich mochte den dazugehörigen Kerl und war mir der ästhetischen Vorzüge dieses speziellen Schwanzes sehr wohl bewusst – es war ein qualitativ hochwertiger Schwanz –, aber bei mir regte sich verdammt nochmal gar nichts. Da wurde mir klar, dass ich mich selbst belogen hatte, was meine Vorliebe für Kerle anging. Danach dauerte es nicht mehr lange, bis ich beschloss, meinen komischen, schwammigen Gefühlen zu folgen, die ich nicht wirklich verstand, und da erkannte ich dann, ja, das ist genau das, wo es hingehen muss.«
»Kam der Typ denn noch zum Schuss?«
»Ich habe es ihm mit der Hand gemacht. Bin ja kein Monster.«
»Hat deine Familie dich unterstützt und verstanden?«, wollte Gertie wissen.
»Nicht von Anfang an. Aber jetzt ist alles okay.«
»Wie lange hat das gedauert?«
»Eins solltest du über mich wissen. Ich erzähle dir ganz frei heraus, dass ich entdeckt habe, dass ich auf Frauen stehe, als ich einem Mann einen geblasen habe, aber ansonsten rede ich eher nicht so gern über mich. Also bist du jetzt dran. Gib mir ein Beispiel dafür, dass du impulsiv bist.«
Gertie schlürfte den Rest ihres Milchshakes leer. »Hast du von den verschwundenen Frauen gehört?«
»Äh, oben in Hornbeam Ridge meinst du? Drei oder vier Frauen, richtig?«
»Mindestens acht in den letzten paar Monaten, wenn man das Suchgebiet ein bisschen weiter steckt. Frauen, die allein ausgegangen sind und von denen man nie wieder etwas gehört hat. Wusstest du, dass sie allesamt lange, dunkle Haare hatten?«
»Das wusste ich nicht.« Charlenes kurzes, schwarzes Haar war so sehr Punk, wie sie es sich erlauben konnte, während sie in einem Familienrestaurant arbeitete. Travis hatte nie gemeckert wegen ihrer rosafarbenen Strähnen oder dem Undercut, und er hatte auch nichts gegen den Nasenring. Beim Vorstellungsgespräch hatte er gefragt, ob sie gewillt wäre, die Sicherheitsnadel aus der Augenbraue zu entfernen, wenn sie Gäste bediente, weil ihm bei diesem Anblick Schauer den Rücken runterliefen, und sie hatte sich darauf eingelassen. Gertie hatte kurze, blonde Haare, und das schien ihre natürliche Haarfarbe zu sein.
»Das findest du nicht unbedingt in den Zeitungsberichten, aber ich bin mir sicher, der Polizei ist es aufgefallen«, erklärte Gertie. »Wenn es ein Kerl ist, der dahintersteckt, dann hat er ganz klar einen bestimmten Frauentyp.«
Charlene hatte das Gefühl, dass dieses Gespräch sich nicht gerade in eine explosive Richtung entwickelte. »In Ordnung«, meinte sie. »Als du sagtest, du bist impulsiv, dachte ich, du meinst eher so etwas wie: Ich lasse alles stehen und liegen und gehe nach Vegas.«
»Ich habe dir noch nicht gesagt, worauf ich hinauswill.«
»Nein, hast du nicht.«
»Eine der verschwundenen Frauen ist meine Cousine Kimberley.«
»Oh Scheiße, das tut mir leid.«
»Sie verschwand vor ungefähr zwei Monaten. Kimberley liebt ihren Mann abgöttisch und hat zwei kleine Kinder. Sie würde nicht einfach so abhauen. Niemals.«
»Es ist schrecklich, was die durchmachen müssen«, sagte Charlene. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ich mit dieser Ungewissheit umgehen würde.«
»Also bin ich in letzter Zeit abends in Hornbeam Ridge unterwegs gewesen, habe eine lange, dunkelbraune Perücke getragen und versucht, den Kerl zu kriegen, der das getan hat.«
Sie bestellten noch zwei Milchshakes.
»Erklär mir mal ganz genau, was du tust«, bat Charlene. »Denn nichts für ungut, aber du hattest recht, als du meintest, dass ich dich für irre halten würde.«
»Mir ist sehr wohl bewusst, dass das alles andere als 100 Prozent geistig normal ist«, erwiderte Gertie.
»Dann erkläre es mir.«
»Ich habe einen Elektroschocker und eine richtige Waffe. Alle paar Abende bin ich nach Hornbeam Ridge rausgefahren, habe die Perücke aufgesetzt und bin einige Stunden in der Stadt herumgelaufen in der Hoffnung, dass er irgendwann hinter mir her ist. Wenn er das versucht, bekommt er eine hässliche Überraschung serviert.«
»Verstehe ich das richtig«, sagte Charlene. »Du spazierst dort im Dunkeln umher, trägst eine … du weißt schon, ich muss das nicht nochmal wiederholen, was du mir gerade erzählt hast. Du weißt, wie das klingt.«
»Ich habe einen Waffenschein.«
»Das war nicht die erste Frage, die ich mir gestellt habe.«
»Und mit dem Elektroschocker bin ich schnell. Wenn er hinter mir her wäre, könnte ich mich verteidigen, das weiß ich. Er würde in einer Pfütze seiner eigenen Pisse auf dem Boden landen, und die Cops würden ihn anschließend zwingen, sie zu den verschwundenen Frauen zu führen.«
»Was, wenn er auch eine Knarre hätte? Was würdest du machen, wenn er einfach die Waffe auf dich richten und sagen würde: Los, ab in den Kofferraum meines Wagens, Schlampe?«
»Ich habe die Nachrichten und Artikel darüber gelesen. Man kann nicht einfach so acht Leute entführen – mindestens acht –, indem man mit der Waffe auf sie zielt und Befehle gibt. Er muss sie irgendwie zu sich gelockt haben.«
»Oder er hat sie von hinten überwältigt.«
»Ich bin vorsichtig.«
»Oh, na klar, du klingst wie die fantastische Lady Vorsicht. Tagsüber bringt sie Schülerinnen bei, wie ihnen nichts passiert. Nachts dreht sie vollkommen durch.«
»Es ist kein wasserdichter Plan. Allerdings werde ich sicher nicht zu Hause hocken und darauf warten, dass die Bullen den Kerl schnappen. Nicht, wenn ich meinen Teil dazu beitragen kann.«
»Woher weißt du, dass es ein Kerl ist?«
»Weiß ich nicht. Aber wenn acht Frauen mit langen, dunklen Haaren entführt werden, nehme ich doch an, dass der Kidnapper eher ein Kerl ist.«
»Ergibt Sinn.«
»Und es ist auch egal. Ich verpasse einer Tussi ebenso einen Elektroschock, wenn nötig.«
Der Barmann stellte ihnen die Milchshakes hin.
»Ehrlich gesagt«, gab Charlene zu, »hätte ich gedacht, dass mein Kommentar übers Lecken der unangenehmste Teil unserer Unterhaltung gewesen wäre.«
»Jetzt siehst du, dass ich impulsiv sein kann.«
»Ähm, nein. Du bewaffnest dich und marschierst in einem ganz bestimmten Bereich auf und ab, hast dabei ein genaues Ziel im Auge. Das ist irgendwie ziemlich das Gegenteil von impulsiv. Es ist gefährlich, ja. Voll einen an der Waffel verrückt, auf jeden Fall. Selbstmörderisch? Nah dran. Aber es ist nicht impulsiv.«
»Es ist kein bestimmter Bereich. Ich treibe mich einfach da herum, wo die anderen Opfer zuletzt gesehen wurden.«
»Okay, es geht ja auch nicht darum, ob du impulsiv bist oder nicht«, befand Charlene. »Es geht vielmehr darum, dass du nicht nachts auf der Straße herumlaufen solltest, um die Aufmerksamkeit eines Typen auf dich zu ziehen, der womöglich ein Serienmörder ist.«
»Da bin ich anderer Meinung.«
»Mir ist klar, dass wir uns heute erst begegnet sind und dass unsere ursprüngliche Interaktion daraus bestand, dass du mich beobachtet hast, wie ich auf der Arbeit eine Dummheit gemacht habe. Ich bin keine gute Ratgeberin. Nein, ich bin sogar eine furchtbare Ratgeberin. Aber ich muss kein Genie sein, um dir zu sagen, dass du so einen Mist nicht machen sollst. Hast du sonst irgendwem davon erzählt? Deinen Eltern? Dem Ehemann deiner Cousine?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Darum.«
»Weil sie dir sagen würden, dass du so einen Scheiß nicht machen sollst.«
»Stimmt.«
»Ist ein erstklassiger Rat.«
»Das weiß ich auch«, gab Gertie zu. »Aber was soll ich denn sonst tun? Schilder aufstellen? Auf Social Media posten? Die Leute bitten, für die Frauen zu beten?«
»Ja. All das, abgesehen von der Bitte um Gebete.«
»Na ja, ich hatte auch nicht erwartet, dass du es verstehst. Ich wollte mich nur unterhalten. Du hast recht – es ist nicht impulsiv. Aber es ist ebenso wenig dumm oder selbstmörderisch. Klar ist es gefährlich, aber ich bin in der Lage, mich zu wehren, und ich werde nicht zögern, mich selbst in Gefahr zu bringen, um vielleicht jemanden zu retten, den ich liebe. Kimberley hat eine Familie. Wenn es zu spät sein sollte, sie zurückzuholen, dann kann ich zumindest versuchen, sicherzustellen, dass dasselbe niemand anderem mehr zustößt.«
Mit einem Mal fühlte sich Charlene wie ein Arschloch, weil sie sie irre genannt hatte. Nicht, dass sie plötzlich der Meinung wäre, Gertie sei nicht irre – aber sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie es gesagt hatte. Wer konnte schon sagen, was sie selbst tun würde, wenn jemand verschwände, der ihr etwas bedeutete.
»Das ergibt Sinn«, sagte sie daher. »Gehst du heute Nacht noch dahin?«
»Nicht nach zwei Alk-Shakes, nee. Ich versuche, nüchtern zu bleiben, wenn ich durch die Straßen ziehe, um einen Serien-Kidnapper zu jagen.«
»Das freut mich zu hören.«
»Aber morgen Nacht.«
Gerties Blick machte Charlene nervös, so als wolle sie sie gleich um einen Gefallen bitten.
»Ich werde nicht mit dir kommen«, verkündete sie.
»Ich habe dich auch nicht darum gebeten.«
»Ich weiß, aber ich hatte so ein Gefühl.«
Gertie schüttelte den Kopf. »Ich bitte dich wirklich nicht, mit mir zu kommen. Die Frauen waren allein, als sie verschwanden. Wenn ich mich in Begleitung herumtreibe, wird er mich nicht verfolgen. Du würdest den Plan ruinieren. Und wir müssten eine zweite Perücke kaufen. Die Dinger sind nicht billig. Wir kriegen die auch nicht über deine Igelfrisur, und braune Haare passen nicht so richtig zu deinem Teint, also könnte das die Tarnung auffliegen lassen.«
»Meine Haare wären kein Problem«, widersprach Charlene. »Mit allem anderen hast du recht.«
»Tut mir leid. Ich muss allein losziehen.«
»Ich hatte auch nicht angeboten, dich zu begleiten.«
»Es klang aber, als wolltest du mitkommen.«
»Ich habe doch ausdrücklich nein gesagt. Ich bin sogar unhöflich geworden.«
»Nun, du kannst jedenfalls nicht mitkommen.«
»Ich weiß. Soweit waren wir schon.«
Gertie starrte in ihr Glas. »Ich glaube, die haben mehr Bailey’s als sonst in meinen Shake getan.«
»Das ist gut möglich. Ich bin immer noch der Meinung, dass du den Verstand verloren hast, aber ich glaube auch, dass du ein guter Mensch bist, der sich um andere sorgt. Und dass du mutig bist.«
»Ist das eine Anmache?«
»Nee. Ich steh nicht auf schlunzige Säuferinnen.«
»Ich bin nur angeheitert, nicht besoffen. Und ich habe nichts verschüttet. Du bist hier die Schlunze, Frau Dr. Lasagne.«
»Das habe ich doch für dich getan.«
Gertie lächelte. »Mh-hm.«
»Stellst du das etwa in Frage?«
»Vielleicht ein bisschen.«
»Sie hat dich zum Weinen gebracht. Du hast im Hinterzimmer geweint, weil ein Gast dich beschissen behandelt hat. Echte Tränen.«
»Hast du denn gesehen, dass sie mich schlecht behandelt hat?«
»Nein. Ach du Scheiße, hast du mir nur was vorgespielt?«
»Oh, nein, nein, nein. Sie war echt mies zu mir. Ich meine ja nur, dass du es nicht beobachtet hast und dass du mich nicht kanntest. Vielleicht war sie nur etwas schnippisch. Vielleicht habe ich mich angestellt und war eine Heulsuse. Vielleicht hatte ich schon zum dritten Mal vergessen, ihr die Butter zu bringen, nach der sie gefragt hatte, und sie hatte einfach die Schnauze voll. Vielleicht habe ich auch geheult, weil ich mit meinem Freund Schluss gemacht hatte, und dich dann belogen, weil ich eine pathologische Lügnerin bin. Ich sage ja nur, dass du auf einer Ebene einfach nur froh warst, eine Ausrede zu haben, einem Gast eine Ladung Pasta übers Kleid zu kippen.«
»Weißt du was, ich stimme deiner Psychoanalyse in allen Teilen zu«, sagte Charlene.
»Wirklich? Denn als ich das gerade gesagt habe, dachte ich, dass ich ganz schön undankbar klinge.«
»Oh, du hast auch ganz schön undankbar geklungen, doch mit deiner Einschätzung hast du schon recht. Ich bin eine durchgeknallte Schlampe, die einem Gast Pasta übers Kleid kippt, auch wenn die Frau vielleicht zu Unrecht beschuldigt wurde, und du bist eine durchgeknallte Schlampe, die sich da draußen herumtreibt und nach einem gefährlichen Psychopathen sucht.«
Gertie hob ihr Milchshake-Glas. »Auf zwei durchgeknallte Schlampen.«
Sie stießen mit den Gläsern an.
»Kannst du dir den Sex vorstellen, den wir haben würden?«, fragte Charlene.
Gertie lachte. »Durchgeknallter Schlampen-Sex? Ob das sicher ist? Sollte nicht wenigstens eine der beiden bei Verstand sein? Ich habe das Gefühl, dass man eine Stimme der Vernunft braucht, weil man sonst irgendwann, ich weiß auch nicht, Habanero-Chillies als Sexspielzeug verwendet oder sowas.«
»Meine Grenze liegt bei Kerzenwachs.«
»Meine Grenze liegt bei ›aua‹.«
»Tja, wir wären auf keinen Fall kompatibel.«
»Aber wir können wenigstens Freundinnen sein.«
»Freundinnen können wir definitiv sein«, stimmte Charlene zu.
»Ich glaube nicht, dass ich jetzt hinters Steuer sollte. Also dachte ich, ich werde noch eine Weile hier auf dem Barhocker sitzen und mich mit meiner Sitznachbarin unterhalten, wer auch immer das ist. Möchtest du meine Sitznachbarin sein?«
»Klar, warum nicht?«