Читать книгу SOKO Mord-Netz - Jennifer Wegner - Страница 2

SOKO Hamburg

Оглавление

1

„Zentrale für Peter 21-2!“

„Peter 21-2 hört!“

„Zwischenfall mit Personenschaden an der Linie U4, Haltestelle HafenCity Universität“, meldete die Stimme des diensthabenden Beamten der Einsatzzentrale.

„Rot-Kreuz ist unterwegs. Ich schick euch die SpuSi und weitere Teams, um die Aussagen vor Ort aufzunehmen!“ Polizeimeister Tom Petrowski und Polizeihauptmeisterin Clara Schütt, die in rund 40 Minuten Feierabend gehabt hätten, wussten, dass das einige Überstunden für sie bedeutete. Tom brach ihre Patrouillenfahrt ab und war in knapp drei Minuten am U-Bahn-Zugang HafenCity, der erst vor knapp zwei Wochen für den täglichen Betrieb seine Tore geöffnet hatte. Der Beamte ließ das Polizeiauto mit laufendem Blaulicht auf dem breiten Bürgersteig zwischen Fahrbahn und U-Bahn-Rolltreppen stehen und spurtete in die Unterwelt der Hamburger Hochbahn.

Eine Gruppe früher U-Bahn-Benutzer stand fast am Ende von Bahnsteig 2 zusammen. Tom sah sich kurz nach seiner Kollegin oder Sanitätern um, aber offensichtlich war er der erste der alarmierten Einsatzkräfte am Unglücksort. Er trat an die Spitze der Zugmaschine, die ganz am Anfang des Bahnsteigs zum Stehen gekommen war, und warf einen Blick auf die Schienen. Im Dunkeln unter der Lok konnte er nichts liegen sehen. Details waren bei dem Licht nicht zu erkennen, worüber Tom auch nicht traurig war.

Hinter sich hörte er Clara, die die Wartenden anwies: „Bitte, bleiben Sie hier! Wir brauchen gleich noch Ihre Aussagen. Haben Sie einen Moment Geduld!“ Seine Kollegin trat zu ihm. „Wie sieht’s aus?“

„Ich glaube, da ist nichts mehr zu machen, aber ich sehe auch nichts Genaues!“

Clara, mit ihren 47 Jahren eine erfahrene Beamtin, hatte aus dem Kofferraum des Dienstwagens eine starke Taschenlampe, Leitkegel und rot-weißes Absperrband mitgebracht. Mit der Lampe leuchtete sie zwischen Bahnsteig und Lok, schwenkte den Strahl aber rasch wieder weg, als im beschienenen Bereich zerrissene Kleidung auftauchte, ein Körper war nicht zu erkennen. „Mach du rasch ein paar Aufnahmen von der Stellung der Bahn zum Bahnsteigende!“

Clara stellte eines der orange-weißen Hütchen genau neben der Zugspitze auf den Bahnsteig, legte den Anfang des Absperrbandes darunter und rollte es dann bis zum Sperrgitter am Bahnsteigbeginn rund 1,40 Meter ab. Aus einem kleinen Lederetui am Gürtel zog sie ein Taschenmesser, das sie neben zig anderen wichtigen kleinen Dingen wie Dietrich, Polizeisiegeln und Gummihandschuhen darin immer mit sich führte. Sie spannte vorsichtig das Absperrband, ohne es unter dem Markierungskegel hervorzuziehen, hielt ihr Ende des Bands an die Mauerkante des Bahnsteigendes und schnitt das Band durch.

„Clara, was treibst du da eigentlich?“, wollte Tom neugierig wissen.

„Ich messe sicherheitshalber, wo die Lok genau stand, als wir eintrafen – falls sie vor Eintreffen der Spurensicherung weggefahren werden muss.“ Sie rollte den abgetrennten Bandabschnitt um ihre Hand gewickelt auf und steckte das abgetrennte Stück gegebenenfalls als Distanznachweis in ihre Hosentasche.

„Coole Idee!“

„Danke! „Vergiss nicht, ein paar Bilder seitlich und von vorne zu machen!“

Clara drückte auf den Knopf der Tür des ersten Wagens, aber nichts geschah.

„Warum ist hier keiner von der U-Bahn?“, wandte sich Clara an ihren 26-jährigen Kollegen.

Tom zuckte mit den Schultern und machte mit seinem Handy ein paar Aufnahmen.

„Tom, sperr bitte hier ab! Vielleicht findet die Spurensicherung doch noch einen Anhalt dafür, ob es ein Unfall oder ein Tötungsdelikt war!“ Die Polizistin hielt ihm das lange restliche Absperrband hin.

Der Bahnsteig hatte sich in den wenigen Minuten erheblich mit Menschen gefüllt, die schon vor halb 6 auf dem Weg zur Arbeit waren. Clara registrierte erst jetzt, dass auch auf dem Nachbargleis keine U-Bahn verkehrte. Der Angestellte, der irgendwo in einem Raum saß und U-Bahnen und Bahnsteige überwachte, hatte wohl die Bahnen in beiden Richtungen aufgehalten. „Peter 21-2 für Zentrale! Wanki, wo bleiben die Kollegen und jemand von der Hochbahn?“, fragte sie über Funkgerät nach. Ein Wunder, dass es hier unten im Schacht funktionierte.

„Sind unterwegs, Peter 21-2, müssten jeden Augenblick bei euch sein!“, antwortete Herbert Wankmüller, der 63-jährige Beamte in der Notrufzentrale. Als Clara sich umdrehte, kamen in ihrer roten Schutzkleidung drei Männer mit Alukoffern und Rucksäcken den Bahnsteig entlanggelaufen. Die Rumstehenden machten ihnen Platz.

Clara sah nach oben und suchte nach den Überwachungskameras. Sie gestikulierte zu einer hinauf, dass jemand runterkommen solle. Sie war nicht sicher, ob es auch Mikrofone gab, aber sie verlangte: „Wir brauchen jemanden, der den Zug bedienen kann!“

Die Rettungssanitäter und ein junger Notarzt waren bei der Polizeibeamtin angekommen. „Wissen Sie schon Genaueres?“, erkundigte sich der Arzt.

„Nein! Unter der Lok liegt jemand oder etwas! Von uns war noch keiner unten!“

„Wissen Sie, ob der Strom abgeschaltet ist, sonst ist das Ganze für uns unter Umständen ein Himmelfahrtskommando?!“

„Ich habe keine Ahnung! Eigentlich sollte das zum Notfallplan der Bahn gehören!“ Der ältere der Sanitäter hatte in der Zwischenzeit versucht, etwas im Dunkeln zu erkennen, vergeblich. Als er eine kleine Stablampe seitlich aus dem Rucksack zog, begann der jüngere die vier Stufen in der Bahnsteigwand hinunter zu steigen.

„Bist du verrückt!“, schrie ihn der Kollege an. Jede Warnung vor der hohen Spannung wäre für den jungen Mann vom Bundesfreiwilligendienst zu spät gekommen, wenn der Strom in den Schienen geführt worden wäre, aber auch hier befand sich die Zuleitung des Gleichstroms mit 1200 Volt an der gegenüberliegenden Wand und wurde mit den Schleifschuhen dem Zug zur Verfügung gestellt, wodurch die Gefahr von Stromunfällen stark gemindert wurde.

„Da kann doch heutzutage nichts mehr passieren!“, behauptete der Bufdi zuversichtlich.

„Nichts da, komm hoch! Die Eigensicherung geht vor – vor allem in so einem Fall, wo wir wahrscheinlich da unten eh niemanden mehr retten können.“

Der Sani zog den schweren Rucksack ab, legte ihn auf den Bahnsteig, damit er sich danach selbst aus dem Gleisbett hochstemmen konnte. Da dieser Abschnitt erst vor kurzem eröffnet wurde, könnte es ja eventuell doch noch technische Probleme geben. Er fragte sich, wie bei den wenigen Fahrgästen zu so früher Stunde jemand vom Bahnsteig gefallen sein sollte.

„Wo ist denn der Lokführer?“, erkundigte sich der Notarzt, der sich als erster um jenen Sorgen machte.

„Vielleicht bei den anderen Leuten?“, schlug Clara vor. „Tom, du und die Kollegen, die noch kommen, ihr sucht bitte nach dem Lokführer und nehmt zügig die Personalien und Aussagen der Passagiere auf, bevor welche verschwinden, um vielleicht doch noch pünktlich zur Arbeit zu kommen. Wer zum Unfallzeitpunkt nicht hier war, soll den Bahnsteig sofort verlassen. Oben wird der Zugang gesperrt!“

Der Notarzt wies den jungen Zivi an: „Andi, bis wir sicher sind, dass der Strom abgeschaltet ist, geht keiner da runter! - Und? Hast du was gesehen?“

Clara verstand die Antwort nicht, weil sie hinter sich eine tiefe Stimme hörte: „Lassen Sie mich durch!“

Sie drehte sich um, um zu schauen, wer die Absperrung passieren wollte. Neugierig näherte sich die Polizeibeamtin einem hoch gewachsenen Mann in den Vierzigern.

„Ich bin der zuständige Fahrdienstleiter. Der Nachtdienst hat mich aus dem Bett geklingelt. Schon der dritte Suizid dieses Jahr! Wenn man sich schon umbringt, muss man dann das Leben von anderen zerstören! Was meinen Sie, wie viele Lokführer danach nie wieder fahren können!“, echauffierte sich der Bahn-Mitarbeiter.

„Guten Morgen, Polizeihauptmeisterin Clara Schütt. Und Sie sind?“

„Entschuldigung! Harald Stieg. Wissen Sie schon, wer es ist?“

„Nein, dazu müssten wir erst einmal an das Unfallopfer. Ist der Strom abgeschaltet, damit der Arzt feststellen kann, ob noch was zu machen ist?“

„Der Strom an beiden Gleisen in diesem Abschnitt wird in so einem Fall sofort abgeschaltet. Die Lampen, Rolltreppen etc. hängen natürlich nicht an dem Stromnetz für die Züge. Kann ich den Zugführer sprechen oder ist er schon in der Klinik?“

Clara schüttelte den Kopf. „Wir wissen nicht, wo der Fahrer ist. Kennen Sie ihn?“

„Ja, laut Dienstplan ist Jens Matthies auf dem Zug.“

„Wo könnte er sein? Ich wollte im Führerstand nachsehen, aber die Türen lassen sich nicht öffnen.“ Wortlos schritt Stieg zur Zugmaschine, griff irgendwo hin und öffnete dann die Tür von Hand. Als er eintreten wollte, hielt die Polizistin ihn zurück. „Lassen Sie mich zuerst rein!“ Clara verschwand in der Fahrerkabine. Auf dem Boden lag ein Mann. „Notarzt hierher!“ Clara griff ihr Handy, machte zwei Aufnahmen und trat zurück, um den jungen Mediziner vorbei zu lassen.

Er tastete den Carotispuls, nickte zufrieden. „Er ist bewusstlos, der Schock!“ Der ältere Rettungsassistent war mit Koffer und Rucksack auch in den Wagen gestiegen. Zusammen zogen die beiden Männer den Ohnmächtigen aus der engen Kabine durch die Tür heraus. Das Licht der Bahnsteigbeleuchtung war zu fahl für die Ersthelfer, so trugen sie den Lokführer zu dritt auf dem Bahnsteig ein Stück entfernt zu einer Neonlampe bei den Wartebänken. Vorsichtig legten sie den Lokführer auf eine ausgebreitete Bergungsdecke am Boden.

„Hallo! Können Sie mich hören?“ Wie im Fernsehen tätschelte der Arzt dabei die Wangen, während sein Helfer den rechten Ärmel des Patientenhemdes hoch rollte und die Blutdruckmanschette anlegte, die sich dann automatisch aufpumpte.

„100 zu 70, Puls 56!“, meldete der Sanitäter.

„Okay, wir legen einen Zugang. 500 Milliliter Ringer, eine Ampulle Supra.“ Der Arzt steckte den Oxymeter an den Zeigefinger der linken Hand. „Sauerstoffsättigung 98%.“ Der Bewusstlose hatte eine ausreichende Atmung, benötigte keinen Tubus oder Nasensonde.

Die weitere Versorgung des Schockpatienten verpasste Clara, weil sich das Ende des Bahnsteigs mit den Teammitgliedern der Spurensicherung füllte.

„Können wir anfangen?“, erkundigte sich der Leiter des fünfköpfigen Teams.

„Nein, der Arzt muss noch den Tod feststellen oder habt ihr schon einen Gerichtsmediziner dabei?“

„Ja, Frau Doktor Jansen, dort drüben.“ Er wies auf eine schlanke Frau mit kurzen schwarzen Haaren, die sich wie die drei anderen gerade in einen weißen Schutzanzug zwängte.

Der Fahrdienstleiter begrüßte den Teamleiter. „Stieg, ich bin hier der zuständige Schichtleiter. Schienen und Zug sind vom Strom genommen. Wenn Sie was brauchen, wenden Sie sich an mich!“

Clara warf einen Blick auf die Kolleginnen und Kollegen, die mit Notizbüchern oder elektronischen Geräten - je nach Gusto - die Aussagen der verbliebenen U-Bahn-Passagiere aufnahmen. Die Kriminaltechniker nahmen die Arbeit auf. Ein Techniker stellte starke Strahler auf, andere machten Video- und Kameraaufnahmen, zwei maßen Distanzen. Die Rechtsmedizinerin stieg auf das Gleis vor der U-Bahn, gefolgt von zwei Assistenten, die mit hellen Taschenlampen auf den Schotter, dann gebückt unter die Bahn leuchteten.

Carla zückte ihr Funkgerät: „Peter 21-2 für Zentrale!“

„Peter 21 hört!“

„Hallo Piet, ist Wanki schon weg? Die SpuSi fängt gerade an. Die Sanis kümmern sich um den Lokführer, lag bewusstlos in der Führerkabine. Die Kollegen notieren Aussagen. Ich meld mich, wenn ich mehr weiß!“

„Gibt es schon Hinweise auf die Identität?“

„Negativ, aber ich frag mal bei den Kollegen nach, ob jemand was beobachtet hat. Peter 21-2 Ende!“ Carla überlegte, an wen sie sich zuerst wenden sollte: Sanitäter mit dem Lokführer, Spurensicherungsteam mit dem unbekannten Opfer oder Polizisten mit den nur noch wenigen Zeugen? Entschlossen schritt sie zur Absperrung und wandte sich zuerst an Tom: „Habt ihr was Brauchbares?“

„Bei mir nicht. Die meisten waren mit Handy oder Lesen von Zeitung oder Buch beschäftigt und wurden durch die Vollbremsung der Bahn überrascht, wussten keinen Grund. Zwei Zeugen meinen, die Person müsse schon vorher auf den Schienen gelegen haben, weil niemand nahe am Anfang des Bahnsteigs wartete. Es war ja noch nicht viel los und alle warteten in der Nähe der Rolltreppe am Bahnsteig, keiner stand weiter rechts. Nichts Auffälliges! Auch nicht nach dem abrupten Halt. Niemand hat jemanden weglaufen sehen. Drei Passagiere gaben an, die 110 gewählt zu haben. Bis wir nach circa fünf Minuten eintrafen, standen wohl alle nur rum. Wisst ihr inzwischen, wer da liegt?“

„Nein! Wenn du fertig bist, kannst du bitte die Zeugenaussagen von den Kollegen sammeln? Und die Bilder der Überwachungskameras sicherstellen? Die anderen Kollegen außer oben an der Absperrung brauchen wir hier nicht mehr, die können Feierabend machen.“

Clara sah Stieg in der Nähe des Rettungsteams stehen und steuerte ihn an. „Ist das Herr Matthies?“

„Ja!“

„Hat er Familie? Haben Sie Adresse und Telefonnummer?“

„Eine Frau und drei kleine Kinder. Wegen der Daten muss ich nachfragen. Geben Sie der Ehefrau Bescheid oder sollen wir das machen?“

„Kennen Sie Frau Matthies persönlich?“

„Nein!“

„Dann übernehmen wir das, aber nicht telefo…!“

Clara wurde unterbrochen durch die Stimme des Leiters der Spurensicherung: „Wir kommen nicht an das Opfer ran. Auch wenn uns das den Einsatzort verändert, muss der Zug circa eine Wagenlänge zurücksetzen!“

Der Fahrdienstleiter zog ein kleines Funkgerät: „Siggi, schick uns einen Lokführer runter! Sobald ich das OK gebe, schaltest du den Strom für die Unfallbahn ein, aber erst müssen alle vom Gleis! Verstanden?“

„Lokführer schicken, Warten auf Signal, dass Strom ankann. Roger!“

Stieg näherte sich der Spitze des Zuges. „Ist es sicher, dass es eine Person ist? Wir hatten es mehrmals, dass aus Versehen oder durch irgendwelche makabren Witzbolde Kleiderbündel im Gleisbett lagen und zu Fehlalarmen führten.“

Die Pathologin erklomm den Bahnsteig und griff nach ihrem Koffer, den einer der weiß gekleideten Spurensicherer ihr von unten anreichte. „Das Luminol weist eindeutig an verschiedensten Stellen vorne unter der Lok zahlreiche Blutspritzer auf. Mittig unter ihr scheint ein Teil des Torsos zu liegen. Wenn es gefaked ist, dann mit viel Aufwand wie einem in Lumpen gewickelten Stück frischen Fleisches oder eines Beutels mit Blut!“ Clara fand den Spruch nicht sehr feinfühlig, aber Rechtsmediziner waren ja berüchtigt für ihren bizarren Humor.

Das Rot-Kreuz-Team hatte den Zugführer auf eine Trage gelegt. Der Bufdi packte ihre Sachen ein. Clara eilte zum Notarzt. „Kann ich mit ihm sprechen?“

„Nein! Als er zu sich kam, wurde er so unruhig, dass wir ihn für den Transport sedieren mussten. Er muss in der Klinik durchgecheckt werden. Er kann sich bei dem Nothalt verletzt oder den Kopf beim Sturz angeschlagen haben.“

„Hat er was gesagt?“, drängte Clara.

„Nein, nichts. Er fing nur an, die Infusionsnadel und die EKG-Kabel zu ziehen, reagierte gar nicht auf unsere Erklärungen, da habe ich ihn ruhiggestellt. In einer halben Stunde müsste er wieder wach sein!“ Damit entfernte sich der Notarzt Richtung Aufzug, während die beiden Rettungssanitäter die Trage anhoben.

„Wohin bringt ihr ihn? Unikliniken Eppendorf, Bundeswehrkrankenhaus, Asklepios …?“ „Asklepios Altona reicht wohl völlig aus! Wir sind dann mal weg! Sagt ihr der Frau Bescheid?“

„Ich fahre mit Tom gleich bei ihr vorbei! Tschau!“

Während das Rettungsteam im Lift verschwand, kam Tom mit einem Paar die Rolltreppe runter. „Die Kollegen von der Kripo!“ Tom grinste seine Kollegin Schulter zuckend an. „Dann können wir ja Feierabend machen.“

Clara schüttelte den Kopf: „Wir fahren jetzt zu Frau Matthies.“

Tom schlurfte hinter ihr her zum Aufgang. „Das können doch auch die Kollegen vom Tagdienst übernehmen“, maulte er lustlos. Clara hatte dem Fahrdienstleiter und dem Notarzt versprochen, die Frau des Zugführers zu informieren, darum wollte sie das auch selbst erledigen. Tom gab die Adresse von einem Zettel, den Stieg Clara überreicht hatte, in das Navi im Dienstwagen ein. „32 Minuten Fahrtzeit. Muss das sein?“, fragte er erneut nach. Clara nickte energisch und beendete ihren kurzen Bericht an die Zentrale.

2

Inzwischen hatten alle Ermittler das Gleis verlassen und formatierten sich entlang der Bahnsteigkante. Einige sahen dem Mann entgegen, der sich ihnen flotten Schrittes näherte. Stieg kommentierte: „Zugführer Janosch Strojny!“

„Moin, moin! Wie weit soll ich den Zug zurücksetzen?“

Stieg sah den Leiter der Kriminaltechnik fragend an, der erläuterte: „Bitte, setzen Sie den Zug um zwei Waggonlängen zurück, aber langsam, um möglichst wenig zu verfälschen!“

Stieg nahm sein Funkgerät hoch: „Siggi?“

„Ich höre.“

„Keine Personen mehr auf dem Gleis. Strom Marsch! Janosch fährt rund 50 Meter rückwärts, danach Strom wieder aus. Gib mir dann Bescheid!“ Als die Maschinen ansprangen, traten die Beamten etwas von der Kante zurück. Im Schritttempo glitt der Zug von seinem Platz. Drei Techniker richteten die Strahler neu auf das freiwerdende Gleisbett aus.

Kriminaloberkommissarin Petra Kühn und Kriminalhauptkommissar Jürgen Schult traten jetzt auch an Bahnsteig 2 und begrüßten die Gerichtsmedizinerin. „Hallo Helga! Was haben wir?“

„Hallo ihr beiden! Ich weiß noch nichts, könnte alles sein!“

Die Spitze der U-Bahn stand nun circa zehn Meter vor dem Beginn des Bahnsteigs entfernt. Das Dröhnen der Kompressoren erlosch. Der Führer kam kurz darauf aus der Tür des Waggons, drückte sich zwischen Bahn und Wand vorbei und erklomm den Bahnsteig. Sofort kam die Meldung, dass der Strom wieder abgeschaltet sei über die Lautsprecher über dem Bahnsteig. Die herumstehenden Mitglieder des Tatort-Teams verfielen in geschäftiges Treiben, sicherten die Eindrücke mit Video- und Digitalkameras. Einige kletterten hinab zu den Schienen. Schon wurden die berühmten Nummern für die Beweisdokumentation an verschiedensten Punkten des Unfallorts aufgestellt. Vom Bahnsteig aus bot sich ein erschreckendes Bild von über circa 30 Meter verteilten zerstückelten Körperteilen und Kleidungsstücken. Bei genauerem Hinsehen konnte man auch Blutspuren und kleine Flecken von geronnenen Blutlachen entdecken. Auf den ersten Blick konnte man nicht sagen, ob es sich um einen toten Mann oder eine Frau handelte. Es vergingen einige Minuten, bis die erste Spurenfeststellung abgeschlossen war und eine weiße Gestalt der Medizinerin zuwinkte. Frau Doktor Jansen griff ihren Alukoffer und suchte die nächstgelegene Steintreppe, die sie hinunterstieg. Wie alle bemühte sie sich, zwischen den Blut- und Gewebeteilen mit ihren Füßen Halt auf dem Schotter zu finden. Von hier unten war der Schaden, den die schwere Bahn an einem Menschen angerichtet hatte, noch viel grausiger anzusehen. Nichts für zarte Gemüter! Nach wenigen Metern stieß die Rechtsmedizinerin auf einen Klumpen aus Textil und Gewebe, aber sie suchte erst mal weiter, entdeckte einen im unteren Drittel abgerissenen Unterarm, bei dem sie niederkniete. Die Hand, es war die linke, war komplett intakt, aber blutverschmiert. Vom Aspekt handelte es sich um die Haut eines älteren Menschen. Selbst eine erfahrene Gerichtsmedizinerin wie Doktor Jansen war erleichtert, dass es kein jugendlicher Selbstmörder, zum Beispiel wegen des ersten großen Liebeskummers, war.

„Habt ihr den Kopf?“, fragte sie.

Verneinende Kopfbewegungen rund herum. Vorsichtig bewegten sich alle mit ihren jeweiligen Aufgaben beschäftigt im Bereich des langgestreckten Unfallortes. Helga Jansen strich etwas verkrustetes Blut in ein Röhrchen mit Flüssigkeit. „Das sagt uns schneller, ob es sich hier um einen Mann oder eine Frau handelt, als die wahrscheinlich vergebliche Suche nach eindeutigen Körpermerkmalen!“ Sie schloss ihr Köfferchen wieder, reichte es der Kriminalbeamtin auf dem Bahnsteig und erklomm die Plattform. „Ich fahre ins Institut. Sobald ich mehr weiß, ruf ich euch an!“ Jansen drehte sich um zum Team der Spurensicherung: „Ihr sammelt alles ein und bringt es dann vorbei, aber bitte auch mit Bildern von der jeweiligen Lage!“ Sie verschwand in Richtung Lift.

Wenig später beschlossen auch die beiden Kriminalbeamten, dass sie hier nichts Sinnvolles tun konnten und machten sich auf den Weg zum Krankenhaus, um die Aussage des Unglücksfahrers aufzunehmen, während die anderen noch stundenlang mit der Sicherung der vielen Spuren und der Bergung der Leichenteile beschäftigt waren.

3

PHM Clara Schütt und PM Tom Petrowski klingelten um 20 nach 7 in Bahrenfeld am Wohnblock, in dem Familie Matthies wohnte.

„Ja?“, erklang eine weibliche Stimme über die Gegensprechanlage.

„Polizei, können wir Sie bitte sprechen!“ Statt einer Antwort ertönte der Summer. Tom drückte die Tür auf und stieg drei Etagen die Stufen der Treppen vor seiner Kollegin zügig hinauf. Er wollte nur möglichst schnell hier fertig sein und in sein Bett.

Frau Matthies, ein Baby im Arm, erwartete sie noch im Morgenmantel an der Wohnungstür. „Hatte mein Mann einen Unfall?“, fragte sie ängstlich.

„Lassen Sie uns reingehen!“, übernahm Clara die Gesprächsleitung. Im Flur trafen sie noch im Pyjama zwei Kinder von ungefähr drei und fünf Jahren.

„Geht in euer Zimmer und zieht euch an!“, scheuchte die Mutter die beiden ins Kinderzimmer und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Clara setzte sich zu der Frau auf das Sofa, Tom schloss die Wohnzimmertür und blieb dort stehen.

„Ist er tot?“, kam leise die bange Frage von Frau Matthies.

Clara schüttelte beruhigend den Kopf. „Nein! Er ist zwar im Krankenhaus, aber nur zur Untersuchung. Es gab einen Zwischenfall mit Personenschaden. Ihr Mann steht wohl unter Schock, aber der Notarzt vor Ort konnte keine Verletzung feststellen, trotzdem wird das weiter abgeklärt. Sollen wir Sie hinbringen?“

„Was mach ich mit den Kindern?“

„Kann eine Nachbarin sich um die drei kümmern?“ Clara sah, dass Frau Matthies mit ihren Gedanken ganz woanders war, also hakte sie nach: „Welche Nachbarin würde Ihre Kinder denn für zwei, drei Stunden nehmen?“

Bevor sie eine Antwort erhielt, stürmte der größere der beiden Jungen ins Wohnzimmer. „Mama, warum ist die Polizei da?“

Clara zog den Jungen zu sich. „Hör mal, dein Papa ist im Zug ohnmächtig geworden, deswegen wird er in der Klinik untersucht. Wir bringen deine Mama zu ihm. Könnt ihr zu einer Nachbarin oder der Oma?“

Der jüngere Sohn war dazu gestoßen und hatte nur den letzten Satz gehört. „Au ja!“

Clara sah die Mutter fragend an, doch jene war so geistesabwesend, dass die Polizistin fragte:

„Wo seid ihr denn sonst, wenn eure Mutter euch nicht mitnehmen kann?“

Der Ältere antwortete jetzt: „Bei Sabine.“

„Und wo wohnt Sabine?“

„Drüb’n.“

Die Polizistin wandte sich Frau Matthies zu: „Ist es in Ordnung, wenn diese Sabine die Kinder nimmt?“

Die Jungen liefen zur Couch und schmiegten sich jeder von einer Seite an die Mutter. „Wie heißt Sabine denn mit Nachnamen? Während Sie sich umziehen, kann ich zu ihr gehen und fragen, ob sie herkommen kann.“

Clara wartete kurz, aber es kam keine Reaktion. „Tom, lass dir von dem jungen Mann mal zeigen, wo die Sabine wohnt und bring sie, wenn möglich, her!“ Clara nahm der Frau des Zugführers vorsichtig das schlafende Baby aus den Armen und bewegte sich auf die Wohnzimmertür zu.

Frau Matthies erwachte aus ihrer Schockstarre und erhob sich. „Was braucht Jens denn?“

„Vielleicht behalten sie ihn 1-2 Nächte zur Überwachung in der Klinik, also Pyjama, bequeme Kleidung und Kulturbeutel“, schlug Clara vor und reichte den Säugling der Mutter zurück, die ihn sanft ins Bettchen im Elternschlafzimmer legte. Clara sah sich während der Wartezeit um. Ein Mischmasch aus Möbelstilen, wahrscheinlich von verschiedenen Verwandten oder Freunden geerbt oder Second-Hand gekauft, aber praktisch eingerichtet und trotz dreier kleiner Kinder sehr ordentlich. Sie nutzte die Ruhe, um der Zentrale zu melden, dass sie Frau Matthies ins Krankenhaus fahren würden.

„Verstanden, aber dann macht Schluss. Johann und Michaela übernehmen den Lokführer!“

„Ja, ist ja gut! Peter 21-2, Ende!“ Clara ärgerte sich. Mal etwas Ungewöhnliches statt der üblichen Alltagseinsätze und dann sollte sie heimgehen!

Die Jungen kamen in die Wohnung gelaufen. „Sabine kommt gleich!“, berichtete der Größere. „Können wir Papa auch besuchen?“

„Natürlich, aber erst später. Er muss jetzt schlafen, damit er schnell wieder gesund wird“, behauptete die Polizeibeamtin.

„Habt ihr denn schon was gefrühstückt?“, fragte eine fröhliche Stimme, die zu einer molligen Blondine in den Zwanzigern gehörte, die vom Flur ins Zimmer trat. „Tschuldigung. Sabine Bosch, ich wohne im Nachbarblock.“

„Guten Morgen, Frau Bosch! Nett, dass Sie bei den Kindern bleiben. Müssen Sie nachher zur Arbeit oder haben Sie irgendwelche Termine?“

„Nö, kein Problem! Ich warte einfach hier oder hinten auf dem Spielplatz, bis Kirsten zurück ist. Was ist denn passiert?“

„Wir haben Herrn Matthies ohnmächtig aus dem Zug geholt. Er wird noch untersucht.“ Clara warf ihrem jungen Kollegen einen lobenden Blick zu, dass er ausnahmsweise nicht so offenherzig über die Umstände gequatscht hatte. Vielleicht trugen ihre Vorwürfe ja doch Früchte!

Als Kirsten Matthies mit einer kleinen Reisetasche erschien, begann der Dreijährige unvermittelt zu weinen, aber er ließ sich widerstandslos von Sabine Bosch hochnehmen und in die Küche tragen. Rasch verließen die drei anderen Erwachsenen die Wohnung und stiegen die Treppen runter. Das Polizeiauto vor dem Mietblock hatte Neugierige an die Fenster und vor das Haus gelockt. Carla wollte üblen Gerüchten vorbeugen und bot Frau Matthies den Platz vorne an, setzte sich selbst hinter Tom auf die Rückbank. Tom, der sonst immer sehr gesprächig war und Carla oft sogar nervte mit seinen ständigen flotten Sprüchen, war heute Morgen fast stumm. Fast 50 Minuten hatten sie hier verbracht, jetzt noch ins Krankenhaus – Tom wollte endlich nach Hause und warf Carla einen vorwurfsvollen Blick im Rückspiegel zu, bevor er den Wagen startete.

4

An der Asklepios Klinik Altona angelangt, geleiteten sie Frau Matthies zur Notaufnahme, wo Tom die Ehefrau des Lokführers der Oberschwester Thea vorstellte.

Die Polizistin klopfte inzwischen am Arztzimmer. „Hey, Susanne, wie geht es Herrn Matthies. Kann ich ihn kurz sprechen?“

„Er ist wieder ansprechbar. Im Röntgenbild vom Schädel sah man nichts, auch sonst scheint er keine Verletzungen zu haben, vielleicht eine Commotio. Wir behalten ihn 24 Stunden hier.“

„Kann er sich an den Zusammenstoß erinnern?“

„Das frag ihn besser selbst. Ich habe nur überprüft, dass er zu Person, Raum und Zeit orientiert ist, dann hatte ich einen anderen Notfall.“

„Danke, Suse! Wo liegt er?“

„In der 3!“

Als Clara die Tür zum Untersuchungsraum 3 öffnete, fand sie die Notfallliege leer vor. War er geflüchtet? „Wo ist Herr Matthies?“, erkundigte sie sich bei einer Ambulanzschwester.

„Auf Station 2.“

Im Gang stieß sie auf Tom, der sie ungeduldig fragte: „Können wir endlich? Du kannst ja von mir aus bis zu unserer Nachtschicht durchmachen, ich brauche meinen Schönheitsschlaf!“

„Ist ja gut! - Wo ist Frau Matthies?“

„Bei ihrem Mann!“

„Ich wollte ihn ja nur fragen, ob er was gesehen hat.“

„Er kann sich eh an nichts erinnern. Völliger Blackout vom Verlassen des Depots bis er hier wieder aufwachte.“

Überrascht sah Clara ihren Partner an. „Das hat er dir erzählt?“

„Nee, aber Thea! Du weißt doch: Thea sieht alles, hört alles, weiß alles!“

Clara knuffte Tom freundlich. „Nur kein Neid!“

10 vor 9 stellte Tom den blau-weißen VW-Kombi vor dem Polizeikommissariat ab und griff nach den leeren Kaffeebechern, um sich erneuten Ärger mit der Tagschicht wegen seines laxen Umgangs mit Müll zu ersparen. Er übergab den Wagenschlüssel seiner Partnerin und verschwand direkt in den Umkleideraum, während Clara sich am Pult des Einsatzleiters zurückmeldete.

„Was Neues aus der Klinik?“, fragte der Beamte.

„Der Lokführer scheint unverletzt, eventuell eine Gehirnerschütterung. Er hat laut Tom nichts gesehen, aber hakt da nochmals nach!“

„Schönen Feierabend! Schlaf schneller!“, verabschiedete der Einsatzleiter Clara grinsend.

Während Tom schon fesch angezogen zum Ausgang ging und ihr kurz zuwinkte, trat Clara zu Johann und Michaela. „Habt ihr schon was über das U-Bahn-Opfer?“

„Frau Doktor Jansen meldet sich, wenn sie mehr weiß. Die gesammelten Zeugenaussagen und Aufzeichnungen der Überwachungskameras hat die Kripo. Wir sind da eigentlich raus!“

„Ruhigen Dienst!“, verabschiedete sich Clara enttäuscht.

5

Die beiden Kriminalbeamten, Kriminaloberkommissarin Petra Kühn und Kriminalhauptkommissar Jürgen Schult, die morgens vor Ort gewesen waren, lasen die Protokolle, aber niemand schien eine Person an der Bahnsteigkante oder gar auf den Gleisen bemerkt zu haben. Auch auf den verschiedenen Kameras entdeckten sie keinen Menschen, der sich in den circa 10 Minuten vor dem Not-Stopp dem Unglücksort genähert hatte.

Die erste Information kam telefonisch aus dem Labor der Pathologie: „XY! Es handelt sich bei eurem Bahn-Opfer um einen Mann, der zum Unfallzeitpunkt noch gelebt hat. Die weitere chemische Analyse dauert noch. Wir geben Bescheid!“

Wie oder wo war der Mann auf die Gleise gelangt?

Ein Anruf bei der Vermisstenstelle: „Schickt uns alle eingehenden Vermisstenanzeigen zu Männern seit … sagen wir gestern 18 Uhr! Danke!“

Nach telefonischer Nachfrage, ob der Zugführer vernehmungsfähig sei, machten sich Kühn und Schult auf den Weg zur Altonaer Asklepios Klinik. Am Empfangstresen erkundigten sie sich nach der Zimmernummer von Jens Matthies und klopften wenige Minuten später auf Station 2 kurz an die Tür von Zimmer 217, bevor sie eintraten. „Kriminaloberkommissarin Petra Kühn und Kriminalhauptkommissar Jürgen Schult!“, stellte die Kriminalbeamtin sich und ihren Kollegen vor. Beide hielten für wenige Sekunden ihre Dienstausweise hoch. „Es tut uns leid mit dem Zwischenfall. Fühlen Sie sich in der Lage, uns ein paar Fragen zu beantworten?“

„Es geht … schon besser, ich weiß wieder… wie ich Haltestelle HafenCity eingefahren bin, aber ich … habe nichts vorher bemerkt.“ Der Patient sprach hastig, verhaspelte sich.

„Frau Matthies, können wir Ihren Mann bitte allein sprechen? Es dauert nicht lange.“

Zögernd stand Kirsten Matthies auf und sah ihren im Bett liegenden Mann an: „Ich warte draußen.“ Kaum schloss sie die Tür hinter sich, als die beiden Beamten sich je einen Stuhl rechts und links vom Bett heranzogen und sich darauf niederließen.

Nun ergriff Schütt die Initiative: „Erzählen Sie mal den Ablauf seit Sie im Depot angelangt sind. Was tun Sie, bevor Sie abfahren? Wer weist Ihnen die Bahn zu?“

Während der Schilderung seiner üblichen Routine bei Dienstantritt wurde Matthies’ Stimme fester. Es wurde deutlich, dass alles wie immer ablief - bis zum Stopp HafenCity Universität. „Beim Einfahren in den Bahnsteigbereich habe ich gewohnheitsmäßig auf die Wartenden geschaut, da stand keiner zu dicht am Gleis, das kann ich beschwören.“

„Was veranlasste Sie zur Notbremsung?“

„Ich hörte dumpfe Schläge und ein leichtes Verzögern und Ruckeln, da hab‘ ich ’ne Vollbremsung gemacht, ganz automatisch. Dann erst schoss mir durch den Kopf: Jetzt haste was überfahren! Dann weiß ich nichts mehr, bis die Sanitäter, später eine Schwester an mir rumfummelten.“

„Haben Sie sich irgendwo verletzt?“

Der Mann griff sich mit der linken Hand hinten an den Kopf. „Ich bin wohl zusammengesackt, meint die Ärztin. Den Kopf habe ich mir angeschlagen. Am Hinterkopf ist eine Beule, aber keine blutende Wunde.“ Der Zugführer richtete sich auf zum Sitzen. „War es ein Selbstmörder?“

Schult antwortete: „Das wissen wir noch nicht. Wir ermitteln noch.“

„Was meinen Sie mit „dumpfe Schläge“?“, hakte Kühn nach.

„Es gab zwei oder drei tiefe Geräusche direkt hintereinander, weich, nicht wie wenn Metall, Stein oder Holz an den Zug schlagen.“

„Hatten Sie schon mal einen Personenschaden?“, erkundigte sich Schult.

„Nein, zum Glück noch nie. Manche haben sogar mehrere im Laufe ihres Berufslebens. Ich habe aber gar niemanden vor den Zug fallen oder am Rand stehen sehen. Ich hätte nichts machen können.“ Er knetete seine Hände und schüttelte den Kopf.

„Wie viele Passagiere befanden sich auf Bahnsteig 2?“

„Das weiß ich nicht genau. Acht bis zehn.“

„Hat sich jemand bewegt, als Sie einfuhren?“

„Nicht auffällig, aber es ging alles so schnell.“

„Danke! Sie müssen das Protokoll Ihrer Aussage noch lesen und unterschreiben in den nächsten Tagen. Gute Besserung und nutzen Sie das Angebot eines Psychologen!“ Die Kriminalbeamten standen auf und stellten die Stühle zurück an den Tisch.

Sie hatten die Tür fast erreicht, als Matthies mit unsicherer Stimme leise fragte: „Werde ich jetzt angeklagt?“

Kühn drehte sich um. „Die Staatsanwaltschaft wird bei jedem Ereignis, bei dem eine Person zu Schaden gekommen oder gar getötet wurde, eingeschaltet, aber im Moment stellt sich der Ablauf uns als unvermeidbar dar, so dass Sie keine Schuld treffen würde. Über das weitere Procedere entscheidet das Gericht, wenn die ersten Ermittlungsergebnisse vorliegen. Erholen Sie sich erst einmal!“

Schult hielt Frau Matthies die Tür galant auf, als sie zu ihrem Mann zurückkehrte, dann fuhren die Kriminalbeamten ins Kommissariat zurück, nicht schlauer als zuvor.

6

Als Clara und Tom zum Nachtdienst erschienen, gab es noch immer keinen Namen zum Toten von der U-Bahn. Keine Hinweise ob Suizid, Unfall oder Mord. Unbefriedigend! Da die Ermittlungen an die Kriminalpolizei übergeben wurden, musste Clara sich unauffällig alle Untersuchungsergebnisse selbst zusammentelefonieren, um an die Berichte der Spurensicherer, Labore und der Pathologin mit zig Detailinformationen zu kommen: Keine verwertbaren Spuren am Bahnsteig. Kein Hinweis auf eine zweite beteiligte Person. Blut und verschiedene Körperteile waren über eine Strecke von 18,37 Metern auf den Schienen und im Gleisbett nachgewiesen sowie über 6,43 Meter am Triebwagenunterboden und Rädern. Bremsspur und -strecke entlasteten den Zugführer als adäquat und prompt. Im Blut des Opfers fanden sich keine Medikamente oder Drogen. Schnitte von Organresten lieferten keinen Hinweis auf Krebsleiden oder andere Erkrankungen. Nach den Distanzmessungen hatte die Kollision rund 11 Meter vor Beginn des Bahnsteigs, also im engen und unbeleuchteten Tunnelbereich, stattgefunden. Was hatte jemand auf dem Gleis zu suchen? Die Gewebeproben hatten nachgewiesen, dass es sich um einen älteren Menschen handelte, sonst hätte man an einen Unfall, z.B. mit einem Sprayer, denken können. War es ein Obdachloser, der dort irgendwo hauste und sich noch nicht an den neuen Fahrplan mit häufigen Bahnen gewöhnt hatte? In den Kleidungsfetzen des Mannes hatten sich keine Anhaltspunkte zur Feststellung der Identität gefunden.

Der Verkehr auf dem Gegengleis war bereits nach zwei Stunden wieder freigegeben worden, wo die Bahnen den Rest des Tages in beide Richtungen in diesem Abschnitt bis zu den Weichen nach der U-Bahnstation verkehrten. Nach der letzten Bahn am Unfalltag waren sechs Polizeibeamte, ein Suchhund und vier Ortskundige der HHA die Gleise und Quergänge abgeschritten. Es fanden sich weder Beweise, dass der Verunfallte sich dort länger aufgehalten hatte, noch Anhaltspunkte, dass dort andere Personen einen Unterschlupf gefunden hatten. Die Auswertungen der Kameras im Bahnsteigbereich zeigten niemanden. Keine aktuelle passende Vermisstenanzeige. Berichte in verschiedensten Medien führten zu 57 Anrufen, denen vergeblich nachgegangen wurde - nichts als Sackgassen! So präsentierte sich der Fall als unklarer Todesfall einer unidentifizierten Leiche, er wäre bald in einer Ablage gelandet und die Leichenteile im Krematorium; als fünf Tage nach dem Unglücksfall ein Anruf der Polizeistation in Blankenese beim zuständigen Polizeikommissariat wieder Bewegung in die Ermittlungen brachte.

„Revierleiter Ebel. Bei uns ging soeben eine Vermisstenanzeige ein: Der Sohn war mit seiner Familie zwei Wochen im Urlaub in Florida bis gestern. Der verwitwete Vater lebt normalerweise mit im Haus, war aber für vierzehn Tage im St. Anna-Stift in Kurzzeitpflege angemeldet. Die Schwiegertochter hat ihn dort vor der Reise hingebracht, aber als sie ihn gestern abholen wollten, war der alte Herr seit Tagen nicht mehr im Heim.“ Herbert Wankmüller ließ sich Namen und Adresse von Sohn und Vater geben und versicherte, dass er sofort ein Team hinschicken werde.

Wankmüller war klar, dass Clara den Einsatz gerne gefahren wäre, aber sie kam erst nachmittags zum Dienst, so funkte er Johann und Michaela an: „Peter 21 für Peter 21-1!“

„Wagen 1 hört! Was gibt’s, Wanki?“

„Vermisstenmeldung in Blankenese. Ludowig von Heesen. Familie von Heesen war im Urlaub, der Vater in Kurzzeitpflege im Anna-Stift, wo er anscheinend seit Tagen nicht mehr war, als er gestern nach Hause geholt werden sollte. Informiert ihr die Familie!“

„Peter 21-1, verstanden! Sind unterwegs!“, bestätigte Michaela vom Beifahrersitz aus.

7

Nach 20 min hielt der Polizeiwagen bei der angegebenen Adresse. Als Johann gerade ausstieg und seine Polizeimütze aufsetzte, öffnete sich die Tür der Villa und oben an der Steintreppe erwartete sie ein circa fünfzigjähriger Mann in Anzug mit Krawatte und Weste: „Haben Sie ihn gefunden?“

Johann stieg als Erster die zwölf Stufen hinauf bis zur Plattform vor der imposanten Eingangstür aus geschnitztem Holz. „Guten Tag, Polizeiobermeister Johann Venlo, meine Kollegin Polizeihauptmeisterin Michaela Weber. Wir möchten Sie zu der von Ihnen aufgegebenen Vermisstenanzeige befragen. Können wir reinkommen?“ Michaela grüßte mit einem kurzen Kopfnicken.

Der Hausherr Gunther von Heesen trat zwei Schritte zur Seite: „Natürlich, kommen Sie!“ Er führte die beiden Polizeibeamten durch einen breiten, hellen Flur mit weißem Marmorboden und mehreren großen Spiegeln an den Wänden geradeaus auf einen offenen, rund 60 Quadratmeter messenden Wohn-Essbereich zu. Durch die riesige, von der Decke bis zum Boden reichende Fensterfront hatte man einen grandiosen Ausblick auf einen parkähnlichen Garten mit Teich, Springbrunnen, Statuen und verschlungenen Wegen zwischen Rasen und Beeten.

Beim Betreten des Wohnzimmers erhob sich eine Dame in einem eleganten dunkelgrünen Kleid mit langer Goldkette von der Couch. „Mirja von Heesen! Guten Tag! Haben Sie Neuigkeiten von meinem Schwiegervater?“ Mit einer einladenden Geste bot sie den Beamten an, in der Sitzgruppe Platz zu nehmen. Das Ehepaar setzte sich nebeneinander auf das Sofa und sah die Beamten erwartungsvoll an.

Johann begann: „Schildern Sie uns bitte, wann Sie Herrn von Heesen Senior in die Seniorenresidenz Wellenfrieden gebracht haben und von wann bis wann Sie verreist waren!“ Michaela machte sich Notizen über die Angaben, während ihr Kollege die Fragen stellte. Frau von Heesen hatte ihren Schwiegervater mit einem Koffer voller Kleidung und ein paar persönlichen Sachen für das Einzelzimmer zu der ausgewählten Bleibe gebracht. Das war einen Tag vor dem Abflug des Ehepaars von Heesen samt den beiden jugendlichen Töchtern. Ihr Mann musste an dem Tag noch arbeiten. Von Heesen Senior war dort für zweieinhalb Wochen zur Kurzzeitpflege aufgenommen worden. Die Familie flog in den Urlaub nach Miami, machte zusammen eine zweiwöchige Rundreise und war gestern wie vorgesehen zurückgekommen. Heute gegen 10 Uhr morgens wollte Herr von Heesen seinen Vater in der Residenz abholen, aber der alte Herr war schon vor fünf Tagen von einem Herrn abgeholt worden, der sich für seinen Sohn ausgab und seinen „Vater“ widerstandslos samt allen persönlichen Sachen mitnahm. Die Heimleitung hatte keinen Verdacht geschöpft, da sie Herrn von Heesen Junior nicht kannte.

„Wieso sollte Ihr Vater ohne Protest mitgegangen sein?“

„Nun ja, er ist ziemlich dement. Wenn man mit ihm richtig umzugehen weiß, kann man ihn überall mit hinnehmen!“

„Könnte es sich um eine Entführung handeln?“

„Das wäre schon möglich. Mein Vater hat hier ein Speditionsimperium aufgebaut, aber wir haben keine Lösegeldforderung erhalten.“

„Kann sie Sie durch Ihre Abwesenheit nicht erreicht haben?“

„Ich hatte mein Handy außer während der Flüge immer eingeschaltet - nichts! Kein Anruf, keine SMS oder E-Mail. Auch weder in unserer Privatpost noch im Büro unter den Geschäftsbriefen ein Erpresserschreiben! Keine Nachricht!“, erklärte der Sohn mit bebender Stimme.

Seine Frau griff seine linke Hand und drückte sie. „Vater kann quasi überall sein! Er kann sich zwar an viele Dinge nicht erinnern, aber er könnte durchaus allein in einen Bus oder einen Zug steigen!“, ergänzte sie.

„Haben Sie ein aktuelles Foto für uns? Und können Sie ihn beschreiben?“

Der Sohn sah hilflos zur Gattin, die den Kopf in den Nacken legte, sich konzentrierte und dann abspulte: „Etwa 1,85 Meter, stattliche Figur, weißes, volles Haar, keinen Bart.“

„Wir bräuchten eine Aufstellung der Kleidung, die Ihr Schwiegervater an und mit hatte.“

Keiner der Beamten deutete an, dass der Blankeneser eventuell im Bereich HafenCity unter eine U-Bahn geraten war. Während die Schwiegertochter auf einem Zettel die mitgenommenen Kleidungsstücke des alten Herrn notierte, hatten die Kommissare weitere Fragen: „Wie war das Verhältnis zu Ihrem Vater?“

„Gut, meine Mutter ist früh gestorben, dann hat mein Vater noch sechs Jahre allein gelebt, aber als die Demenz ausbrach, konnte man ihn nicht mehr allein lassen, so haben wir ihn zu uns genommen.“

„Wann war das?“

„Mirja, wann ist Vater zu uns gezogen?“

Die Angesprochene sah auf: „17.8.2010.“

„Also lebte Ihr Schwiegervater jetzt drei Jahre hier. Wer kümmerte sich um ihn? Kam eine Betreuung?“

„Nein, das wollten wir nicht“, mischte sich von Heesen Junior wieder ins Gespräch. „Mirja war Disponentin bei uns. Sie arbeitete anfangs noch zum Teil von zu Hause aus, aber schließlich stellten wir jemanden ein, der vor Ort in der Spedition arbeitete, das ist einfach praktischer, wenn Nachfragen sind.“

Michaela wandte sich wieder an Frau von Heesen: „Frau Heesen, pardon, von Heesen, Sie haben ihn also allein betreut. Wie war das? Musste er rund um die Uhr unter Aufsicht sein? Brauchte er viel Hilfe im Alltag?“

„Anfangs konnte Vater sich allein umziehen, waschen, essen, beschäftigen, man musste nur den Tagesablauf strukturieren, damit er morgens aufstand, aß und abends ins Bett ging. Über die Jahre wurde er immer vergesslicher, brauchte zunehmend Hilfe bei Hygiene und Mahlzeiten. Bis letztes Jahr ist er noch mit uns in die Ferien gefahren, aber inzwischen muss man rund um die Uhr aufpassen, dass er nichts anstellt. Er schläft wenig und läuft dann durch das Haus oder auch weg, bevor wir überall die Türen mit Codes gesichert haben. Dieses Jahr haben wir mit ihm einen Pflegeplatz für die Zeit unseres Urlaubs ausgesucht.“

„Kam jemand vom Pflegedienst zu Ihnen, um Sie zu entlasten?“

Wieder intervenierte der Gatte: „Nein, das macht Mirja alles. Er ist ja nicht bettlägerig, er braucht nur Hilfe bei manchen Tätigkeiten, aber er kann mit ihr ja noch spazieren gehen oder ihr von früher erzählen. Manchmal passen Anna-Pia oder Mia-Marie auf ihn auf, wenn wir eingeladen sind.“

„Das sind Ihre Töchter? Wie alt sind die?“

Die Mutter reagierte schneller: „Anna-Pia ist 16, Mia-Marie wird in zwei Wochen 14.“

„Hüten die beiden gerne ihren Großvater?“

„Er ist ihr Großvater, da kann man das schon mal von Zeit zu Zeit verlangen!“, erklärte der Vater energisch.

Die Mutter wiegelte ab: „Es kommt ja nicht so oft vor, dass ich mit zu Geschäftsessen gehe oder Arzttermine habe.“

Johann meldete sich auch mal wieder zu Wort: „Kann ich bitte einen Blick in sein Zimmer werfen?“

„Natürlich!“ Gunther von Heesen stand auf und führte den Polizisten zum Gästezimmer, das sich wie die anderen Schlafzimmer im ersten Stock befand.

Der Beamte machte erst mehrere Handyfotos und öffnete dann nacheinander Schrank, Nachttisch und eine Kommode. Inzwischen war seine Kollegin oben eingetroffen und sie durchsuchten die Möbel einschließlich des Bettzeugs genauer, aber außer den zu erwartenden Sachen entdeckten sie nichts Interessantes. Trotzdem versah Johann die Tür sicherheitshalber mit einem Polizeisiegel. „Eventuell müssen wir das Zimmer Ihres Vaters zu einem späteren Zeitpunkt genauer durchsuchen. Brauchen Sie etwas aus diesem Raum?“, erklärte er.

Von Heesen Junior wirkte verstört: „Nein, aber warum sollen wir da nicht mehr rein?“

„Vielleicht müssen wir nach Anhaltspunkten suchen, was Ihr Vater vorhatte!“

„Was meinen Sie – „vorhatte“?“

„Ob er Reisepläne hatte oder vielleicht an Selbstmord dachte…“ Jetzt war das Thema angeschnitten. Beide Beamten beobachteten ihr Gegenüber genau, aber der Sohn wirkte ehrlich verwirrt, zögerte.

Man sah wie die Rädchen im Kopf arbeiteten. „Warum sollte mein Vater allein verreisen wollen oder an Selbstmord denken? Es geht ihm gut bei uns. Wir kümmern uns. Er kann doch allein nicht wegfahren!“ Von Heesen schüttelte den Kopf, als erschienen ihm die angedeuteten Möglichkeiten absurd. „Er wird sich verlaufen haben …“

„Und der Mann, der Ihren Vater samt allen Sachen abgeholt hat?“

„Haben Sie eine Idee, wer das sein könnte?“, ergänzte POM Venlo. „Vielleicht ein Verwandter, zu dem Ihr Vater Kontakt aufgenommen hat, weil er nicht im Seniorenheim bleiben wollte?“

Vehementes Kopfschütteln. „Nein, mein Vater war ein Einzelkind und ich bin sein einziger Sohn!“

„Vielleicht aus der Familie Ihrer Frau?“

„Wir haben schon jeden angerufen, der uns einfiel. Keiner hat ihn gesehen oder weiß, wo Vater hin ist.“

„Was ist mit ehemaligen Nachbarn? Freunden?“

„Er hat keine Kontakte mehr zu Menschen außerhalb unserer Familie.“

„Können Sie uns trotzdem Namen und Adressen nennen von Bekannten und ehemaligen Kollegen?“

„Das weiß Mirja besser, aber warum hat sich niemand bei uns gemeldet?“ Kurze Pause, dann schien er froh über eine Idee: „Wir müssen uns an die Medien wenden! Irgendjemand wird wissen, wo Vater ist!“

„Das können Sie immer noch tun, aber lassen Sie uns mal erst unsere Kanäle nutzen, jetzt, da wir eine Beschreibung haben!“, wiegelte PHM Weber ab.

Johann hakte ein: „Wir bräuchten noch Namen und Praxisadresse des betreuenden Arztes.“

„Da muss ich meine Frau fragen. Können wir wieder zu ihr runter gehen?“

Michaela nickte: „Ja, im Moment sind wir hier fertig.“

Nach weiteren zehn Minuten hatte Frau von Heesen ihnen außer dem Steckbrief und der Kleidungsliste auch zig Namen von noch lebenden Personen aus dem früheren Leben ihres Schwiegervaters sowie die Adresse eines Hausarztes zwei Straßen weiter aufgeschrieben. Die Polizeibeamten verabschiedeten sich und versprachen, sich zu melden, sobald sie Neuigkeiten hätten. Von Heesen Junior geleitete sie bis vor die Haustür und sah ihnen nach, als sie die Treppe zum Dienstwagen hinunterstiegen.

Kaum war Johann angefahren, fragte ihn seine Kollegin: „Was hältst du von ihnen?“

„Sie machen sich Sorgen, ist doch verständlich.“

„Ich fand es seltsam, dass der Sohn so wenig vom Vater weiß und alles an der Schwiegertochter hängen bleibt. Sie wirkte so beherrscht, hatte alles im Griff, aber echte Sorge habe ich nicht gespürt.“

„Eine Dame lässt sich nicht vor uns gehen, das kann im stillen Kämmerchen ganz anders aussehen.“

„Glaub ich nicht!“

Als das Duo im Polizeikommissariat eintraf, berichtete Michaela dem Vorgesetzten Jost Kleves von der Befragung des Ehepaars von Heesen. Die für den U-Bahn-Toten zuständigen Kriminalbeamten Petra Kühn und Jürgen Schult wurden vom Revierleiter des Polizeikommissariats 21 danach umgehend telefonisch in Kenntnis gesetzt, dass es sich bei der U-Bahn-Leiche möglicherweise um den 82-jährigen Herrn von Heesen Senior handelte. Er gab ihnen die genauen Personenstandsdaten samt Adresse durch.

8

Daraufhin befragte das Ermittler-Duo KHK Schulte und KOK Kühn Pförtner die Heimleiterin und diverse Betreuer, aber keiner lieferte neue Informationen. Von Heesen Senior war mittelgradig dement, war in seinem Zimmer geblieben, nahm dort auch seine Mahlzeiten ein, war nachts meist wach, aber niemand hatte ihn außerhalb des Zimmers gesehen. Die Beschreibungen des „Sohnes“, der den alten Mann vorzeitig geholt hatte, deckten sich mit ihren Notizen von der Anzeige – abgesehen von den üblichen Varianten von Zeugenbeobachtungen: Mann um die 50, normal groß, kurze braune Haare, glatt rasiert, weißes Hemd, grauer Anzug, höflich, freundlich, kein Ausländer, kein Dialekt. Einfach nichts, wo man einhaken konnte. Er hatte den Koffer und eine Tasche getragen, von Heesen war ganz selbstverständlich hinter ihm her getrottet. Jeder hatte sie für Sohn und Vater gehalten. Keiner hatte gesehen, ob sie mit einem Taxi oder einem geparkten Auto oder vielleicht sogar mit einem Bus von der Haltestelle circa 100 Meter die Straße runter weggefahren waren. Das Zimmer war gereinigt und schon wieder vergeben.

„Kurzzeitpflegeplätze sind begehrt!“ Es gab keine medizinischen Auffälligkeiten. Bei den Mahlzeiten, bei denen der Senior gefüttert werden musste, erhielt der Patient einen in diesen praktischen Döschen vorbereiteten Medikamentenmix, angeblich einen Beta-Blocker, Vitaminpillen und abends ein leichtes Schlafmittel, alles von zu Hause mitgebracht wie bei kurzen stationären Aufenthalten üblich. Der Mann wirkte ausgeglichen, ruhig, gab höflich auf jede Frage eine Antwort, wenn auch oft nicht sinnvoll, aber sonst wäre er ja auch nicht dort gelandet. Petra Kühn ließ sich von jedem beschreiben, welche Kleidung der Vermisste am Tag des Verschwindens trug. Das führte zu viermaligem „weiß ich nicht mehr“ oder „ich habe ihn an dem Morgen gar nicht gesehen“ und zu drei unterschiedlichen Angaben. Keine Hilfe für einen Medienaufruf mit so wenigen Informationen, aber eventuell passte die Kleidung in der Rechtsmedizin zu einer der vorliegenden Beschreibungen.

Schon 17 Uhr 52. Der Pförtner der Pathologie erklärte auf Kühns telefonische Anfrage, dass Frau Doktor Jansen das Institut vor circa einer Viertelstunde verlassen habe, also Feierabend für die Kriminalisten.

9

Am nächsten Morgen suchten Kühn und Schulte die Gerichtsmedizinerin kurz nach 9 Uhr auf und ließen sich die sichergestellten Kleidungsstücke, die noch an Körperteilen gehangen hatten, zeigen. Eine endgültige Aussage konnte keiner zu den blutverschmierten, zerrissenen Textilien treffen. Es konnte sich um Reste eines ehemals weißen Hemdes und eines blauen Anzugs treffen, nicht sehr spezifisch.

„Besorgt mir eine Vergleichsprobe vom vermeintlichen Sohn, dann sag ich euch, ob die Leiche mit ihm verwandt ist“, beauftragte sie Doktor Helga Jansen.

Kriminalhauptkommissar Schult erkundigte sich über Handy, ob von Heesen Junior zu Hause anzutreffen war. „Bleiben Sie bitte noch in der Villa, wir kommen in circa 20 Minuten zu Ihnen.“

10

Der Hausherr erwartete sie oben auf der Empfangsterrasse und erkundigte sich noch vor der Haustür, sofort nach der Begrüßung, ob es etwas Neues gäbe. Sie schritten auf den Wohnbereich zu. Kommissarin Kühn hielt ihn hin: „Leider noch nichts, wir ermitteln noch. Würden Sie uns freiwillig eine Speichelprobe geben, damit wir Ihre DNS von eventuellen Spuren Ihres Vaters unterscheiden können?“ Verdutzt hielt von Heesen an und musterte die Beamten, die schon bohrende Fragen fürchteten, aber dann schien es ihm zum Standardverfahren wie in jedem TV-Krimi zu gehören, denn er nickte zustimmend. Petra nahm mit dem Stäbchen aus einem sterilen Plastikröhrchen eine Probe von der Mundschleimhaut von Heesens, indem sie mit dem weichen Ende sanft einige Male drehend darüberstrich, bevor sie das Stäbchen zurück ins Röhrchen steckte und fest zudrehte. Sie hatte es bereits im Auto beschriftet.

Nach zwei oder drei nichtssagenden Sätzen verließen die Kommissare die Villa, ohne der Gattin begegnet zu sein. Von Heesen Junior schien sich nicht zu wundern, dass man von ihr kein Vergleichsmaterial benötigte, dabei war sie doch mit dem verschwundenen Herrn im Heimzimmer gewesen.

11

Auf dem Weg zum Kommissariat lieferten sie das Plastikröhrchen mit dem Abstrich selbst im Labor ab. Nach etwas Schreibarbeit und einer gemeinsamen Mahlzeit in der Kantine machten Kühn und Schult sich an die Telefonate mit den Personen von der Kontaktliste, die ihnen von PHM Weber gemailt worden war, aber die meisten hatten von Heesen Senior in den letzten 2-3 Jahren nicht mehr gesprochen, geschweige denn gesehen.

Am nächsten Tag klapperten sie die jetzigen Nachbarn ab, aber auch hier erhielten die Kriminalbeamten nur abschlägige Antworten von den angetroffenen Befragten. Ludowig von Heesen hatte schon rund ein Jahr niemand mehr draußen gesehen.

KOK Petra Kühn war misstrauisch: „Das gibt es doch immer wieder, dass Familienangehörige eines Toten noch dessen Bezüge kassieren oder den Erbfall verzögern, lass uns da mal nachgraben!“

Knapp zwei Stunden später kannten sie das Testament von Ludowig von Heesen, der alles schon zu Lebzeiten dem Sohn vermacht hatte, nicht mal eine Leibrente oder die Betreuung wurden darin erwähnt. Dort fand sich kein Motiv, aber vielleicht irgendwelche Rentenzahlungen?

Die Befragung des Hausarztes brachte auch nichts Neues. Doktor Kröger, der Hausarzt, las im PC nach, dass er vor gut fünf Wochen den halbjährigen Gesundheitscheck bei dem Zweiundachtzigjährigen gemacht hatte: „Körperlich hat er gegenüber dem Frühjahr etwas abgebaut, fünf Kilogramm Gewicht verloren, auch Muskelmasse, aber vor allem geistig handelte es sich um einen rasch progredienten Verfall der kognitiven Leistungen. Auch die einfachsten Alltagstätigkeiten und -entscheidungen überforderten ihn. Im Gespräch kamen leere Worthülsen, oft ohne Bezug zum Thema. Auf die gleiche Frage kam fast jedes Mal eine andere Antwort, die oberflächlich richtig wirken können auf Außenstehende, aber die Sätze kommen aus einem Speicher – ähnlich wie bei einem Papagei, sie werden nicht mehr situativ gebildet. Mit einer so fortgeschrittenen Demenz brauchte der Patient rund um die Uhr Betreuung, da hatte Frau von Heesen einen Fulltimejob und Urlaub dringend nötig! Sie leistet Übermenschliches, indem sie ohne Hilfe rund um die Uhr dem Schwiegervater hilft und ihn überwacht, damit er nichts anstellt. Sie glauben gar nicht, wie gefährlich ein dementer Mensch für sich und die Umgebung ist! Viel schlimmer als jedes Kleinkind, das viele Dinge noch nicht kennt oder kann, aber rasch dazu lernt. Bei Patienten mit Hirnleistungsstörungen klappt motorisch vieles wie zum Beispiel das Entzünden einer Kerze oder das Starten eines Autos, aber sie erkennen die Gefahren nicht mehr, können keine Konsequenzen bedenken, weil das vorausschauende Denken, das Abwägen von Taten und ethischen Werten, das Kurzzeitgedächtnis und vieles mehr nicht mehr funktionieren…“

KHK Jürgen Schulte unterbrach den Redefluss des dozierenden Arztes: „Kann Herr von Heesen allein mit dem Bus oder einer U-Bahn fahren?“

„Wenn er diese öffentlichen Verkehrsmittel früher benutzt hat, dann könnte er auf alte Verhaltensmuster zurückgreifen, aber sicher nicht um gezielt irgendwo hinzufahren.“

„Danke für Ihre Zeit. Auf Wiedersehen!“, verabschiedeten sich die Beamten nahezu zeitgleich und kehrten ins Kommissariat zurück.

„Ich sag doch, die haben den Vater nicht mehr ausgehalten!“

„Und wie sollen sie das getan haben? Sie waren in Florida“, wandte Jürgen ein.

„Die haben Geld genug, dann bezahlen sie halt jemanden“, entgegnete die Kollegin. „Ich habe da einfach ein ganz dummes Gefühl!“

Schulte lachte: „Ich habe auch Hunger!“

12

Für das Polizeikommissariat 21 war der Fall mit dem unbekannten U-Bahn-Toten nach der Weitergabe an die Kriminalpolizei eigentlich abgeschlossen, aber Clara ließ der brutale Tod des alten Mannes nach dieser seltsamen „Entführung“ keine Ruhe.

„Irgendjemand müsste den angeblichen Sohn doch beschreiben können oder beobachtet haben, wo er mit dem alten Herrn hingegangen ist“, äußerte sie sich bei einer Team-Besprechung über die Alltagsfälle.

Sofort wurde der Revierleiter hellhörig. „Haltet euch da raus, das ist jetzt Aufgabe des K2. Wir haben unsere Schuldigkeit getan!“

Aber Clara bekam unerwartete Schützenhilfe von Frederike Melters, einer jungen, sehr engagierten Kollegin. „Würde von Heesen Senior mit jedem Unbekannten mitgehen? Ich dachte demente Menschen hassen Veränderung und fremde Leute. Spricht das nicht eher für einen Verwandten oder Bekannten, der ihn abgeholt hat?“

Tom mischte sich ein: „Wer sagt denn, dass das von Heesen Senior war? Das kennt man doch: Der Vater oder die Mutter sind tot, aber die Familie kassiert fleißig weiter Bezüge und bei einer Kontrolle sucht man sich einen Obdachlosen oder Schauspieler, der pleite ist, der die Rolle des Verstorbenen mimt. Das im Altersheim war gar nicht der Vater von Gunther von Heesen, der ist schon lange irgendwo verscharrt, aber so konnte man ihn jetzt offiziell verschwinden lassen!“ Beifall heischend schaute Tom in die Runde. Ein paar Kollegen nickten, die meisten schüttelten den Kopf über diese haarsträubende Hypothese.

Bernd Holzer, Polizeihauptkommissar, fragte: „Und wer ist dann der Tote?“

„Irgendein armes Schwein, das sich einen Hunderter und ein paar Tage in einem warmen Quartier verdienen wollte! Vielleicht wollte er plötzlich mehr oder wusste zu viel und musste verschwinden!“ Tom sah sich triumphierend um.

„Dann müsste es ja eine Vermisstenanzeige geben!“

„Nicht bei einem, der auf der Straße lebt und umherzieht.“

„Schluss jetzt! Darüber kann sich die Kripo den Kopf zerbrechen, wir haben anderes zu tun! In drei Wochen ist das Vergleichsschießen der Hamburger Polizei, da brauche ich noch zwei Freiwillige, die sich für das Mannschaftsschießen melden. Hannes und Clara sind schon auf der Liste. Bernd, wie wär's mit dir?“

„Nee, lass mal! Soll jetzt mal der Nachwuchs an den Start gehen!“

„Ihr werdet auch zwei Stunden pro Woche für zusätzliches Schießtraining freigestellt.“

„Dann meld ich mich, wenn sonst keiner den Mumm hat, gegen die anderen Reviere anzutreten!“, meldete sich Tom forsch zu Wort.

Clara zog ein Gesicht: „Eigentlich wollten wir nicht den letzten Platz machen!“

„Das war nicht nett von dir!“, beschwerte sich ihr junger Kollege. Die anderen lachten.

Der Chef ergriff wieder das Wort: „Überlegt es euch! So, schönen Feierabend für die Nachtschicht, der Rest an die Arbeit! Wanki, wo ist der Dienstplanentwurf für den nächsten Monat?“ Herbert Wankmüller verließ rasch den Raum, während die Kollegen sich nach Hause oder an die Schreibtische begaben. Als Revierleiter Jost Kleves an der Empfangstheke vorbeikam und erneut nachhaken wollte, führte Herbert ein hitziges Scheingespräch am Telefon, bis der Vorgesetzte mit einem missbilligenden Gesicht in sein Büro verschwand.

Freddy, wie man Frederike im PK 21 meist nannte, lachte Herbert zu: „Du glaubst doch nicht, dass Jost dir das Telefonat gerade abgenommen hat!“

Wanki grinste verschmitzt: „Nö, aber jetzt hab ich noch ‘ne Stunde, bis er wieder nachfragt. Bis dahin bin ich vielleicht durch, wenn ich nicht dauernd gestört werde.“

Clara wandte sich an Tom: „Komm, wir fahren Streife!“

Freddy stichelte: „Nicht zufällig rund um die HafenCity?“

„Was schadet’s? Ihr könntet auf euren Runden auch mal bei den Nichtsesshaften nachfragen, ob sie jemanden vermissen. Das sind wir ihnen schuldig, dass man einen von ihnen nicht einfach so verschwinden lässt und keinen kümmert’s!“

„Wo sie recht hat, hat sie recht!“, stimmte Wankmüller zu.

Freddy drehte sich zu Bernd: „Warum willst du nicht für uns schießen? Dann müssten wir nur noch dich überreden, Michaela, und hätten ein Spitzen-Team!“

„Meld dich doch selbst! Übst jetzt noch drei Wochen, dann profitiere ich auch davon!“, konterte Bernd.

„Hä?“

„Eine Partnerin, auf deren Treffsicherheit ich mich im Notfall verlassen kann! Das sollte eigentlich der Zweck dieser Wettkämpfe sein, den Ehrgeiz etwas zu wecken und euch Jungspunde mehr zum Training zu bringen!“

„Ja, Papa!“ Freddy zog einen Schmollmund.

Michaela mischte sich ein: „Wie wär’s, wenn wir eine Damenmannschaft melden: Clara, Frederike, Silvia und ich?“

Wanki, der über dem Dienstplan brütete, kommentierte: „Dann seid ihr außer Konkurrenz und bekommt automatisch einen ersten Platz, geniale Idee!“

„Und wir heben den Ruf des PK 21“, ergänzte Michaela, „mit vier starken Frauen!“

Freddy bremste: „Ich habe noch nicht zugesagt!“

„Ach komm, Freddy! Ich trainiere euch!“, bot Bernd an.

„Ich überleg’s mir! – Aber nur wegen der Freistellungen!“, schob Frederike nach.

Wenn sie gerade keinen Einsatz fuhr, sah Clara Schütt bis zwei Wochen zurück in die Meldungen der Vermisstenstelle, aber von den vielen Abgängigen in Hamburg kam keiner in Frage, von Heesen Senior zu doubeln, der ein langer, dürrer Hanseat war nach dem Foto, das die Polizistin beim Suchaufruf gesehen hatte. Natürlich konnte die Person in der Residenz auch von überall sein, vielleicht sogar nach dem Aufenthalt wieder in sein Leben zurückgekehrt sein. Vielleicht hatten das Verschwinden des alten Herrn und der Tote in der U-Bahn auch gar nichts miteinander zu tun und eine andere Person, vielleicht ein Illegaler, fand den Tod auf den U-Bahn-Gleisen.

13

Nach der Mittagspause fanden die Kommissare einen Ausdruck vom Labor in ihrer Ablage, der bestätigte, dass es sich bei dem U-Bahn-Toten um einen Verwandten ersten Grades zur Speichelprobe von Gunther von Heesen handelte. Der Vermisstenfall von Heesen war damit jetzt endgültig ihr Kriminalfall, um zu klären, ob es Fremdverschulden war.

Am späten Nachmittag überbrachten die beiden Kriminalbeamten die traurige Nachricht dem Ehepaar von Heesen. Mirja von Heesen sank in sich zusammen: „Das kann doch nicht sein!“ Sie zog ein Papiertaschentuch aus der Packung vor sich auf dem Couchtisch und wischte sich immer wieder über die Augen. Die Ermittler beobachteten beide von Heesens, aber entdeckten keine ungewöhnlichen Reaktionen. Gunther von Heesen war stehen geblieben, aber er sah so geschockt und hilflos aus, dass er ein wirklich guter Schauspieler sein müsste, um diese Mischung so perfekt vorzuspielen.

Es herrschte kurzes Schweigen, dann hörten die Beamten wie im Selbstgespräch halblaut: „Wie ist Vater denn dort hingekommen? Wer war der Mann, der ihn aus der Residenz abgeholt hat? Warum?“

Das waren genau die Fragen, die die Kriminalpolizei klären wollte.

14

Clara und Tom fuhren zum St. Anna-Stift. Die Polizeibeamtin ließ sich nicht leicht von ihren Vorhaben abbringen. Zuerst näherten sich die beiden Beamten der korpulenten älteren Dame am Empfang und wiesen sich aus.

Gleich anschließend stellte Clara ihre Fragen wie ein Maschinengewehr: „Waren Sie auch hier, als Herr von Heesen gebracht wurde? Können Sie sich erinnern, wer ihn begleitete? Mann oder Frau? Welchen Eindruck machte der Senior? Haben Sie ihn während seines Aufenthalts hier mal vorbeikommen sehen oder gesprochen? Hatten Sie auch Dienst, als …?“

Die Angesprochene unterbrach resolut: „Nu mal langsam! Es geht um den, der hier abgeholt wurde und verschwunden sein soll?“

„Ja, Ludowig von Heesen!“

„Ich kenne ihn nicht. Was meinen Sie, wie viele ältere Menschen allein oder in Begleitung hier ein und aus gehen! Man muss sich ja nicht bei mir anmelden. Ich sitze hier eher pro forma oder um Fragen von Bewohnern oder Besuchern zu beantworten. Woher soll ich wissen, wer der verschwundene Gast war?“

„Sie wissen also nicht, wer hier rein und raus geht?“, wunderte sich die Polizistin. „Wenn nun verwirrte Bewohner die Residenz verlassen wollen, dann spazieren die einfach so raus?“

„Nein! Auf den Stationen sind Türen mit besonderen Griffen und die Schiebetür dort hinten öffnet sich von innen nur, wenn man den täglich neu dort ausgehängten vierstelligen Code eingibt, das überfordert die meisten Dementen, wohingegen die Besucher in der Regel in der Lage sind, damit die Schiebetür zu öffnen.“ Die Dame lächelte und ergänzte: „Ausnahmen bestätigen die Regel!“

„OK. Wenn wir Ihnen ein Bild zeigten, könnten Sie sich dann vielleicht erinnern?“, schaltete sich Tom zum ersten Mal ein.

„Schon möglich.“

„Wäre es Ihnen aufgefallen, wenn Herr von Heesen nicht freiwillig mitgegangen wäre?“, übernahm Clara wieder.

„Nicht unbedingt. Manche von den Demenz- oder Alzheimer-Patienten erkennen ihre Angehörigen nicht wieder und machen Szenen, wenn diese mit ihnen zum Arzt wollen oder sie zu einem Spaziergang abholen.“

Tom meinte genervt: „Aber der alte Mann ist doch erst vor sieben Tagen verschwunden! Fällt Ihnen denn nichts ein?“

„Nein, es gab nichts Auffälliges, das habe ich den anderen Beamten auch schon gesagt. Wir sind doch keine Anstalt, wo Ein- und Ausgänge überwacht werden!“

„Zeichnet die Überwachungskamera Tag und Nacht auf?“, forschte Clara.

„Ja, aber die Daten wurden von der Kriminalpolizei konfisziert.“

„Danke, für Ihre freundlichen Auskünfte“, schloss Clara das Gespräch und verließ die Residenz.

Widerwillig trottete Tom hinter ihr her: „Hey, warum gehst du? Wir müssen das Personal befragen!“

„Tom, wir dürfen da nicht ermitteln. Das ist Sache der Kriminalpolizei, sonst handeln wir uns ‘ne Menge Ärger ein!“

„Und jetzt? Das war’s?“, maulte der Jüngere.

Clara schritt den Bürgersteig entlang, erst nach rechts bis über zwei Querstraßen hinaus, dann zurück und circa 200 Meter nach links. Die Seniorenresidenz befand sich in einem vornehmen Villenviertel, hier waren wenige Leute auf dem Bürgersteig unterwegs. Einmal sprachen sie eine ältere Dame an, die einen Malteser spazieren führte, ob sie vor ungefähr sieben Tagen etwas Ungewöhnliches bemerkt habe, aber die Dame verneinte höflich.

Das ganze Gebiet war eine 30er-Zone. Am Straßenrand parkten nur vereinzelt Autos, da die meisten Grundstücke über eigene Garagen verfügten oder zumindest Stellplätze am Ende der meist mit Gittertoren verschlossenen Zufahrten aufwiesen. Fremde Autos würden hier eigentlich auffallen, aber Clara hatte keine großen Hoffnungen, dass ein Anwohner etwas bemerkt hatte, da die Villen ausnahmslos weit zurückgesetzt von der Straße, oft teilweise durch Hecken oder Bäume verdeckt, in den parkähnlichen Anlagen platziert waren.

Tom stoppte: „Schau mal!“ Clara sah ihn fragend an, folgte dann seinem Blick. Halb verdeckt durch die ausladenden Äste einer Araukarie entdeckte sie eine schwenkbare Überwachungskamera an einem Stützpfosten, der einem der gigantischen Baumarme Halt lieferte.

Clara nickte Tom anerkennend zu: „Gut gemacht! Während ich hier frage, ob wir die Aufzeichnungen bekommen, könntest du bei den um die Residenz gelegenen Grundstücken noch mal nach weiteren Kameras Ausschau halten!“

„Aye, aye, Chefin!“

„Dösbaddel!“, konterte Clara, bevor sie an dem Mäuerchen an der Zufahrt auf den Klingelknopf drückte.

Nach kurzer Zeit ertönte eine weibliche, stark näselnde Stimme: „Sie wünschen, bitte?“

„Polizei! Frau Stelling, kann ich Sie kurz sprechen, bitte?“

„Können Sie sich ausweisen?“

Die Polizistin hielt ihren Dienstausweis vor die kleine Kamera oberhalb der Klingel. Das Torschloss surrte und gab Claras Druck nach. Sie schritt die halbmondförmige Auffahrt zu einer strahlend weiß gestrichenen Villa hinauf, vorbei an diversen Gartenstatuen, kleinen Springbrunnen und in Kugelform geschnittenen Büschen.

„Das ist ein Leben!“, dachte die Polizeibeamtin, die für einen Hungerlohn immer wieder ihr Leben riskierte und sich die Gesundheit mit den vielen Nachtdiensten und Wechselschichten ruinierte.

Als sie gerade die fünf Stufen zur Haustür hinter sich hatte und nach einem Türklopfer oder Klingelknopf suchte, öffnete eine kleine Frau, weit in den Siebzigern, selbst die Tür. „Kommen Sie, Frau …?“

„Polizeihauptmeisterin Schütt!“ Clara folgte der Seniorin in ein rundes Foyer mit einem hübschen Bodenmosaik aus Marmor.

Die alte Dame hielt an. „Wie kann ich Ihnen helfen, Frau Polizeihauptmeisterin Schütt?“

Das vornehme Näseln der alteingesessenen Hanseaten regte die Beamtin aus dem Ruhrpott jedes Mal auf, so fiel ihre Bitte etwas schroffer aus als beabsichtigt: „Wir benötigen Ihre Überwachungsdaten von der Kamera, die unzulässigerweise nicht nur Ihr Grundstück sondern auch den öffentlichen Bereich davor erfasst!“

„Aber warum denn?“

„Wir sind auf der Suche nach einem Wagen, der vor rund einer Woche in der Nähe geparkt gewesen sein könnte, um den Fahrer als Zeugen zu befragen.“

„Ist irgendwo eingebrochen worden?

„Nein, seien Sie unbesorgt, nichts ist passiert. Können Sie mir die Aufzeichnungen überlassen? Wie lange werden die denn gespeichert?“

„Da fragen Sie mich was! Dafür ist mein Sohn zuständig. Ich bin Witwe, seither wohnt Jochen wieder hier, aber er ist bei der Arbeit. Ich kenne mich damit überhaupt nicht aus. Da müssen Sie wohl nochmals wiederkommen.“

„Wann kommt Ihr Sohn denn heim?“

„Das ist unterschiedlich. Heute ist Dienstag, da kommt er oft so auf die Sieben.“

„Danke sehr, Frau Stelling! Wir melden uns.“ Vorne an der Haustüre verabschiedeten sich die beiden Frauen höflich voneinander. Die Besitzerin blieb vor der Tür stehen, bis das Gitter zur Einfahrt hinter der Besucherin zugefallen war.

Clara winkte ihr kurz zu und dachte: „Wenn man reich ist, lebt man selbst hinter Gittern und Mauern und muss dauernd um Gut und Leben bangen.“

Tom kam auf seine Kollegin zu: „Warst du Kaffeepause machen? Ich warte und warte hier.“

„Und, gibt es noch mehr auf Straße oder Bürgersteig ausgerichtete Spione?“

„Klaro! Wenn man genauer sucht, ist hier alles verwanzt.“

„Dann haben wir ein Problem. Wir können nicht bei allen Anliegern unauffällig die Aufzeichnungen von einem so lange zurückliegenden Zeitraum sichten wollen, das schlägt Wellen bis zum Chef. Wo hättest du deinen Wagen abgestellt, wenn du jemanden entführen willst?“

„Nicht hier, viel zu auffällig! Vielleicht in einer der Querstraßen! Oder ein Komplize wartet im Wagen und sammelt die beiden auf, das geht ruckizucki.“

„Lass uns mal einen Blick in die Seitenstraßen werfen, du rechts, ich links!“

„Jawohl, Chefin!“ Aber Tom zog Clara nur auf, denn im Grunde hatte er sich an ihren Befehlston längst gewöhnt, der anderen Kollegen, wenn sie ausnahmsweise mit Clara als Partnerin arbeiten mussten, gewaltig aufstieß. Andererseits bemutterte Clara Tom auch oft, deckte ihn, wenn er wieder nicht rechtzeitig zum Dienst erschienen war, brachte ihm etwas zu essen für zwischendurch mit, da er ständig über Hunger klagte. Sie waren ein eingespieltes Team mit klaren Strukturen. Ab und zu wünschte Tom sich mit der kecken Frederike oder der hübschen Michaela Streife zu fahren, aber der Revierleiter hatte sicher recht, dass er von Clara sehr viel lernen konnte.

Also suchte Tom gehorsam die nächstgelegene rechte Seitenstraße ab, als er Herberts Stimme hörte: „Peter 21 für Peter 21-2. Kommen!“

Tom zog das immer noch große und unhandliche Funkgerät aus der Brusttasche seiner Uniformjacke: „Peter 21-2 hört!“

„Jost hat schon zweimal nach euch gefragt, ihr solltet euch mal wieder hier sehen lassen!“

„Klar, Wanki, gib uns noch 20 Minuten!“

„20 Minuten, nicht mehr! Peter 21 Ende.“

Tom beschleunigte seine Schritte. Tatsächlich gab es auch hier an mehreren Grundstücken Kameras, aber man müsste mehr Zeit haben, um deren Ausrichtung zu prüfen und ob sie in Frage kamen, Personen, die in einen Wagen stiegen, aufzuzeichnen. Jetzt konnten sie eh nichts mehr ausrichten.

Er joggte zurück zum Dienstwagen, wo Clara bereits wartete. „Dann mal flott, wenn du pünktlich wie angekündigt im PK sein willst!“

Jetzt am späten Vormittag kamen sie ohne Staus durch und saßen ungefähr seit fünf Minuten an ihren Schreibtischen, als der Dienststellenleiter aus seinem Büro kam und sich bei ihnen erkundigte: „Besondere Vorkommnisse?“

Clara versicherte: „Alles ruhig!“ Jost sah prüfend Tom an, der kein so abgebrühtes Pokerface wie die ältere Kollegin hatte, aber auch der sah ihn so treuherzig an, dass er glaubte, mit seinem Verdacht auf eigenmächtige Ermittlungen täte er ihnen Unrecht.

Mit mehr Zeit und der Befugnis, sich diverse private und öffentliche Überwachungsaufnahmen zu holen, müsste man dem Mann, der von Heesen oder Pseudo-von Heesen abgeholt hatte, doch auf die Spur kommen können! Leider hatte Clara nicht nur ausdrücklich keine Erlaubnis zu weiteren Nachforschungen, sondern Tom und sie hatten in ihren Schichten in der Regel keine Gelegenheit, sich für länger als eine Stunde auszuklinken, so dachte die Polizistin zwar noch oft an den U-Bahn-Toten, doch für den Fall zuständig war das Kriminalkommissariat.

15

Das zuständige Ermittler-Duo erstellte die Arbeitshypothese, dass der alte Herr entführt wurde, da die Familie von Heesen über Geld verfügte. Der Coup musste vorbereitet worden sein, denn es war wohl kaum ein Zufall, dass niemandem Fremde aufgefallen waren. Der oder die Entführer kannten sich aus mit dem Türöffner, wussten, wo Überwachungskameras waren und wo sich von Heesens Zimmer befand. Alle persönlichen Sachen waren mitgenommen worden, das hätte man wohl kaum gemacht, wenn man den Senior von vornherein umbringen wollte! Aber was war schiefgelaufen? Hatte der Demenzkranke seine Entführer überfordert? Schließlich ist es nicht einfach für Außenstehende, die Reaktionen eines Dementen einzuordnen. Sie konnten stur wie trotzige Kinder sein, hilflos wie Amnesiepatienten, aber in klaren Momenten völlig vernünftig reagieren. War es dem Opfer gelungen zu flüchten? Hatte man ihn im U-Bahnsystem irgendwo gefangen gehalten?

Erneut wurden die Gänge, Tunnel, Ecken und Räume in einem größeren Umkreis um den Ort des Zusammenstoßes von Polizisten und mehreren Spürhunden abgesucht, aber es fand sich kein Hinweis auf ein Versteck, in dem Ludowig von Heesen eingesperrt gewesen wäre.

Tagelang waren Schulte und Kühn fast ausschließlich am von Heesen-Fall, machten die übliche Kleinarbeit, die zur Routine gehörte, aber weder Auswertungen von Telefon- und Handylisten, Computern und Bankauszügen noch unzählige weitere Befragungen brachten irgendeinen Hinweis auf einen Auftragsmord.

Die Familie war nachweislich in den USA während der angegebenen zwei Wochen und verhielt sich völlig unauffällig bei den Vorbereitungen zu Einäscherung und Urnenbeisetzung rund drei Wochen später.

Zu dem Unbekannten im Seniorenheim gab es überhaupt keine Erkenntnisse. Der Vergleich eines Ausdrucks des Besuchers von einem Überwachungsvideo mit allen Bekannten, die der Familie eingefallen waren, hatte keinen Treffer gebracht.

Koffer und Tasche des Opfers samt allem Inhalt blieben verschwunden. Es war nicht zu klären, wie der alte Mann im Tunnelbereich auf die Schienen gelangt war. Für Suizid gab es keinen Anhalt. Doktor Kröger hatte beim zweiten Besuch der Kommissare Selbstmord sogar ausgeschlossen, weil er einem so stark beeinträchtigten Demenzkranken die nötige Planung nicht zutraute.

Die Ermittlungen gegen den Lokomotivführer Jens Matthies wurden eingestellt, da alle Untersuchungsergebnisse auf einen tragischen Unglücksfall hinausliefen.

Die Nachforschungen zu diesem ungeklärten Todesfall steckten in einer Sackgasse und neue Fälle beschäftigten die Kommissare.

SOKO Mord-Netz

Подняться наверх