Читать книгу Chefarzt Dr. Norden 1171 – Arztroman - Jenny Pergelt - Страница 3

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Das leise und stete Trommeln von Regentropfen an der Fensterscheibe weckte Anita. Es regnet, war ihr erster Gedanke an diesem frühen Morgen. Der zweite galt Oliver. Sie wusste, dass er schon aufgestanden war. Sie konnte die Leere auf der anderen Bettseite spüren. Trotzdem tastete sie sie schlaftrunken ab. Ein verhaltenes Lachen ließ sie innehalten und die Augen aufreißen.

»Du bist noch hier«, sagte sie strahlend und schüttelte ihre Müdigkeit ab.

»Ja, aber leider nicht mehr lange. Ich muss zur Arbeit.« Oliver stand im Türrahmen und sah mit einem liebevollen Lächeln zu ihr hinüber. Als Anita eine Hand nach ihm ausstreckte, ließ er sich nicht lange bitten. Zärtlich küsste er seine Verlobte. »Versuch, wieder einzuschlafen, Liebling. Es wird heute den ganzen Tag regnen. Wenn ich du wäre, würde ich ihn einfach verschlafen.«

»Geht doch nicht. Ich habe heute extra Urlaub genommen, um alles zu schaffen, was ich mir vorgenommen habe: erst zum Zahnarzt, dann zur Bank und dann …« Sie seufzte traurig auf. »Und dann zum Vermieter, um meine Kündigung abzugeben.«

»Wir waren uns doch einig, Liebling …«

»Ja, ja, ich weiß«, sagte Anita schnell. »Ich mache es ja. Heute gebe ich meine Kündigung wirklich ab. Es wäre ja echt blöd, zwei Wohnungen zu haben. Aber trotzdem … Es … Es wird mir unheimlich schwerfallen, sie aufzugeben.« Anita spürte, wie sich ihre Emotionen den Weg an die Oberfläche bahnten, und senkte schnell den Kopf, damit Oliver davon nichts mitbekam. Doch er kannte sie zu gut, um nicht zu wissen, was in ihr vorging.

Seine Stimme wurde weich, als er sagte: »Wenn deine Wohnung nur etwas größer wäre als ein Schuhkarton, könnten wir auch hier leben. Aber so …« Oliver griff nach einer blonden Haarsträhne, die ihr ins Gesicht gefallen war, und ließ sie durch seine Finger gleiten. »Ich möchte richtig mit dir zusammen sein, Liebling. So wie es jetzt ist, kann es doch nicht bleiben. Warum packst du nicht endlich deine Sachen und ziehst bei mir ein?«

»Solange ich die Wohnung noch habe und dafür Miete zahle, möchte ich sie auch nutzen.« Sie sah ihn um Verständnis bittend an. »Wir haben noch ein ganz langes gemeinsames Leben vor uns. Lass mir doch die paar Wochen, um mich allmählich von meiner Wohnung zu verabschieden.«

Oliver legte den Kopf schief. »Mein Liebling, ich fürchte, du bist hoffnungslos in deine Wohnung verliebt. Du hängst an ihr, als wäre sie deine beste Freundin. Stimmt’s?«

»Nun, ich mag sie schon sehr«, räumte Anita ein.

»Mehr als mich?«

»Nein! Natürlich nicht! Ich liebe dich! Das weißt du doch!« Entrüstet sah sie ihren Verlobten an. Dass er so etwas auch nur in Erwägung ziehen konnte! Er musste doch wissen, wie tief ihre Gefühle für ihn waren.

»Beweis es«, drängte Oliver. »Gib sie endlich auf! Ich habe keine Lust mehr, ab und zu bei dir zu Gast zu sein, obwohl wir in meiner Wohnung ständig zusammen sein könnten.«

Anita nickte zwar zustimmend, aber auch sichtlich betrübt. Ihre Wohnung war wirklich winzig und bestand nur aus einem Zimmer, das ihr als Wohn- und Schlafraum diente. Es gab ein enges Duschbad und eine so kleine Küche, dass sie diese Bezeichnung kaum verdiente. Seit Oliver ihr vor einigen Wochen einen Heiratsantrag gemacht hatte, sprachen sie davon zusammenzuziehen. Künftig wollten sie in Olivers Wohnung leben. Sie war nicht nur größer und schöner, sondern lag auch so zentral, dass beide nur sehr kurze Wege zu ihren Arbeitsstätten hatten. Anita hatte die Kündigung ihres Mietvertrags längst geschrieben, aber immer noch nicht abgegeben. Sehr zu Olivers Leidwesen, der schon ernsthaft begann, sich deswegen Sorgen zu machen. Befürchtete Anita etwa, ihre Freiheit aufzugeben? Wollte sie ihn gar nicht heiraten?

»Ich verspreche dir feierlich, dass ich heute diese dumme Kündigung abgeben werde«, sagte Anita nun, und augenblicklich schwanden Olivers Sorgen.

»Was hältst du davon, wenn wir zum Abendessen ausgehen?«, fragte er zufrieden. »Lass uns die Kündigung feiern! Vielleicht kannst du dich dann endlich auf unser gemeinsames Leben freuen.«

»Ich freue mich doch darauf!«, beteuerte Anita. »Ich liebe dich und kann mir nichts Schöneres vorstellen, als den Rest meines Lebens mit dir zu verbringen. Ich bin doch nur ein bisschen wehmütig. Da kommt wohl meine sentimentale Ader durch.« Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und zog Oliver für einen Kuss zu sich hinunter. »Ich liebe meine Wohnung, aber dich liebe ich mehr«, hauchte sie leise an seinem Mund, bevor sie ihn erneut küsste.

Dieser Kuss machte es Oliver schwer, seine Verlobte zu verlassen, und er kostete ihn aus, bis er sich schließlich beeilen musste, um nicht zu spät zu kommen.

Auch für Anita wurde es nun Zeit aufzustehen, wenn sie ihre Termine schaffen wollte. Als sie später das Haus verließ, schimpfte sie leise. Der Regen hatte zugenommen, und auf dem Gehweg hatten sich schon große Pfützen gebildet. Anita ärgerte sich, ihre wunderschönen neuen Schuhe diesem ungemütlichen Wetter auszusetzen. Das weiche Leder war zu empfindlich, um den Regen unbeschadet zu überstehen. Außerdem waren die Absätze recht hoch und für regennasse Pflastersteine denkbar ungeeignet. Es waren die idealen Pumps für einen typischen Sommertag. Ein Sommertag, der trocken und warm war und nicht so verregnet wie der heutige. Obwohl es bis zu ihrem Zahnarzt nicht weit war und sie diese Strecke üblicherweise zu Fuß ging, verleitete sie der Regen dazu, ihr Auto zu nehmen.

Nach einer Stunde verließ sie die Praxis wieder. Es regnete nicht mehr, und Anitas Stimmung hob sich merklich. Das Einkaufscenter, in der sich die Bankfiliale befand, lag in der Nähe, und der kleine Spaziergang dorthin gefiel ihr. Natürlich waren die vielen Pfützen immer noch ein großes Ärgernis – für sie und für ihre Schuhe. Aber wenigstens blieb es von oben trocken.

Sie passierte die große Drehtür, die ins Center führte, und kam sofort auf den regennassen Marmorfliesen ins Straucheln. Hier war es so rutschig, dass es ihr nur mit viel Mühe und Glück gelang, das Gleichgewicht zu halten und nicht zu stürzen. Mit äußerster Vorsicht setzte sie ihren Gang fort und entspannte sich erst, als sie die Bank betrat und ihre Schuhe in dem weichen Teppichboden versanken.

Vor dem einzigen besetzten Schalter hatte sich eine lange Schlange gebildet. Mit einem tiefen Seufzer stellte sie sich an. Äußerlich duldsam und gelassen wartete sie ab, bis sie an die Reihe kam. Dass sie immer unruhiger wurde, je länger es dauerte, sah ihr niemand an.

Es war fast Mittag, als Anita endlich ihre Geschäfte erledigt hatte. In zwanzig Minuten wollte sie bei ihrem Vermieter sein. Um dort noch einigermaßen pünktlich anzukommen, musste sie sich nun sputen. Den Termin zu verschieben, das kam für sie nicht infrage. Sie hatte Oliver versprochen, heute ihre Kündigung abzugeben. Mit großen, eiligen Schritten verließ sie die Bank. Den feuchten Boden, der sie in der Passage erwartete, hatte sie längst vergessen. Erst als sie ausrutschte und rücklings stürzte, fiel er ihr wieder ein. Leider zu spät. Sie spürte einen heftigen Schmerz, als ihr Kopf auf dem Boden aufschlug, bevor alles um sie herum schwarz wurde.

Wieder riss sie ein gleichmäßiges Trommeln aus dem Schlaf. Und wieder schoss ihr ein, dass es regnen musste. Sie dachte an große, schwere Regentropfen, die beharrlich an ihre Fensterscheibe schlugen. Viel zu laut, wie sie befand. So laut, dass ihr Schädel davon zu dröhnen begann und sie erkannte, dass das nicht am Regen liegen konnte. Es brauchte eine ganze Weile, bis sie verstand, dass sich das hämmernde Stakkato nur in ihrem Kopf abspielte und rhythmisch aufwallende Schmerzen auslöste. Stöhnend schlug sie die Augen auf, nur um vor Schreck sofort zu erstarren. Das laute Klopfen verstummte. Sogar ihre Kopfschmerzen gerieten in Vergessenheit, angesichts dessen, was sie jetzt sah. Fassungslos blickte sie sich um. Wo kamen die vielen Menschen her? Warum schauten sie sie an, als wäre sie ein Insekt unter dem Mikroskop? Wo war sie überhaupt? Wieso lag sie nicht in ihrem Bett, sondern auf einem kalten, harten Boden?

Mühsam richtete sie sich auf und hielt mit einer Hand ihren Kopf fest, der zu zerspringen drohte.

»Vielleicht sollten Sie besser liegen bleiben, bis der Rettungswagen hier ist«, sagte eine fremde Frau freundlich.

Der Mann, der daneben stand, musterte Anita mitfühlend. »Sie haben sich ordentlich den Kopf gestoßen, als Sie hingefallen sind. Wie geht es Ihnen?«

Anita musste einen Moment die Augen schließen, weil sich plötzlich alles um sie drehte. »Nicht so gut. Mir ist schwindlig, und mein Kopf tut höllisch weh.«

Ganz langsam legte sie sich wieder ein. Es war ihr egal, dass sie nun erneut auf den schmutzigen Fliesen lag. Ihr ging es so schlecht, dass sie meinte, diesen Zustand nicht länger aushalten zu können. Wo sie war oder warum sie hier lag, interessierte sie nicht mehr. Sie wollte nur noch, dass alles ein Ende hatte und sie wieder zu Hause war. Sie wollte zu Oliver. Sie wollte ihn bei sich haben, damit er sie beschützen konnte.

Ohne es zu merken, dämmerte sie wieder weg. Als sie das nächste Mal die Augen aufschlug, teilte sich gerade die Menschenmenge, um zwei Männer vom Rettungsdienst durchzulassen. Sie stellten sich ihr als Dr. Steinbach und Jens Wiener vor. Doch Sekunden später hatte sie diese Namen bereits vergessen. Als sie nach ihrem gefragt wurde, brauchte sie eine Weile, um sich an ihn erinnern zu können.

»Ich heiße … Anita … Weber. Ich heiße Anita Weber.«

Auch die nächsten Fragen bereiteten ihr große Mühe. Auf Anhieb wusste sie weder ihre Anschrift noch ihr Geburtsjahr oder den Wochentag. Sie musste lange überlegen, bis ihr die Antworten dazu einfielen. Doch zu dem, was mit ihr geschehen war, konnte sie überhaupt nichts sagen. Es war vollkommen aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Sie war froh, dass es genügend Zeugen gab, die den Sturz beobachtet hatten und nun davon berichten konnten. In Anitas Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander, in dem nichts mehr an seinem angestammten Platz war.

Nachdem Jens Wiener, der Rettungssanitäter, den Blutdruck gemessen hatte, holte Dr. Fred Steinbach eine kleine Taschenlampe heraus. Anita musste ihre Augen schließen, sie wieder öffnen und anschließend dem hellen Licht der Lampe folgen.

»Vielen Dank, Frau Weber.« Fred Steinbach steckte die Lampe wieder ein. »Fürs Erste sind wir hier fertig.«

»Dann kann ich also endlich nach Hause?«, fragte Anita matt. Auf ihrer hellen Leinenhose waren unschöne Schmutzflecken zu sehen, ihr war kalt, sie fühlte sich erschöpft und müde. Sie wollte nur noch fort von hier. Fort von der dichten Menschentraube, von der sie sich belagert und beobachtet fühlte.

»Sie können nicht nach Hause«, erwiderte der nette Arzt ruhig. »Wir bringen Sie in die Klinik, damit Sie dort gründlich untersucht werden.«

»In die Klinik?« Anita rieb sich die Schläfen, weil die Schmerzen wieder zunahmen. »Aber … aber ich bin doch nicht krank. Ich bin nur hingefallen.«

»Sie haben sich bei dem Sturz am Kopf verletzt.«

Anita tastete mit einer Hand über ihren Hinterkopf und zuckte zurück, als sie die schmerzhafte Stelle erwischte. »Es ist nur eine harmlose Beule.«

»Mag sein. Auch eine Gehirnerschütterung wäre denkbar. Immerhin waren Sie mehrere Minuten bewusstlos. Dazu kommen noch der Schwindel und die Übelkeit, von der Sie uns berichtet haben. Es muss abgeklärt werden, ob nicht eine ernsthaftere Verletzung dahintersteckt.«

Nicht nur die Worte des Rettungsarztes überzeugten Anita. Auch das große Bedürfnis, den neugierigen Blicken der Passanten zu entkommen, ließ sie zustimmen. Doch sobald sie im Rettungswagen lag, kehrten die Zweifel zurück.

»Vielleicht könnten Sie mich ja auch einfach zu Hause absetzen? Mir geht’s doch schon viel besser. Außerdem habe ich nachher einen sehr wichtigen Termin, zu dem ich auf gar keinen Fall zu spät kommen darf.«

Anita machte Anstalten, sich aufzurichten, und Fred drückte sie sanft auf die Trage zurück. »Was ist das denn für ein wichtiger Termin? Was haben Sie vor?«

»Ich …« Anita brach ab und überlegte so angestrengt, dass der Kopfschmerz stärker wurde. Warum fiel ihr nicht ein, wohin sie so dringend wollte? »Um zwölf«, stieß sie schließlich hervor. »Mein Termin ist um zwölf. Dann muss ich unbedingt zu …« Plötzlich traten ihr die Tränen in die Augen, und sie schluchzte leise auf. »Was ist denn nur los mit mir? Warum kann ich mich nicht daran erinnern? Der Termin ist doch so wichtig!«

»Frau Weber, bitte regen Sie sich nicht auf. Versuchen Sie, ganz ruhig zu bleiben und darauf zu vertrauen, dass Sie in der Klinik Hilfe bekommen werden.«

»Aber das ist doch nicht normal, dass ich mich nicht mehr richtig erinnern kann! Ich weiß noch nicht mal, warum ich in diesem Einkaufscenter war oder wie ich dorthin gekommen bin.« Anita hatte nun heftig zu weinen begonnen. Sie hatte Angst, fürchterliche Angst, und sie wusste nicht, warum das so war. Sie wusste nur, dass hier irgendetwas schrecklich schieflief und dass sie gerade die Kontrolle über ihr Leben verlor.

Fred versuchte, sie zu beruhigen. Diese Aufregung war nicht gut für seine verwirrte Patientin. »Gedächtnislücken sind bei einem Schädelhirntrauma völlig normal und kein Grund, sich unnötig Sorgen zu machen. Mit etwas Ruhe wird es Ihnen bald wieder besser gehen.«

»Also kann ich doch nach Hause?«, fragte Anita schluchzend. »Wenn ich mich ausruhen soll, muss ich doch jetzt nach Hause, nicht wahr?«

»Bald«, sprach er besänftigend auf sie ein, als wäre sie ein Kleinkind. »Bald können Sie nach Hause, Frau Weber. Wir machen nur noch einen kleinen Abstecher in die Behnisch-Klinik für eine kurze Untersuchung. In Ordnung?«

Anita nickte zögernd und signalisierte damit ihr Einverständnis.

»Können wir jemanden für Sie benachrichtigen? Haben Sie Familie?«

»Ja … Ich glaube schon.« Sie schloss die Augen, weil ihr die Dunkelheit beim Nachdenken half. »Ich habe einen Verlobten. Sein Name ist … Oliver.« Anita lächelte den Arzt glücklich an. Sie war verlobt! Oliver war ihr Verlobter, und sie liebten sich. Er würde ihr beistehen. Nun gab es nichts mehr, was ihr Angst machte!

*

In der Notaufnahme der Behnisch-Klinik war es heute ruhiger als sonst. Dr. Martin Ganschow, der hier als Assistenzarzt arbeitete, wusste, dass sich das schnell ändern konnte. Von einer Sekunde auf die andere konnte sich ein entspannter Dienst zu einem wahren Albtraum wandeln, in dem sich plötzlich Schwerkranke und Unfallopfer die Klinke in die Hand gaben. Das störte ihn nicht. Er liebte es, wenn es anspruchsvoll zuging und er zeigen konnte, was in ihm steckte.

Nach seinem Medizinstudium hatte Martin direkt an der Behnisch-Klinik angefangen. Er war jetzt im vierten Jahr hier, und manchmal fiel es ihm schwer, dieses große Glück wirklich fassen zu können. Für ihn fühlte sich dieser Job wie ein Sechser im Lotto an. Die Klinik besaß einen ausgezeichneten Ruf und war dafür bekannt, gerade Berufsanfängern einen guten Start zu ermöglichen und sie in ihrer weiteren Ausbildung zu unterstützen und zu fördern. So besaß Martin inzwischen nicht nur seinen Doktortitel, sondern war auch mitten in der Facharztausbildung. Dass das nicht in allen Kliniken so unproblematisch vonstattenging und die Qualifizierung oft unter dem hohen Arbeitspensum und den vielen Diensten leiden musste, wusste er. Umso dankbarer war er für die große Chance, die ihm hier geboten wurde.

Martin liebte seine Arbeit und das ganze Team der Notaufnahme –, selbst Dr. Erik Berger, den Abteilungsleiter. Anfangs war es für ihn nicht leicht gewesen, mit der grantigen und unwirschen Art seines Chefs klarzukommen. Er musste ihn erst näher kennenlernen, um zu erkennen, dass Berger nicht nur der beste Notfallmediziner Münchens war, sondern auch ein hervorragender Mentor, dem das Wohlergehen seiner Schützlinge am Herzen lag und der alles tat, damit sie bei ihm die bestmögliche Ausbildung erhielten. Natürlich würde Erik Berger das niemals zugeben. Er kommandierte seine Assistenzärzte herum, verlangte ihnen alles ab, prüfte ihr Wissen ständig auf Herz und Nieren und behandelte sie, als wären sie nur dafür da, um ihm oder den Patienten gefällig zu sein. Und trotzdem verehrten sie ihn. Sie wussten, er stand zu ihnen und tat alles, damit aus ihnen hervorragende Fachärzte wurden.

Als Anita Weber in der Notaufnahme ankam, war Dr. Berger nicht da. Zusammen mit den anderen Abteilungsleitern und Oberärzten der Behnisch-Klinik war er in einem Meeting bei Dr. Daniel Norden. Selbstverständlich könnte Martin jederzeit Unterstützung anfordern, falls es nötig sein sollte. Dr. Berger wäre in wenigen Minuten bei ihm. Aber in diesem Fall war das nicht erforderlich. Die junge Frau, die die Rettungswache angekündigt hatte, war in einer Einkaufspassage ausgerutscht und sollte hier durchgecheckt werden. Für den jungen Arzt stellte das keine große Herausforderung dar. Damit würde er auch gut allein fertig werden.

»Ist sie noch nicht da?« Dr. Jakob Janssen schaute zu ihm rein. »Ich habe gerade gehört, dass die Rettungswache einen Neuzugang angekündigt hat.«

Jakob war für Martin nicht nur ein Kollege. Die beiden hatten im selben Jahr ihren Abschluss gemacht und dann gemeinsam in der Behnisch-Klinik angefangen. Seitdem verband sie eine enge Freundschaft, obwohl sie sich nicht nur äußerlich voneinander unterschieden. Der dunkelblonde Martin war der besonnene, ruhige Typ, während Jakob als forsch und ungestüm galt und für jeden Spaß zu haben war.

Jakob grinste. »Wie sieht’s aus? Brauchst du dabei meine Hilfe?«

»Glaub ich nicht. Was ist los? Langweilst du dich?«

»Mein Patient ist gerade in der Radiologie. Eine schnöde Sprunggelenksfraktur. Dein Fall klingt viel interessanter. Wir können ja tauschen.«

»Du weißt, dass uns das eine Menge Ärger einbringen würde. Wenn Berger wieder hier ist, wird er sich ganz genau die Patientenakten ansehen. Stellt er fest, dass du die Behandlung eines Patienten an mich abgegeben hast, weil er dir nicht spannend genug war, springt er aus dem Anzug.«

Jakob verzog das Gesicht. »Ja, stimmt. Aber es spricht ja wohl nichts dagegen, wenn ich dir ein wenig über die Schulter schaue, während ich auf die Befunde aus der Radiologie warte.« Er setzte sich auf den Drehstuhl, verschränkte die Hände hinterm Kopf und lehnte sich entspannt zurück. »Ist das nicht ein tolles Gefühl, endlich mal Herr der Aufnahme zu sein, ohne dass uns der Chef ständig im Nacken sitzt?«

Sofort warf Martin einen hektischen Blick zur Tür. »Pass aus, was du sagst. Immer wenn du so eine Bemerkung machst, steht Berger plötzlich hinter dir und macht dich zur Schnecke. Ich wäre dann sehr ungern in deiner Nähe.«

Jakob winkte lässig ab. Demonstrativ legte er seine Füße auf einem kleinen Rollcontainer ab und setzte zu einer seiner lockeren Bemerkungen an, als die Tür aufgerissen wurde. Sofort sprang er wie ertappt auf und sah Schwester Anna schreckensbleich an. Martin gelang es nur mühsam, nicht lauthals loszulachen.

Leicht irritiert blickte Anna von ihm zu Jakob Janssen. »Habe ich Sie bei irgendetwas gestört?«

»Nein, Schwester Anna«, griente Martin. »Sie kommen gerade richtig.«

Mit einem leichten Stirnrunzeln und nicht restlos überzeugt, zuckte Anna die Schultern. »Ich wollte nur Bescheid sagen, dass der Rettungswagen da ist. Falls Sie also nichts Besseres zu tun haben …«

»Natürlich nicht.« Auch Martin war nun aufgesprungen. Zusammen mit Anna eilte er hinaus. Die Flachserei mit dem Freund war vergessen, jetzt zählte für ihn nur der neue Fall. Noch wusste er nicht, was ihn erwarten würde. Wahrscheinlich war die angekündigte Sturzverletzung so harmlos, wie er vermutete. Eine kleine Beule, ein paar blaue Flecken, die kaum der Rede wert waren und in wenigen Tagen verschwanden. Aber auch das extreme Gegenteil wäre möglich. Manchmal konnte ein kleiner Unfall dramatische Folgen haben und sogar ein Menschenleben beenden.

Glücklicherweise deutete auf den ersten Blick nichts darauf hin, dass Martins neuer Patientin dieses schwere Schicksal drohte. Sie war bei Bewusstsein und erwiderte Martins Begrüßung mit klaren Worten.

»Wir bringen Ihnen Frau Weber mit Verdacht auf Commotio cerebri«, sagte Fred Steinbach. »Sie ist gestürzt und auf den Hinterkopf gefallen. Laut Aussagen von Zeugen war sie ungefähr drei Minuten bewusstlos. Als wir eintrafen, war sie wach, aber leicht desorientiert zu Raum, Zeit, Situation und Person. Sie hat Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit und eine retrograde Amnesie. Keine Pupillendifferenz, keine Spasmen, keine Paresen. Alle Vitalwerte sind im Normbereich. Sie erreicht vierzehn Punkte auf der Glasgow Skala.«

Martin nickte. So wie es aussah, lag der Rettungsarzt mit seiner vorläufigen Diagnose richtig: Anita Weber hatte sich bei dem Sturz eine Commotio cerebri, also ein leichtes Schädelhirntrauma, zugezogen. »Frau Weber, wir werden Sie hier gründlich untersuchen, aber momentan besteht kein Grund zur Sorge. Wahrscheinlich haben Sie nur eine Gehirnerschütterung, die sich mit viel Ruhe gut behandeln lässt.«

»Dann kann ich jetzt wieder nach Hause?«, fragte Anita ängstlich. »Ich muss nicht hierbleiben?«

»Das kann ich Ihnen erst sagen, wenn wir alle Untersuchungen abgeschlossen haben. Wir werden zuerst eine Computertomografie machen, um uns Ihren Kopf ein wenig genauer anzusehen.«

Jens Wiener, der Rettungssanitäter, meldete sich zu Wort: »Frau Weber, Ihr Verlobter weiß Bescheid. Ich habe ihn vorhin von Ihrem Handy aus angerufen. Er kommt so schnell wie möglich her.«

»Danke! Vielen Dank! Das ist sehr nett von Ihnen.«

Für die Männer vom Rettungswagen war es nun an der Zeit, sich zu verabschieden und zu ihrem nächsten Einsatz aufzubrechen. Auch Jakob Janssen musste gehen. Sein Patient war aus der Radiologie zurück und brauchte eine Gipsschiene.

Martin Ganschow untersuchte Anita gründlich, bevor er sie zusammen mit Anna in die Radiologie brachte. Hier wurden sie bereits von Dr. Nils Heinrich, dem leitenden Radiologen, erwartet.

»Ist Ihr Meeting mit dem Chefarzt schon vorbei?«, wunderte sich Martin.

»I wo! Die tagen immer noch. Aber ich hatte einen wunderbaren Grund, um mich davonzumachen.« Zufrieden rieb sich der schwergewichtige Oberarzt die Hände und strahlte Anita glücklich an. »Und das verdanke ich nur Ihnen. Sie haben mir heute wirklich den Tag versüßt. Es gibt doch nichts Schöneres, als sich ein ramponiertes Hirn im Computertomograph anzusehen.«

Entsetzt riss Anita die Augen auf, und Martin griff schnell ein: »Das war nur ein Scherz, Frau Weber.« Er sah den Oberarzt fast beschwörend an, als er sagte: »Nicht wahr, Dr. Heinrich?«

»Klar!«, erwiderte Heinrich laut lachend. »Aber wer weiß! Wer kann schon sagen, was wir gleich zu sehen bekommen? So ein Gehirn ist immer wieder für eine Überraschung gut. Besonders, wenn es mit voller Wucht auf den Boden geknallt ist. Also, junge Dame, vielleicht habe ich ja Glück, und Sie liefern mir heute einen besonders interessanten Fall.«

»Ich hoffe nicht«, murmelte Anita bedrückt.

Schwester Anna strich ihr aufmunternd über den Arm. Als Nils Heinrich immer noch lachend in den Nebenraum ging, um alles für die Untersuchung vorzubereiten, sagte sie zu Anita: »Bitte nehmen Sie das, was Dr. Heinrich sagt, nicht zu wörtlich. Er ist wirklich ein genialer Röntgenarzt, aber mit seinem schrägen Humor stößt er die Menschen immer wieder vor den Kopf, ohne es zu bemerken. Ich bin mir sicher, dass Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen.«

Anita nickte nur stumm. Sie sollte sich keine Sorgen machen? Sie machte sich Sorgen, seit sie auf diesem kalten Steinboden zu sich kam. Noch immer hatte sie Gedächtnislücken. Ihr Kopf tat höllisch weh, und ihr war so schwindelig, dass ihr allein davon schon schlecht wurde. Ob das normale Symptome bei einer Gehirnerschütterung waren? Oder steckte etwa mehr dahinter?

*

Zusammen mit Nils Heinrich und Jakob Janssen saß Martin vor dem Computerbildschirm und betrachtete die ersten Aufnahmen, als sich hinter ihnen die Tür öffnete. Erik Berger und Dr. Daniel Norden, der Chefarzt der Behnisch-Klinik, kamen herein. Als Martin aufstehen wollte, winkte Daniel ab.

»Bleiben Sie ruhig sitzen, Herr Ganschow. Wir sind nur vorbeigekommen, um nach Ihrer neuen Patientin zu sehen. Es scheint ja ein sehr wichtiger Fall zu sein, wenn Herr Heinrich deswegen unser Meeting verlässt.«

Nils Heinrich kicherte. »Ist das ein Kontrollbesuch, Chef? Wollen Sie prüfen, ob ich den neuen Fall nur als Vorwand genommen habe?«

Daniel lächelte zu dieser Bemerkung nur und gesellte sich dann zu Erik Berger, der sich bereits hochkonzentriert die CT-Bilder ansah.

»Also, meine Herren, was halten Sie davon?« Berger sah seine jungen Assistenzärzte an. »Haben wir hier einen Befund?«

Daniel hatte Mühe, ein Schmunzeln zu unterdrücken, als er sah, wie die beiden Angesprochenen nervös zu ihrem Mentor aufblickten.

Jakob Janssen fing sich als Erster und reagierte gelassener als sein Freund. Er trat näher an den Bildschirm heran und schüttelte den Kopf. »Nein, ohne Befund. Es gibt keinen Hinweis auf intrakranielle Blutungen. Die Patientin hat ein Schädelhirntrauma ersten Grades, eine Commotio cerebri.«

»Ihre Therapievorschläge?«, wollte Berger von Janssen wissen.

»Symptomatische Behandlung, Bettruhe, stationäre Beobachtung für zwölf bis vierundzwanzig Stunden.«

»Aha«, sagte Berger nur dazu. »Und Sie, Herr Ganschow, teilen Sie die Meinung Ihres Kollegen?«

»Äh … Nun …« Martin brach ab und studierte noch einmal mit zusammengekniffenen Augen die Stelle auf der Aufnahme, die ihn vorhin schon beunruhigt hatte. Sollte er seinen Verdacht aussprechen? Womöglich lag er damit ja falsch und blamierte sich nur? Aber andererseits könnte es für die Patientin schlimme Folgen haben, sollte doch etwas dran sein und er hatte es aus Feigheit ignoriert. Er nahm einen Stift und umkreiste einen kleinen Bereich des Gehirns, der nur einen winzigen Hauch heller war als seine Umgebung und auf den ersten Blick kaum auffiel.

»Es wäre möglich, dass es hier eine subdurale Blutung gibt«, sagte er schließlich zaghaft.

»Ich sehe nichts«, entfuhr es Jakob.

»Ruhe, Herr Janssen«, schnauzte Berger sofort. »Sie hatten Ihre Chance. Nun ist Herr Ganschow dran.«

Martin räusperte sich, um seiner Stimme mehr Kraft zu geben. »Es ist wirklich kaum zu sehen und könnte ganz harmlos sein und nichts bedeuten. Aber zusammen mit dem klinischen Befund schließe ich auf eine frische subdurale Blutung. Das frische Blut hat die gleiche Dichte wie das Hirngewebe und lässt sich beim CT schwer darstellen.« Er warf Jakob einen bedauernden Blick zu, als er sagte: »Deshalb kann es sehr leicht übersehen werden.«

Daniel lächelte und nickte Martin anerkennend zu. Noch wusste Martin nicht, ob er dies einer richtigen Diagnose zu verdanken hatte oder nur dem Mut, einen so gewagten Verdacht zu äußern. Noch ehe er darauf eine Antwort finden konnte, klopfte ihm Nils Heinrich mit seiner Bärenpranke so kräftig auf den Rücken, dass Martin leise aufächzte.

»Prima!«, dröhnte Heinrichs tiefer Bass durch den Raum. »Ich kann dem nichts hinzufügen. Eine subdurale Blutung lautet auch mein Befund.«

»Gut gemacht, Herr Ganschow!« In Bergers wenigen Worten schwang unverkennbar Stolz und Anerkennung hervor. »Wenn Sie so weitermachen, wird aus Ihnen mal ein ganz brauchbarer Notfallmediziner.«

»Oder Radiologe«, gluckste Nils Heinrich. »Bei Ihren scharfen Augen könnte ich Sie auch gut in meiner Abteilung brauchen und …« Er verstummte sofort, als er den wütenden Blick Bergers auffing.

»Was soll das hier werden? Werben Sie mir etwa meine Mitarbeiter ab?«

Nils Heinrich zog sofort den Kopf ein und entschied, dass es besser wäre, den Mund zu halten. Obwohl er dem Leiter der Notaufnahme um eine Kopflänge und mehr als sechzig Pfund voraus war, fühlte er sich ihm unterlegen – zumindest verbal. Gegen Bergers Bärbeißigkeit hatte der gutmütige Nils Heinrich keine Chance. Hier konnte er nur verlieren.

»Es wird Zeit, dass wir uns um unsere Patientin kümmern«, sagte Daniel, bevor ein ernsthafter Streit entstehen konnte. »Herr Berger, informieren Sie bitte den OP darüber, dass wir Frau Weber in zehn Minuten hochbringen werden. Frau Rohde soll mir bei dem Eingriff assistieren. Ich spreche inzwischen mit Frau Weber und erkläre ihr alles.«

Gerade ein Eingriff am Gehirn rief bei den meisten Menschen große Ängste hervor. Ein ausführliches und einfühlsames Gespräch, in dem alles verständlich erklärt wurde, konnte da manchmal wahre Wunder bewirken und den Patienten viele Sorgen nehmen. Wenn auch nicht alle.

»Eine Blutung im Gehirn?«, wisperte Anita entsetzt.

Daniel ergriff ihre Hand, als er sah, wie sehr Anita das eben Gehörte mitnahm. »Die Blutung ist in Ihrem Schädel, aber zum Glück nicht innerhalb des Gehirns, sondern zwischen zwei Hirnhäuten, die das Gehirn außen umschließen und es so schützen. Dort hat sich bei Ihnen ein Hämatom, also ein Bluterguss, gebildet. Die Blutung war nur geringfügig und ist inzwischen völlig zum Erliegen gekommen. Probleme bereitet jetzt nur noch das Hämatom, das auf Ihr Hirn drückt und so für Sie lebensgefährlich werden könnte. Mit einem kleinen Eingriff, den wir in örtlicher Betäubung durchführen, kann Ihnen schnell geholfen werden. Dabei entfernen wir das Hämatom, und Ihre Beschwerden werden rasch verschwinden.«

Daniel merkte, wie Anita zunehmend ruhiger wurde, je länger er mit ihr redete. Und als es schließlich Zeit wurde, in den OP aufzubrechen, gelang Anita sogar ein kleines Lächeln, das ihre Zuversicht ausdrückte.

Daniel war mit sich zufrieden, besonders nachdem er die Operation erfolgreich beendet hatte. »Sie wird sich bald erholen«, sagte er hinterher zu Christina Rohde, die an der Behnisch-Klinik als Chirurgin arbeitete.

»Das denke ich auch. Das Hämatom war kleinflächig und hat keine nennenswerten Schäden anrichten können. Es war gut, dass es so früh erkannt wurde.«

»Ja, da hat unser junger Assistenzarzt ganze Arbeit geleistet. So mancher Arzt mit langjähriger Erfahrung hätte diese Blutung wahrscheinlich übersehen.«

Bevor Daniel an diesem Tag Feierabend machte, führte ihn sein letzter Gang auf die Intensivstation, wo sich Anita Weber von der Operation erholte. Er wollte noch einmal nach ihr sehen. Erst dann würde sich das gute Gefühl, alles in seiner Macht Stehende getan zu haben, bei ihm einstellen, und erst dann konnte er beruhigt nach Hause fahren.

Martin Ganschow schien es ähnlich zu ergehen. Daniel traf ihn am Bett von Anita an, der es sehr gut ging und die ihren Operateur lächelnd begrüßte.

»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Dr. Norden«, sagte sie. »Sie haben mir das Leben gerettet.«

Daniel lachte leise. »Daran waren sehr viele Menschen beteiligt.« Er zeigte auf den jungen Arzt an seiner Seite und fuhr augenzwinkernd fort: »Aber Dr. Ganschow war derjenige gewesen, der zur richtigen Zeit die richtige Diagnose gestellt hat. Also wenn Sie unbedingt jemandem danken müssen, dann bitte ihm.«

Daniel hatte das gesagt, um die besonders umsichtige und sorgfältige Arbeit Martins zu würdigen. Er wusste, dass das Wissen, einem kranken Menschen geholfen zu haben, der schönste Lohn war, den ein Arzt für seine Arbeit bekommen konnte.

In Anitas Fall hatte alles zusammengepasst: Die Diagnose war richtig gewesen, die Operation gut gelungen und die Patientin auf dem besten Weg, die Klinik als vollkommen geheilt verlassen zu können. Alles lief so, wie es sich ein Arzt von seinem Arbeitstag erhoffte.

Für Martin Ganschow traf das ganz sicher zu. Als er nach Hause fuhr, hatte er ein Lächeln im Gesicht und eine fröhliche Melodie in seinem Kopf, die er gar nicht mehr loswurde. Der heutige Tag war ein voller Erfolg gewesen und würde ewig in seiner Erinnerung bleiben. In solchen Momenten wusste Martin, warum er Arzt geworden war. Dieses Hochgefühl, das er seit Stunden spürte, war erfüllend und berauschend. Vergessen waren die Jahre mühsamen Lernens. Vergessen waren die vielen Prüfungen und Klausuren. Und vergessen waren die anstrengenden, schlaflosen Bereitschaftsdienste. Auch die Erinnerungen an die Patienten, bei denen die ärztliche Kunst versagt hatte, wogen nun nicht mehr so schwer. Heute hatte er einen großen Anteil daran gehabt, dass einer jungen Frau viel Leid oder gar der Tod erspart geblieben war. Das allein reichte, um ihn glücklich zu machen. Natürlich taten ihm auch das Lob von Erik Berger und die Anerkennung des Chefarztes unglaublich gut. Aber er betrachtete sie nur als zusätzliche Boni. Das, worauf es ihm wirklich ankam, waren immer seine Patienten.

Bestens gelaunt schloss Martin die Wohnungstür auf und ging sogleich in die Küche. Seine Freundin Nina, die als Zahnärztin arbeitete, würde nicht vor sieben nach Hause kommen. Dienstags hatte die Praxis, in der sie angestellt war, lange geöffnet. An diesen Tagen war Martin mit Kochen dran, und ausnahmsweise störte es ihn heute überhaupt nicht. Nichts konnte seiner guten Stimmung Abbruch tun. Er war einfach nur rundum zufrieden und überglücklich.

Das fiel auch Nina sofort auf, als sie nach Hause kam. Er hatte ihr Kommen nicht gehört und werkelte weiter am Herd, während sie in der Tür stehenblieb und ihm mit einem belustigten Lächeln zusah. Sie wünschte, sie könnte diesen Moment mit einer Kamera festhalten: Martin, der Mann, den sie liebte, tänzelte am Herd, sang vergnügt irgendeinen alten Gassenhauer und rührte dabei die Nudelsoße um.

»Was ist denn mit dir heute los?«, fragte sie ihn schmunzelnd, als er sich plötzlich zu ihr umdrehte. »Ich dachte, du kannst den Küchendienst nicht leiden.«

»Heute liebe ich ihn«, erwiderte er strahlend. Mit wenigen Schritten war er bei ihr und zog sie schwungvoll in seine Arme, um sie herzhaft zu küssen. »Aber dich liebe ich viel mehr.«

»Das möchte ja wohl sein«, lachte Nina. »Und nun erzähl endlich, was los ist. Ich sehe es dir doch an, dass etwas passiert ist. Etwas sehr Gutes, wie ich vermute.«

Chefarzt Dr. Norden 1171 – Arztroman

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