Читать книгу Chefarzt Dr. Norden 1165 – Arztroman - Jenny Pergelt - Страница 3

Оглавление

Vor der Behnisch-Klinik hielt Nadja Dannehl kurz inne. Sie sah an dem Gebäude hoch, auf der Suche nach einem bestimmten Fenster in der dritten Etage. Das musste es sein. Ein schmales, unscheinbares Fenster, an dem sie oft gesessen hatte, um das geschäftige Treiben vor dem Haus zu beobachten, in der Hoffnung, für kurze Zeit ihren großen Kummer vergessen zu können. Dreißig Jahre war es her. Nadja musste schlucken. Eine halbe Ewigkeit.

Unbewusst strich sie über die schmale, kaum sichtbare Narbe an ihrem linken Handgelenk. Nur leicht erhaben, etwas blasser als ihre Umgebung, wirkte sie unschuldig und bedeutungslos. Doch das war sie nie gewesen. Weder damals, nach dem Unfall, noch heute. Diese Narbe erinnerte sie in jeder Minute ihres Lebens daran, was das Schicksal ihr genommen hatte: Eine große Karriere als Violinistin.

Sie war Anfang zwanzig, als sie sich bei einem harmlos anmutenden Sturz das Handgelenk brach – mit gravierenden Folgen: zersplitterte Knochen, beschädigte Bänder. Ihr Handgelenk hatte dadurch einen Teil seiner Beweglichkeit unwiederbringlich verloren und zudem eine schmerzhafte Arthrose entwickelt. Für eine Violinistin mit riesigen Ambitionen eine schreckliche Katastrophe.

Dort oben, in diesem kleinen Krankenhauszimmer, hatte sie ihre großen Träume und Hoffnungen von einer ruhmreichen Karriere tränenreich begraben. Es hatte nie einen Plan B gegeben, sondern immer nur ihre Geige. Nie war ihr das Leben so trist und sinnlos erschienen wie an diesen Tagen. Wenn Horst nicht gewesen wäre …

Horst war ihr in dieser schweren Zeit kaum von der Seite gewichen. Er musste geahnt, nein, gewusst haben, wie oft sie darüber nachdachte, dieses kleine Fenster da oben zu öffnen, um ihrer Qual für immer zu entfliehen.

Irgendwann wurde es dann leichter, das Unvermeidliche zu ertragen. Und irgendwann hatte sie sich in Horst verliebt und ihn geheiratet. Als dann Sophie, ihre kleine, süße Sophie zur Welt kam, war die Trauer um ihre zerstörten Träume ausgestanden. Sie hatte eine Tochter, um die sie sich kümmern konnte und die mit dem gleichen, großartigen Talent gesegnet war wie ihre Mutter. Ihr Leben bekam nun wieder einen Sinn. Schon als Sophie mit vier Jahren die ersten Streichübungen auf ihrer winzigen Kindergeige machte, hatte Nadja gewusst, dass es ihr Engelchen weit bringen würde. Auch Sophies Geigenlehrerin hatte früh davon gesprochen, dass das kleine wissbegierige Mädchen ein Ausnahmetalent sei. Das Beherrschen des Instruments hatte ihr nie Mühe bereitet. Wie von selbst fanden ihre zarten Finger stets den richtigen Ton auf den Saiten. Es dauerte nicht lange, bis Sophie die ersten Preise gewann und aus immer bedeutenderen Wettbewerben als Siegerin hervorging. Als dann die Erfolge bei internationalen Ausscheidungskämpfen dazukamen, flatterten bald Angebote von Agenturen ins Haus. Sophie war gerade mal siebzehn, als Nadja für sie den Vertrag bei einer New Yorker Agentur unterschrieb. Schon am nächsten Tag verließen sie gemeinsam München. Jetzt, nach zehn Jahren, gehörte Sophie zu den besten Violinistinnen der Welt. Sie hatte es weit gebracht. Viel weiter als ihre Mutter, der dieser dumme Sturz die Chance auf ein erfülltes Leben genommen hatte.

Nadja betrat die Behnisch-Klinik und ging durch die lichtdurchflutete Lobby. Ihrem Vorhaben, direkt zum Chefarzt der Klinik zu gehen, widerstand sie. Sie hatte noch eine Viertelstunde Zeit bis zu ihrem Termin. Nadja konnte es nicht leiden, wenn sich die Menschen nicht an verabredete Zeiten hielten. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie zu früh oder bereits zu spät dran waren. Für beides brachte sie kein Verständnis auf.

Zügig ging sie die kleine Ladenzeile am Ende der Lobby entlang. Für die Geschäfte mit ihren hübschen Auslagen hatte sie keinen Blick übrig. Auch nicht für die Cafeteria, die sie zu ihrer rechten Seite liegen ließ. Sie kannte nur ein Ziel: den wunderschönen Klinikpark, der von der früheren Besitzerin der Klinik, Jenny Behnisch, eigenhändig angelegt worden war.

Sie trat durch die zweiflügelige Terrassentür hinaus ins Grüne und atmete tief durch. Mit dem Duft der Frühlingsblumen und der Fliederbüsche strömten auch Erinnerungen in ihren Geist. Erinnerungen an eine Zeit, in der sie hier, inmitten der üppig wachsenden Natur, lernte, den Schmerz über das Ende ihrer Karriere zu überwinden.

Wie von selbst führten sie ihre Füße einen schmalen Weg aus behauenem Granit entlang, vorbei an riesigen Strauchpäonien bis zu einer kleinen, versteckt liegenden Holzbank. Hier hatte sie mit Horst in endlos langen Stunden zusammengesessen und schließlich ihre Liebe für ihn entdeckt. Mit einem leisen, wehmütigen Seufzer sah sie sich um. Die kleinen, zarten Pflanzen waren inzwischen zu stattlichen Büschen und kräftigen Bäumen herangewachsen. Und natürlich wuchsen nicht mehr dieselben Blumen in den Beeten. Aber Nadja hätte den Garten trotzdem unter allen Gärten dieser Welt wiedererkannt, so vertraut war er ihr noch heute.

Sie schloss die Augen und hielt ihr Gesicht der wärmenden Frühlingssonne entgegen. Entrückt lauschte sie dem sanften Rauschen der Blätter, die sich in dem lauen Frühlingswind wiegten. Plötzlich wünschte sie sich, sie könnte für immer hier sitzenbleiben und einfach nur sie selbst sein. Oder ein wenig länger in ihren Erinnerungen verweilen. Erinnerungen an eine Zeit, in der sie nicht die knallharte Geschäftsfrau und Managerin ihrer berühmten Tochter war, sondern einfach nur eine liebende Mutter - und Ehefrau. Der Gedanke an Horst und an ihre Ehe, die vor vielen Jahren zerbrochen war, brachte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie sprang auf und verließ den Park so schnell, als hätte sie Angst, nie wieder aus ihm oder ihren Erinnerungen herauszufinden.

Bevor Nadja an die Tür, die ins Vorzimmer des Chefarztes führte, anklopfte, überprüfte sie hastig den korrekten Sitz ihres eleganten Businesskostüms und kontrollierte mit flinken Handgriffen, ob der leichte Wind ihrer strengen Hochsteckfrisur geschadet hatte. Ihr gutes Aussehen war Nadja wichtig. Nicht nur, weil ihr die anerkennenden Männerblicke schmeichelten. Ein makelloses Erscheinungsbild passte zu ihrem Wunschbild von Perfektion und gediegener Eleganz.

»Mein Name ist Nadja Dannehl. Ich habe einen Termin bei Dr. Norden.« Nadja sprach kühl und ein wenig herablassend, als sie sich der Assistentin des Chefarztes vorstellte. Ihr war es recht, wenn sich Fremde von ihrem Auftreten einschüchtern ließen. Sie trat nie als Bittstellerin auf, sondern als diejenige, die forderte und keinen Widerspruch duldete. In einer Welt, die immer noch von Männern dominiert wurde, durfte sie nicht schwach wirken. Das machte sie nur angreifbar und verletzbar. Das Musikgeschäft war hart, und es überlebten nur diejenigen, die die Regeln verstanden und danach lebten. Nadja hatte früh gelernt, dass es vorteilhafter war, für eine eiskalte, gefühllose Geschäftsfrau gehalten zu werden als für ein liebenswertes Dummchen. Sie hatte ihr Verhalten so schnell angepasst, dass sie inzwischen selbst nicht mehr wusste, was davon bloße Fassade war.

»Guten Tag, Frau Dannehl«, empfing Katja Baumann, die Assistentin des Chefarztes, ihre Besucherin mit einem freundlichen Lächeln, das ehrlich und nicht aufgesetzt wirkte. »Dr. Norden wird gleich bei Ihnen sein. Er ist im Augenblick noch …« Sie brach ab, als sich die Tür öffnete und Daniel Norden hereinkam.

»Frau Dannehl!«, begrüßte er sofort seine Besucherin. »Es ist schön, Sie wiederzusehen!«

»Ja, mir geht es genauso, Dr. Norden. Sophie und ich sind nur für wenige Tage in München. Ich freue mich, dass Sie es einrichten konnten, mich zu empfangen.«

Daniel begleitete Nadja Dannehl in sein Büro und bot ihr einen Platz an. Nachdem Katja ihnen den Kaffee gebracht hatte, sagte er: »Ich hoffe, Sie sind nur der guten, alten Zeiten wegen vorbeikommen und nicht wegen gesundheitlicher Probleme.«

Nadja lächelte. »Nein, keine Sorge. Mir geht es gut. Ich wollte es mir einfach nicht nehmen lassen, meinen ehemaligen Hausarzt zu besuchen. Ich war sehr überrascht, als ich erfuhr, dass Sie inzwischen Chefarzt der Behnisch-Klinik sind. Ich hatte immer gedacht, dass Sie Ihre Praxis niemals aufgeben würden.«

»Das kam für viele sehr überraschend.« Daniel schmunzelte. »Selbst ich hätte es mir Jahre zuvor nicht vorstellen können. Aber ich liebe nun mal Herausforderungen, und die ärztliche Leitung einer Klinik zu übernehmen, stellte eine sehr große dar. Ich konnte einfach nicht widerstehen. Außerdem wusste ich, wie viel Gutes ich hier bewirken kann.«

Nadja nickte verstehend. »Jeder Arzt hätte diese Chance ergriffen. Zumindest jeder, der etwas auf Prestige und Ansehen hält und ein wenig ehrgeizig ist. Der Chefarztposten ist sicherlich der höchste Punkt auf der Karriereleiter, den ein Arzt überhaupt erreichen kann.«

Das Lächeln auf Daniels Gesicht ließ deutlich nach. »Sie irren sich, Frau Dannehl, wenn Sie annehmen, dass es der Wunsch nach Ansehen oder Karriere war, der mich dazu brachte, meine Praxis abzugeben. Ich bin Arzt geworden, weil ich kranken Menschen helfen wollte. Ob in einer kleinen Hausarztpraxis oder in einer großen Klinik, hat dabei nie eine Rolle gespielt. Ich habe meine Arbeit als Hausarzt sehr geliebt und nie als gering eingeschätzt.«

»Natürlich, Dr. Norden«, erwiderte Nadja mit einem dünnen Lächeln. Sie verstand nicht, dass es einigen Menschen so schwerfiel, offen und ehrlich zuzugeben, wie wichtig ihnen Erfolg, Ruhm und Anerkennung waren. Dr. Daniel Norden mochte ruhig weiter so tun, als würde er aus edlen, uneigennützigen Motiven handeln. Sie wusste es besser.

»Sie wissen vielleicht, dass Sophie einige Auftritte in München hat«, kam sie zum eigentlichen Grund ihres Besuchs.

»Ja, sie wurden in allen regionalen Zeitungen schon vor Monaten angekündigt.« Daniel war froh, dass Nadja Dannehl das Thema wechselte. Er hatte weder die Zeit noch die Geduld, eine langwierige und wenig erfolgversprechende Diskussion über ärztliche Ethik und Moral zu führen. »Ich habe gehört, dass alle Tickets schnell vergriffen waren. Meine Frau und ich sind deshalb sehr froh, noch zwei für Sophies Auftritt im ›Gasteig‹ bekommen zu haben.«

Nadja winkte seufzend ab. »Ach, die Sache im ›Gasteig‹ ist kaum der Rede wert. Sophie ist dort nur ein Akt unter vielen anderen. Ein kurzer Auftritt von nicht mal zehn Minuten! Ich verstehe nicht, warum Sophie darauf bestanden hatte, dieses Angebot anzunehmen.«

»Vielleicht gefällt es ihr einfach, in ihrer alten Heimatstadt zu spielen?« Nachdenklich runzelte Daniel die Stirn. »War sie überhaupt jemals wieder in München, seit sie vor zehn Jahren die Stadt verlassen hat?«

»Nein! Warum sollte sie auch? München ist schon längst nicht mehr ihre Heimat. Es gibt hier nichts, was ihr etwas bedeuten könnte.«

»Ich dachte immer, dass Sophies Vater in München lebt. Außerdem hat sie doch sicher auch noch Freunde hier.«

»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Nadja leichthin. »Sophie hat sich ein neues, ein sehr gutes Leben aufgebaut. Da ist für alte Freundschaften kein Platz. Und was ihren Vater anbelangt …« Nadja verzog unwillig den hübschen Mund. »Er hatte nie verstanden, wie wichtig Sophies Karriere war. Da braucht man sich nicht zu wundern, dass es keine enge Bindung zwischen ihm und seiner Tochter gibt. Mit der Zeit sind sie sich einfach fremd geworden.«

Am Abend erzählte Daniel seiner Frau von Nadja Dannehls Besuch. »Ich hatte mich wirklich auf ihr Kommen gefreut«, sagte er abschließend. »Aber sie hat sich sehr verändert. Nicht nur äußerlich. Ich musste schmunzeln, als ich sie sah. Es gibt nicht mehr viel, was an die bescheidene, nette Hausfrau von früher erinnert. Glanz und Gloria scheinen ihr inzwischen sehr wichtig zu sein.«

Fee stellte die Schale mit dem frischen Salat auf den Tisch und sagte: »Ich denke, diese Sachen waren ihr schon immer sehr wichtig gewesen. Sie hatte immer nach Höherem, nach etwas Besserem gestrebt. Nadjas übertriebener Ehrgeiz, den sie an ihrer Tochter auslebte, war ziemlich auffällig. Wahrscheinlich hat es Sophie deswegen so weit gebracht.«

»Vergiss nicht Sophies großes Talent. Ohne dem wäre sie bestimmt keine Stargeigerin geworden.«

»Talent ist nicht alles, mein Liebling«, erwiderte Fee und setzte sich zu ihrem Mann an den Tisch. »Es muss gefördert und gepflegt werden. Und da hat Nadja Dannehl ganze Arbeit geleistet. Ihr Ziel war es schon immer gewesen, Sophie ganz groß rauszubringen. Das ist ihr gelungen.«

Daniel gab ihr nun endlich den Umschlag, den er als kleine Überraschung dabeihatte.

»Was ist das?«, fragte Fee.

»Nadja Dannehl hat mir zwei Karten für Sophies Konzert im ›Prinzregententheater‹ gegeben.«

»Für das am nächsten Samstag?«, rief Fee freudig aus. »Das ist seit Monaten ausverkauft!«

»Ich weiß, Feelein«, erwiderte Daniel lächelnd. »Frau Dannehl meinte, sie würde sich sehr freuen, uns dort zu sehen. Natürlich nur, falls wir nichts anderes vorhaben.«

»Wir haben ganz sicher nichts anderes vor!« Fee nahm ihm den Umschlag aus der Hand und holte die Karten heraus. »Wir werden uns dieses Konzert bestimmt nicht entgehen lassen!«

*

Ein ausverkauftes Haus! Diese Nachricht löste in Sophie Dannehl keine Jubelstürme mehr aus. Seit Jahren spielte sie nur in ausverkauften Häusern. Die Menschen rissen sich darum, ihrem virtuosen Geigenspiel zu lauschen, und die Presse überschüttete sie schon im Vorfeld mit Lobeshymnen.

Sophie stand hinter dem schweren Vorhang, spähte durch einen schmalen Schlitz in den Zuschauerraum und sah zu, wie er sich stetig füllte. Ein Fehler, wie sie wusste. Es tat ihr nicht gut und steigerte nur ihr Lampenfieber. Lange hatte sie gehofft, dass ihre schreckliche Angst, vor Publikum zu spielen, nachlassen würde. Sie würde mit der Zeit routinierter und gelassener werden, hatte sie sich eingeredet. Doch statt dass es leichter wurde, nahm ihre Aufregung von Auftritt zu Auftritt zu. Nur mit dem Wissen, dass das Lampenfieber weg war, sobald sie draußen stand und den ersten Bogenstrich machte, schaffte sie es überhaupt, eine Bühne zu betreten.

»Was machst du denn hier?«, zischte Nadja Dannehl neben ihrer Tochter. »Ich suche dich schon überall!«

»Ich wollte nur mal sehen, ob ich ein bekanntes Gesicht entdecke. Schließlich spiele ich in München. Wäre doch möglich, dass jemand von früher …«

»Lass mal sehen!« Nadja schob ihre Tochter zur Seite und sah nun ihrerseits zu den Zuschauern hinaus. »Dr. Norden ist mit seiner Frau gekommen. Aber ansonsten kenne ich niemanden.« Sie trat zurück und sagte mit einem gereizten Unterton: »Und nachdem wir das nun geklärt haben, sollten wir endlich von hier verschwinden, damit du dich für deinen Auftritt vorbereiten kannst. Hast du dich schon eingespielt?«

Sophie seufzte. »Ja, Mama. Darum brauchst du dich wirklich nicht zu kümmern. Ich weiß, was ich tue.«

Nadja warf ihrer Tochter einen strengen, prüfenden Blick zu. Sophie trug ein tiefschwarzes Kleid aus schimmernder Seide mit einem weit ausgestellten Rock und einem engen, schulterfreiem Oberteil. Ihre Haare, die den gleichen satten Braunton hatten wie Nadjas, waren im Nacken zu einem locker sitzenden Knoten zusammengeschlungen. Ihr zartes, elfengleiches Gesicht mit den großen dunklen Augen war ein wenig blass und ließ die grazile, junge Frau noch zerbrechlicher wirken.

»Vielleicht solltest du noch einmal in die Maske gehen und ein wenig Rouge auftragen lassen«, sagte Nadja missbilligend. »Was sollen die Leute von dir denken, wenn du so bleich auf die Bühne trittst? Außerdem habe ich ein paar Pressefotografen entdeckt. Du willst auf den Bildern doch bestimmt nicht krank wirken. Heute siehst du besonders schlimm aus.«

»Es geht mir auch nicht so gut. Vielleicht der Jetlag...«

»Unsinn!«, entfuhr es Nadja. Dann sagte sie leiser werdend: »Wir sind seit drei Tagen in München! Wir wissen beide, was los ist! Du und dein dummes Lampenfieber! Das kann doch nicht ewig so weitergehen. Kannst du dich denn nicht ein wenig zusammenreißen?«

»Das mache ich seit zehn Jahren«, stieß Sophie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Du siehst ja selbst wie super das klappt! Deine gutgemeinten Ratschläge kannst du dir also sparen!«

»Sophie!«, rief Nadja erschrocken aus. »Wie sprichst du mit mir?«

»Entschuldige, Mama«, lenkte Sophie sofort ein. »Es ist nur …« Mitten im Satz brach sie müde ab. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für unliebsame Diskussionen. Sie sah wieder hinaus in den Zuschauersaal. Mit einer Hand strich sie sich über ihren Bauch, um den nervösen Magen zu beruhigen. Ihre Angst hatte zugenommen, der Mund war trocken, und die Luft wurde immer knapper, obwohl sie versuchte, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Sie wusste, dass das die ersten Anzeichen einer aufziehenden Panikattacke waren. So heftig wie heute war es schon lange nicht mehr gewesen. Ob es daran lag, dass sie in ihrer alten Heimat spielte? München – hier hatte alles begonnen, und hier sollte alles enden. Falls sie den Mut dafür aufbringen würde.

»Bist du nun endlich fertig?«, fragte Nadja ungeduldig.

Sophie nickte stumm und warf noch einen letzten Blick in den Saal, als ihre Augen an einer seltsam vertrauten Gestalt hängenblieben. Sofort geriet ihr Herz aus dem Takt. Das konnte unmöglich sein! Dieser Mann, der gerade hereinkam, konnte doch unmöglich Julian sein! Sie vergaß ihre wartende Mutter und sah angestrengt in seine Richtung, um einen weiteren Blick auf ihn zu bekommen. Doch er hatte ihr inzwischen den Rücken zugedreht und trat in eine der hinteren Reihen, um zu seinem Platz zu gelangen. Mehr als ein paar breite Schultern unter einem dunklen Jackett konnte sie von ihm nicht sehen. Julian war damals schmaler gewesen, fiel ihr ein. Allerdings waren seitdem zehn Jahre vergangen. Die Statur eines achtzehnjährigen Jungen war oft nicht die eines Mannes, der langsam auf die Dreißig zuging.

Sophie wurde ungeduldig. Warum dauerte es nur so lange, bis er an seinem Platz ankam? Warum sah sie von ihm nicht mehr als diese dunklen Haare, die sie so sehr an Julians erinnerten. Julian, den sie geliebt hatte und der ihr siebzehnjähriges Herz gebrochen hatte, ohne mit der Wimper zu zucken. Sollte er wirklich hergekommen sein, um sie spielen zu hören? Er hatte nie ein besonderes Interesse an ihrer Musik gezeigt. Julian hatte immer auf Hardrock gestanden. Es war also ziemlich unwahrscheinlich, dass ihn Beethoven und Brahms hergelockt haben könnten. Doch wenn es nicht die Klassiker waren, dann vielleicht sie? Sofort verwarf Sophie diesen Gedanken wieder. Nein, sie hatte ihm damals nichts bedeutet und jetzt erst recht nicht. Und wahrscheinlich war er es gar nicht, und es gab keinen Grund, über Julian nachzudenken. Julian … Sophies Gedanken drifteten erneut ab. Plötzlich war sie wieder siebzehn und zum ersten Mal in ihrem Leben verliebt. Sie war so glücklich gewesen wie nie zuvor. Wenn sie an diese Zeit zurückdachte, kam sie ihr manchmal so unwirklich vor wie ein wunderschöner, zarter Traum, aus dem man am Morgen nicht erwachen mochte.

Sophie schrak zusammen, als sich die Hand ihrer Mutter um ihren Unterarm legte und sie unsanft vom Vorhang weggezogen wurde. »Sophie, was ist denn heute nur los mit dir?«, schimpfte Nadja leise, während sie Sophie zur Maske bugsierte.

»Nichts, mit mir ist alles in Ordnung«, erwiderte Sophie unwirsch und entriss ihrer Mutter den Arm. Wann würde ihre Mutter endlich aufhören, sie wie ein kleines Kind zu behandeln? «Ich bin nur etwas nervös, aber das ist ja nichts Neues.«

Nadja musterte ihre Tochter aufmerksam und mehr als beunruhigt. Was war nur mit ihrem sanftmütigen Engelchen los? Sophie machte sonst nie Probleme. Sie funktionierte so präzise und verlässlich wie ein Schweizer Uhrwerk. Schon früh hatte Sophie gelernt, dass das unerlässlich war, um eine erfolgreiche Musikerin zu werden. Doch seitdem sie in München waren, hatte sich ihre Tochter verändert, und Nadja machte sich zunehmend Sorgen deswegen.

Als sie vor der Maske ankamen und Sophie hineingehen wollte, hielt Nadja sie auf. »Ich hatte mir doch gleich gedacht, dass es keine gute Idee war, nach München zu kommen und dafür das Angebot aus Stockholm auszuschlagen. Warum du so darauf bestanden hast, werde ich wohl nie verstehen.«

Sophie schien über die Antwort erst nachdenken zu müssen. Schließlich sagte sie ruhig: »Ich dachte, es wurde mal Zeit nach Hause zu kommen.«

»Nach Hause? In München sind wir schon lange nicht mehr zu Hause.«

»Wo dann?« Sophie sah ihre Mutter direkt an. Als Nadja sie nur erstaunt ansah, wurde ihre Frage drängender: »Wenn nicht hier, wo ist dann unser Zuhause?«

»Was weiß ich denn! Überall wahrscheinlich. Die Welt ist unser Zuhause. Was soll dieses Theater?«

»Schon gut, Mama, vergessen wir das einfach.« Sophie drehte sich weg und ging in die Maske.

Nadja verharrte noch eine Weile auf dem Gang und dachte über die letzten Minuten nach. Immer mehr wuchs die Gewissheit, dass irgendetwas nicht stimmte. Ein klammes Gefühl befiel sie und die böse Vorahnung, dass das Münchner Gastspiel anders sein würde als alle anderen. Ganz anders - und das bedeutete nichts Gutes.

*

Nadja Dannehl hatte dafür gesorgt, dass Fee und Daniel Norden auf den besten Plätzen in der ersten Reihe saßen. Noch bevor das Konzert begann, war sich Fee sicher, dass dies ein ganz besonderer Abend werden würde. Sie hatte eine Schwäche für Violinkonzerte, und der Auftritt einer so grandiosen Geigerin wie Sophie Dannehl versprach einen exquisiten Hochgenuss.

Kaum betrat Sophie die Bühne, klatschte das Publikum lautstark und drückte so seine Begeisterung darüber aus, dass ihr Münchner Kindl endlich heimgekehrt war. Mit einem zarten Lächeln bedankte sich die junge Künstlerin. Nur wenig später erklang die erste, süße Note und entführte die Zuschauer in eine magische Welt von Tönen und Klängen.

Die Zeit bis zur Pause verging viel zu schnell. Fee hätte noch endlos lange diesem musikalischen Wechsel aus Hingabe, Leidenschaft und Präzision lauschen können. Das war das, was das Spiel dieser Virtuosin so einzigartig machte und ihr schon als junges Mädchen die Anerkennung der Fachwelt eingebracht hatte.

»Ist sie nicht fantastisch, Dan?«, schwärmte Fee begeistert in der Pause.

»Ja, das ist sie. Es freut mich, dass dir das Konzert genauso gut gefällt wie mir, Feelein. Ich hoffe, wir bekommen nachher noch einmal die Gelegenheit, uns für die Karten und diesen wunderschönen Abend zu bedanken.«

Fee nickte. »Ja, ich denke, dass wir uns noch lange daran zurückerinnern werden.« Sie sah sich suchend unter dem Publikum um. »Ich wundere mich, dass Horst Dannehl nicht hier ist. Man sollte meinen, dass er das Konzert seiner einzigen Tochter nicht verpassen würde.«

»Vielleicht ist er hinter der Bühne und verfolgt von dort die Aufführung«, mutmaßte Daniel.

»Ja, vielleicht«, entgegnete Fee ohne Überzeugung. »Ich würde es mir wünschen, für ihn und für Sophie. Es war bestimmt schwer für sie gewesen, den Vater hier zurücklassen zu müssen, als sie nach New York ging.«

Weil Fee bei diesem Gedanken so betrübt aussah, strich ihr Daniel tröstend über den Rücken. »Es wäre doch möglich, dass die beiden trotzdem ein sehr inniges Verhältnis haben, sich regelmäßig sehen oder ständig telefonieren.«

Fees untrügliches Gefühl sagte ihr, dass dem nicht so war. Auf ihr Bauchgefühl hatte sich Fee stets verlassen können. Sie wusste nicht, warum die Vorstellung, dass das Verhältnis zwischen Vater und Tochter zerbrochen sein könnte, sie so traurig stimmte. Womöglich lag es nur an diesen sehnsuchtsvollen Melodien, die sie so wehmütig werden ließen. Besonders jetzt, bei der Violinsonate von Brahms, mit der Sophie nach der Pause begann, meinte sie, vor Rührung zerfließen zu müssen.

Mit der Begeisterung für Sophies Spiel war Fee nicht allein. Davon zeugten der frenetische Applaus und die Standing Ovations, mit denen Sophie von den Zuschauern nach dem Verklingen des letzten Tons gefeiert wurde.

Strahlend und heftig applaudierend sah Fee zu Daniel. Erst jetzt bemerkte sie, dass er die junge Künstlerin seltsam ernst, ja, geradezu besorgt musterte. Und nun sah Fee es auch: Sophie wirkte erschöpft und war noch blasser als vor ihrem Spiel. Ihre wertvolle Violine, die sie in der linken Hand hielt, schien ihr viel zu schwer zu sein. Achtlos legte sie sie auf dem Stuhl ab. Dabei stützte sie sich mit der freien Hand an der Lehne ab. Während das Publikum lautstark nach einer Zugabe verlangte, drehte sie sich schwankend um und ging mit zittrigen Beinen von der Bühne. Sie schaffte nur wenige Meter, bis sie zusammenbrach und bewusstlos liegenblieb. Der Applaus erstarb. Alle starrten wie gebannt auf die reglose Gestalt auf der Bühne. Alle – bis auf Daniel, der sofort losgelaufen war, kaum dass Sophie zusammensackte. Und auf einmal lösten sich auch die anderen aus ihrer Starre. Noch bevor Fee bei Sophie und Daniel ankam, umringten die anderen Musiker und Bühnenarbeiter die beiden. Auch Nadja war auf die Bühne gelaufen und kniete nun neben ihrer leblosen Tochter.

»O mein Gott! Sophie, was ist mir dir? Dr. Norden, bitte, tun Sie doch irgendetwas! Was hat sie denn nur?«

»Das weiß ich noch nicht«, murmelte Daniel leise, während er hastig nach Sophies Puls suchte. Zum Glück fand er ihn rasch. Sophies Herz schlug kräftig, wenn auch etwas schnell. Ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Probleme mit der Atmung gab es nicht; die Lunge schien frei zu sein. Viel mehr konnte er noch nicht feststellen. Nicht auf dieser Bühne inmitten von Schaulustigen und ohne seine Arzttasche.

»Wir müssen sie hier sofort wegbringen!«, ordnete er an.

Fast im selben Augenblick kamen zwei Männer mit einer Trage zu ihm gelaufen. Vorsichtig betteten sie die junge Frau darauf und trugen sie unter dem aufgeregten Geraune des Publikums davon.

»In ihre Garderobe!«, rief Nadja sofort, kaum dass sie hinter der Bühne waren. »Bringen Sie sie sofort in ihre Garderobe! Dort erholt sie sich bestimmt schnell.«

Daniel fand das seltsam. Von der überängstlichen, besorgten Mutter fehlte nun jede Spur. Nadja war ruhig und beherrscht, während sie die Männer anwies, ihre Tochter in die Garderobe zu bringen. In Daniel kam ein Verdacht auf. »Leidet Sophie öfter an Ohnmachtsanfällen?«, fragte er ihre Mutter so leise, dass andere ihn nicht hören konnte.

Unter seiner Frage zuckte Nadja wie ertappt zusammen.

»Nein … ja … aber ganz selten. Das war immer völlig harmlos gewesen.«

»Harmlos? Ich halte es nicht für harmlos, wenn man wiederholt in Ohnmacht fällt. Wurde die Ursache denn dafür herausgefunden?«

Nadja nagte an ihrer Unterlippe und erwiderte dann ausweichend: »Wie ich schon sagte, es ist nichts Ernstes. Das kommt schon wieder in Ordnung.«

Bevor Daniel weiter nachfragen konnte, rief jemand: »Der Rettungswagen ist gleich hier!«

»Rettungswagen?«, empörte sich Nadja. »Wieso wurde der gerufen? Das ist doch wohl unnötig!«

»Frau Dannehl, Ihre Tochter ist immer noch bewusstlos. Das ist eine sehr ernste Angelegenheit. Natürlich musste da der Rettungsdienst gerufen werden.«

Es gefiel Daniel überhaupt nicht, wie sich Sophies Mutter benahm. Sie zeigte wenig Mitgefühl, tat nichts, um zur Klärung der Ohnmacht beizutragen, und schimpfte nun auch noch darüber, dass jemand so umsichtig gewesen war, einen Krankenwagen zu rufen. Verhielt sich so eine fürsorgliche Mutter?

»Bitte bringen Sie Sophie Dannehl nach draußen, damit sie gleich in den Rettungswagen kann«, bestimmte er.

»Aber, aber … das ist keine gute Idee!«, rief Nadja aus. »Können wir nicht etwas diskreter damit umgehen? Wenn die Presse nun davon erfährt!«

»Im Moment mache ich mir mehr Sorgen um Ihre Tochter als um die Presse«, erwiderte Daniel leicht verstimmt. »Und im Übrigen wird den Journalisten der Vorfall nicht entgangen sein. Schließlich saßen sie unter den Zuschauern.«

In diesem Augenblick schlug Sophie die Augen auf. Verwirrt blickte sie in die Gesichter der vielen fremden Leute, die sie umringten.

»Hallo, Sophie, schön, dass Sie wieder unter uns weilen«, sagte Daniel warm. »Wissen Sie, wer ich bin?«

Sophie brauchte einen Moment, bis sie antworten konnte: »Ja … ja, natürlich! Dr. Norden! Wieso … was ist passiert?«

»Sie sind nach Ihrem Auftritt ohnmächtig geworden.«

»Nach dem Auftritt?« Sophie wirkte erleichtert, als Daniel nickte. Dann überlegte sie. »War … war ich schon hinter der Bühne?«

»Nein, Sophie, du hast es nicht mehr von der Bühne geschafft«, übernahm Nadja das Antworten.

Unter ihren anklagenden Worten zuckte Sophie zusammen. Sie schloss die Augen und stöhnte gequält auf. »O nein! Das ist ja schrecklich. Es tut mir so leid.«

»Das muss Ihnen nicht leidtun«, erwiderte Daniel verwundert. »Niemand verliert absichtlich das Bewusstsein. Es zeigt vielmehr, dass leider irgendetwas nicht in Ordnung ist.«

»Sophie leidet nur unter Jetlag«, mischte sich Nadja wieder ein. »Also kein Grund zur Sorge.«

Daniel beachtete sie nicht. Inzwischen waren sie durch den Bühneneingang nach draußen gelangt, wo der Rettungswagen gerade eintraf. Daniel begrüßte die beiden Sanitäter, die er bereits von früheren Einsätzen kannte. Mit knappen, präzisen Worten informierte er sie über das, was vorgefallen war. Ohne dass weitere Anweisungen nötig waren, machten sich die beiden Rettungskräfte sofort an die Arbeit und schlossen Sophie an diverse medizinische Gerätschaften an. Die Tür des Rettungswagens hatten sie zugezogen, sodass sie mit ihrer Patientin und Daniel Norden allein waren.

»Hundert zu sechzig«, sagte ein Sanitäter nach der Blutdruckmessung. »Puls bei neunzig.«

»Haben wir schon ein EKG?«

»Kommt sofort.«

Ruhig und routiniert tat Daniel Norden das, was er am liebsten tat und wofür er geboren wurde: Menschen in ihrer Not zu helfen. Und dass Sophie seine Hilfe brauchte, daran hatte er keinen Zweifel.

»Wie geht es Ihnen jetzt?«, fragte er sie.

»Besser. Ich denke, ich kann wieder aufstehen und auch zurückgehen.«

»Bitte bleiben Sie noch einen Moment liegen, Sophie. Sie waren ein paar Minuten bewusstlos. Da sollte man nicht einfach aufstehen und weitermachen, als wäre nichts gewesen. Sie wollen doch sicher auch, dass der Grund für Ihre Ohnmacht herausgefunden wird. Ihre Mutter meinte, dies sei nicht Ihre erste gewesen.«

Sophie nickte. »Ja, ein paar Mal kam das schon vor. Aber nie auf der Bühne. Bisher hatte ich es immer noch gerade rechtzeitig in die Garderobe geschafft, sodass niemand etwas mitbekam.«

»Außer Ihre Mutter.«

»Ja, natürlich. Sie ist ja immer bei mir.«

›Wie ein Wachhund‹, schoss es Daniel unwillkürlich ein, und sofort bedauerte er diesen Gedanken. Er kannte weder Sophie noch Nadja gut genug, um sich ein Urteil über das Verhältnis der beiden Frauen bilden zu dürfen. Wahrscheinlich schätzte er Nadja falsch ein. Sie war nicht nur Sophies Managerin, sondern auch ihre Mutter, die dafür sorgte, dass ihr in dem mitunter rauen Geschäft kein Haar gekrümmt wurde. Immerhin war Sophie noch sehr jung gewesen, als sie mit ihrer Karriere begonnen hatte. Wie schnell hätte sie unter die Räder geraten können, wenn ihre Mutter kein wachsames Auge auf sie geworfen hätte.

»Ihr Blutdruck ist etwas niedrig, Sophie.« Daniel stutzte kurz und lächelte. »Tut mir leid, wenn ich in alte Gewohnheiten verfalle und Sie immer noch beim Vornamen nenne, Frau Dannehl.«

»O nein! Bitte sagen Sie weiter Sophie zu mir. Sie und Ihre Frau haben mich ja quasi aufwachsen sehen. Wenn Sie jetzt Frau Dannehl zu mir sagen, komme ich mir entsetzlich alt vor. Und was den niedrigen Blutdruck angeht: Darunter leide ich schon seit einigen Jahren. Meine Mutter meint, dass das bei uns in der Familie liegt. Es ist ziemlich lästig, aber wohl nicht weiter gefährlich. Ein hoher Blutdruck soll viel schlimmer sein.«

»Das stimmt. Allerdings kann einem der niedrige auch das Leben schwer machen. Besonders, wenn man deswegen bewusstlos wird. Obwohl …« Daniel zögerte kurz. Er wusste einfach zu wenig über Sophies Krankengeschichte, um eine abschließende Diagnose stellen zu können. »Sophie, ich bin mir nicht sicher, ob der niedrige Blutdruck der alleinige Grund für Ihre Ohnmacht ist. Dafür kann es auch viele andere, zum Teil auch sehr ernsthafte Gründe geben. Die Möglichkeiten für eine umfassende Diagnostik sind hier, im Rettungswagen, natürlich sehr beschränkt. Ich möchte Sie nicht beunruhigen, aber ich würde Sie gern in die Behnisch-Klinik bringen, damit Sie dort gründlich untersucht werden können.«

»Sie meinen jetzt gleich?«

Zu Daniels Verwunderung klang Sophie nicht entsetzt oder erschrocken. Nein, ganz im Gegenteil. Wenn es nicht so absurd wäre, könnte er fast annehmen, dass sie über die Aussicht, in die Klinik zu kommen, hocherfreut war.

»Ja«, bestätigte er ihre Vermutung. »Wir sollten damit nicht bis morgen warten. Es ist wichtig, dass einige Tests zeitnah gemacht werden. Bis morgen oder übermorgen haben sich die Werte, die im Moment vielleicht auffällig sind, schon wieder normalisiert, und wir tappen dann im Dunkeln. Ich kann verstehen, dass das sehr plötzlich für Sie kommt und Sie erst mal darüber nachdenken wollen. Wahrscheinlich möchten Sie das auch erst mit Ihrer Mutter besprechen.«

»Nein!«, warf Sophie hastig ein. »Wenn Sie sagen, dass es notwendig ist, verlasse ich mich natürlich auf Ihr Urteil als Mediziner. Von mir aus können wir sofort losfahren.«

Daniel nickte. Er hatte sich nicht getäuscht. Sophie Dannehl schien wirklich froh zu sein, in die Klinik zu kommen. Warum das so war, konnte er nur erahnen. Um sie danach zu fragen, war jetzt nicht der richtige Moment. Jetzt wollte sie nur fort von hier, und Daniel konnte das nur recht sein.

»Das ist eine sehr vernünftige Entscheidung, Sophie«, sagte er lächelnd zu seiner Patientin. »Dann werde ich jetzt Ihre Mutter darüber informieren. Oder möchten Sie das lieber übernehmen?«

»Nein!«, entfuhr es Sophie nervös. »Ich … äh … Dr. Norden, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie es machen würden. Ich fühle mich doch ein wenig angeschlagen.«

Zu angeschlagen, um mit ihrer Mutter zu sprechen? Der Fall wurde immer merkwürdiger.

Chefarzt Dr. Norden 1165 – Arztroman

Подняться наверх