Читать книгу Chefarzt Dr. Norden 1166 – Arztroman - Jenny Pergelt - Страница 3
ОглавлениеEs war nicht leicht, mit dem Rettungswagen durch den dichten Feierabendverkehr zu fahren. An den meisten Kreuzungen der Münchner Innenstadt stauten sich die Autos in endlos langen Schlangen, die ein Durchkommen fast unmöglich machten. Selbst Blaulicht und lautstarke Sirenen halfen da kaum weiter. Markus Never, der als Feuerwehrmann eigentlich hinter das Lenkrad eines schwergewichtigen Löschfahrzeugs gehörte, schien das allerdings nichts ausmachen.
Ruhig und routiniert, als ginge es nicht um Leben und Tod, wich er geschickt anderen Fahrzeugen aus, schlängelte sich durch enge Rettungsgassen oder gab Gas und beschleunigte, wenn es möglich war. So fuhr er Meter um Meter weiter, ohne jede Spur von Stress oder Anspannung.
Der Beifahrersitz neben ihm war leer. Rettungssanitäter Jens Wiener kämpfte im Inneren des Wagens um das Leben ihres Patienten. Ein schwerer Schlaganfall, wie der erfahrene Sanitäter vermutete. Jens hatte deshalb entschieden, den Mann schnellstmöglich in die Klinik zu bringen.
Seit zwei Wochen fuhr Oberbrandmeister Markus Never nun schon den Rettungswagen. Halbzeit: Noch zwei weitere Wochen, und er würde wieder seinen Dienst bei der Berufsfeuerwehr verrichten. Normalerweise löschte Markus nämlich Brände oder half bei der Bergung von Unfallopfern. Nicht selten mussten er und seine Kollegen dann auch medizinische Notfallmaßnahmen bis zum Eintreffen der Rettungsärzte und Sanitäter übernehmen. Große Probleme bereitete ihnen das nicht. Schließlich hatten alle Feuerwehrleute auch eine zusätzliche Ausbildung zum Rettungssanitäter absolviert. Doch bei den meisten lag das schon etliche Jahre zurück. Hin und wieder die Kenntnisse aufzufrischen, das war deshalb unerlässlich. Und wo war das besser möglich als auf einem Rettungswagen?
Markus drosselte das Tempo, als er die Einfahrt zur Behnisch-Klinik nahm. Die Zentrale hatte ihr Kommen bereits angekündigt. Deshalb wunderte er sich nicht, Dr. Berger, den leitenden Notfallmediziner, und zwei Schwestern dort zu sehen. Kaum hatte Markus angehalten, eilte Erik Berger zum Heck des Rettungswagens und riss die Türen auf.
»In den Schockraum mit ihm«, entschied er nach einem kurzen Blick auf den bewusstlosen Patienten.
Der Schockraum der Aufnahme war mit allen nötigen medizinischen Geräten ausgestattet, um schwere Notfälle zu versorgen und sie zu stabilisieren, damit sie in den OP oder auf die Intensivstation gebracht werden konnten.
Dem Patienten ging es zunehmend schlechter, sodass sie den Weg bis zum Schockraum im Laufschritt zurücklegten. Hier wurde er sofort an die Überwachungsgeräte angeschlossen.
»65 Prozent Sauerstoffsättigung«, las Schwester Anna vom Oximeter ab.
»Intubation«, ordnete Erik Berger an. Nur Sekunden später führte er mit routinierten Handgriffen einen Schlauch in die Luftröhre des Mannes ein und schloss ihn an das Beatmungsgerät an.
Dr. Daniel Norden, der Chefarzt der Behnisch-Klinik, kam dazu. »Die Intensivstation weiß Bescheid«, informierte er. »Wenn er halbwegs stabil ist, kann er gleich hoch.«
Für die Männer vom Rettungsdienst war ihre Arbeit hier beendet. Das war ihre letzte Fahrt gewesen, und für sie begann nun der Feierabend. Als sie einen kurzen Abschiedsgruß in den Raum warfen, sagte Erik Berger: »He, wenn Sie noch ein bisschen Zeit haben, genehmigen Sie sich doch einen Kaffee in der Cafeteria. Und schlagen Sie unbedingt bei den Zimtschnecken zu. Die sind heute besonders gut. Ich lade Sie ein.«
Anna warf ihrer Kollegin Inga Lundmann einen bezeichnenden Blick zu, während sie eine Infusion anschloss.
»Nun lassen Sie mal gut sein, Herr Berger«, erwiderte Jens Wiener grinsend. »Sie müssen uns nicht jedes Mal einladen, wenn wir hier auftauchen. Sie werden sowieso auf ewig in unserer Schuld stehen.«
»Toll, dass Sie darauf auch noch rumreiten müssen«, grummelte Berger, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. »Und nun verschwinden Sie endlich, damit ich hier in Ruhe weitermachen kann. Und was meine Schulden betrifft: Dies war meine letzte Einladung. Jetzt ist Schluss!«
»Ja, ja, das haben Sie beim letzten Mal auch schon gesagt«, lachte Jens beim Hinausgehen. Auf dem Flur fragte er Markus: »Wollen wir den Zimtschnecken eine Chance geben? Du weißt, wie toll die schmecken.«
»Klar, aber wir bezahlen unsere Rechnung selbst. Berger muss mit diesem Blödsinn endlich aufhören.«
»Wird er schon. Keine Sorge. Du bist zu selten in der Notaufnahme, um ihn so gut zu kennen wie ich. In spätestens ein oder zwei Wochen ist er wieder der alte Stinkstiefel.« Jens Wiener überlegte kurz und sagte dann lächelnd: »Eigentlich ist er das jetzt schon. Er kann nur nicht den Gedanken ertragen, jemandem etwas schuldig zu sein.«
»So ein Blödsinn! Wir hatten damals doch nur unsere Arbeit gemacht.«
Das sah Dr. Daniel Norden auch so. Vor einiger Zeit hatten die Männer von der Rettungswache und der Feuerwehr in einer dramatischen Aktion Erik Berger aus den Trümmern eines eingestürzten Hauses geborgen. Stundenlang hatte er dort schwerverletzt ausharren müssen, bis er endlich befreit werden konnte.
Zwei Monate waren seitdem vergangen, und Erik Berger hatte sich erstaunlich schnell von seinen Verletzungen erholt. Seit wenigen Wochen arbeitete er sogar wieder in seiner geliebten Aufnahme. Vorerst nur für einige Stunden am Tag, doch schon bald würde ihn niemand mehr davon abhalten können, sich wieder voll einzubringen. Ja, körperlich hatte er sich gut erholt, aber dass das traumatische Erlebnis noch immer an ihm nagte, blieb Daniel Norden nicht verborgen.
Nachdem Daniel zusammen mit Erik Berger den Patienten auf der ITS abgeliefert hatte, bat er seinen Notfallmediziner für ein kurzes Gespräch in sein Büro. Sofort wurde Erik misstrauisch. Es bedeutete selten etwas Gutes, wenn sein Chef ihn sprechen wollte.
Daniel konnte sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen, als er sah, wie Berger sofort in Abwehrhaltung ging. »Entspannen Sie sich, Herr Kollege. Ich möchte mich einfach nur mit Ihnen unterhalten. Ein ganz normales Mitarbeitergespräch, das schon längst mal wieder fällig ist und für das es keinen besonderen Anlass gibt. Ich bin mir sicher, dass Frau Baumann uns einen guten Kaffee macht und ein paar von ihren Schokoladenkeksen spendiert.«
Berger brummelte irgendetwas Unverständliches, fügte sich aber in sein Schicksal und folgte Daniel in dessen Büro. Daniel war sich nicht sicher, ob er das seiner Autorität als Chefarzt zu verdanken hatte oder der Aussicht auf Kaffee und Kekse.
Daniel Norden hatte seinem Mitarbeiter nicht zu viel versprochen. Nur wenig später hatten die beiden Männer ihren heißen Kaffee vor sich stehen und einen Teller mit Keksen, die verführerisch nach dunkler Schokolade dufteten.
»Wie geht es Ihnen eigentlich, Herr Berger?«, kam Daniel gleich zum Punkt. »Konnten Sie sich gut eingewöhnen? Gibt es Probleme?«
»Sagen Sie es mir«, knurrte Berger. »Haben Sie den Eindruck, ich habe in meiner Arbeit nachgelassen und bin nicht fit genug für meinen Job?«
»Nein, überhaupt nicht«, entgegnete Daniel ruhig. »Ihr Unfall hat nichts daran ändern können, dass Sie noch immer der beste Notfallmediziner sind, den ich kenne. In der nächsten Woche endet offiziell Ihre Wiedereingliederung, und Sie werden dann wieder in Vollzeit arbeiten. Falls Sie sich dem gewachsen fühlen. Falls nicht, können wir auch …«
»Natürlich fühle ich mich dem gewachsen«, unterbrach ihn Berger beleidigt. »Mir geht es ausgezeichnet. Meine Verletzungen sind vollständig verheilt und bereiten mir keine Schwierigkeiten.«
»Und wie sieht es mit den Verletzungen aus, die für uns nicht sichtbar sind?«, fragte Daniel behutsam nach. Es war das erste Mal, dass er diese Frage so direkt stellte. Er wusste, dass das seinem Mitarbeiter nicht gefiel. Erik Berger sprach nie über persönliche Dinge oder seine Gefühle.
»Sie jetzt auch noch, Chef? Reicht es denn nicht, dass mich Ihre Frau deswegen ständig nervt?«
»Wir machen uns halt Sorgen und möchten …«
»Brauchen Sie nicht! Mir geht es super! Ich habe einen gesunden Appetit, schlafe ohne Albträume und stehe nicht vor einem Nervenzusammenbruch. Es sei denn, Sie oder Ihre Frau bringen mich dazu!« Erik war aufgesprungen und hatte sich vor Daniels Schreibtisch aufgebaut. »Warum interessieren sich bloß alle so für mein Befinden? Habe ich Ihnen jemals Anlass gegeben, meine geistige Gesundheit infrage zu stellen?«
Daniel zog die Augenbrauen hoch. »Vor oder nach Ihrem Unfall?«
»Ha, ha, sehr witzig, Chef.«
»Herr Berger, seien Sie nicht so empfindlich und setzen Sie sich wieder. Sie haben doch noch nicht mal Ihren Kaffee ausgetrunken.«
Für ein paar Sekunden schien Erik Berger ernsthaft darüber nachzudenken, aus dem Chefarztbüro zu stürmen. Daniel war froh, dass er sich schließlich dagegen entschied und wieder auf seinem Stuhl Platz nahm.
»Aber nur, um Frau Baumann nicht zu beleidigen«, knurrte er leise und bediente sich an den Schokokeksen. Kauend wollte er dann wissen: »Meine Frage vorhin meinte ich übrigens ernst. Wie kommen Sie nur darauf, dass ich noch unter den Auswirkungen der Explosion leide?«
Daniel war froh, dass sich Erik Berger auf diese Unterhaltung einlassen wollte. »Nun, zum einen liegt es einfach auf der Hand. Immerhin waren Sie in einem kalten, finsteren Loch eingesperrt gewesen und mussten nicht nur furchtbare Schmerzen erdulden, sondern auch die Einsamkeit und die Ungewissheit, ob Sie es lebend wieder hinausschaffen würden.«
Berger zuckte gleichgültig die Schultern und griff erneut bei den Keksen zu, für die er eine heimliche Leidenschaft entwickelt hatte. »Hab’ ich überstanden, und die Erinnerungen daran machen mir nichts aus«, behauptete er leichthin. »Und was gibt’s noch?«
Da Erik anscheinend bester Stimmung war, sprach Daniel aus, was ihn seit einer Weile beschäftigte: »Wenn alles wieder in Ordnung ist und Sie den Vorfall nüchtern und abgeklärt betrachten können, wundert es mich, dass Sie meinen, irgendwelche Schulden abtragen zu müssen.«
»Keine Ahnung, was Sie damit meinen«, gab Erik halbherzig zurück.
»Natürlich wissen Sie das. Sobald Ihnen jemand über den Weg läuft, der an Ihrer Rettung beteiligt war, laden Sie ihn zu Kaffee und Kuchen in die Cafeteria ein. Bitte kommen Sie gar nicht erst auf die Idee, das abzustreiten. Ich habe es vorhin selbst erlebt.«
Erik schloss den Mund wieder, den er bereits mit einem Widerspruch auf seinen Lippen geöffnet hatte, und Daniel fuhr fort: »Sie wissen doch, dass damals alle nur ihre Arbeit gemacht haben. Es besteht also kein Grund zu lebenslanger Dankbarkeit. Stellen Sie sich nur vor, alle Patienten, denen Sie im Laufe der Jahre das Leben gerettet haben, würden sich so benehmen wie Sie! Mal davon abgesehen, dass die Arbeit in der Notaufnahme vor lauter Dankesbekundungen zum Erliegen käme, würden Sie das Ganze auch als unsinnig abtun.«
»Das ist doch wohl etwas ganz anderes«, protestierte Berger schwach.
»Nein, ist es nicht, und das wissen Sie auch. Also hören Sie endlich damit auf.«
»Und wenn nicht, was wollen Sie dann machen? Sie können mir ja schlecht verbieten, ein paar Freunde zum Kaffee einzuladen.«
Daniel hätte beinahe laut aufgelacht. Normalerweise legte Erik Berger großen Wert darauf festzustellen, dass er für Freundschaften absolut nichts übrighatte.
»Was ist denn?«, fragte Erik, als Daniel dazu nichts sagte, sondern sich nur schmunzelnd in seinem Stuhl zurücklehnte. »Warum sehen Sie mich so komisch an? Darf ich keine Freunde haben?«
Er schien keine Antwort zu erwarten, denn ehe Daniel etwas sagen konnte, stand Erik auf. Er schnappte sich den Teller mit den restlichen Schokokeksen und sagte: »Ich muss wieder in die Aufnahme. Ich kann schließlich nicht den ganzen Tag hier rumsitzen und Kaffee trinken.« Und schon war er verschwunden.
*
Markus Never und Jens Wiener hatten in der Cafeteria der Behnisch-Klinik neben ihrem wohlverdienten Feierabend auch die ofenwarmen Zimtschnecken genossen und gingen nun zum Rettungswagen zurück.
»Hast du auf der Wache Bescheid gesagt, dass wir später kommen? Wäre blöd, wenn man einen Suchtrupp nach uns losschicken würde.«
»Natürlich hab’ ich das gemacht«, erwiderte Jens leicht gekränkt. »Ich vergesse nie etwas!«
Markus grinste, als er den Wagen aufschloss und ein Paar Herrenschuhe entdeckte, die dort ganz offensichtlich nicht hingehörten. Er hob sie hoch und fragte belustigt: »Du vergisst nie etwas? Und was ist mit diesen Schuhen? Wenn ich mich nicht sehr irre, gehören sie unserem letzten Patienten.«
Jens Wiener stöhnte genervt auf. »Kann ja mal passieren bei der ganzen Hektik. Gib schon her, ich bring’ sie in die Aufnahme.«
In diesem Moment klingelte sein Handy.
»Geh ran. Ich übernehme die Schuhe für dich.« Markus ließ seinem Freund keine Zeit, darauf zu reagieren, sondern machte sich mit den Schuhen in der Hand auf den Weg in die Aufnahme. Er hörte noch, wie Jens ihm ein Dankeschön hinterherrief, und bekam dafür prompt ein schlechtes Gewissen. So selbstlos und uneigennützig, wie es schien, war sein Angebot nicht. In Wahrheit fand er es sogar ausgesprochen gut, dass er noch einmal in die Notaufnahme gehen konnte. Schwester Inga hatte heute nämlich Spätdienst. Und für Schwester Inga hatte Markus eine große Schwäche. Ihr jetzt die Schuhe des Patienten zu bringen, war eine wunderbare Gelegenheit, sie noch einmal wiederzusehen. Außerdem … Wer konnte schon wissen, was vielleicht passieren würde? Womöglich hatte er ja diesmal Glück, und sie würde sich endlich mit ihm verabreden? Oft genug gefragt hatte er sie ja schon. Doch bisher hatte sie ihn immer abgewiesen.
Markus hatte die Dreißig bereits überschritten und sehnte sich nach dem, was viele seiner Kollegen und Freunde längst besaßen: eine liebevolle Ehefrau und eine Handvoll Kinder. Leider sah es nicht so aus, als würde sich sein Wunsch bald erfüllen. Nicht, dass es ihn an Angeboten mangeln würde. Markus war ein ausgesprochen gutaussehender Mann mit markanten Gesichtszügen, blonden Haaren, ausdrucksstarken blauen Augen und einem charmanten Lächeln, bei dem die meisten Frauen dahinschmolzen. Doch die eine, auf die es ihn ankam und die ihn bis in seine Träume verfolgte, gehörte leider nicht dazu. Schwester Inga aus der Notaufnahme der Behnisch-Klinik interessierte sich weder für ihn noch für sein umwerfendes Lächeln. Sie ignorierte ihn oder bedachte ihn mit einem kühlen, abschätzenden Blick, sodass er sich wie ein kleiner Schuljunge fühlte, der etwas ausgefressen hatte. So wie jetzt.
»Sind das etwa die Schuhe von dem letzten Patienten?«, fragte Inga streng.
»Äh, ja …«, stammelte Markus. »Wir hatten sie im Rettungswagen vergessen.«
»Typisch.« Ungeduldig nahm ihm Inga die Schuhe ab. »Sie fahren sie durch die Gegend, und wir müssen uns von den Patienten später vorwerfen lassen, dass wir nachlässig mit ihren Sachen umgehen.«
»Bei Ihnen klingt das gerade so, als würde uns das ständig passieren«, verteidigte sich Markus. »Außerdem wissen Sie doch selbst, wie hektisch es hier zuging, als wir den Patienten brachten.«
»Hier geht es immer hektisch zu, Herr Never«, blaffte sie ihn an. »Wenn wir deswegen alles vergessen würden, käme wahrscheinlich kein Patient lebend hier raus.«
»Übertreiben Sie nicht! Es geht hier nicht um Menschenleben, sondern um ein dämliches Paar Schuhe.« Markus ärgerte sich. Für ihn war Inga die wunderschönste Frau der Welt: zart wie eine Elfe mit einem ebenmäßigen Gesicht und ausdrucksstarken blauen Augen, einer kleinen zierlichen Nase und wundervoll geschwungenen Lippen. Er wusste, dass ihr die langen Haare wie flüssiges Gold über die Schultern fließen würden, obwohl sie sie immer hochsteckte. Nur schade, dachte er enttäuscht, dass ihr sanftmütig wirkendes Äußeres nicht ihr wahres Wesen widerspiegelt.
»Ich weiß selbst, was Sie hier leisten«, sagte er spröde. »Das gibt Ihnen aber nicht das Recht, andere Menschen so herablassend zu behandeln, nur weil sie etwas vergessen haben!«
Als Inga dazu schwieg und ihn nur mit einem vernichtenden Blick strafte, drehte er sich um und verließ die Aufnahme. Seine kindische Schwärmerei für Schwester Inga war jetzt endgültig vorbei, nahm er sich fest vor. Er musste nur noch sein dummes Herz davon überzeugen.
»Wow, den Verehrer bist du aber schnell losgeworden.«
Inga drehte sich zu Schwester Anna um. »Er war ziemlich frech«, stellte sie fest und ging nicht auf Annas Bemerkung ein.
»Für mich sah’s aus, als hätte er sich nur verteidigt, nachdem du ihn ohne Grund zur Schnecke gemacht hast.«
»So schlimm war ich doch gar nicht!«
»Du warst nahe dran, Dr. Berger alle Ehre zu machen.«
Inga schnappte kurz nach Luft. Dass Anna ihr Verhalten mit dem von Dr. Berger, dem ewig griesgrämigen Zyniker, verglich, behagte ihr gar nicht. So garstig wie er war sie nun wirklich nicht. Oder etwa doch?
»Stell die Schuhe endlich irgendwo hin«, sagte Anna lächelnd. »Ich werde sie nachher auf der ITS abgeben, wenn ich ins Labor gehe. Aber vorher wird’s Zeit für unsere Kaffeepause. Wer weiß, ob wir später noch mal dazu kommen.«
Inga arbeitete seit einigen Jahren in der Notaufnahme. Hier hatte sie bald gelernt, dass es immer klug war, ruhige Momente für eine Pause zu nutzen. Niemand konnte mit Gewissheit sagen, ob sich später noch einmal die Gelegenheit dafür bieten würde. Deshalb galt es, die Gunst der Stunde zu nutzen und das Beste aus einem leeren Wartezimmer zu machen.
Mit dem ersten Schluck Kaffee kehrte auch die Vernunft in Ingas Kopf zurück. Kleinlaut sagte sie: »Ich war wirklich ziemlich gemein und ungerecht zu ihm. Glaub mir, ich mache das nicht gern, aber … aber vielleicht hilft es ja, dass er endlich aufhört, mich so anzuschmachten.«
»Du meinst, das war deine Art, ihm zu zeigen, dass er keine Chancen bei dir hat?«
Hilflos zuckte Inga mit den Schultern. »Die nette Art hat ja nichts gebracht. Ich habe ihm auf eine nette Art schon mehrfach einen Korb gegeben.«
»Davon hast du mir nie etwas erzählt.«
»Warum sollte ich? Du hättest dann doch nur versucht, die Kupplerin zu spielen.«
Anna lachte kurz auf. »Ja, vielleicht. Aber dafür ist es nun wohl zu spät. Du hast es geschafft, dass er dich für ein gemeines Biest hält, mit dem er nichts zu tun haben will.«
Inga nickte bestätigend. »Das war der Plan.«
Das war nicht das, was Anna erwartet hatte. Die stets gut gelaunte und freundliche Inga war dafür bekannt, dass ihr Streitereien und schlechte Stimmungen zuwider waren. Selbst Schimpfwörter und Flüche wurden von ihr nicht widerspruchslos hingenommen. Da machte sie auch bei Dr. Erik Berger keine Ausnahme und scheute nicht davor zurück, ihn zu ermahnen, falls er es mal wieder übertrieb. Sobald irgendwo am Himmel Gewitterwolken aufzogen, war Inga die Erste, die schlichten wollte. Wahrscheinlich lag das daran, dass sie als Mutter von zwei lebhaften Buben oft als Friedensrichterin fungieren musste.
Nachdenklich fragte Anna: »Warum sperrst du dich eigentlich so gegen eine neue Beziehung? Dieser Feuerwehrmann ist doch einer von den Netten. Und dass er zudem noch sehr gut aussieht, schadet sicherlich auch nicht. Es gibt bestimmt sehr viele Frauen, die nicht Nein zu ihm sagen würden.«
»Dann dürfen sie sich freuen, dass er auch weiterhin zu haben ist. Ich habe nämlich schon zwei Männer, denen mein Herz gehört. Für mehr ist dort kein Platz.«
»Bist du sicher? Die beiden Männer, von denen du sprichst, sind zwei achtjährige Buben.«
»Ich weiß selbst, wie alt meine Söhne sind. Uns geht es gut, sogar sehr gut. Und das soll auch so bleiben. Eine neue Liebe kann ich in meinem Leben nicht gebrauchen. Sie würde alles kompliziert machen, und am Ende würde sie mich und meine Jungs verletzt zurücklassen.«
»Ich weiß, dass dich der Vater der Jungs sitzenließ, kaum dass er von der Schwangerschaft erfahren hatte«, erwiderte Anna mitfühlend. »Aber deswegen sind nicht alle Männer miese Verräter. Da draußen laufen viele anständige Typen rum, die es nicht verdient haben, dass du so schlecht über sie denkst – oder sie hier runterputzt wegen einer harmlosen Bagatelle.«
»Okay, ich gebe zu, das war nicht fair von mir. Aber bei allem anderen kann ich nur sagen: Nein, danke! Die Jungs und ich sind mit dem Leben, so wie es ist, sehr zufrieden. Wir brauchen keinen Mann.« Um Verständnis bittend sah sie ihre Kollegin an. »Es geht hier nicht nur um mich, Anna. Ich trage auch Verantwortung für meine Kinder und möchte ihnen Kummer und Schmerz ersparen. Ole und Malte sollen glücklich und unbeschwert aufwachsen. Sie sollen nie erfahren, wie es ist, im Stich gelassen zu werden.« Und das würde geschehen, wenn sie wieder einen Mann in ihr Leben lassen würde. Davon war sie fest überzeugt.
*
Ihre Überzeugungen brachten das schlechte Gewissen, das Inga seit dem kleinen Disput mit Markus Never quälte, nicht zum Schweigen. Während des gesamten Spätdienstes musste sie an ihn denken. Anna hatte recht, er war wirklich einer von den Netten, der ihre schroffe Art nicht verdient hatte. Bei ihrem Bestreben, sich nie wieder das Herz brechen zu lassen, war sie mit dem eines anderen Menschen sehr sorglos umgegangen.
Unruhig warf Inga einen Blick auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde, dann war dieser leidige Spätdienst endlich vorbei. Als alleinerziehende Mutter hatte sie das große Glück, nur in der Tagschicht zu arbeiten. Die Leitung der Behnisch-Klinik achtete sehr auf familienfreundliche Arbeitszeiten. Inga war immer dann im Dienst, wenn die Jungs in der Schule waren, beim Fußball-Verein oder in einem Kursus. Dass sie hin und wieder trotzdem einen Spätdienst übernahm, geschah aus freien Stücken, um ihre Kollegen zu entlasten. Ingas Nachbarin und gute Freundin Gertrud kümmerte sich dann um die Zwillinge. Gertrud, die von Ingas Söhnen liebevoll Oma Trudi genannt wurde, feierte in zwei Jahren ihren achtzigsten Geburtstag. Niemand sah ihr das Alter an, und darauf war Trudi sehr stolz. Sie war die aktivste und fitteste Seniorin, die Inga kannte. Den ganzen Tag in ihrer Wohnung vor dem Fernseher zu sitzen, kam für sie nicht infrage. Trudi zog es hinaus in die Natur oder in das bunte Treiben der Großstadt. Morgens ging sie in den Park zu ihrer Qigong-Gruppe oder zu ihren Freundinnen, mit denen sie in einem flotten Tempo eine große Nordic-Walking-Runde absolvierte. Sie hatte ein Theater-Abo und einen Bibliotheksausweis, ließ sich keine Kunstausstellung entgehen und liebte ihren Bingo-Nachmittag am Freitag.
Trotz des vollen Programms war es für Trudi selbstverständlich, auch noch Inga und ihre Söhne zu unterstützen, wenn Inga Spätdienst hatte. Sie holte die Zwillinge dann aus der Schule ab, kontrollierte die Hausaufgaben, machte ihnen das Abendbrot und brachte sie sogar ins Bett. Auch heute schliefen die beiden bereits, als ihre Mutter heimkehrte.
Inga umarmte Trudi zur Begrüßung und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Danke, Trudi, wenn ich dich nicht hätte.«
»Ach was, du weißt doch, wie gern ich mit den Jungs zusammen bin. Und nun zieh endlich deine Jacke aus und komm in die Küche. Ich habe heute mit den beiden einen Marmorkuchen gebacken, den du unbedingt noch probieren musst.«
»Ein bisschen spät für Kuchen«, lachte Inga, aber sie gehorchte und folgte Trudi in die Küche. Auf dem kleinen Tisch aus freundlichem Kiefernholz stand ein liebevoll arrangiertes Gedeck aus hellblauem Porzellan mit einer bunten Papierserviette. Auf einer Kuchenplatte lagen die Reste eines perfekt gebackenen Marmorkuchens.
Trudi schob Inga auf die Eckbank und schenkte ihr aus einer Thermoskanne ein.
»Kein Kaffee. Kamillentee«, erklärte Trudi. »Du sollst ja auch noch einschlafen können.«
»Danke, du denkst wirklich an alles.«
Inga bediente sich am Kuchen. »Mhm, fantastisch!«, schwärmte sie mit vollem Mund. »Ein neues Rezept?«
»Ja. Den Kindern hat der Kuchen auch geschmeckt. Und noch mehr Freude hatten sie am Backen.«
»Es ist lieb, dass du dir so viel Zeit für die beiden nimmst. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne dich machen würde.«
»Ich bin gern für dich da, Inga. Und die Zwillinge sind mir ans Herz gewachsen, als wären sie meine Enkelkinder.« Ein trauriger Zug erschien um ihren Mund, als sie leise sagte: »Vielleicht sogar noch mehr. Meine eigenen Enkel sehe ich ja nur alle Jubeljahre. Die kennen ihre Oma doch kaum.« Trudis einzige Tochter war vor ein paar Jahren aus München weggezogen. Mit ihrem Mann und den Kindern lebte sie jetzt in Zürich. Trudi litt sehr darunter, dass sie ihre Familie nicht mehr so häufig sehen konnte wie früher.
»Es tut mir leid, Trudi. Ich weiß, sie fehlen dir.«
»Ach was soll’s?« Trudi blinzelte entschlossen die Tränen fort, die sich in ihre Augen geschlichen hatten. »Ich habe ja immer noch dich und die Jungs. Mir geht es also sehr gut.«
»Wirklich?«, rutschte es Inga heraus, ehe sie es verhindern konnte. Inga machte sich neuerdings Sorgen um ihre Freundin. Seit ein paar Wochen wirkte sie nicht mehr so energiegeladen wie früher und machte oft einen erschöpften Eindruck.
»Ach, Mädchen! Geht das schon wieder los? Mit mir ist alles in Ordnung. Warum machst du dir nur so viele Gedanken über mich?«
»Die Zwillinge sind recht lebhaft und können manchmal etwas anstrengend sein«, erwiderte Inga vorsichtig. Sie wusste, sie waren bei einem sehr sensiblen Thema angekommen. Trudi konnte es überhaupt nicht leiden, wenn sich Inga sorgte, dass sie ihr mit den Jungs womöglich zu viel zumutete.
»Du tust ja gerade so, als wäre ich zu alt, um auf die Kinder aufzupassen. Das bekomme ich schon noch hin.« Nun hörte sie sich ernsthaft beleidigt an, und Inga ruderte sofort zurück.
»Das weiß ich doch, Trudchen. Aber sollte es dir irgendwann zu viel werden, sag mir bitte Bescheid. Machst du das?«
»Natürlich, Kleine.« Trudi stand auf. »Nun werde ich mich mal langsam auf den Weg machen, damit du endlich ins Bett kommst. Du musst morgen wieder früh raus.«
So endete es immer, wenn Inga es wagte, Trudi wegen ihrer Gesundheit anzusprechen: Trudi reagierte empört, Inga entschuldigte sich, und dann verabschiedete sich Trudi rasch, um weiteren Diskussionen aus dem Weg zu gehen. Inga spielte jedes Mal mit, obwohl sie wusste, dass das keine gute Lösung war. Doch weil ihr nichts Besseres einfiel, begnügte sie sich damit, ein Auge auf Trudi zu haben und zu hoffen, dass sie sich täuschte und es Trudi in Wahrheit richtig gutging.
Inga begleitete ihre Freundin zur Haustür. »Nochmals vielen Dank, Trudi.« Es wehte ein kühler Abendwind, und Inga strich sich fröstelnd über die Oberarme.
»Geh ins Haus, Kleine. Du holst dir sonst noch eine Erkältung.«
»So schnell passiert das schon nicht«, widersprach Inga, griff aber trotzdem nach ihrer Jacke, die an der Garderobe hing, und zog sie über. »Ich bleibe hier so lange stehen, bis du im Haus bist.«
»Du übertreibst mal wieder. Mein Haus liegt direkt gegenüber. Uns trennen keine dreißig Meter. Denkst du wirklich, mich wird jemand auf dem kurzen Weg überfallen? Und selbst wenn, gegen mich hätte der keine Chance. Immerhin war ich früher aktive Judoka. Meine besten Würfe beherrsche ich noch immer. Wer mich verärgert, wird das ganz sicher bereuen.«
Inga lachte. »War das eine Warnung?«
»Nicht für dich.« Trudi zwinkerte Inga zu und lief dann flink wie ein Wiesel den schmalen Weg entlang, der vom Haus zur Gartenpforte führte und von dort weiter über die Straße hinüber zu ihrem kleinen Häuschen. Wenig später stand sie vor ihrer hell erleuchteten Eingangstür, winkte noch einmal und verschwand im Haus.
Inga blieb ein paar Minuten draußen stehen und hielt ihr Gesicht in den Wind. Die abendliche Stille tat ihr gut und ließ sie vergessen, wie einsam sie sich in solchen Momenten fühlte. Sie wusste, dass Anna recht hatte: Die Jungs konnten einen Partner nicht ersetzen. Manchmal vermisste sie es, mit jemanden zusammen zu sein, der sie einfach mal in den Arm nahm oder ihr sagte, wie sehr er sie liebt.
Inga blickte ein letztes Mal zum wolkenlosen Sternenhimmel hoch und ging wieder hinein. Es war fast Mitternacht, und es wartete noch eine Menge Arbeit auf sie, bevor sie ins Bett gehen konnte. Der Geschirrspüler musste ausgeräumt werden, und im Wohnzimmer stand ein voller Korb mit Bügelwäsche, um den sie sich endlich kümmern wollte. Doch zuerst musste sie nach ihren Jungs sehen.
Die Kinderzimmer waren im Obergeschoss. Als Inga die schmale Treppe hinaufstieg, bemerkte sie ihre müden, schmerzenden Glieder besonders heftig. Der Spätdienst heute hatte ihr alles abverlangt. Die Kaffeepause mit Anna war diesmal tatsächlich ihre einzige Verschnaufpause gewesen. Kurz darauf hatte ein regelrechter Patientenansturm begonnen, der bis zu ihrem Dienstende andauerte.
Sie unterdrückte ein herzhaftes Gähnen, als sie leise Oles Tür öffnete. Es überraschte sie nicht, hier auch Malte zu finden, obwohl er ein eigenes Zimmer hatte. Ihre Söhne hatten eine besondere, sehr enge Bindung zueinander, wie sie wohl nur Zwillingen eigen war. Sie waren nicht nur Brüder, sondern auch beste Kumpels, die einfach unzertrennlich waren, selbst nachts. In jedes Kinderzimmer zwei Betten zu stellen, hatte sich deshalb als gute Lösung erwiesen.
Zärtlich strich sie ihren schlafenden Söhnen über die Haare und deckte sie ordentlich zu. Dann schlich sie, so leise, wie sie gekommen war, wieder hinaus. Auf dem Flur warf sie einen sehnsüchtigen Blick zu der Tür am Ende des Ganges, hinter der sich ihr Schlafzimmer befand. Wie gern wäre sie jetzt einfach da hineingegangen und hätte sich schlafen gelegt. Doch noch gab es unten einen vollen Geschirrspüler und einen Berg Bügelwäsche, die auf sie warteten.
Verblüfft starrte Inga wenig später in den Spüler, in dem sich nur ein paar Teller vom Abendessen befanden. Auch im Wohnzimmer wartete eine Überraschung auf sie. Glattgebügelt und akkurat zusammengelegt lag ihre Wäsche im Korb und brauchte nur noch in die Schränke gelegt zu werden.
Mit einem müden, aber glücklichen Lächeln schickte Inga ein kleines Dankgebet himmelwärts und zu dem Nachbarhaus auf der anderen Straßenseite.
*
Obwohl ihr Trudis Freundschaftsdienst eine zusätzliche Stunde Schlaf beschert hatte, war Inga noch sehr müde, als ihr Wecker am nächsten Morgen klingelte. Mit geschlossenen Augen tastete sie ihren Nachtschrank nach dem Störenfried ab und atmete erleichtert auf, als es ihr endlich gelang, den schrillen Weckton abzustellen.
Inga hatte heute Frühdienst. Nach dem gestrigen Spätdienst war das ein kurzer Dienstwechsel, der zum Glück nur sehr selten vorkam und den sie nicht bedauerte. Sie würde heute ab dem frühen Nachmittag freihaben und könnte so viel Zeit mit ihren Söhnen verbringen.
In der Küche bereitete Inga das Frühstück vor. Sie wollte gerade nach oben gehen, um Ole und Malte zu wecken, als sie das Tapsen nackter Kinderfüße hinter sich hörte.
»Na, da hat ja jemand früh ausgeschlafen.« Inga ging in die Hocke. Nur Augenblicke später konnte sie die Jungs in ihre Arme schließen und ihnen einen zärtlichen Kuss geben.
»Wir konnten nicht mehr schlafen«, erklärte Ole. »Wir haben die Jalousie gestern Abend nicht runtergemacht, und deshalb hat uns die Sonne heute wachgekitzelt.«
»Oh, schade«, rief Inga enttäuscht. »Das Wachkitzeln ist doch sonst immer meine Aufgabe. Darauf habe ich mich heute besonders doll gefreut. Und deshalb werde ich jetzt auf keinen Fall darauf verzichten.«
Malte und Ole kreischten laut auf, um anschließend in ein haltloses Lachen und Kichern auszubrechen, als sie von ihrer Mutter durchgekitzelt wurden. Ihre halbherzigen Abwehrversuche beeindruckten Inga nicht, sie wusste, dass ihre Söhne diese kleine Aktion in vollen Zügen genossen. Sie beendete sie mit einem lauten Schmatzer auf die Wangen ihrer Söhne und schickte die beiden dann nach oben, damit sie sich anziehen konnten.
»Ich mache euch heute ausnahmsweise mal warmen Kakao zum Frühstück. Also seht zu, dass ihr bald wieder runterkommt, damit er nicht kalt wird und sich eine Haut darauf bildet.«
»Iiih«, riefen Malte und Ole unisono und stürmten die Treppe hinauf.
Inga wusste, dass der heißgeliebte Kakao das große Risiko von unliebsamen Flecken auf den blütenreinen T-Shirts barg. Womöglich wäre nach dem Frühstück sogar ein Wäschewechsel fällig. Aber für die Freude, die sie ihren Söhnen mit ihrem Lieblingsgetränk machte, nahm sie das gern in Kauf. Doch zum Glück ging alles gut, sodass sie pünktlich das Haus verlassen konnten. Den kurzen Weg bis zur Schule legten sie oft zu Fuß zurück. Es war nicht weit, und Inga liebte diesen kleinen Spaziergang mit ihren Söhnen, obwohl er sie ein wenig in Zeitnot brachte. Die Fahrt mit ihrem Auto würde schneller gehen und ihr den Rückweg nach Hause ersparen. Aber sie würde auch wertvolle gemeinsame Zeit mit ihren Kindern verlieren. Und auf die wollte Inga auf keinen Fall verzichten.
Vor der Grundschule verabschiedete sie sich von den beiden mit einem Kuss und fing sich dafür die empörten Blicke ihrer Söhne ein.
Ole wischte sich demonstrativ mit der Hand über das Gesicht. »Mama, das ist voll peinlich. Wenn das nun unsere Freunde sehen! Wir sind doch keine Babys mehr!«
»Entschuldigung«, gab Inga schuldbewusst zurück. »Kommt nicht wieder vor«, setzte sie dann hinzu, obwohl sie wusste, dass sie sich nicht daran halten würde. Zumindest nicht oft.