Читать книгу Chefarzt Dr. Norden Box 10 – Arztroman - Jenny Pergelt - Страница 6

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Verschlafen blinzelte Katja Baumann in das grelle Licht der Deckenlampe.

»Entschuldige, mein Schatz«, sagte Hagen. »Ich wollte dich nicht wecken. Aber im Dunkeln konnte ich meine Sachen nicht finden.«

»Macht nichts«, nuschelte Katja schlaftrunken. »Wie spät ist es denn?«

»Kurz nach fünf.« Hagen setzte sich zu ihr aufs Bett und gab ihr einen sanften Kuss. »Versuch, wieder einzuschlafen, Liebes.«

Katja schüttelte den Kopf. »Nein, ich steh auch auf. Dann können wir noch zusammen frühstücken.«

»Tut mir leid, Katja, aber so viel Zeit habe ich nicht. Ich muss sofort los.« Hagen erhob sich und griff nach seiner Anzugjacke. Als er die Enttäuschung in Katjas Augen sah, sagte er schnell: »Aber am Samstag fange ich später an. Was hältst du dann von einem langen Frühstück im Bett?«

»Du musst Samstag auch arbeiten?«

»Ja, leider. Ich bin an einem wichtigen Fall dran. Sobald der abgearbeitet ist, wird es etwas ruhiger werden. Das verspreche ich dir.«

»Schon gut, Hagen. Mach dir meinetwegen nicht so viele Gedanken.«

Hagen kam zum Bett zurück. Zärtlich strich er seiner Liebsten eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht. »Deinetwegen mache ich mir aber sehr gern Gedanken. Und ginge es nach mir, würde ich wahrscheinlich nichts anderes mehr machen.«

Er überlegte kurz und sagte dann: »Ich werde am Samstag nur bis mittags arbeiten. Danach könnten wir noch etwas zusammen unternehmen.«

Hagen griff in seine Jackentasche und holte einen bunten Flyer heraus. «Hättest du vielleicht Lust, mit mir eine Vernissage zu besuchen? In der Galerie Kaminski stellt ein junger Künstler aus. Wir könnten auch die Nordens fragen, ob sie mitkommen möchten.«

»Ja … natürlich. Das ist eine gute Idee.« Katja setzte sich auf, griff nach der Werbung und warf einen flüchtigen Blick darauf. Sie war erstaunt über Hagens Angebot. Gerade eben sagte er noch, dass er am Samstag arbeiten müsse, und nun das? Es kam ihr seltsam vor, aber sie hatte nicht vor, sich darüber zu beklagen. Warum auch? Immerhin wollte Hagen mit ihr zusammen sein, weil sie ihm wichtiger war als seine Arbeit. Was wollte sie mehr?

»Wenn ich Fee nachher sehen, werde ich sie fragen, ob sie und ihr Mann mitkommen möchten.«

»Sehr schön.« Hagen gab ihr noch einen letzten Kuss, bevor er das Schlafzimmer verließ. Sekunden später hörte Katja das Zuschlagen der Wohnungstür.

Sie drehte sich auf den Rücken und starrte die Zimmerdecke an. Inzwischen war sie putzmunter, und an Schlaf war nicht mehr zu denken. Also würde sie aufstehen, sich fertigmachen und in die Behnisch-Klinik fahren.

Katja war die Assistentin von Chefarzt Dr. Norden. Die Arbeit gefiel ihr, und manchmal fühlte sie sich an ihrem Schreibtisch wohler als in ihrer Wohnung. Besonders dann, wenn sie sich so verlassen vorkam wie an diesem frühen Morgen. Dafür gab es keinen vernünftigen Grund. Dass Hagen nicht ständig bei ihr sein konnte und viel Zeit mit seinem Job verbrachte, hatte sie von Anfang an gewusst. Und, ja, er arbeitete härter und länger, als es vielleicht üblich war. Aber das änderte doch nichts an seinen Gefühlen für sie. Er liebte sie, daran gab es keine Zweifel. Also war doch alles in bester Ordnung. Katja seufzte. Und warum war sie dann so traurig?

Dr. Hagen Wolfram war promovierter Jurist und Staatsanwalt am Oberlandesgericht. Hier sorgte er dafür, dass Gauner und Kriminelle, denen das Gesetz egal war, ihre gerechte Strafe erhielten. Ihnen das Handwerk zu legen, war seine größte Passion. Kurz gesagt: Er liebte seine Arbeit.

Für ihn war sie immer das Wichtigste in seinem Leben gewesen. Das änderte sich erst, als ihm Katja Baumann über den Weg lief. Plötzlich erschien es ihm nicht mehr so toll, nur noch für seinen Beruf zu leben. Er vermisste Katja oft und wünschte sich dann nichts sehnlicher, als sie in seinen Armen halten zu können. Doch so leicht war das leider nicht. Seine beruflichen Pflichten durfte er nicht vernachlässigen. Wer sollte sich denn sonst darum kümmern?

Hin und her gerissen zwischen seiner Liebe zu Katja und seinem Pflichtbewusstsein, war ihm die Idee mit der Galerie gekommen. Der Besuch der Vernissage erschien ihm eine gute Gelegenheit, Zeit mit Katja zu verbringen und sich trotzdem um seinen derzeit wichtigsten Fall kümmern zu können.

Doch auf der Fahrt zum Gericht stellte sich leichtes Unbehagen ein. Durfte er Arbeit und Privates wirklich vermischen? Hinterging er Katja womöglich, wenn er ihr den Galeriebesuch als einen netten Wochenendausflug unterjubelte? Darüber grübelte Hagen, bis er an seinem Büro ankam.

Hier wurde er bereits erwartet, und die Gedanken, die sich um Katja drehten, lösten sich in Luft auf.

Es war nicht unüblich, dass er sich mit den Kollegen von der Kriminalpolizei zu so früher Stunde traf. Besonders dann nicht, wenn es um eine verdeckte Ermittlung ging, von der niemand erfahren durfte.

»Sie wissen hoffentlich, dass ich von dem Plan nicht begeistert bin«, sagte Hagen, als er mit den Männern im Besprechungsraum saß.

»Wir auch nicht«, erwiderte Kriminalhauptkommissar Herbert Burmeister, der Älteste in der Runde. »Doch so, wie es aussieht, haben wir keine andere Wahl. Wir versuchen schon seit Jahren, Roman Kaminski zu überführen. Aber der Typ ist aalglatt. Es gelingt uns einfach nicht, ihm etwas nachzuweisen. Wenn ich in ein paar Monaten in Pension gehe, soll Kaminski hinter Schloss und Riegel sitzen. Wenn nicht …«

Björn Lange, sein jüngerer Kollege, lachte leise. »Bitte sag jetzt nicht, dass du deine Pensionierung wegen Kaminski verschieben würdest. Das lass mal nicht deine Inge hören. Sie hat eure Kreuzfahrt bereits gebucht.«

»Das weiß ich doch. Und damit ich pünktlich in See stechen kann, ist es wichtig, dass Sie, Herr Wolfram, den Plan absegnen. Wir schicken unseren Kleinen hier verdeckt in die Galerie und werden Kaminski dann endlich rankriegen.«

Hagen sah zu dem jungen Mann hinüber, den Burmeister als den Kleinen bezeichnet hatte. Ihm war bekannt, dass Maik Kühnert die Polizeischule erst vor wenigen Wochen abgeschlossen hatte. Auf Hagen machte er nicht den Eindruck, als wäre er der Sache gewachsen. Sichtlich nervös rutschte Kühnert auf seinem Stuhl hin und her und schien sich in seiner Haut nicht wohlzufühlen.

Hagen griff nach dem Blatt Papier, das vor ihm auf dem Tisch lag. »Das ist also der Lebenslauf, mit dem Sie sich in der Galerie beworben haben, Herr Kühnert. Ich hoffe, er ist hieb- und stichfest und wird uns nicht um die Ohren fliegen, wenn Kaminski ihn näher prüft.«

»Keine Sorge«, antwortete Björn für seinen jungen Kollegen, der vor Aufregung kein Wort herausbekam. Kriminaloberkommissar Björn Lange war seit einigen Jahren im Polizeidienst und hatte selbst schon undercover gearbeitet. Er wusste also bestens, worauf es hier ankam.

»In dem Lebenslauf steht nichts drin, was nicht der Wahrheit entspricht«, sagte er. »Nach dem Abitur hat Herr Kühnert an der Kunsthochschule studiert und das Studium im dritten Semester abgebrochen. Das stimmt, und dafür gibt es sogar Originalunterlagen, die das belegen.« Grinsend fuhr er fort: »Dass er anschließend eine Ausbildung an der Polizeischule begann, haben wir natürlich weggelassen.«

Hagen wandte sich an den jungen Mann, der schweigend den Worten seines Vorgesetzten gefolgt war: »Seit dem Studienabbruch sind drei Jahre vergangen. Wie wollen Sie Kaminski diese Lücke in Ihrem Lebenslauf erklären?«

»Ich …« Maik räusperte sich nervös. »Also ich sage ihm einfach, dass ich Gelegenheitsjobs hatte. Nichts Festes.«

Hagen musterte den schmalen, jungen Mann noch einmals aufmerksam. Er sah nicht aus wie ein Polizist, und sein Lebenslauf passte tatsächlich wunderbar.

Die Galerie, die Roman Kaminski gehörte und die er benutzte, um mit gestohlenen Kunstwerken zu hehlen, suchte eine Aushilfe. Für die Ermittler bot sich hier eine hervorragende Möglichkeit, einen Mann aus den eigenen Reihen einzuschleusen. Allerdings hielt Hagen grundsätzlich nichts von solch abenteuerlichen Aktionen. Das Risiko, dass die Sache außer Kontrolle geraten könnte, war einfach zu groß. Niemand konnte vorhersagen, wie Kaminski reagieren würde, sollte der Schwindel auffliegen. Womöglich riskierten sie das Leben oder die Gesundheit des jungen Mannes, wenn sie ihn mit diesem Auftrag betrauten. Aber andererseits: Sie waren tatsächlich seit Jahren hinter Kaminski her. Bisher war es ihm immer gelungen, seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen, weil die Beweise nie ausreichten. Mit diesem unscheinbaren, jungen Mann könnte ihnen endlich der große Wurf gelingen. Durfte sich Hagen diese Chance entgehen lassen?

»Also gut. Dann machen wir es so.« Hagen sah, wie Burmeister und Lange bei seinen Worten aufatmeten, während Maik Kühnert noch mehr auf seinem Stuhl zusammensackte.

»Herr Kühnert, trauen Sie sich das denn überhaupt zu?«, fragte ihn Hagen eindringlich. »Es wird Ihnen niemand einen Vorwurf machen, wenn Sie diesen Auftrag ablehnen.«

»Ich mache es«, erwiderte Kühnert hastig. »Wirklich! Ich schaffe das!«

»In Ordnung«, sagte Hagen, nicht restlos überzeugt. »Ich werde übrigens am Samstag einen ›privaten‹ Ausflug in die Galerie machen und mit einigen Bekannten die Vernissage besuchen.«

Burmeister runzelte die Stirn. »Warum? Kaminski kennt Sie. Er wird sofort vermuten, dass Sie dort sind, um zu schnüffeln.«

»Natürlich. Das ist ja auch der Sinn meines Besuchs. Ich will Kaminski nervös machen und ihm zeigen, dass wir ihn nicht vergessen haben. Wenn ich so offen mein Interesse demonstriere, kommt er nicht auf die Idee, dass wir parallel auch noch verdeckt gegen ihn ermitteln.«

Die nächste Stunde nutzten die Männer, um die weiteren Einzelheiten zu besprechen. Als sich seine Besucher schließlich verabschiedeten, war sich Hagen sicher: Ihr Plan könnte funktionieren. Blieb nur noch die Sorge, dass der junge, unerfahrene Polizist vor Aufregung die Nerven verlieren könnte.

*

Dr. Felicitas Norden, die Leiterin der Kinderabteilung, verbrachte die Mittagspause mit Katja Baumann. Interessiert betrachtete sie den Flyer, den Katja ihr gegeben hatte.

»Den habe ich heute von Hagen bekommen«, erklärte Katja. »Er hat den Vorschlag gemacht, dass wir am Samstag zur Vernissage von diesem Künstler gehen.«

»Peer Wedow in der Galerie Kaminski?«, wunderte sich Fee. »Wer hätte das gedacht.«

»Was meinst du damit?«

»Die Galerie ist nicht gerade für hochkarätige Ausstellungen bekannt. Ich war schon ein paar Mal dort. Besonders beeindruckt hat sie mich aber nicht. Es hängen ständig die gleichen Bilder an den Wänden. Wahrscheinlich Ladenhüter, die sie nicht loswerden. Aber das hier …« Fee hielt den Flyer hoch und nickte anerkennend. »Das hier klingt wirklich gut. Peer Wedow ist ein junger Maler aus München, der bei den Kritikern sehr angesagt ist. Ihm wird eine große Zukunft vorhergesagt.«

»Du scheinst dich wirklich auszukennen«, bemerkte Katja beeindruckt.

»Ich liebe Kunst, aber deswegen bin ich noch lange keine Kunstkennerin. Von Peer Wedow habe ich aber schon gehört.«

»Wollen wir am Samstag zusammen hingehen?«

»Ja, Katja, ich bin sehr gern dabei, und Daniel wird sich das auch nicht entgehen lassen.«

»Sehr schön.« Katja strahlte. »Ich freue mich, wenn wir uns auch mal außerhalb der Klinik treffen.«

Fee zögerte. »Aber ist es dir wirklich recht, wenn wir uns euch anschließen? So viel, wie Hagen arbeitet, unternehmt ihr kaum etwas gemeinsam.«

»Ja, das stimmt.« Katja verzog betrübt den Mund. »Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass er sich so in seinen Job reinkniet. Er liebt ihn eben. Aber ich habe manchmal das Gefühl, dass ich mit seiner Arbeit konkurriere.«

»Du fragst dich also, wen er mehr liebt? Dich oder seinen Beruf?«

Katja nickte. »Ich weiß, dass das albern ist. Aber trotzdem … Anfangs dachte ich ja noch, dass sich das geben würde. Spätestens dann, wenn der Fall, der ihn gerade so beschäftigt, abgeschlossen ist. Aber kaum ist es so weit, landet auch schon das nächste schwierige Problem auf seinem Tisch, und das Ganze geht von vorn los.«

»Wenn dich ein Außenstehender hören könnte, würde er vermutlich annehmen, dass ihr ein altes Ehepaar seid, bei dem der Alltagstrott eingekehrt ist. Aber wie lange seid ihr jetzt zusammen? Zwei oder drei Monate? Da sollte die Luft eigentlich noch nicht raus sein.«

»Ist sie ja auch nicht! Wirklich! Wir lieben uns wie am ersten Tag. Und wenn wir zusammen sind, kann es gar nicht schöner sein. Das Problem ist nur, dass wir uns viel zu selten sehen. Zumindest glaube ich das. Kann sein, dass Hagen das ganz anders sieht.«

»Ja, das wäre möglich. Du solltest unbedingt mit ihm darüber reden. Woher soll Hagen sonst wissen, was dich an eurer Beziehung stört? Das Dumme bei den Männern ist nämlich, dass sie nicht unsere Gedanken lesen können.«

Katja kicherte. »Manchmal ist das aber auch ganz gut.«

Fee winkte mit dem Flyer der Galerie. »Die Vernissage wäre eine gute Gelegenheit für euch, endlich mal wieder Zeit miteinander zu verbringen. Ob Daniel und ich dann dabei sein sollten, bezweifle ich jedoch. Wahrscheinlich würden wir nur stören. Und es wäre gut möglich, dass es Hagen gar nicht recht ist, wenn wir euch begleiten.«

»Es ist lieb von dir, dass du so rücksichtsvoll bist. Aber ihr stört ganz sicher nicht. Und wegen Hagen musst du dir auch keine Gedanken machen. Die Idee, dass wir zu viert hingehen, stammt von ihm. Und ich habe ganz bestimmt nichts dagegen einzuwenden. Ich freue mich immer, dich zu sehen. Hinterher könnten wir noch ein Glas Wein zusammen trinken. Es wäre doch schön, wenn wir uns nicht immer nur für ein knappes halbes Stündchen in der Cafeteria treffen würden.«

»Du vergisst unsere wöchentliche Therapiesitzung«, erwiderte Fee augenzwinkernd.

»Ach ja, die Therapie«, seufzte Katja. Seit einigen Wochen versuchte Katja, mit Fees Unterstützung ihre Blutphobie loszuwerden. Was sich als schwieriger erwies als gedacht. Selbst Fee schien überrascht zu sein, wie hartnäckig Katjas Angst vor Blut anhielt. Es war zwar schon viel besser geworden. Aber als geheilt betrachtete sich Katja noch lange nicht. Als Assistentin des Chefarztes der Behnisch-Klinik verbrachte sie ihren Arbeitstag zumeist an ihrem Schreibtisch. Der Anblick blutender Wunden blieb ihr dadurch zum Glück erspart. Trotzdem empfand sie ihre Blutphobie als unangenehm und lästig. Besonders, wenn es sie so heftig traf, dass sie sogar ohnmächtig wurde.

Als ihr Fee Norden ihre Hilfe als Therapeutin angeboten hatte, war sie sich so sicher gewesen, dass sie dieses kleine Problem schnell in den Griff bekommen würde. Aber leider hatten sich Katjas Ängste als sehr resistent gegenüber Fees Therapieversuchen erwiesen.

Fee stand auf. »Ich muss wieder los und nach einem Neuzugang sehen. Vorher will ich in den OP gehen und schauen, wie weit Daniel und Christina Rohde sind. Sie kümmern sich dort seit Stunden um einen schweren Verkehrsunfall.«

»Ja, ich weiß.« Katja verzog ihren hübschen Mund, und Fee ahnte, dass sich ihrer Freundin gerade schreckliche Bilder von blutenden Wunden aufdrängten.

»Wenn du magst, kannst du mich gern in den OP begleiten«, sagte Fee mit gespielter Ernsthaftigkeit.

Empört schnappte Katja nach Luft, und Fee musste sofort lachen. »Das war nur ein Scherz, meine Liebe. Keine Sorge, das werde ich dir nicht zumuten. So weit bist du noch nicht. Aber irgendwann ganz sicher.«

*

Maik Kühnert kam eine halbe Stunde zu früh vor der Galerie an. Der Plan des Staatsanwalts und seiner Kollegen schien aufzugehen. Roman Kaminski hatte ihn ganz kurzfristig zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.

Langsam schlenderte Maik auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlang und tat, als würde er dort die Schaufensterauslagen betrachten. Er hatte noch genügend Zeit, und die wollte er lieber hier draußen verbringen als in der Galerie. Es tat ihm gut, sich die Beine zu vertreten. Nur so schaffte er es, mit seiner Nervosität zurechtzukommen.

Hin und wieder warf er einen vorsichtigen Blick zur Galerie hinüber. Die unscheinbare Fensterfront maß nur sechs Meter in der Breite. Daneben gab es ein großes, verschlossenes Holztor, von dem Maik wusste, dass es auf den geräumigen Innenhof des Grundstücks führte. Das Tor war so breit, dass ein kleinerer LKW bequem hindurchpasste. Auf dem Hinterhof, so vermutete die Polizei, fanden die eigentlichen Geschäfte Kaminskis statt. Hier wurde das Diebesgut umgeschlagen und in die ganze Welt verschickt.

Doch obwohl das den Ermittlern bekannt war, fehlten noch immer die Beweise, um Kaminski vor Gericht stellen zu können. Es hatte bereits einige Hausdurchsuchungen und nächtliche Razzien gegeben, die aber nie zum Erfolg geführt hatten. Es war wie verhext. Kaminski schien genau zu wissen, wann das Einsatzkommando bei ihm auftauchen würde. Natürlich war dann alles in bester Ordnung, und es fanden sich nie Beweise, die den Galeristen belasteten. Unter dem höhnischen Grinsen Kaminskis mussten sie dann jedes Mal unverrichteter Dinge abziehen.

Maik sah auf die Uhr. Seit seinem Eintreffen waren erst zehn Minuten vergangen. Doch ihm kam es wie eine Ewigkeit vor. Seine Aufregung hatte sich in dieser kurzen Zeit gesteigert, und Maik fiel es immer schwerer, sie zu ertragen. Ihm war bewusst, wie viel davon abhing, dass er die Stelle bekam. Die Augen der ganzen Abteilung ruhten auf ihm, dem blutigen Anfänger und Grünschnabel. Sollte er diesen Einsatz vermasseln, würde ihm das wahrscheinlich ein Leben lang anhängen. Er wäre dem Spott und Hohn der ganzen Dienststelle ausgesetzt. Nur ein einziger, dummer Fehler. Mehr war gar nicht nötig, um die Chance, endlich Beweise für Kaminskis Schuld zu finden, zu zerstören.

Diese Gedanken verstärkten den Druck, der ohnehin schon auf Maik lastete. Inzwischen wurde er so schlimm, dass er sich fast wünschte, er würde den Job in der Galerie nicht bekommen. Dann bestände gar nicht erst die Gefahr, etwas falsch zu machen und dadurch die ganze Aktion zu gefährden.

Natürlich wollte er auch, dass Roman Kaminski für seine Taten zur Rechenschaft gezogen wurde. Schließlich waren solche Kriminelle wie Kaminski der Grund dafür gewesen, dass er sich für den Polizeidienst entschieden hatte. Doch die Verantwortung, die nun auf seinen schmalen Schultern lastete, war eine zu große Bürde für ihn. Er brauchte einfach noch etwas Zeit. Zeit, um in Ruhe Erfahrungen sammeln zu können und so gut zu werden wie Björn Lange oder Herbert Burmeister. Wenn es nach Maik gehen würde, säße er jetzt an einem Schreibtisch in der Dienststelle oder wäre mit einem versierten Kollegen auf Streife. Doch er war hier ganz auf sich allein gestellt und so mutlos wie selten in seinem jungen Leben.

Als er es draußen nicht mehr aushielt, betrat er mit schlotternden Knien die Galerie. Obwohl Maik den Grundriss kannte, war er erstaunt, wie groß sie war. Viel größer als sie von außen wirkte. Was ihr an Breite fehlte, machte sie mit einer Länge von mehr als vierzig Metern wieder wett. Der riesige Laden besaß mehrere Querwände, die halb in den Raum hineinragten. So konnte die Ausstellungsfläche vergrößert werden. Doch genutzt wurden diese zusätzlichen Flächen kaum. An den weißen Wänden hingen erstaunlich wenig Bilder. Maik war natürlich klar, woran das lag: Die Umsätze wurden nicht hier gemacht. Die eigentlichen Geschäfte, diejenigen, die für Kaminskis Wohlstand sorgten, liefen im Verborgenen ab.

Auf der rechten Seite, einige Meter vom Eingang entfernt, gab es eine Tür, die in Kaminskis Büro führte. In der kleinen Sitzgruppe davor saß eine junge Frau. Wahrscheinlich eine weitere Bewerberin für die freie Stelle, vermutete Maik. Als er sie erkannte, riss er erstaunt die Augen auf.

Steffi Seidel hatte, so wie er, an der Kunsthochschule studiert. Er war ihr dort einige Male begegnet, hatte aber nie mit ihr gesprochen. Von einem ehemaligen Studienfreund wusste er, dass Steffi später als Jahrgangsbeste abgeschlossen hatte. Ein Gedanke schoss jäh in seinen Kopf: Wusste Steffi, dass er zur Polizei gegangen war? Dann wäre seine Tarnung aufgeflogen, noch ehe er auch nur mit Kaminski gesprochen hätte.

Maik schämte sich dafür, aber er genoss den kleinen Hoffnungsfunken, der sich sofort in ihm festsetzte. Und obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass sie über seinen Werdegang Bescheid wusste, sehr gering war, hielt die Hoffnung an. Denn Maiks Chancen, den Job in der Galerie zu bekommen, waren mit Steffi als Konkurrentin gerade gegen Null gesunken. Wenn er Kaminski wäre und die Wahl zwischen einem Studienabbrecher und einer Einser-Studentin hätte, wüsste er, wen er nehmen würde. Und dieser jemand hatte wunderschöne blaue Augen, ein apartes Gesicht, kupferrote Locken und war eindeutig weiblich.

»Kann ich Ihnen helfen?«, wurde Maik plötzlich von einer älteren Dame, die hinter einem kleinen Verkaufstresen stand, angesprochen.

»Äh … Ja … Mein Name ist Maik Kühnert. Ich habe einen Vorstellungstermin bei Herrn Kaminski.«

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, deutete die Frau auf die kleine Sitzgruppe, in der Steffi saß.

»Hallo, Steffi«, begrüßte er die junge Frau, als er zu ihr ging. »Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnerst …«

»O doch, natürlich«, rief Steffi sofort aus. »Du warst auch an der Hochschule, stimmt’s? Aber … Entschuldige, an deinen Namen kann ich mich nicht erinnern …«

»Macht nichts. Ich bin Maik, Maik Kühnert.«

»Schön, ein vertrautes Gesicht zu sehen. Ich hätte nicht erwartet, hier auf einen weiteren Absolventen zu treffen.«

»Oh, ich bin ohne Abschluss abgegangen. Schon nach dem dritten Semester. Wusstest du das nicht?«

»Nein, tut mir leid. Du weißt ja selbst, wie es da lief: ein ewiges Kommen und Gehen. Da kann man schnell den Überblick verlieren.«

»Hm.« Maik nickte. »Und was machst du hier? Du bewirbst dich doch sicher nicht für diesen Aushilfsjob mit deinem tollen Abschluss.«

»Leider doch. Mein Abschluss ist wohl doch nicht so toll. Bis jetzt hat er mir nämlich kein Glück gebracht.«

Die Bürotür öffnete sich, und eine Frau in den Vierzigern kam heraus. Maik vermutete, dass sie eine weitere Kandidatin für die Stelle war.

Als Nächste kam Steffi an die Reihe. Auch sie war nervös. Für sie hing von diesem Bewerbungsgespräch viel ab. Sie musste die Anstellung unbedingt bekommen. Auch wenn es nur ein Teilzeitjob war und der magere Verdienst kaum für das Nötigste reichen würde. Aber immerhin war es eine Verbesserung zu ihrer jetzigen finanziellen Situation, und es wäre ein richtiges Beschäftigungsverhältnis. Zugegeben, es war nicht gerade ihr Traumjob, aber er würde sich trotzdem gut in ihrem Lebenslauf machen, wenn sie sich irgendwann für die richtig guten Stellen bewarb.

Und bereits bei der Begrüßung durch Roman Kaminski hoffte sie inständig, dass diese bald kommen mögen. Denn dieser Mann würde kein angenehmer Chef sein, das war ihr sofort klar.

»Das ist aber wirklich ein äußerst erfreulicher Anblick an diesem Vormittag«, grinste er breit. Anzüglich glitt sein Blick über Steffis Körper. Mit einer Hand wies er auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, mit der anderen strich er sich über seine gegelten, schwarz glänzenden Haare.

»Nach all den Versagern und dummen Schnepfen, die mir heute schon meine Zeit gestohlen haben, entschädigen Sie mich allein mit Ihrem hübschen Gesicht.«

Steffi war für einen kurzen Moment fassungslos, dann biss sie sich auf die Zunge, um eine heftige Erwiderung zurückzuhalten. Zum Glück schien dieser unmögliche Mann keine zu erwarten.

»Na, dann los«, sagte er. »Erzählen Sie mal ein bisschen von sich.«

»Mein Name ist Steffi Seidel …«

»Weiß ich schon«, unterbrach sie Kaminski. Er klopfte auf ihre Bewerbungsmappe, die aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch lag.

»Äh … Also ich habe vor einem Jahr meinen Abschluss an der Kunsthochschule gemacht. Außerdem …«

»Weiß ich auch schon«, wurde sie erneut unterbrochen. Roman Kaminski sah aus, als würde er langsam die Geduld verlieren. »Wenn mich das interessieren würde, bräuchte ich mir nur Ihren Lebenslauf durchzulesen.« Er hob ihre Bewerbungsmappe hoch und warf sie dann mit einem lauten Knall auf den Tisch zurück. »Langweiliges Zeug!«

Kaminski lehnte sich auf seinen Stuhl zurück und schenkte Steffi ein schmieriges Lächeln. »Erzählen Sie mir mal etwas, was ich da nicht finden kann.«

»Ich weiß leider nicht, worauf Sie hinauswollen, Herr Kaminski«, presste Steffi mühsam beherrscht hervor. »Vielleicht sollten Sie mir einfach sagen, was Sie wissen möchten.«

»Keine Ahnung.« Kaminski hob die Schultern. »Überraschen Sie mich! Geben Sie mal ein paar Geheimnisse preis, die nicht in Ihrer dämlichen Mappe stehen.« Er grinste sie an. »Vielleicht haben Sie ja ein paar Leichen im Keller, von denen Sie mir gern erzählen möchten.«

Steffi schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Keine Leichen! Noch nicht mal ein Keller.«

Kaminski lachte dröhnend. »Sie gefallen mir! Das mit uns verspricht, richtig gut zu werden.« Er wurde wieder ernst. »Also dann: Ihre Arbeitszeit beträgt zwanzig Stunden in der Woche. Ich erwarte aber, dass Sie bereit sind, auch mal Überstunden zu machen, wenn es erforderlich ist.«

Steffi nickte. »Kein Problem.«

»Ab und zu müssen Sie auch am Wochenende ran. Nächsten Samstag haben wir eine Ausstellungseröffnung, da erwarte ich, dass Sie hier den ganzen Tag präsent sind. Und bis dahin gibt es jede Menge zu tun. Stellen Sie sich schon mal darauf ein, dass da etliche Überstunden auf Sie zukommen werden. Keine Sorge, Sie werden sie alle abbummeln können, wenn es hier wieder ruhiger wird.«

Kaminski stand auf. »Frau Werner da draußen haben Sie ja schon kennengelernt. Lassen Sie sich von ihr alles erklären. Sie wird Sie in dieser Woche einarbeiten, danach müssen Sie allein klarkommen.«

Verblüfft erhob sich Steffi. »Heißt das … Ist das jetzt eine Zusage? Habe ich den Job?«

»Klar. Sie sehen nett aus. Das mögen die Kunden.«

Kaminski hielt ihr die Hand hin. Steffi starrte verstört darauf. Sie sah nett aus? Das reichte ihm also, sie hier einzustellen? Zählte es denn gar nicht, dass sie einen exzellenten Abschluss an einer der renommiertesten Kunsthochschulen hingelegt hatte?

Für einen winzigen Augenblick erwog Steffi, Kaminski eine Abfuhr zu erteilen.

Doch schnell besann sie sich. Sie konnte sich nicht erlauben, wählerisch zu sein. Und so ignorierte sie die kleine mahnende Stimme in ihrem Kopf, die ihr riet, schnell von hier zu verschwinden.

»Vielen Dank, Herr Kaminski«, sagte Steffi tapfer und schlug ein.

Sie hatte die Türklinke bereits in der Hand, als ihr neuer Chef sie aufhielt.

»Ach übrigens, sagen Sie dem Typ, der da draußen sitzt, dass er verschwinden soll. Der Job ist vergeben.«

»Ich soll ihm das sagen?«, fragte Steffi verblüfft.

»Ja, haben Sie ein Problem damit? Betrachten Sie es einfach als Ihre erste Amtshandlung.« Er sah sie provokant an. »Und als ersten Test, ob Sie den Anforderungen hier gewachsen sind.«

Steffi nickte widerstrebend und beeilte sich, das Büro zu verlassen. Draußen atmete sie tief durch. Sie hatte den Job also wirklich bekommen. Doch so recht freuen konnte sie sich nicht.

Sie setzte sich zu Maik. Stockend sagte sie ihm, dass der Galerist ihn nicht mehr sehen wollte. Er tat ihr schrecklich leid. Wusste sie doch selbst, wie es war, wenn man eine Niederlage nach der anderen einstecken musste. Doch seltsamerweise schien Maik das nicht viel ausmachen. Er wirkte regelrecht erleichtert, als er mit einem Lächeln aufstand und die Galerie verließ. Und Steffi hatte ganz kurz das ungute Gefühl, dass er hier der eigentliche Gewinner war.

*

Steffi lächelte, obwohl sie ihre schmerzenden Füße kaum noch ertragen konnte. Seit fünf Tagen arbeitete sie in der Galerie Kaminski. Zwölf Stunden-Tage waren die Regel, und heute kämen sicher noch einige Stunden dazu. In dieser kurzen Zeit hatte Steffi bereits so viele Überstunden angesammelt, dass sie in den nächsten zwei Wochen gar nicht mehr zu kommen bräuchte. Doch darauf sollte sie lieber nicht hoffen. Solange hier die Ausstellung von Peer Wedow lief, hätte sie sicher alle Hände voll zu tun.

Bis spät in den Abend hatte sie gestern mit Frau Werner die heutige Vernissage vorbereitet. Völlig erschöpft war sie erst weit nach Mitternacht ins Bett gefallen. Doch der ganze Aufwand hatte sich gelohnt, wie Steffi zufrieden feststellte. Die Besucher waren in die Galerie geströmt, kaum dass sie ihre Türen geöffnet hatte. Alle waren gekommen, um die Bilder des jungen Künstlers zu bewundern.

Das konnte Steffi gut verstehen. Durch ihre Ausbildung besaß sie genügend Kunstverstand, um sein aufstrebendes Talent zu erkennen. Sie liebte Kunst im Allgemeinen, aber die Bilder von Wedow waren ihr in der kurzen Zeit besonders ans Herz gewachsen. Peer Wedows ausgefeilte Pinseltechnik erinnerte an die Werke alter Meister und zeichnete sich durch Perfektion und eine große Liebe zum Detail aus. Von diesem Künstler, der noch am Anfang seiner Laufbahn stand, würde man noch viel erwarten dürfen.

Steffi warf einen Blick zu ihm hinüber. Er war ein gefragter Gesprächspartner, nicht nur für das neugierige Publikum, sondern auch für die zahlreichen Pressevertreter, die heute gekommen waren. Seine anfänglichen Hemmungen hatte er zum Glück schnell abgelegt.

Er machte auf Steffi jetzt einen gelösten und sehr glücklichen Eindruck. Was bei dieser überaus positiven Resonanz kein Wunder war. An vielen seiner Bilder prangte bereits ein kleiner roter Aufkleber, der signalisierte, dass sie ihre Käufer gefunden hatten.

Dazu gehörte auch Steffis Lieblingsbild. Das Landschaftsmotiv hatte sie sofort angesprochen, und die außergewöhnliche Farbkombination raubte ihr jedes Mal den Atem, wenn sie es ansah. Zusammen mit zwei Pärchen stand sie davor, um alle Fragen zu beantworten und ihnen so bei ihrer Kaufentscheidung zu helfen.

»Ist es nicht traumhaft?«, fragte die ältere der beiden Frauen.

»Ja, Fee, immer noch«, erhielt sie die lachende Antwort ihres Ehemannes, der einen Arm um ihre Taille gelegt hatte. »Daran wird sich nichts ändern. Egal, wie oft du mich das noch fragst. Warum kaufst du es nicht, wenn es dir so gut gefällt?«

»Meinst du wirklich, Dan?«

»Natürlich, mein Schatz. Es zaubert dir ein verzücktes Lächeln ins Gesicht, wann immer du es betrachtest. Ist das nicht das beste Argument, um ein Bild zu erwerben?«

Seine letzten Worte hatte er an Steffi gerichtet.

»Das allerbeste«, erwiderte diese prompt. »Was kann es Schöneres geben, als ein Kunstwerk, das uns emotional anspricht und in das wir uns verlieben können.« Steffi zeigte lächelnd auf das Bild. »Ich bin mir sicher, dass dieses Bild die richtige Wahl für Sie ist.«

»Also gut. Dann nehmen wir es.« Fee atmete tief durch und sah mit einem strahlenden Gesicht zu ihrem Mann auf. »Ich weiß auch schon ganz genau, wo es hängen wird.«

»Sehr schön, mein Schatz. Und während du alles mit der netten Dame besprichst, gehen wir schon mal weiter und sehen zu, dass wir noch ein paar der leckeren Canapés erwischen.«

»Na gut, aber lasst uns welche übrig«, ermahnte ihn Fee und drohte im Scherz mit dem Zeigefinger.

»Keine Sorge«, sagte Steffi augenzwinkernd. »Aus zuverlässiger Quelle weiß ich, dass es davon einen riesigen Vorrat gibt. Es wird sicher niemand hungrig nach Hause gehen müssen.«

Die beiden Männer setzten ihre Runde fort, und Steffi begab sich mit den Frauen zu dem kleinen Verkaufstresen, um den Kauf des Bildes abzuschließen.

»Es ist übrigens mein Lieblingsbild, das Sie erstanden haben«, verriet Steffi lächelnd.

»Oh, dann fällt es Ihnen sicher nicht leicht, sich davon zu trennen«, erwiderte Felicitas Norden.

»Ich habe das Gefühl, es ist bei Ihnen in guten Händen. Das hilft über den Abschiedsschmerz hinweg.«

Steffi versuchte zwar, es wie einen Scherz klingen zu lassen, aber es war ihr vollster Ernst. Einige Kunden kauften ein Bild, weil sie es als finanzielle Investition betrachteten, andere, weil es sie berührte. Die Letzteren – zu denen ganz offensichtlich auch diese Dame gehörte – waren Steffi am liebsten.

»Die Ausstellung läuft noch zwei Wochen. Danach wird Ihnen das Bild nach Hause geliefert.«

»Sehr schön. Vielen Dank für die sehr gute Beratung, Frau Seidel. Ich war schon einige Male in der Galerie, aber ich glaube, wir sind uns nie begegnet.«

»Nein, ich arbeite erst seit einer knappen Woche hier.«

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Wir werden uns sicher noch häufiger sehen. Mein Name ist übrigens Felicitas Norden, das ist Katja Baumann und …« Fee stockte, als ihr einfiel, dass ihre beiden Begleiter längst weitergezogen waren. »… Also, das waren mein Mann Daniel Norden und Herr Hagen Wolfram. Schade, ich hätte Sie Ihnen gern vorgestellt.«

Katja sah Hagen nach. »Ich befürchte, dass Hagen doch kein so großer Kunstliebhaber ist, wie ich angenommen hatte. Er war es zwar, der den Vorschlag gemacht hatte herzukommen, aber jetzt hält er es vor keinem Bild länger als drei Sekunden aus.«

»Ja, das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte Fee nachdenklich. »Er wirkt etwas angespannt und nervös. Ich hoffe, ihm geht es gut, und er hat keine Probleme.«

»Zumindest hat er nichts davon erwähnt. Wahrscheinlich ist es irgendeine Sache auf der Arbeit. Er hat kaum noch Zeit für etwas anderes. Ich wundere mich, dass er heute überhaupt mitgekommen ist.«

Das Gespräch wurde nun sehr persönlich, und Steffi beschloss, sich zurückzuziehen, damit die beiden Frauen ihre Unterhaltung in Ruhe fortsetzen konnten. Doch Fee erkannte, was Steffi vorhatte, und hielt sie auf.

»Oh, entschuldigen Sie, Frau Seidel. Das war sehr unhöflich von uns. Wir möchten Sie nur ungern vergraulen. Bitte bleiben Sie doch noch und leisten uns Gesellschaft. Wir würden uns sehr darüber freuen. Stimmt’s, Katja?«

Die Angesprochene nickte eifrig und schenkte Steffi ein reizendes Lächeln, während Fee ergänzte: »Es sei denn, Sie haben zu tun und keine Zeit für uns.«

Steffi musste nicht lange überlegen. Im Moment gab es nichts, was sie lieber wollte, als eine nette Plauderei mit zwei sympathischen Kundinnen. Schmunzelnd erwiderte sie:

»Mein Chef hat mir aufgetragen, mich intensiv um seine Kunden zu kümmern und ihnen stets und ständig zur Verfügung zu stehen. Es ist also quasi meine Pflicht, mich weiter mit Ihnen zu unterhalten. Außerdem müssen wir noch auf den abgeschlossenen Kauf anstoßen.«

*

Beinahe hätte Steffi vor Wonne laut aufgestöhnt, als sie später mit Felicitas Norden und Katja Baumann in einer gemütlichen Besucherecke saß. Ihren geplagten Füßen tat diese kleine Pause ungemein gut. Und den Sekt, der in ihrem Glas perlte, hatte sie sich hundertprozentig verdient.

»Also dann auf ein zauberhaftes kleines Bild, das einen Ehrenplatz in unserem Haus erhalten wird«, sagte Fee feierlich und stieß mit Katja und Steffi Seidel an.

»Vielen Dank für den Sekt«, sagte Katja. »Das war eine sehr gute Idee.«

»Ich habe zu danken«, erwiderte Steffi verschmitzt. »Immerhin komme ich so endlich zu einer kleinen Pause. Ich spüre meine Füße schon gar nicht mehr.« Sie verzog ihr Gesicht und sah hinunter auf ihre hochhackigen Pumps. »Solche Schuhe müssten verboten werden. Sie sind die reinste Folter. Besonders wenn man seit dem Morgengrauen auf den Beinen ist.«

»Dann freuen wir uns, dass wir helfen konnten«, sagte Fee lächelnd. »Und beim nächsten Mal nehmen Sie sich einfach ein paar bequeme Wechselschuhe mit. So mach ich das jedenfalls immer, wenn ich auf Veranstaltungen bin, die lange andauern. Zu fortgeschrittener Stunde achtet dann eh niemand mehr darauf, wie hoch die Absätze der Schuhe sind.«

»Eigentlich handhabe ich das auch immer so. Aber das klappt leider nur, wenn der Chef nicht ausdrücklich auf High Heels besteht.«

»Darf er das überhaupt?«, fragte Katja.

Fast zeitgleich wollte Fee wissen: »Warum ist ihm das so wichtig?«

Steffi beantwortete zuerst Fees Frage: »Ich weiß nicht, warum ihm das wichtig ist. Darüber kann ich nur Vermutungen anstellen, und die würde ich lieber für mich behalten. Und ob er es darf? Wahrscheinlich nicht, aber was soll’s?« Steffi zuckte betont gleichmütig die Achseln. »Es gibt sicher Schlimmeres.«

»Ja, da mögen Sie recht haben«, erwiderte Fee behutsam. »Und wenn sonst alles stimmt und Sie hier zufrieden sind …« Sie beendete den Satz nicht. Stattdessen beobachtete sie den Gesichtsausdruck der jungen Frau ganz genau. Was ihr dabei auffiel, fand sie bedenklich. Es war mehr als offensichtlich, dass Steffi Seidel die Arbeit in der Galerie nicht gefiel. Fee mutmaßte, dass das nicht nur an den hochhackigen Schuhen lag.

Von jeher interessierte sich Fee für ihre Mitmenschen. Vielleicht war deshalb die Psychiatrie ihre große Leidenschaft. Oder vielmehr die Psychologie. Es war keine kranke Seele erforderlich, um Fees Interesse zu wecken. Steffi Seidel war in dieser Hinsicht kerngesund. Das erkannte Fee nach wenigen gewechselten Worten. Trotzdem wollte sie unbedingt mehr von ihr erfahren. Die junge Frau war ihr sehr sympathisch. Zudem sah sie so aus, als wäre sie froh, jemanden ihr Herz ausschütten zu können. Und Fee fühlte sich geradezu berufen, die Aufgabe der geduldigen Zuhörerin zu übernehmen.

»Sie haben uns vorhin sehr fachkundig beraten, Frau Seidel. Dass Sie sich mit Kunst auskennen, war nicht zu übersehen. Ich nehme daher an, dass Sie eine Ausbildung in dieser Richtung haben.«

»Ja, ich habe einen Abschluss an der Kunsthochschule gemacht.«

»Sie sind auch Künstlerin?«, wollte Katja wissen.

»Nein, dafür reichte mein Talent leider nicht aus. Ich liebe bildende Künste, egal ob Malerei, Architektur oder Bildhauerei. Einfach alles. Ein Leben ohne Kunst wäre für mich nicht vorstellbar. Und obwohl das so ist, bringe ich selbst nichts zustande, was mein Herz erfreuen könnte. Ich habe es irgendwann aufgegeben, mich ewig auszuprobieren, nur um immer wieder feststellen zu müssen, dass es mich nur unglücklich macht. Stattdessen habe ich beschlossen, meine Liebe zu Kunst mit meiner Liebe zu Kindern zu verbinden. Ich habe deshalb mein erstes Staatsexamen in Kunstpädagogik abgelegt und anschließend meinen Master in Kunsttherapie gemacht.«

»Und dann arbeiten Sie ausgerechnet hier?«, fragte Fee erstaunt.

Ein Schatten fiel auf Steffis Gesicht. Mit dieser Frage hatte die sympathische Frau Norden einen wunden Punkt bei Steffi berührt. Aus einem ersten Impuls heraus wollte Steffi mit ein paar belanglosen Worten darauf reagieren, doch dann entschied sie sich für die Wahrheit.

»Seit meinem Abschluss bin ich auf der Suche nach meinem Traumjob. Nach einem Jahr sieht die Bilanz jedoch ernüchternd aus. Von meinen großartigen Plänen musste ich mich inzwischen verabschieden. Manchmal habe ich schreckliche Angst, dass die Galerie mein Schicksal ist und dass ich in einer Sackgasse feststecke, aus der ich nie wieder herauskomme.«

»Vertrauen Sie darauf, dass es irgendwann wieder aufwärts geht«, sagte Katja spontan. »Ich war selbst in einer Phase, in der ich sehr ungern zur Arbeit gegangen bin. Ich dachte schon, das würde immer so bleiben, und war deswegen sehr unzufrieden. Aber dann habe ich doch noch eine Anstellung gefunden, die mich glücklich macht und die ich von ganzem Herzen liebe.« Sie sah grinsend zu Fee hinüber. »Und das sage ich nicht nur, weil die Frau meines Chefs neben mir sitzt.«

Alle lachten. Dann sagte Fee warmherzig: »Frau Seidel, ich denke, dass Ihre besten Zeiten erst noch kommen werden. Sie sind jung, bestens qualifiziert und motiviert. Das Wichtigste ist jetzt der feste Wille, niemals aufzugeben.«

»Ja, das sage ich mir auch immer wieder. Nur das hilft mir, nicht zu verzweifeln.« Steffi klang auf einmal kämpferisch. Mit hoch erhobenem Haupt sah sie sich in der Galerie um und warf dabei Roman Kaminski einen bitterbösen Blick zu. Sofort fühlte sich Fee in ihrer Vermutung, dass die High Heels nur die Spitze des Eisbergs waren, bestätigt.

»So schlimm?«, fragte sie mitfühlend.

Steffi zuckte ertappt zurück. »Tut mir leid, Frau Norden. Ich hätte gar nicht darüber sprechen dürfen. Sie sind hergekommen, um sich an den Bildern eines talentierten Künstlers zu erfreuen. Und ich belästige Sie mit meinen Problemen.«

»Dafür müssen Sie sich nicht entschuldigen. Ich habe es nie als Belästigung empfunden, wenn mir jemand sein Herz ausgeschüttet hat. Und dass Ihre Geheimnisse bei uns gut aufgehoben sind, darauf dürfen Sie sich verlassen.«

Fees nette Worte sorgten dafür, dass Steffi plötzlich das große Bedürfnis verspürte, noch mehr von sich preiszugeben. Es kam ihr nicht so vor, als würde sie zwei wildfremden Frauen gegenübersitzen.

»Eigentlich müsste ich froh sein, endlich einen Job zu haben. Obwohl schon das Vorstellungsgespräch nicht so professionell ablief, wie ich es mir gewünscht hätte. Herr Kaminski hat keinen Hehl daraus gemacht, dass ihm mein Aussehen wichtiger war als meine berufliche Qualifikation.«

»Ich muss gestehen, das überrascht mich nicht«, erzählte Fee. »Einige Male bin ich Ihrem Chef ja schon begegnet. Ich fand sein Auftreten mir gegenüber sehr unangenehm. Ich hatte mir deshalb vorgenommen, nie wieder einen Fuß über diese Schwelle zu setzen. Das Angebot war ohnehin nie überwältigend, und die aufdringliche Art des Galeristen fand ich sehr abstoßend. Dass ich trotzdem hier bin, liegt nur an Peer Wedow.«

»Am liebsten würde ich auch nie wieder herkommen«, gestand Steffi zögerlich. »Die viele Arbeit der letzten Tage hat mich nicht gestört. Das gehört dazu, wenn eine neue Ausstellung vorbereitet wird. Aber die anzüglichen Blicke meines Chefs sind für mich nur sehr schwer zu ertragen. Und dass er mir ständig den Rücken tätschelt, ist einfach nur widerlich.«

»Warum lassen Sie das mit sich machen?«, fragte Fee besorgt. »Ist Ihnen dieser Job wirklich so wichtig?«

»Ja, solange ich keinen anderen in Aussicht habe«, erwiderte Steffi betrübt. »Meine Eltern haben mich die ganzen Jahre finanziell unterstützt. Während des Studiums und auch hinterher, weil ich auf meine Bewerbungen nur Absagen erhielt. Sie haben mir zwar immer versichert, dass sie es gern machen und dass es kein Opfer wäre, aber irgendwann muss ich doch mal auf eigenen Füßen stehen.«

»Ja, aber ausgerechnet hier?«, zweifelte Katja. »Glauben Sie wirklich, dass sich Ihre Eltern das für ihre Tochter wünschen?«

Steffi schüttelte den Kopf. Sie sah dabei so niedergeschlagen aus, dass Fee nach ihrer Hand griff und sie tröstend drückte. »Ich denke, Sie wissen schon längst, dass diese Stelle hier nur ein schlechter Kompromiss ist, der Ihnen mehr schadet als nützt. Habe ich recht?«

»Ja, natürlich«, gab Steffi betrübt zurück. »Mir geht’s einfach nicht gut hier. Nachts liege ich stundenlang wach und grüble, und am Tag arbeite ich bis zum Umfallen und versuche dabei, meinem aufdringlichem Chef tunlichst aus dem Wege zu gehen.«

»Es kommt gar nicht so selten vor, dass eine ungeliebte Arbeitsstelle krank macht. Ich bin Ärztin, Frau Seidel, und weiß daher, wovon ich rede. Warten Sie bitte nicht so lange, bis ihr Körper mit gesundheitlichen Problemen auf diese unerträgliche Situation reagiert.«

»Was soll ich denn machen? Kündigen?«

»Das wäre eine Möglichkeit.«

»Aber es kann doch nicht jeder kündigen, nur weil er mit seinem Job unzufrieden ist. Das würde dann nämlich für sehr viele Leute zutreffen. Das geht doch nicht! Manchmal muss man sich einfach mit dem, was man hat, arrangieren.«

»Genau das machen die meisten Menschen und sind damit sogar recht zufrieden. Vielleicht gelingt es Ihnen, sich gegen Ihren Chef zu behaupten und ihn in seine Schranken zu verweisen. Und wenn Sie dann noch lernen, diese Arbeit in der Galerie zu lieben und Ihre großen Träume ohne bittere Tränen zu begraben, dann kann das hier für Sie wirklich gut werden. Doch wenn nicht …« Fee seufzte bedauernd.

Steffi dachte sehr lange nach. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Ich werde Herrn Kaminski nicht ändern können. Wenn ich mich gegen ihn auflehne, wird er mich kurzerhand feuern. Da ich noch in der Probezeit bin, darf er das sogar, ohne es begründen zu müssen. Ich glaube, da kündige ich lieber selbst und bewahre mir meinen Stolz.«

»Ich denke, Sie werden die richtige Entscheidung treffen, Frau Seidel«, sagte Fee mit einem warmen Lächeln. »Vielleicht hilft Ihnen dabei das Wissen, dass Sie liebevolle Eltern haben, die Ihnen im Notfall sicher gern zur Seite stehen.«

Steffi nickte. »Ja, das hilft.« Sie sah die beiden Frauen lächelnd an. »Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben. Es hat mir geholfen, mich endlich zu entscheiden.«

Dass das nicht allein an der Unterhaltung lag, wusste Fee. Diese junge, sympathische Frau hatte sicher in den letzten Tagen schon sehr häufig mit sich gerungen. Und manchmal war dann nur noch ein kleiner Anstoß nötig, um es laut auszusprechen.

»Verraten Sie uns, was Sie vorhaben?«, fragte Fee.

»Ich werde am Montag meine Kündigung abgeben.« Steffi holte tief Luft. »Das kommt mir bereits jetzt wie ein Befreiungsschlag vor. Ich freue mich schon richtig darauf. Und anschließend werde ich zu meinen Kindern gehen und das machen, wofür mein Herz wirklich schlägt.«

»Kinder?«, fragte Katja sofort nach.

»Ich arbeite ehrenamtlich an einer Schule. Ich gebe Mal- und Zeichenkurse in der Nachmittagsbetreuung. Es macht mir riesigen Spaß, und vielleicht ergibt sich daraus ja auch mal irgendwann eine richtige Beschäftigung.«

»Sehr gute Einstellung«, sagte Fee anerkennend. Plötzlich kam ihr eine ganz wunderbare Idee. »Übrigens leite ich die Kinderabteilung der Behnisch-Klinik. Ich wäre eine sehr schlechte Leiterin, wenn ich nicht gleich eine Chance für meine kleinen Patienten wittern würde. So ein Malkursus wäre nämlich für sie eine tolle Sache. Das würde ihnen sicher Freude machen und sie außerdem vom Klinikalltag ablenken. Allerdings ist im Haushaltsplan kein Budget dafür vorgesehen. Mehr als eine kleine Aufwandsentschädigung würde für Sie also nicht herausspringen.«

»Heißt das etwa, Sie bieten mir einen Job an?«

Fee lachte. »Wenn Sie es so nennen wollen. Aber um bei der Wahrheit zu bleiben: Es ist eigentlich nur eine weitere ehrenamtliche Tätigkeit für Sie.«

Steffi winkte lässig ab. »Egal. Mir würde es Spaß machen und den Kindern sicher auch. Außerdem habe ich wieder sehr viel Freizeit, sobald ich am Montag meine Kündigung abgegeben habe.«

»Was halten Sie davon, wenn wir uns gleich am Dienstag treffen, so gegen zwei? Bis dahin habe ich alles mit der Verwaltung abgesprochen, und ich könnte Ihnen die Kinderstation zeigen.«

»Sehr gern, Frau Norden. Ich freue mich darauf.«

*

Es war fast Mitternacht, als die letzten Besucher die Galerie verließen. An ihren Feierabend konnte Steffi dann aber noch nicht denken. Zusammen mit Frau Werner räumte sie die leeren Gläser weg, brachte den Müll hinaus und sorgte dafür, dass in die Galerie wieder Ordnung einzog.

Roman Kaminski hatte den jungen Künstler zu seinem Taxi gebracht und kam nun zu seinen Angestellten zurück.

»Das hat sich ja wirklich gelohnt«, sagte Kaminski zufrieden. »Wedow ist überglücklich, dass er bereits bei der Ausstellungseröffnung einen Großteil seiner Werke verkaufen konnte. Ich hatte ihm ja prophezeit, dass das so kommen würde.«

»Ja, Ihr siebter Sinn hat Sie nicht im Stich gelassen, Herr Kaminski«, schmeichelte Frau Werner.

»Tja, ich kenne mich halt aus in der Szene. Ich habe einen Riecher für gute Sachen.« Kaminski baute sich vor Frau Werner auf. »Machen Sie für heute Schluss. Den Rest schaffen die hübsche Steffi und ich.«

»Selbstverständlich, Herr Kaminski«, erwiderte Frau Werner spröde und warf Steffi einen Blick zu, der deutlich zeigte, welche Schlüsse sie aus Kaminskis Worten zog. Ohne einen weiteren Kommentar verließ sie die Galerie.

»Steffi, kommen Sie mit in mein Büro«, ordnete Kaminski an, kaum dass Frau Werner die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Nur widerwillig folgte Steffi ihm. Sie verzog das Gesicht, als sie sah, dass Kaminski mit zwei vollen Gläsern Sekt zu den modernen Clubsesseln im hinteren Teil ging. Abwartend blieb sie an der Tür stehen.

»Worauf warten Sie denn?«, fragte er ungeduldig.

»Herr Kaminski, der Tag war lang, und ich wäre sehr froh, endlich nach Hause zu kommen.«

»Wieso? Gibt es da etwa einen Freund, der auf Sie wartet?«

»Ja«, log Steffi prompt. »Er macht sich bestimmt schon Sorgen. Ich wundere mich, dass er hier noch gar nicht aufgekreuzt ist.«

»So weit kommt’s noch!«, schnaubte Kaminski ärgerlich. »Ihr Privatkram hat hier nichts zu suchen! Und nun kommen Sie endlich!«

»Sollte ich nicht lieber weiter aufräumen?«, unternahm Steffi einen weiteren Versuch, ihrem Chef zu entkommen.

»Blödsinn! Den Rest macht die Putzkolonne, die ich für morgen bestellt habe. Wir beide werden jetzt erst mal mit einem schönen Glas Sekt auf den Erfolg des heutigen Tages anstoßen.«

Steffi kam seiner Aufforderung schließlich nach. Was hatte sie schon zu verlieren? Sollte Kaminski jetzt zudringlich werden, würde sie eben sofort kündigen und nicht erst am Montag. Doch zu Steffis großer Überraschung benahm sich Kaminski anständig. Er wartete ab, bis Steffi Platz genommen hatte, und hielt dann sein Glas hoch.

»Auf diesen überaus erfolgreichen Tag!« Mit einem Zug leerte er sein Glas und füllte es prompt nach.

Steffi beobachtete ihn über den Rand ihres Sektglases. Sie hatte nur kurz daran genippt. Sollte Kaminski vorhaben, sie betrunken zu machen, würde er sehr enttäuscht sein.

»Sagen Sie mal, worüber haben Sie sich eigentlich so lange mit dem feinen Herrn Wolfram und seiner Bagage unterhalten?«

»Wolfram?«, fragte Steffi konsterniert nach.

»Staatsanwalt Hagen Wolfram.« Lauernd sah Kaminski seine Angestellte an, die den Blick verständnislos zurückgab. Dann endlich dämmerte es ihr.

»Ach so, Sie meinen den Bekannten von Frau Norden.« Steffi zuckte die Achseln. »Mit ihm habe ich gar nicht gesprochen. Er ist zusammen mit Herrn Norden weitergegangen, während ich mit dessen Frau den Kauf abgewickelt habe. Zu Herrn Wolfram kann ich Ihnen nichts sagen. Ich wusste bis eben noch nicht mal, dass er Staatsanwalt ist.«

Kaminski schien ihr zu glauben. »Gut. Seien Sie ein bisschen vorsichtig. Diesem Typen ist nicht zu trauen. Das ist schon ziemlich dreist, dass er hier auftaucht und rumspioniert.«

»Wenn Sie meinen.« Steffi stand auf und stellte ihr volles Glas auf dem Tisch ab. »Da ich nicht weiter aufzuräumen brauche, würde ich jetzt sehr gern nach Hause gehen und meinen Füßen ein bisschen Erholung gönnen. Außerdem – Sie wissen ja, mein Freund wartet auf mich. Viel länger wird er sich bestimmt nicht vertrösten lassen. Es wäre sogar möglich, dass er schon vor der Galerie steht.«

Kaminski wedelte mit einer Hand, als würde er ein lästiges Insekt verscheuchen. »Gehen Sie endlich. Das hat mir gerade noch gefehlt, dass hier ein eifersüchtiger Liebhaber auftaucht.«

Steffi unterdrückte ein Grinsen und beeilte sich, die Galerie zu verlassen. Sie war froh, hier wegzukommen, ohne seine Annäherungsversuche abwehren zu müssen. Um ihm den Job vor die Füße zu werfen, war übermorgen noch genügend Zeit. Dass es dazu gar nicht kommen würde, konnte sie nicht wissen.

Auf dem Heimweg dachte sie über Kaminskis seltsames Verhalten nach. Entgegen ihrer Vermutung sollte sie nicht länger bleiben, weil er sich ein kleines Techtelmechtel erhofft hatte. Nein, er wollte sie nur über diesen Staatsanwalt aushorchen. Was hatte die Galerie Kaminski mit der Staatsanwaltschaft zu tun? Ein schrecklicher Verdacht drängte sich ihr auf. War die Galerie etwa in illegale Geschäfte verwickelt? Je länger Steffi darüber nachdachte, umso sicherer erschien ihr das.

Die Galerie nahm so gut wie nichts ein, wenn man von dem heutigen Tag absah. Es waren erschreckend wenige Kunstwerke in der ständigen Ausstellung, und nur selten verirrten sich Kunden in den unscheinbaren Laden. War er etwa nur ein Deckmantel für kriminelle Geschäfte, die im Verborgenen liefen? Dieser Gedanke beunruhigte Steffi. Mit kriminellen Machenschaften wollte sie nichts zu tun haben. Sie standen im krassen Gegensatz zu den Dingen und Werten, die Steffi wichtig waren. Außerdem machten sie ihr große Angst.

*

Hagen begrüßte die drei Polizeibeamten. Björn Lange unterdrückte nur mühsam ein Gähnen. »Entschuldigung, aber für einen Montagmorgen ist das sehr früh. Besonders wenn man am Wochenende Dienst hatte, so wie ich.«

»Ja, tut mir leid«, bedauerte Hagen. »Aber um acht beginnt die erste Verhandlung. Jetzt ist die einzige Zeit, zu der es noch halbwegs bei mir passt.«

»Dann sollten wir gleich anfangen.« Herbert Burmeister holte die Akte aus seiner Tasche. »Zu schade, dass es unserem jungen Kollegen nicht gelungen ist, die Stelle in der Galerie zu bekommen.«

»Ja, leider«, sagte Maik kleinlaut. Er schaffte es, sich die Erleichterung darüber nicht anmerken zu lassen. »Steffi Seidel ist mir leider zuvorgekommen. Sie hat an der Hochschule als Jahrgangsbeste abgeschlossen. Mit ihrem Zeugnis kann sie jede Stelle bekommen, die sie will.«

»Glaub ich nicht«, konterte Herbert. »Wenn dem so wäre, hätte sie nicht in dieser unbedeutenden Galerie bei dem schmierigen Kaminski angefangen.«

»Was wissen Sie von ihr?« Hagen sah die Polizisten fragend an. »Haben Sie sie überprüft?«

Björn nickte. »Natürlich. Die Kleine scheint sauber zu sein. Keine Vorstrafen und ein vernünftiger Umgang. Sie ist Single und lebt allein in einer anständigen Gegend. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sie Kaminski und andere aus seinem Umfeld schon vor ihrer Einstellung kannte. Das Verhältnis zu Kaminski scheint rein beruflich zu sein.«

»Ich war am Samstag auf der Vernissage«, berichtete Hagen. »Ich habe sie dort kennengelernt und konnte in der kurzen Zeit auch nichts Auffälliges an ihr feststellen.«

Herbert zog erstaunt die Brauen hoch. »Sie waren wirklich da? Wie hat Kaminski reagiert, als er Sie gesehen hat?«

»Er ließ mich nicht aus den Augen. Ich schätze, ich habe ihn ein wenig nervös gemacht. Das war genau das, was ich damit beabsichtigt hatte. Sie wissen doch, Menschen, die nervös sind, begehen dumme Fehler.«

Björn Lange hatte seine Zweifel. »Ich glaube, Sie unterschätzen Kaminski. Er wird keinen Fehler machen, nur weil Sie da aufgetaucht sind. Wir werden nur an Beweise gelangen, wenn wir endlich einen von unseren Leuten als Informanten in der Galerie haben.«

»Doch da das so schnell nicht klappen wird, sollten wir über eine andere Taktik nachdenken.« Burmeister überlegte angestrengt. Irgendwie musste es doch gelingen, an diesen windigen Kriminellen heranzukommen. »Vielleicht sollten wir mal mit Steffi Seidel sprechen. Sie bekommt mit, was in der Galerie vor sich geht, und könnte für uns die Augen und Ohren offenhalten. So gelangen wir womöglich an ein paar brauchbare Informationen.«

Hagen schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, auf gar keinen Fall. Ich war schon nicht davon begeistert, einen Polizisten einzuschleusen. Bei einer unbeteiligten Zivilperson spiele ich erst recht nicht mit. Es wäre unverantwortlich, sie in Gefahr zu bringen.«

»Sie wäre nicht in Gefahr«, widersprach ihm Herbert Burmeister. »Sie macht da ganz normal ihre Arbeit und sagt uns nur das, was sie ohnehin aufgeschnappt hätte. Sie müsste nicht für uns im Papierkorb wühlen oder an der Tür lauschen. Nur ganz normale Dinge eben.«

»Tut mir leid, Herr Burmeister, Sie haben mich immer noch nicht überzeugt. Entgegen Ihrer Ansicht sehe ich nämlich durchaus eine Gefährdung für sie.«

»Und wenn sie von uns Unterstützung bekommt?« Herbert hatte nicht vor aufzugeben. Dafür war ihm der Fall zu wichtig. Seit Jahren arbeitete er daran, Kaminski zu schnappen. Er musste die Sache unbedingt abschließen, bevor er seine Dienstmarke abgab und mit seiner Inge auf Kreuzfahrt ging.

»Unterstützung? Woran dachten Sie?«

»An eine Rund-um-die-Uhr-Bewachung zum Beispiel.«

»Nein, Kaminski würde den Braten sofort riechen. Ihm wird bestimmt nicht entgehen, dass ständig Polizisten in der Nähe sind. Ehe wir überhaupt reagieren können, hat er sich schon nach Südamerika abgesetzt, und wir sehen ihn nie wieder.«

»Dann darf er das eben nicht mitbekommen«, beharrte Herbert auf seinen Plan. »Sie bekommt von uns einen Beamten an die Seite gestellt, der sich als Verwandter ausgibt. Oder noch besser – als ihr Freund. Sie ist doch Single, oder? Kaminski wird sich nicht wundern, wenn dieser Freund ständig in ihrer Nähe ist. Wäre ja möglich, dass dieser angebliche Freund eifersüchtig ist und seine Liebste nicht aus den Augen lassen will. So was gibt’s doch!«

Hagen war noch immer nicht überzeugt, aber er begann, darüber nachzudenken. Und je länger er nachdachte, umso besser gefiel ihm Herberts Vorschlag. Allmählich verschwanden seine Bedenken, und schließlich stimmte er zu. Wenn Frau Seidel einen Beschützer an ihrer Seite hätte, konnte doch eigentlich nichts schiefgehen. Oder doch?

*

Von dem Gespräch in der Staatsanwaltschaft, bei dem sie eine wichtige Rolle spielte, ahnte Steffi natürlich nichts. Zu diesem Zeitpunkt saß sie in ihrer hübschen, kleinen Wohnung und genoss ihr Frühstück.

Am Vorabend hatte Steffi ihre Kündigung geschrieben, die nun in einem blütenweißen Umschlag in ihrer Handtasche auf ihren Einsatz wartete. Zuvor hatte sie ihre Eltern zum Sonntagskaffee besucht und mit ihnen darüber gesprochen. Selbstverständlich hatten sie ihre Tochter sofort in ihrem Entschluss bestärkt, diesen unglückseligen Job in der Galerie aufzugeben. Es tat Steffi gut zu wissen, dass ihre Eltern sie immer unterstützten und zu ihr standen. Nicht allen Menschen war dieses große Glück vergönnt.

Als es Zeit wurde, zur Arbeit zu gehen, konnte Steffi es kaum noch erwarten, ihre Kündigung abzugeben. Doch dann kam alles anders.

»Der Chef ist heute den ganzen Tag bei einem auswärtigen Termin«, sagte Frau Werner knapp.

»Er ist nicht da?« Verwirrt sah Steffi auf den Briefumschlag in ihrer Hand.

»Das sagte ich doch schon, Frau Seidel. Ich wundere mich, dass Sie davon nichts wussten. Wo Sie sich doch mit dem Chef so gut verstehen.«

Entgeistert sah Steffi ihre Kollegin an. Dann verstand sie.

»Nein!«, rief sie entsetzt aus. »Denken Sie etwa, dass Herr Kaminski und ich … Nein! Auf keinen Fall!«

»Na ja, was geht’s mich an …«, erwiderte Frau Werner schnippisch. Demonstrativ drehte sie Steffi den Rücken zu und sortierte die ausgelegten Werbeflyer. »Aber bilden Sie sich bloß nichts darauf ein. Sie sind nicht die Erste, die dachte, sie könne sich den Chef angeln. Das haben vor Ihnen schon ganz andere versucht.«

Steffis Laune hatte jetzt endgültig ihren Tiefpunkt erreicht. Schlimm genug, dass nichts aus der geplanten Kündigung wurde. Nun musste sie sich auch noch von Frau Werner grundlos verdächtigen lassen.

»Kann ich mir nicht vorstellen«, gab Steffi spitz zurück. »Ich habe jedenfalls kein Interesse an ihm, und im Übrigen haben Sie recht: Es geht Sie wirklich nichts an.«

Frau Werner sprach danach gar nicht mehr mit Steffi. Anfangs störte es Steffi, doch dann vergaß sie ihren kleinen Disput mit ihrer Kollegin.

Die Stunden bis zum Feierabend gingen diesmal schnell vorbei. Es kamen viele neue Besucher, die es nicht geschafft hatten, am Samstag in die Ausstellungseröffnung zu kommen. So hatte Steffi ständig zu tun und verschwendete keinen Gedanken an Frau Werner.

Als Steffi dann um zwei Uhr Schluss machte, schaffte sie es sogar, sich von ihr mit einem freundlichen Gruß zu verabschieden. Dass dieser kaum erwidert wurde, bemerkte sie nicht. Steffi freute sich auf das, was nun vor ihr lag. Jeden Montag ging sie in eine Schule in der Nachbarschaft, um einen Malkursus für eine kleine Gruppe Grundschüler zu geben. Es war eine sehr gute Schule, die den Kindern eine niveauvolle Betreuung am Nachmittag anbot. Nach einem gemeinsamen Mittagessen und den Hausaufgaben konnten die Kinder verschiedene Kurse besuchen. Niemand schrieb ihnen vor, was sie zu machen hatten. Einige nahmen am Kochkursus teil, andere arbeiteten mit Holz oder sangen im Chor. Sogar eine Strick- und Häkelgruppe gab es. Als Steffi davon erfuhr, hatte sie nicht wenig gestaunt. Wer hätte vermutet, dass es wieder in Mode käme, gemeinsam Socken zu stricken?

Lautstark wurde Steffi von einem Dutzend Kinder begrüßt, als sie den Zeichenraum betrat.

»Wir hatten schon Angst, dass du nicht kommst«, rief Jonas, der erwartungsvoll mit einem Pinsel in der Hand vor seiner kleinen Staffelei stand.

»Ich werde euch doch nicht im Stich lassen«, tat Steffi entrüstet. Sie sah auf ihre Uhr. »Außerdem habe ich mich noch nicht mal verspätet. Ich bin pünktlich auf die Minute.«

»Aber du weißt doch, dass wir es nicht abwarten können, endlich loszulegen.«

»Dann macht das doch beim nächsten Mal einfach ohne mich! Ihr müsst nicht darauf warten, dass ich den Startschuss gebe. Malen ist Leidenschaft! Wenn sie euch packt, dann wartet keine Sekunde, sondern fangt sofort an!« Steffi sah lächelnd in die erwartungsvollen Kinderaugen. »Also dann, los geht’s!«

In den nächsten zwei Stunden kehrte in den kleinen Zeichensaal Ruhe ein. Hochkonzentriert arbeiteten alle an ihren Kunstwerken. Steffi ging von Staffelei zu Staffelei, gab wertvolle Hinweise, beantwortete die zahlreichen Fragen oder half beim Mischen der Farben.

Und wie jeden Montagnachmittag hoffte Steffi, dass die Zeit einfach stehenbleiben würde und sie für den Rest ihres Lebens nichts anderes machen müsste, als wissbegierige Kinder in die Welt der Fantasie und bunten Farben zu begleiten. Doch wie jeden Montagnachmittag ging auch dieser Malkursus wieder viel zu schnell vorbei, und es wurde Zeit, die Pinsel auszuspülen und die Staffeleien zur Seite zu stellen.

Es dämmerte bereits, als Steffi sich nach einem langen Tag endlich auf den Heimweg machte. In ihrer Wohnung zündete sie ein paar Kerzen an, die für eine gemütliche Atmosphäre sorgten, bevor sie in die Küche ging, um das Abendessen zuzubereiten. Doch weit kam sie damit nicht. Es klingelte an ihrer Wohnungstür, und Steffi war erstaunt, als sie sah, wer davorstand.

»Maik?«, fragte sie ungläubig. »Was machst du denn hier? Woher weißt du überhaupt …«

»Darf ich reinkommen?«, wurde sie von ihm unterbrochen. Er sah sie angespannt an, und sofort breitete sich ein mulmiges Gefühl in Steffi aus. Was wollte er hier? War er etwa sauer, weil sie ihm den Job in der Galerie weggeschnappt hatte?

»Was willst du denn?«, fragte sie vorsichtig zurück.

»Wir wollen nur mit dir reden, Steffi.«

»Wir? Wen meinst du mit wir?«

Maik trat zur Seite, und drei weitere Männer erschienen im Türrahmen. Einen von ihnen kannte Steffi bereits.

»Herr Wolfram?«, fragte sie erstaunt.

»Ja, Frau Seidel. Wir kennen uns von der Vernissage. Wenn Sie uns hereinlassen, erklären wir Ihnen, warum wir hier sind.« Hagen deutete Steffis Zögern falsch. Deshalb erklärte er ihr: »Die drei Herren sind übrigens von der Polizei. Sie haben also nichts zu befürchten. Ich arbeite bei der …«

»… Staatsanwaltschaft«, vollendete Steffi seufzend den Satz. »Bitte kommen Sie herein.«

Als sie die Tür hinter ihren Besuchern geschlossen hatte, stellten sich die Polizisten vor und zeigten ihre Dienstmarken.

Steffi staunte, dass sogar Maik als Polizist arbeitete. Es fiel ihr jetzt nicht schwer, eins und eins zusammenzuzählen. Maik war es also gar nicht um die Stelle in der Galerie gegangen. Er war in seiner Funktion als Polizist dort gewesen.

Der Älteste in der Runde war Polizeihauptkommissar Burmeister, der sie streng aus klugen Augen musterte. Sofort kam sie sich ertappt vor, obwohl sie gar nichts verbrochen hatte. Steffi konnte sich sehr gut vorstellen, wie sich kleine Sünder fühlen mussten, wenn sie Herbert Burmeister bei einem Verhör gegenübersaßen.

Oberkommissar Björn Lange hingegen war ein ganz anderer Typ. Er war einige Jahre älter als Steffi, überragte sie mindestens um Haupteslänge, sah gut aus und hatte eine sportliche Figur. Als sie ihm in seine graublauen Augen sah, zwinkerte er ihr vergnügt zu. Verlegen wandte sie sich ab und führte die Herren in ihr Wohnzimmer.

»Woher wissen Sie, dass ich Staatsanwalt bin?«, fragte Hagen, als er Platz genommen hatte.

»Herr Kaminski sagte das. Er war sehr beunruhigt, weil Sie auf der Vernissage waren. Von mir wollte er hinterher wissen, worüber wir uns unterhalten haben.«

»Und was haben Sie ihm erzählt?«

»Natürlich nichts als die Wahrheit. Ich habe ihm gesagt, dass wir gar nicht miteinander gesprochen haben und dass ich nicht wusste, dass Sie Staatsanwalt sind.«

»Diesmal wird das anders sein, Frau Seidel, und ich möchte Sie eindringlich darum bitten, über alles, worüber wir nun reden, Stillschweigen zu bewahren. Ist das ein Problem für Sie?«

»Nein.« Steffi schüttelte den Kopf. Sie würde zu niemandem etwas sagen, schon gar nicht zu Kaminski. Dass mit ihm und seiner Galerie einiges im Argen war, hatte sie ja bereits geahnt. Trotzdem war sie erstaunt, als sie nun hörte, wie lang das Sündenregister des Galeristen war und was ihm vorgeworfen wurde: Hehlerei mit Diebesgut, Steuerhinterziehung und Anstiftung zu Straftaten.

»Ich hatte mir so etwas Ähnliches beinahe gedacht«, sagte sie anschließend. »Die Galerie wird sehr halbherzig betrieben. Er setzt nur wenig um. Abgesehen von der aktuellen Ausstellung läuft dort kaum etwas.«

»Er organisiert hin und wieder eine etwas lukrativere Ausstellung eines angesagten Künstlers«, erklärte ihr Björn Lange. »Dann nimmt er ganz offiziell so viel ein, dass seine Bücher sauber erscheinen und die Rechnung aufgeht. Aber seine eigentlichen Geschäfte, mit denen er das große Geld verdient, laufen im Verborgenen ab.«

»Und was wollen Sie nun von mir? Ich arbeite erst seit einer Woche da und kann Ihnen nichts sagen.«

»Noch nicht«, sagte Herbert Burmeister. »Wir brauchen unbedingt jemanden in der Galerie, der uns mit Informationen versorgt. Keine Angst, Sie sollen nicht für uns rumschnüffeln und sich dabei womöglich in Gefahr begeben. Aber vielleicht schnappen Sie zufällig etwas auf, was uns weiterhelfen könnte. Womöglich bekommen Sie mit, wenn er sich mit seinen Komplizen trifft. Kaminski ist überaus gerissen, deswegen konnten wir ihm bisher nichts nachweisen. Das Wenige, was wir wissen, reicht für eine Anklage nicht aus.«

»Aus der Idee, unseren jungen Kollegen Maik Kühnert in der Galerie unterzubringen, wurde leider nichts«, ergänzte Björn Lange. »Nicht er hat den Job bekommen, sondern Sie. Gegen Ihren Einser-Abschluss konnte er sich nicht durchsetzen.« Er lächelte sie anerkennend an, und Steffi verzog das Gesicht.

»Dass ich die Stelle bekommen habe, hat nichts mit meinem Abschluss zu tun. Meine berufliche Qualifikation hat keine Rolle gespielt. Kaminski gefiel einfach nur mein Aussehen.«

Hagen lächelte dünn. »Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, aber das hatte ich mir schon fast gedacht. Das ist nämlich sehr typisch für den schönen Roman.«

Er sah Steffi nachdenklich an. Seine Vorbehalte, eine Unbeteiligte in diese Sache hineinzuziehen, waren zurückgekehrt. »Frau Seidel, falls Sie die Zusammenarbeit mit uns ablehnen möchten, haben wir dafür vollstes Verständnis. Wir glauben zwar nicht, dass es für Sie gefährlich werden könnte, aber niemand von uns kann das ganz sicher ausschließen.«

Herbert Burmeister gefiel überhaupt nicht, dass der junge Staatsanwalt so pessimistisch war und ihrer einzigen möglichen Informantin Angst einjagte. Bevor Steffi etwas sagen konnte, kam Herbert ihr schnell zuvor:

»Sie wären unter ständiger Bewachung, Frau Seidel. Sie müssen sich also keine Sorgen machen. Ihnen kann wirklich nichts passieren. Während Ihrer Arbeitszeit in der Galerie würde Kaminski nichts wagen, und danach wäre Oberkommissar Lange ständig bei Ihnen.«

Verständnislos sah Steffi zu dem jüngeren Polizisten. »Was bedeutet das?«

»Von den Stunden in der Galerie abgesehen, wären Sie praktisch nie allein.« Wieder zwinkerte er ihr zu, und in Steffi kam der Verdacht auf, dass er das absichtlich tat, um sie in Verlegenheit zu bringen. »Betrachten Sie mich als Ihren Schatten, Frau Seidel. Und damit niemand Verdacht schöpft, wenn ich ständig in Ihrer Nähe bin, geben Sie mich einfach als Ihren Freund aus.«

In den nächsten Minuten erklärten ihr die beiden Kommissare ganz genau, wie sie sich das vorstellten. Sie übertrafen sich dabei fast in ihrem Eifer. Es war ihnen anzusehen, wie wichtig es ihnen war, dass Steffi bei diesem falschen Spiel mitmachte. Maik Kühnert hielt sich vorwiegend im Hintergrund. Seit ihrer Begrüßung hatte Steffi nichts mehr von ihm gehört. Und Hagen Wolfram? Mit ernster Miene saß er in ihrem Sessel und schien nur widerwillig dieser Aktion zuzustimmen.

»Frau Seidel, ich will ehrlich sein«, sagte er schließlich, als die Polizisten verstummten. »Ich bin von dieser verdeckten Ermittlung, bei der eine Zivilistin beteiligt ist, nicht begeistert. Ich habe sie nur abgesegnet, weil uns langsam die Optionen ausgehen. Und nur deshalb sind wir hier. Sie wissen hoffentlich, dass niemand Sie dazu zwingen kann. Wenn Sie wollen, vergessen wir diese kleine Unterhaltung einfach.«

Steffi fand es nett von ihm, dass er nicht versuchte, sie zu überreden. Das brauchte er auch nicht. Sie hatte längst eine Entscheidung getroffen.

»Vielen Dank, Herr Wolfram, aber das wird nicht nötig sein. Natürlich helfe ich Ihnen.«

*

Am nächsten Morgen ging Steffi zur Galerie, als hätte es den Besuch am Vorabend nicht gegeben. Den Briefumschlag mit ihrer Kündigung hatte sie aus ihrer Handtasche genommen und in der Schublade ihres Schreibtischs verstaut. Irgendwann würde sie sie sicher brauchen, aber noch war es nicht so weit.

Sie war am Vormittag allein in der Galerie. Ihre Einarbeitungsphase war seit heute offiziell vorbei. Steffi hatte damit kein Problem. In der vergangenen, arbeitsintensiven Woche hatte sie genug Erfahrung gesammelt, um nun allein zurechtzukommen. Es passte ihr sogar ganz gut, dass Frau Werner ihr nicht ständig auf die Finger schauen konnte. So hatte sie wenigstens die Gelegenheit, sich gründlich in den Galerieräumen umzusehen, in ihrem Computer nach verdächtigen Dateien zu suchen und die Schreibtischfächer zu durchforsten. Ja, Steffi nahm ihre Tätigkeit als Aushilfs-Ermittlerin der Polizei sehr ernst. Leider ohne Erfolg. Es fand sich nirgends ein Hinweis darauf, dass hier illegale Geschäfte abgewickelt wurden.

Ihren Chef sah sie kaum. Er hielt sich den ganzen Tag in seinem Büro auf und telefonierte ständig. Steffi bedauerte, dass sie von diesen Telefonaten nichts mitbekam. So blieb ihr nur, insgesamt etwas aufmerksamer als üblich zu sein. Dabei achtete sie auf jede Kleinigkeit, in der Hoffnung, dass es nützlich sein könnte.

Frau Werner schien ihre kleine Meinungsverschiedenheit vergessen zu haben. Als sie mittags in die Galerie kam, begrüßte sie ihre jüngere Kollegin sogar mit einem kleinen angedeuteten Lächeln, das Steffi gern erwiderte. Sie war kein Mensch, der nachtragend war und mochte mit niemanden zerstritten sein. Schon gar nicht, wenn man sich jeden Tag auf der Arbeit sah und gut miteinander auskommen musste.

Warum Frau Werner auf einmal so entgegenkommend war, wurde Steffi klar, als sie sich auf den Heimweg machen wollte.

»Frau Seidel, ich weiß, es kommt ein bisschen plötzlich, aber könnten Sie heute vielleicht die Zeit von vier bis sechs übernehmen? Meine Tochter hat einen wichtigen Termin und kann ihre Kleine heute nicht von der Kita abholen.«

Steffi nickte. »Kein Problem, Frau Werner. Ich habe nichts vor. Ich bin dann um vier wieder hier.«

»Vielen Dank. Das ist wirklich sehr nett von Ihnen.« Das Lächeln, das Frau Werner ihr diesmal schenkte, war ehrlich gemeint und herzlich.

Um zwei hatte Steffi ihren Termin mit Felicitas Norden. Sie hatte bereits von der Behnisch-Klinik gehört, war aber noch nie dort gewesen. Dass es keine der typischen Kliniken war, bemerkte Steffi in dem Augenblick, in dem sie die Lobby betrat. Die weitläufige Eingangshalle mit den eleganten Sitzgruppen und den vielen, üppig wachsenden Grünpflanzen erinnerte kaum an ein Krankenhaus.

Am Empfangstresen wartete die Kinderärztin bereits auf sie. Mit einem herzlichen Lächeln begrüßte sie Steffi.

»Schön, dass Sie da sind, Frau Seidel. Haben Sie Lust auf einen Kaffee? Dann lernen Sie gleich unsere Cafeteria kennen, und wir können uns ein wenig unterhalten, bevor wir auf die Station gehen.«

»Ja, sehr gern. Ein Kaffee würde mir wirklich guttun. In der Galerie bin ich nicht dazu gekommen. Es hat sich wohl endgültig herumgesprochen, wie gut die Bilder von Peer Wedow sind, und der Andrang war entsprechend groß. Inzwischen sind fast alle Werke verkauft.«

Fee stutzte. »Sie waren heute in der Galerie?«

»Ja, ich komme direkt von dort. Um vier muss ich wieder hin und die letzten beiden Stunden übernehmen.«

»Was ist aus Ihrem Plan geworden, Ihre Kündigung abzugeben? Haben Sie ihn aufgegeben oder nur verschoben?«

»Äh … verschoben. Es … Also irgendwie passt es zurzeit nicht so. Aber irgendwann … Nur jetzt eben nicht.« Steffi stammelte so nervös, dass Fee hellhörig wurde.

»Sie werden sicher Ihre Gründe dafür haben?« Absichtlich ließ Fee diesen Satz wie eine Frage klingen. Sie wollte unbedingt erfahren, warum die junge Frau einen Rückzieher gemacht hatte. Sie hatte doch so überzeugt geklungen …

»Gründe? Es gibt gar keine besonderen Gründe. Es ist einfach nur nicht der richtige Moment dafür.« Steffi hätte sich gern Frau Norden anvertraut. Doch das war unmöglich.

»Es gehört sehr viel Mut oder Verzweiflung dazu, seine Arbeit hinzuwerfen, ohne Aussicht auf eine neue Anstellung«, sagte Fee verständnisvoll. »Ich kann sehr gut verstehen, dass Sie das noch einmal gründlich durchdacht haben und diesen großen Schritt noch nicht wagen wollen.«

Da Steffi nur stumm nickte und dabei sehr nervös wirkte, wurde Fee noch misstrauischer. Inzwischen war sie davon überzeugt, dass hier irgendetwas nicht stimmte. Ihr Daniel meinte oft im Scherz, dass sie einen siebten Sinn für Schwierigkeiten hätte. Auch ein gewisses kriminalistisches Gespür sagte er ihr immer wieder nach. Und das regte sich gerade ganz heftig in ihr, ohne dass sie es erklären konnte. Schade, dass Steffi Seidel nicht mit der Sprache herausrücken wollte. Nun gut, Fee hielt sich zwar nicht für den geduldigsten Menschen der Welt, aber sie wusste, wann Abwarten die beste Lösung war.

Steffi sah sich beeindruckt in der Cafeteria um.

»Es ist wunderschön hier, Frau Norden«, sagte sie begeistert. »Niemand würde so einen zauberhaften Ort in einem Krankenhaus vermuten.« Ihre Augen glitten an den Stämmen der exotischen Palmen hoch bis zu dem grünen Fächerdach aus Palmwedeln und Schlingpflanzen.

»Als wäre man in einem kleinen, tropischen Paradies«, sagte sie staunend.

»Ja, das stimmt«, gab Fee ihr lächelnd recht. »Hier fällt es leicht zu vergessen, wie viel Kummer und Leid uns oft begleiten.«

»An Kummer und Leid denkt man hier wirklich nicht. Eher an Hoffnung, Leichtigkeit und Frohsinn. Genau das, was man braucht, um gesund zu werden.« Schmunzelnd sah sie die Ärztin an. »Neben der medizinischen Behandlung natürlich.«

»Das kann man oft nicht voneinander trennen«, überlegte Fee. »Beides zusammen – also die passende Therapie und eine gesunde Geisteshaltung – bilden das richtige Gespann, damit der Körper heilen kann. Manchmal erreicht man das auch mit einen himmlischen Rückzugsort wie diese Cafeteria. Aber auch die Möglichkeit, sich kreativ auszudrücken, kann heilsam sein. In vielen Fällen bringt das mehr als eine Tablette, die nur die Symptome unterdrückt. Deshalb hat mir die Idee, Sie für die Kinderstation zu gewinnen, auch gleich so zugesagt. Eine Kunsttherapeutin für unsere kleinen Patienten, davon träume ich schon sehr lange.«

Steffi seufzte. »Ich hoffe, Sie versprechen sich nicht zu viel von meinem bescheidenen Beitrag. Ehrenamtlich, nur für wenige Stunden in der Woche, kann ich da natürlich nicht viel ausrichten. Ich denke, das wissen Sie. Es wäre wirklich nur der sprichwörtliche Tropfen auf dem heißen Stein.«

»Ja, ich weiß. Aber betrachten wir es einfach als das, was es ist: ein hoffnungsvoller Anfang, der den Kindern Freude und Ablenkung bringt.«

So wie alles andere in der Klinik, gefiel Steffi auch die Kinderabteilung ausnehmend gut. Großformatige Wandbilder mit kindgerechten Motiven luden zum Entdecken und Staunen ein. Die warmen Holztöne der Möbel erinnerten kein bisschen an das sterile Weiß der üblichen Klinikmöbel. Bunte Vorhänge säumten die großzügigen Fensterflächen. Überall waren kleine Spielecken und Sitzgruppen versteckt und boten Rückzugsmöglichkeiten für die Kinder und ihre Eltern.

»Eigentlich herrscht jetzt Mittagsruhe«, erklärte Fee mit gedämpfter Stimme. »Allerdings akzeptieren wir, dass das nicht jedes Kind mag oder braucht. Wer nicht ruhen möchte, kann sich im großen Spielzimmer die Zeit vertreiben. Eine Erzieherin ist dann bei ihnen, bietet Beschäftigungen an und sorgt ganz nebenbei dafür, dass die schlafenden Kinder während dieser Zeit nicht gestört werden.«

»Das hätte ich mir früher auch gewünscht. Mein Blinddarm hatte mich als Zehnjährige ins Krankenhaus gebracht. Die Mittagsruhe war immer die schlimmste Zeit des Tages. Schlafen konnte ich nicht, spielen durfte ich nicht. So blieb mir nichts anderes übrig, als im Bett zu liegen und meinen trüben Gedanken nachzuhängen. Es ist schön, dass das heutzutage ganz anders läuft.«

»Zumindest hier«, sagte Fee. »Wir bieten den Mittagsschlaf an, aber wir erzwingen ihn nicht mehr. Dass das sowieso nichts bringt, haben Sie ja selbst erlebt.«

Fee blieb vor einer verschlossenen Tür stehen und öffnete sie. »Hier ist das Reich der Ergotherapie. Unsere Ergotherapeutin, Lilo Claasen, ist dreimal in der Woche in der Pädiatrie. Am Dienstag und Donnerstag wird der Raum nicht genutzt. Wenn Sie möchten, gehört er dann Ihnen.«

Freudestrahlend sah sich Steffi um. Das Zimmer war fantastisch. Große Fenster ließen genügend Tageslicht hinein, die hellen Möbel sahen robust aus und ließen sich nach der Malstunde sicher gut reinigen.

»Es ist einfach perfekt!«, rief sie enthusiastisch aus. »Ich kann es kaum erwarten loszulegen. Das ist genau das, wovon ich immer geträumt habe.«

Fee sah der jungen Frau zu, wie sie den Raum abschritt, mit den Fingern über die Tische strich und dabei verzückt lächelte. Allein die Aussicht, endlich das machen zu dürfen, wofür ihr Herz schlug, brachte sie zum Strahlen und ließ sie glücklich aussehen. Ganz anders als in der Galerie Kaminski.

*

Steffi saß an einem der Tische und sah sich begeistert um. Hier würde sie also einmal in der Woche kranken Kindern etwas Lebensfreude zurückgeben dürfen. Es störte sie nicht, dass es nur eine ehrenamtliche Tätigkeit war, für die sie nicht bezahlt wurde. Das Einzige, was zählte, war die Vorfreude auf eine Arbeit, die sie liebte und die ihr Spaß machte.

Felicitas Norden war zu einem Notfall geeilt und hatte sie vorher noch gebeten aufzuschreiben, welche Materialien sie für die Malstunde benötigte. Sie hatte Steffi ermahnt, nichts auszulassen und nicht über mögliche Kosten nachzudenken. Steffi hatte den Verdacht, dass die nette Kinderärztin die Sachen aus eigener Tasche bezahlen würde. Sie wusste nämlich, dass der Haushaltsplan einer Klinik in Stein gemeißelt war. Zusätzliche Ausgaben wurden nur in ganz dringenden Fällen genehmigt. Und das hier – da war sich Steffi ziemlich sicher – würde keine noch so großzügige Klinik als dringenden Fall anerkennen. Deshalb hielt sich Steffi beim Aufschreiben etwas zurück und notierte nur das, was wirklich unerlässlich war. Als sie fertig war, gab sie die Liste einer netten Schwester, die sie draußen auf dem Flur traf und die ihr versprach, sie an Frau Dr. Norden weiterzureichen.

Mit einem fröhlichen Lächeln im Gesicht verließ Steffi die Klinik und achtete nicht auf den jungen Mann, der vor dem Gebäude auf sie wartete. Als er auf sie zutrat, schrak sie zusammen.

Amüsiert fragte er sie: »Haben Sie etwa unsere Verabredung vergessen, Frau Seidel?«

»Nein! Ja … Tut mir leid. Ich habe wirklich nicht mehr daran gedacht, Herr Lange.« Schuldbewusst sah sie Oberkommissar Björn Lange an. Sie hatten am Vorabend abgesprochen, dass sein Einsatz als ihr angeblicher Freund mit dem Abholen aus der Behnisch-Klinik beginnen sollte. Während sie sich in der Kinderabteilung voller Eifer auf die Vorbereitung des Malkurses gestürzt hatte, war alles, was mit der Galerie Kaminski zusammenhing, in Vergessenheit geraten.

»Ich wollte Sie eigentlich anrufen, um Ihnen zu sagen, dass es eine kleine Planänderung gibt. Aber auch das habe ich leider verschwitzt. Ich muss gleich wieder zurück in die Galerie. Frau Werner hat mich gebeten, die beiden letzten Stunden für sie zu übernehmen, weil sie etwas Wichtiges vorhat. Es tut mir schrecklich leid, dass ich es vergessen habe und Sie nun völlig umsonst hergekommen sind.«

»Kein Problem. Die Situation ist für uns alle neu. Es wird sicher noch eine Weile dauern, bis wir uns daran gewöhnt haben. Ich habe meinen Wagen auf dem Parkplatz stehen. Ich fahre Sie zur Galerie und hole Sie dann zum Feierabend wieder ab. Einverstanden?«

Steffi nickte befangen. Ihr war eingefallen, wie der Abend dann weitergehen sollte. Björn Lange würde bei ihr einziehen. Davon war sie nicht begeistert gewesen, und die Polizisten hatten eine ganze Weile gebraucht, um sie von der Notwendigkeit zu überzeugen. Schließlich hatte sie dann doch zugestimmt. Wenn die Tarnung glaubhaft sein sollte, gab es keinen anderen Weg. Außerdem konnte nur so ihr Schutz garantiert werden.

»Was haben Sie eigentlich in der Behnisch-Klinik gemacht?«, fragte Björn, als er den Wagen durch München steuerte.

Steffi sah überrascht auf. »Warum fragen Sie? Mein Besuch in der Klinik hat nichts mit der Galerie zu tun.«

»Nein, natürlich nicht. Bitte entschuldigen Sie, ich wollte nicht indiskret sein. Es ist nur … Sie haben so glücklich ausgesehen, als Sie herauskamen. Da hat mich einfach die Neugier gepackt. Selbstverständlich brauchen Sie nicht darüber zu reden, wenn Sie nicht wollen.«

»Es ist nichts Besonderes. Ich hatte nur einen Termin mit Frau Dr. Norden, der Leiterin der Kinderabteilung. Ab Donnerstag werde ich dort ehrenamtlich einen Malkursus für die Kinder auf der Station anbieten. Das ist etwas, worauf ich mich schon sehr freue, und wahrscheinlich sah man mir das einfach an.«

»Das hört sich wirklich toll an. Warum machen Sie das nur im Ehrenamt?«

»Ich versuche, seit einem Jahr eine Anstellung als Kunsttherapeutin oder Kunstpädagogin zu finden. Leider vergebens. Das ist auch der Grund, warum ich in der Galerie arbeite.«

»Es lag also nicht am umwerfenden Charme von Roman Kaminski?«

Empört schnaubte Steffi auf. »Ganz bestimmt nicht!«

»Das war nur ein Scherz«, lachte Björn und parkte vor der Galerie. »Wir sind schon da«, fuhr er dann ernster werdend fort. »Um sechs werde ich wieder herkommen und Sie abholen.«

Steffi nickte und wollte aussteigen, doch Björn hielt sie zurück. »Wir müssen unsere Rollen glaubwürdig spielen. Dazu gehört, dass wir uns endlich duzen. Also, Steffi, ich bin Björn.«

»In Ordnung … Björn.«

»Und noch etwas: Bitte nicht erschrecken, wenn ich dir jetzt einen Abschiedskuss gebe.«

»Das soll wohl ein schlechter Scherz sein!«

»Nein, das war mein vollster Ernst. Es wäre gut möglich, dass Frau Werner oder Kaminski uns vom Fenster aus beobachten. Glaubst du nicht, dass das auf sie sehr merkwürdig wirken würde, wenn du einfach so aussteigst?«

Steffi dachte kurz nach. Schnell kam sie zu dem Schluss, dass dieser Kuss als Teil ihrer Tarnung tatsächlich nötig war. Zudem fand sie die Aussicht, den charmanten Polizisten zu küssen, plötzlich äußerst verlockend.

Grinsend beugte sie sich vor, gab dem überraschten Björn einen Kuss auf die Wange und säuselte: »Bis später, mein Schatz.«

Bevor Björn darauf reagieren konnte, war sie schon ausgestiegen und auf dem Weg in die Galerie. Hier wurde sie bereits von Frau Werner empfangen, die sie überaus freundlich anlächelte.

»War der junge Mann im Auto Ihr Freund? Er sieht ja wirklich sehr nett aus.«

»Ja, ich bin mit Björn schon eine ganze Weile zusammen.«

Der junge Polizist hatte recht gehabt. Frau Werner hatte sie tatsächlich beobachtet. Und nicht nur sie, wie Steffi gleich feststellte. Roman Kaminski kam aus seinem Büro mit sichtbar schlechter Laune.

»Was macht das für einen Eindruck auf die Kunden, wenn meine Angestellte mit ihrem Freund im Auto rumknutscht!«, blaffte er Steffi sofort an. »Wenn er Sie das nächste Mal bringt, soll er nicht direkt vor der Galerie anhalten.«

»Ich kann es ihm ja ausrichten«, gab Steffi kühl zurück. »Und nur um das klarzustellen: Wir haben nicht geknutscht. Es war ein harmloser, kleiner Abschiedskuss, der niemand stören dürfte. Auch Sie nicht.«

Dafür fing sie sich einen wütenden Blick von ihrem Chef ein. Doch bevor er loswettern konnte, erhielt Steffi unerwartete Rückendeckung von Frau Werner: »Ach, Herr Kaminski, nun seien Sie mal nicht so. Gönnen Sie den beiden Verliebten doch ihr Glück!«

»Was mischen Sie sich hier ein?«, herrschte er nun die arme Frau Werner an. Mit dieser heftigen Reaktion hatte sie nicht gerechnet. Völlig verschüchtert zog sie den Kopf ein.

»Ich habe jetzt einen Termin«, knurrte der Galerist. »Keine Ahnung, ob ich heute noch mal zurückkomme. Vielleicht kann sich ja inzwischen mal eine der Damen herablassen und in meinem Büro staubwischen. Da sieht´s ja aus wie im Saustall. Wofür bezahle ich Sie überhaupt?« Er wartete keine Antwort ab, sondern verließ die Galerie und schlug die Tür dabei so kräftig hinter sich zu, dass die Scheiben leise klirrten.

»Welche Laus ist ihm denn über die Leber gelaufen?«, fragte Steffi kopfschüttelnd.

»Können Sie sich das nicht denken?«, entgegnete ihre Kollegin immer noch eingeschüchtert. »Dass Sie einen Freund haben, hat den Chef wohl etwas verärgert. Sie haben ja bestimmt gemerkt, dass er sich Ihretwegen Hoffnungen gemacht hat.«

»Klar habe ich das gemerkt. Sein Verhalten war nämlich in jeder Hinsicht unangemessen.«

»Ach, er flirtet doch nur gern. So schlimm ist es gar nicht. Ich kenne genug Frauen, die sich darüber freuen würden.«

Nun verstand Steffi endlich. Die ältere Frau Werner hatte eine heimliche Schwäche für den Galeriebesitzer. Es musste schrecklich für sie sein, immer wieder mitzuerleben, wie sich Kaminski an junge Frauen ranmachte.

»Wollen Sie nicht langsam Feierabend machen, Frau Werner? Ihre Enkelin wartet sicher schon auf Sie.«

»Ja, aber vielleicht sollte ich mich noch schnell um das Büro vom Chef kümmern. Ich möchte ihn nicht noch mehr verärgern.«

»Keine Sorge, den Putzjob übernehme ich«, erwiderte Steffi rasch. Sie witterte ihre große Chance, sich in Kaminskis Heiligtum umsehen zu können. Vielleicht würde sie tatsächlich etwas Interessantes finden, das sie Björn dann präsentieren könnte. Sie wollte ihn beeindrucken, so viel stand für sie fest. Warum das so war, darauf hatte sie allerdings keine Antwort.

*

Der letzte Besucher verließ um halb sechs die Galerie. Steffi kam nun endlich dazu, in Kaminskis Büro zu gehen. Mit einem Staubtuch bewaffnet nahm sie sich zuerst seinen Schreibtisch vor. Sie war enttäuscht, als sie sah, dass der Computer heruntergefahren war. Ihn einfach wieder einzuschalten, traute sie sich nicht. Was, wenn Kaminski ausgerechnet dann zurückkäme? Wie wollte sie ihm erklären, warum sie vor seinem Computer saß? Außerdem rechnete Steffi mit einem Passwort, an dem sie sofort scheitern würde. Es lohnte sich nicht, dafür ein so großes Risiko einzugehen. Steffi lag zwar viel daran, Beweise für das kriminelle Vorgehen ihres Chefs zu liefern. Allerdings hielt sie sich nicht für heldenhaft und leichtsinnig. Niemand konnte mit Sicherheit Kaminskis Reaktion vorhersagen, wenn er sie beim Spionieren ertappen würde.

Ihre Blicke glitten über den aufgeräumten Schreibtisch. Hier lag absolut nichts rum, dass ihr weiterhelfen könnte. Sie versuchte, die Schubladen zu öffnen, hatte damit aber keinen Erfolg. Sie waren verschlossen. Frustriert stöhnte sie auf. Nun bekam sie schon mal die Gelegenheit, sich hier mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis aufzuhalten, und dann brachte es ihr überhaupt nichts. Wie sollte sie das bloß Björn erklären? Sicher erwartete er mehr von ihr, als sie ihm bieten konnte.

Und schon wieder musste sie an den jungen Polizeibeamten denken. Als ihr das auffiel, kam sie ins Grübeln. Für wen machte sie das hier eigentlich? Für Recht und Ordnung? Oder für einen charmanten Mann, den sie unbedingt beeindrucken wollte? Dass er ihr Herz zum Klopfen brachte, hatte sie ja schon bei ihrer ersten Begegnung gemerkt. Doch dass das womöglich der eigentliche Grund für ihre Mitarbeit war, wurde ihr erst jetzt bewusst.

Steffi ließ sich erschüttert auf Kaminskis Stuhl fallen. Das war ja eine schöne Bescherung! Ausgerechnet in ihn musste sie sich vergucken. Sie wusste doch gar nichts von ihm. Sie war ihm erst zweimal begegnet und hatte kaum mit ihm gesprochen. Und der kleine Kuss, den sie ihm gegeben hatte, gehörte zur Tarnung dazu.

In den nächsten Tagen würden sie viel Zeit miteinander verbringen. Eigentlich sollte sie sich darüber freuen. Aber die Gewissheit, dass er nur aus dienstlichen Gründen bei ihr war, verhinderte das. Vielleicht war er verheiratet, und zu Hause warteten Frau und Kinder auf ihn. Und während sie sich wie ein kleines Schulmädchen in ihn verliebte, konnte er es wahrscheinlich gar nicht abwarten, diesen lästigen Außeneinsatz zu beenden, um bald …

»Was machen Sie denn da?«, bellte Kaminski plötzlich so laut, dass Steffi vor Schreck hochsprang.

Verwirrt sah sie zu ihrem Chef hinüber, der in der Tür stand und sie wütend anstarrte. Warum hatte sie ihn nicht kommen gehört? An der Ladentür war eine Klingel angebracht, die lautstark anzeigte, wenn sie geöffnet wurde.

»Ich … ich …«, stotterte Steffi. Dann riss sie das Staubtuch hoch, dass sie glücklicherweise noch immer in ihren Händen hielt. »Ich bin hier beim Staubwischen«, brachte sie schließlich mit hochrotem Kopf raus.

»Blödsinn! Ich habe doch ganz genau gesehen, was Sie da gemacht haben«, tobte er weiter. »Sitzen da auf meinem Stuhl und starren Löcher in die Luft. Die Zeit ziehe ich Ihnen ab. Fehlt noch, dass Sie für ihre Träumereien auch noch mein gutes Geld bekommen.«

»Ich habe höchstens eine Minute gesessen«, gab Steffi genauso unbeherrscht zurück. Angriff ist die beste Verteidigung, lautete dabei ihre Devise. »Aber bitte, ziehen Sie mir die Minute ruhig von meinen sechzig Überstunden ab, die ich allein in der letzten Woche gemacht habe! Mir doch egal!«

Sprach’s und sauste an dem verblüfften Kaminski vorbei. Im Laden bemerkte sie sofort den frischen Luftzug, der durch die geöffnete Hintertür zu ihr hinüberwehte. Deshalb hatte sie ihn also nicht gehört. Er musste über den Hofeingang gekommen sein. Das war sehr ungewöhnlich, und Steffi beschloss, einen vorsichtigen Blick in den Hof zu riskieren. Doch bevor sie dazu kam, stiefelte Kaminski wieder aus seinem Büro. Unter seinem Arm hielt er eine Akte.

Er hörte sich schon viel versöhnlicher an, als er zu Steffi sagte: »Wenn Sie heute noch zu Ende staubwischen, vergessen wir die Angelegenheit. Denken Sie daran, den Laden abzuschließen, wenn Sie gehen!«

Kaminski verließ die Galerie über die Hintertür. Steffi konnte hörte, wie er sie von außen abschloss. Kurz darauf fuhr er mit seinem Wagen aus dem offenen Hoftor auf die Straße. Um das beobachten zu können, hatte sich Steffi an den Verkaufstresen gestellt. Von hier aus konnte sie unauffällig mitverfolgen, wie Kaminski aus seinem Auto stieg, das schwere Tor zuzog und verriegelte.

Kaum war Roman Kaminski abgefahren, flitzte Steffi in sein Büro zurück. Hastig wischte sie mit einem Tuch die Möbel ab und prüfte dabei, ob sich irgendein Schrank öffnen ließ. Doch es war alles gut verschlossen, sodass Steffi hier nichts ausrichten konnte.

Doch eins wollte sie noch versuchen. Sie nahm den Ladenschlüssel aus ihrer Tasche und ging zur Hintertür. Mit etwas Glück war das Schloss Bestandteil einer Schließanlage und der Schlüssel würde auch hier passen. Erleichtert atmete sie auf, als ihr Plan aufging. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen winzigen Spalt und spähte in den finsteren Hof hinaus. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Nur, um ernüchtert festzustellen, dass es hier absolut nichts zu entdecken gab. Der Hof war leer.

Punkt sechs schloss Steffi den Laden ab. Björn Lange wartete in seinem Wagen bereits auf sie. Als er ihr betrübtes Gesicht sah, fragte er sofort: »Was ist los? Gab es Ärger mit Kaminski?«

»Nein, ich bin nur enttäuscht. Ich hatte gehofft, dass ich ein paar Hinweise auf seine kriminellen Machenschaften liefern könnte. Doch jeder Schrank, jede Schublade in seinem Büro war verschlossen. Ich bin nirgends rangekommen.«

»Du hast sein Büro durchsucht?« Björn sah sie beinahe entsetzt an. »Was soll das? Wenn er dich nun erwischt hätte!«

»Eigentlich hat er das sogar«, gestand Steffi kleinlaut. »Aber ich konnte mich rausreden.« Auf der Fahrt zu ihrer Wohnung erzählte sie ihm genau, was geschehen war. Dabei fiel ihr auf, wie sich Björns Gesicht immer mehr verfinsterte. Er schien alles andere als stolz auf sie zu sein.

»Steffi, was hast du dir bloß dabei gedacht?«, schimpfte er ungehalten. »Wir haben nie von dir verlangt, dass du solche Risiken eingehst. Du solltest uns nur das weitergeben, was du zufällig aufschnappst. Zufällig!«

Sie waren inzwischen vor ihrem Wohnhaus angekommen. Schlecht gelaunt verließ Björn seinen Wagen und gab Steffi nicht die Gelegenheit, sich zu rechtfertigen. Schweigend stiegen sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Erst als sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatten, sprach Björn wieder mit ihr.

»Hör zu, Steffi, es tut mir leid, dass ich dich so angefahren habe. Aber ich mache mir wirklich Sorgen, dass du zu Schaden kommen könntest. Kaminski ist kein netter Mann. Sollte er merken, dass du da für uns rumschnüffelst, könnte das böse für dich ausgehen.«

Erschrocken riss Steffi die Augen auf. »Glaubst du wirklich, er könnte mir etwas antun?«

»Nein, eigentlich nicht. Bisher ist er nicht gewalttätig in Erscheinung getreten. Obwohl natürlich niemand weiß, wie er im Ernstfall reagieren würde. Wenn er sich durch dich in seiner Existenz bedroht fühlt, könnte er durchaus die Nerven verlieren. Also bitte, überlass die Polizeiarbeit den Profis, und mach du da einfach nur deine Arbeit. Nicht mehr! Das hier ist das wirkliche Leben und kein Krimi im Fernsehen, bei dem die Leichen nach Drehschluss aufstehen und gesund zu ihren Familien heimkehren.«

Mehr als ein stummes Nicken brachte Steffi nicht zustande. Sie ärgerte sich über Björn und konnte gar nicht verstehen, was ihr je an ihm gefallen hatte. Er war überheblich und undankbar und überhaupt nicht der nette Polizist, für den sie ihn gehalten hatte. Der Gedanke, dass sie ihn die nächsten Tage hier ertragen musste, kam ihr plötzlich nicht mehr so verlockend vor.

Immer noch sauer, suchte Steffi für ihn das Bettzeug zusammen. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, ihm großzügig das breite Bett im Schlafzimmer zu überlassen und selbst mit der kleinen Couch im Wohnzimmer vorliebzunehmen. Immerhin war die recht schmal und maß in der Länge keine eins achtzig. Viel zu klein für Björn, der mindestens zehn Zentimeter größer war. Aber er hatte ihre Großzügigkeit nicht verdient. Außerdem – er war der Profi. Eine zu kurz geratene Couch dürfte ihm doch nichts ausmachen. Immerhin war das hier das wirkliche Leben.

*

Seit zwei Tagen wohnte Björn Lange nun bei Steffi. Bis auf den kleinen Zwist an ihrem ersten Abend verlief ihr Zusammenleben sehr harmonisch. Er beschwerte sich mit keinem Wort über sein unbequemes Nachtlager und schien überhaupt in bester Stimmung zu sein. Gestern Abend hatte er sogar für sie gekocht und es sich anschließend nicht nehmen lassen, den Abwasch zu erledigen.

Er fuhr sie jeden Tag in die Galerie und holte sie nach Dienstschluss wieder ab. Den Rest des Tages verbrachten sie dann zusammen.

»Wie lange arbeitest du heute?«, fragte er sie am Donnerstag beim Frühstück.

»Ich fange erst um zwei in der Galerie an und arbeite bis Ladenschluss, also bis um sechs. Heute Vormittag bin ich in der Behnisch-Klinik.«

»Ach ja, dein Malkursus. Oder Kunsttherapie?«

»Nein, nur ein Kursus. Ich bin schon sehr gespannt, wie viele Kinder mitmachen werden und ob alles klappt … und überhaupt.« Steffi lachte leise. »Und überhaupt bin ich total aufgeregt und vor Freude ganz aus dem Häuschen.«

Als sie in Björns Augen sah, stockte ihr kurz der Atem. Er sah sie so liebevoll an, dass ihr ganz warm wurde. Verlegen sagte sie: »Ich weiß, ich bin ein bisschen albern …«

»Nein …«, unterbrach Björn sie sofort. »Das ist nicht albern, wenn man für eine Sache brennt und mit Leidenschaft dabei ist. Und dass du das bist, kann dir jeder ansehen. Aber wenn du deinen Dienst in der Galerie antrittst, fehlt dir dieses Leuchten in den Augen.«

»Was ist mit dir?«, lenkte Steffi von sich ab. »Brennst du auch für deine Arbeit?«

»Ja«, erwiderte Björn mit aller Entschlossenheit. »In den Polizeidienst zu gehen, war schon immer mein größter Wunsch gewesen. Ich könnte mir nicht vorstellen, etwas zu machen, wo ich nicht mit Herzblut dabei bin.« Er sah sie bittend an. »Du solltest nicht in der Galerie arbeiten, Steffi. Da gehörst du einfach nicht hin.«

»Im Moment wohl doch. In Wahrheit seid ihr doch sehr froh, dass ihr mich dort als Informantin habt. Das ist übrigens der einzige Grund, warum ich überhaupt noch dort bin.« Steffi ging zu ihrem kleinen Schreibtisch hinüber und holte den Umschlag mit dem Kündigungsschreiben aus der Schublade.

»Meine Kündigung«, erklärte sie. »Ich wollte sie eigentlich am Montag abgeben, aber Kaminski war nicht da. Und abends hattet ihr mich dann besucht und um meine Hilfe gebeten.«

»Du hättest ablehnen sollen, Steffi.«

»Ach ja? Auf einmal?« Steffi sah ihn zweifelnd an. »Der Einzige, der mir halbwegs abgeraten hatte, war der Staatsanwalt. Du und deine Kollegen wart doch total begeistert von der Idee gewesen und habt mir das so richtig schmackhaft gemacht.«

Björn nickte ernst. »Ja, und das bereue ich inzwischen.«

Felicitas Norden hatte Wort gehalten und alles besorgt, was Steffi für den Malkursus brauchte. Die nächsten zwei Stunden verliefen anders, als Steffi es von ihrem Nachmittagskursus in der Schule kannte. Sie hatte es hier mit kranken Kindern zu tun, die zwischendurch zu einer Untersuchung mussten oder einfach nicht länger als ein Viertelstündchen durchhielten, weil sie sich dann wieder ausruhen mussten. Aber das glückliche Lächeln in ihren Gesichtern war das gleiche, das sie aus der Schule kannte. Die Kinder liebten es, in die Welt der Farben einzutauchen und sich mit ihnen auszudrücken. Und auch wenn das, was sie hier machte, nicht viel mit Kunsttherapie im eigentlichen Sinne zu tun hatte, spürte Steffi, wie gut den Patienten diese kleine Auszeit tat.

Auch Fee war das natürlich nicht verborgen geblieben.

»Ich wünschte, wir könnten das häufiger in der Klinik anbieten. Nicht nur in der Kinderabteilung. Ich denke, das würde auch den Erwachsenen sehr gut bekommen. Insbesondere denen mit psychischen oder chronischen Erkrankungen. Wenn ich sehe, wie viel das Malen als Beschäftigung schon bewirkt, dann dürften wir mit Kunst als Therapieform womöglich wahre Wunder erwarten.«

»Ich habe während des Studiums verschiedene Praktika in der Psychiatrie gemacht«, berichtete Steffi. »Die Erfolge dort waren oft beeindruckend gewesen.«

»Davon müssen Sie mir unbedingt mehr erzählen, Frau Seidel. Insgeheim liebäugle ich nämlich schon seit einiger Zeit damit. Ich war vor zwei Jahren auf einem Psychiatrie-Kongress, auf dem es dazu mehrere Vorträge und Work-Shops gab. Seitdem hat mich das Thema nicht mehr losgelassen. Ich hoffe einfach, dass im Klinikhaushalt irgendwann so viel Geld übrig sein wird, dass wir das auch in unserer Klinik anbieten können. Bis dahin warte ich darauf, dass die Fördergelder, die ich vor Ewigkeiten beantragt habe, endlich genehmigt werden.«

»Fördergelder?«, fragte Steffi nach.

»Ja, für unser Projekt ›Kunst heilt‹. Haben Sie noch etwas Zeit? Ich würde mich gern ausführlicher mit Ihnen darüber unterhalten.«

Und schon saßen die beiden Frauen in der Cafeteria zusammen und sprachen über das Projekt, das Fee unbedingt in der Behnisch-Klinik einführen wollte.

Als sich später Katja zu ihnen gesellten, wechselten sie das Thema. Fee störte das nicht. Sie wusste, dass sie noch oft die Gelegenheit haben würde, sich mit Steffi Seidel auszutauschen. So schnell würde sie diese faszinierende junge Frau nicht ziehen lassen. Fee war sich ganz sicher, Steffi wäre eine Bereicherung für die Behnisch-Klinik.

Steffi wollte sich gerade verabschieden, als Björn plötzlich an ihren Tisch kam.

»Da bist du ja, Liebling«, sagte er lächelnd und küsste sie auf die Wange.

Steffi merkte, wie ihr unter den neugierigen Blicken von Fee und Katja die Röte ins Gesicht schoss.

»Willst du mich nicht vorstellen?«, fragte Björn lächelnd.

Während Steffi seiner Bitte verlegen nachkam, blieb Björn völlig entspannt, versprühte seinen Charme und ließ sich von Fee Norden zu einem Kaffee überreden.

»Sehr gern. Dafür haben wir noch Zeit.«

Als sie schließlich aufbrachen, sah Fee ihnen versonnen nach. »Ich wusste gar nicht, dass sie in einer festen Beziehung ist.«

»Vielleicht, weil wir nie darüber gesprochen haben. Ich finde übrigens, die beiden passen gut zusammen.«

»Ja … obwohl …«

»Obwohl?«, fragte Katja belustigt. »Erzähl! Was beschäftigt dich?«

»Gar nichts … Ich weiß nicht, es ist so ein unbestimmtes Gefühl.« Fees Gefühle täuschten sie nur selten. Das konnte Katja allerdings nicht wissen. Dazu kannten sich die beiden Freundinnen noch nicht lange genug. Daniel Norden hingegen wusste ganz genau, was es bedeutete, wenn sich sein Feelein über andere den Kopf zerbrach.

Als sie sich später auf Station begegneten, erzählte sie ihm von ihrem Treffen mit Steffi Seidel und deren Freund.

»Ich weiß nicht, warum, Dan, aber irgendetwas stimmt da nicht. Es beschäftigt mich die ganze Zeit und lässt mich einfach nicht mehr los.«

Liebevoll strich Daniel seiner Frau über die Wange. »Ich bin sicher, du wirst es bald herausbekommen. Ist das nicht immer so?«

Auch Katja Baumann musste an diesem Nachmittag oft an Steffi und Björn denken. Aber aus einem anderen Grund als Fee Norden. Es fiel Katja schwer, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Steffi Seidel und ihr Freund machten den Eindruck, als wäre ihre Liebe noch ganz frisch. Allein wie er sie angesehen hatte! Katja seufzte wehmütig auf. Wann hatte Hagen sie zum letzten Mal so angesehen? Es schien ihr eine Ewigkeit her zu sein.

Es war nicht so, dass seine Liebe nachgelassen hätte. Vielmehr lag es daran, dass sie ihn kaum noch zu sehen bekam. In letzter Zeit schien er nur für seine Arbeit zu leben. Zuletzt hatten sie an dem Wochenende etwas unternommen, als sie zusammen auf der Vernissage waren. Und selbst da hatte er einen unkonzentrierten und abwesenden Eindruck gemacht. Gerade so, als könnte er es nicht erwarten, endlich wieder an seinen Schreibtisch zurückkehren zu dürfen.

Katja überlegte. Es war jetzt halb fünf. Nichts sprach dagegen, für heute Schluss zu machen und zum Gericht zu fahren, um Hagen zu überraschen. Sie könnte kurz bei ihrem Lieblingsbäcker anhalten und den Kirschkuchen kaufen, den Hagen so liebte. Kaffee hätte er sicher in seinem Büro, und für eine kleine spontane Pause nahm er sich bestimmt die Zeit. Ehe sie es sich anders überlegen konnte, hatte Katja ihren Schreibtisch aufgeräumt und die Klinik verlassen. Nur eine halbe Stunde später betrat sie das Gerichtsgebäude. An der Eingangstür stieß sie fast mit Frau Karsten, Hagens Sekretärin, zusammen.

»Hallo, Frau Baumann. Wollen Sie Dr. Wolfram besuchen?«

»Ja.« Katja hob das Kuchenpaket hoch. »Ich wollte ihn zu einer Pause überreden.«

»Sehr gute Idee. Die wird ihm sicher guttun. Er hat zwar gerade einen Besucher, aber Sie können sich ja bei mir ins Vorzimmer setzen und warten. Es wird bestimmt nicht mehr lange dauern.«

Im Oberlandesgericht kannte sich Katja gut aus. Sie hatte hier sogar einige Tage gearbeitet. Zielsicher ging sie in die Staatsanwaltschaft und öffnete die Tür, die in das Vorzimmer von Dr. Hagen Wolfram führte. Seine Bürotür stand einige Zentimeter offen, und Katja bemühte sich, so leise wie möglich zu der kleinen Sitzecke zu schleichen, um das Gespräch zwischen Hagen und seinem Besucher nicht zu stören.

Schon nach kurzer Zeit runzelte Katja nachdenklich die Stirn. Sie kannte die Stimme des Mannes, der sich gerade mit Hagen unterhielt, und es dauerte nicht lange, bis sie wusste, wem sie gehörte.

»Herr Lange, mir gefällt die Sache genauso wenig wie Ihnen«, sagte Hagen in diesem Moment. »Aber nun haben wir sie eingerührt und sollten sie auch zu Ende bringen. Frau Seidel ist die beste Option, die wir zurzeit haben.«

»Wir sollten endlich aufhören, dabei nur an den Erfolg unserer Ermittlungen zu denken«, gab Björn Lange gereizt zurück. »Wir bringen Frau Seidel in Gefahr, wenn sie weiterhin als Informantin für uns in der Galerie tätig ist. Schlimmer noch, sie bringt sich selbst immer wieder in Gefahr, weil sie meint, dass sie uns irgendwelche Beweise schuldig sei.«

»Für diesen übertriebenen Ehrgeiz können Sie nicht uns verantwortlich machen«, erwiderte Hagen kühl. »Außerdem war ich es doch wohl, der als Einziger gegen diese verdeckte Ermittlung gestimmt hatte. Sie und Herr Burmeister waren doch so begeistert davon gewesen. Nicht ich.«

»Ja … Ja, das weiß ich doch! Ich habe meine Meinung eben geändert. Wir müssen damit aufhören, Herr Wolfram. Unbedingt!«

»Kann es sein, dass das alles zu persönlich für Sie geworden ist?«

Björn antwortete nicht darauf, sondern starrte den Staatsanwalt mit unbewegter Miene an. Der schüttelte bedauernd den Kopf.

»Das hätte nicht passieren dürfen. Ihre Gefühle haben hier nichts suchen.«

»Und trotzdem sind sie da. Ich kann es nicht ändern, und das will ich auch nicht. Das Einzige, das ich will, ist Steffis Sicherheit. Deshalb bitte ich Sie, beenden Sie diese Aktion!«

»Sie wissen, dass das nicht so einfach ist. Sie steckt da jetzt mit drin, und daran lässt sich nichts ändern. Es würde überhaupt nichts bringen, wenn ich ihr sage, dass wir ihre Dienste nicht mehr benötigen. Sie würde trotzdem weitermachen und nach allem Ausschau halten, was Kaminski überführen könnte. Vielleicht nicht bewusst, aber sie würde es tun. Ist es da nicht besser, wenn wir es so lassen, wie es ist? So wären Sie wenigstens weiterhin in ihrer Nähe und könnten auf sie aufpassen.«

Katja hörte Stühlerücken, und kurz darauf kamen Björn Lange und Hagen aus dem Nebenzimmer heraus. Beide erstarrten, als sie sahen, dass es eine Zuhörerin gegeben hatte.

Hagen fand als Erster seine Sprache wieder: »Katja, was machst du denn hier?«

»Frag mich doch lieber, was du wirklich wissen willst«, erwiderte Katja frostig. »Nämlich, wie viel ich von dem Gespräch mitbekommen habe!«

»Ich glaube, ich werde hier nicht mehr gebraucht.« Björn Lange beeilte sich, den Raum zu verlassen. Hagen sah aus, als wäre er ihm am liebsten gefolgt.

Er setzte sich zu Katja. »Das Gespräch war nicht für deine Ohren bestimmt. Ich hoffe, ich kann mich darauf verlassen, dass du über alles, was du mitbekommen hast, Stillschweigen bewahrst.«

»Deine einzige Sorge ist, dass ich etwas ausplaudern könnte?«, fragte Katja ungläubig nach.

»Ja, was sonst?« Hagen sah sie verwirrt an.

»Du solltest dir lieber um Steffi Seidel Sorgen machen! Wie kannst du sie nur so in Gefahr bringen?«

»Katja, bitte übertreib jetzt nicht. Für Frau Seidel besteht keine Gefahr. Ihr Chef ist zwar alles andere als ein rechtschaffener Bürger, aber er ist kein Gewaltverbrecher.«

»Kannst du dafür garantieren?«

Hagen sprang auf und wanderte im Büro umher. »Es gibt für nichts eine Garantie. Das weißt du doch! Aber manchmal lassen sich gewisse Risiken nicht völlig vermeiden. Das ist in diesem Job nun mal so!«

»In deinem vielleicht oder in dem von Björn Lange. Aber nicht in Steffis! Dass er für sie zu einer Gefahr wurde, habt ihr allein zu verantworten.«

»Katja, bitte, versuch doch, mich zu verstehen! Wenn es eine andere Möglichkeit geben würde, um Roman Kaminski das Handwerk zu legen, würde ich es tun. Aber so … Ich greife inzwischen nach jeder Chance, die sich mir bietet.«

»Und dein Gewissen bleibt dabei auf der Strecke?«, wollte Katja traurig wissen.

»Ich bin nicht gewissenlos«, erwiderte Hagen entrüstet. »Und langsam habe ich die Nase voll davon, dass du mich für das, was ich hier täglich leiste, auch noch verurteilst! Du tust gerade so, als wäre ich der Verbrecher und nicht solche Typen wie Kaminski.«

»Das ist Blödsinn! Ich kann nur nicht verstehen, wie du Steffi da reinziehen konntest und jetzt nichts unternehmen willst, um es zu beenden.« Katja stand auf und ging zu Hagen. »Und ich kann auch nicht verstehen, dass du es vor mir verheimlicht hast«, fuhr sie fort.

»Weil es dich nichts angeht. Ich darf Berufliches und Privates nicht miteinander vermengen.«

»Auf einmal? Wie war das denn an dem Samstag, als wir auf der Vernissage waren? Du hast mir gesagt, du willst mehr Zeit mit mir verbringen. In Wahrheit warst du dort als Staatsanwalt, um Kaminski auf die Finger zu schauen. Hab’ ich recht?«

Hagen schwieg. Aber in seinem Gesicht arbeitete es. Und als Katja in seine Augen blickte, konnte sie die Wahrheit darin erkennen.

»Dann stimmt es also«, sagte sie verletzt. Sie spürte den Kloß, der sich in ihrem Hals bildete. Er war das erste Anzeichen dafür, dass sie gleich in Tränen ausbrechen würde. Hastig wandte sie sich ab. Auf ihrem Weg zur Tür betete sie still, dass Hagen sie aufhalten würde. Doch er ließ sie gehen.

*

»Bevor Sie uns verlassen, wollte ich mich wenigstens von Ihnen verabschieden, Herr Stegler.«

Daniel reichte seinem Patienten die Hand. Lothar Stegler war vor zwei Wochen mit einem schweren Herzinfarkt in die Behnisch-Klink gekommen. Eine Zeitlang hatte es sehr schlecht um ihn gestanden. Und selbst Daniel war es manchmal schwergefallen, noch an eine Genesung zu glauben. Doch Lothar Stegler hatte alle überrascht. Er hatte den Infarkt gut überstanden und würde nun mit der Reha beginnen.

»Ich bin Ihnen so dankbar, Dr. Norden. Wenn Sie nicht gewesen wären, wer weiß, ob es mich dann überhaupt noch geben würde.«

»Ich war nur einer von vielen. Und letztendlich hat Ihr Körper den Löwenanteil geleistet. Sie haben sich außergewöhnlich schnell erholt.«

»Ja, mir geht es wirklich sehr gut. Am liebsten würde ich gleich morgen wieder arbeiten gehen.«

»Damit warten Sie lieber noch ein paar Wochen. Sie fahren jetzt erst mal zur Reha. Dort werden Sie mit einem Bewegungstraining langsam wieder an Belastungen herangeführt. Überstürzen Sie nichts! Alles braucht seine Zeit.«

»Keine Sorge, Dr. Norden.« Angela Stegler strich ihrem Mann über den Arm. »Ich werde gut auf ihn aufpassen und ihn bremsen, falls er es übertreiben sollte. Ich bin ja froh, dass ich meinen Lothar noch habe.«

Daniel sah dem Ehepaar nach, als es Hand in Hand die Klinik verließ. In solchen Augenblicken wusste Daniel wieder, warum er sich für diesen Beruf entschieden hatte. Menschenleben zu retten und Krankheiten auszumerzen, konnte es etwas Schöneres geben?

Fast hätte es ein kleines, verstopftes Blutgefäß am Herzen geschafft, dieses liebende Pärchen auseinanderzureißen. Von einer Sekunde auf die andere hätte sich alles geändert, und das Leben, wie man es kannte, wäre vorbei gewesen. Daniel musste plötzlich an Fee denken. Die Vorstellung, dass sie irgendein schwerer Schicksalsschlag trennen könnte, tat so weh, dass er für einen Moment die Augen schloss und tief durchatmete. Die Sehnsucht nach Fee war so groß, dass er nicht wie geplant auf die Innere ging, sondern einen kleinen Abstecher in die Pädiatrie machte. Er musste Fee jetzt einfach sehen und sich vergewissern, dass alles in Ordnung war.

Er fand sie auf der Neugeborenenstation. Noch hatte sie ihren Ehemann, der sie lächelnd durch eine Glasscheibe betrachtete, nicht bemerkt.

In ihren Armen lag ein erst wenige Tage altes Baby, das sie sanft hin und her wiegte. Als sie aufsah und Daniel entdeckte, verstärkte sich das Strahlen in ihren wunderschönen, tiefblauen Augen. Vorsichtig legte sie das schlafende Kind zurück in sein Bettchen und kam zu Daniel hinaus.

»Was machst du hier, Dan?«, fragte sie weich.

Daniel zog sie zärtlich in seine Arme. Es war ihm egal, dass sie hier auf dem Flur nicht ungestört waren.

»Ich hatte Sehnsucht nach dir, Feelein«, sagte er und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. »Es wird heute spät werden, ehe ich nach Hause komme. Solange wollte ich nicht auf diesen Kuss warten.«

Fee lehnte ihren Kopf an seine Brust. »Es ist schön, dass du gekommen bist. Du weißt, wie sehr ich mich darüber freue.«

»Ich störe also nicht?«, fragte er lächelnd.

»Du störst nie, mein Schatz. Hast du ein paar Minuten Zeit? Wir könnten uns in den Pausenraum setzen und uns unterhalten.«

Der Aufenthaltsraum war leer, der Kaffee frisch und heiß, und seine Fee war bei ihm. Daniel Norden wusste, dass er ein sehr glücklicher Mann war.

»Wolltest du über etwas Bestimmtes mit mir reden?«, fragte er. »Oder wolltest du mich einfach nur noch ein wenig länger in deiner Nähe haben?«

»Natürlich Letzteres«, erwiderte Fee lächelnd. »Aber bei dieser Gelegenheit kann ich dich ja gleich mal nach Katja fragen. Sie machte heute einen sehr bedrückten, fast traurigen Eindruck auf mich. Als ich sie deswegen ansprach, hat sie abgewiegelt. Weißt du vielleicht etwas?«

Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, aber es mir auch aufgefallen, dass etwas nicht stimmt. Eigentlich schon länger. Dass sie jeden Tag lange vor Arbeitsbeginn im Büro ist, fand ich schon immer etwas bedenklich. Doch inzwischen wird es auch abends recht spät. Gerade so, als wollte sie nicht nach Hause gehen.«

Fee nickte. »Wenn niemand zu Hause auf einen wartet, fühlt man sich im Büro vielleicht nicht ganz so einsam.«

»Einsam? Was ist denn mit Hagen?«

»Hagen arbeitet fast rund um die Uhr. Es wäre schön, wenn du mal mit Katja reden würdest. Ich schaffe es heute leider nicht mehr.« Sie beugte sich vor und küsste ihren Mann. »So wie es aussieht, wird es heute bei uns beiden spät werden. Umso mehr freue ich mich, dass du vorbeigekommen bist.«

In den nächsten Stunden pendelte der Chefarzt der Behnisch-Klinik zwischen den Stationen, dem OP und der Verwaltung hin und her. Und während sich seine Mitarbeiter in ihren wohlverdienten Feierabend verabschiedeten, zog er sich mit Erik Berger, dem Leiter der Notfallambulanz, in sein Büro zu einer Besprechung zurück.

Daniel betrachtete den Dienstplan der Ambulanz auf dem Computerbildschirm. Hier gab es keine weißen Lücken, alle Wochenenden und die Bereitschaftsdienste waren besetzt.

Er wusste, das lag vor allem daran, dass Berger nichts dagegen hatte, sich selbst für die meisten Dienste zu verpflichten.

Es gab sicher Chefärzte, denen das sehr entgegenkam, wenn der Abteilungsleiter so viel Einsatz zeigte. Aber Daniel machte es sich nicht so einfach. Ihm war es wichtig, dass jeder Mitarbeiter genügend Freizeit hatte, um sich von der anstrengenden Arbeit in der Klinik erholen zu können.

»Den Dienstplan genehmige ich, sobald Sie ein paar kleine Änderungen vorgenommen haben, Herr Berger.«

»Wie bitte? Was passt Ihnen denn nicht?«

»Mir passt nicht, dass Sie anscheinend an jedem Wochenende im Dienst sind. Von den unzähligen Doppeldiensten ganz zu schweigen. Geben Sie wenigstens ein Wochenende ab und sorgen Sie dafür, dass Ihre unseligen Doppeldienste verschwinden. Die soll es nämlich nur in Notsituationen geben und nicht regulär.«

Berger setzte zum Protest an, doch Daniel kam ihm zuvor. »Herr Berger, darüber werde ich nicht mit Ihnen diskutieren. Als Ihr Chef trage ich auch die Verantwortung für Ihr Wohlergehen. Und das sehe ich in Gefahr, wenn Sie sich nur noch in der Klinik aufhalten. Korrigieren Sie den Plan, und dann sprechen wir weiter. Und nun kommen wir zum letzten Punkt: Haben Sie die Abschlussbeurteilungen der Medizinstudenten überarbeitet?«

»Klar!«, knurrte Erik. »Damit waren Sie ja auch nicht einverstanden. Angeblich waren die Beurteilungen nicht nett genug.«

Daniel seufzte. »Mir ging es dabei nicht um nette Formulierungen. Das wissen Sie ganz genau. Ich habe von Ihnen nur verlangt, dass Sie diese jungen Menschen, die ganz am Anfang ihrer Ausbildung stehen, fair und realistisch einschätzen. Sie können bei ihnen nicht die gleichen Leistungen wie bei einem Assistenzarzt voraussetzen.«

»Das mache ich doch gar nicht«, regte sich Berger auf. »Es ist mir völlig klar, dass sie einen anderen Kenntnisstand besitzen. Aber ich erwarte von ihnen die Bereitschaft und den festen Willen, sich reinzuknien und alles zu tun, damit aus ihnen vernünftige Ärzte werden können. Und wenn sie dazu nicht bereit sind, können sie keine Einser-Beurteilung von mir erhalten.«

»Natürlich nicht«, erwiderte Daniel müde. »Trotzdem könnten Sie die Beurteilungen so schreiben, dass die Studenten beim Lesen keinen Weinkrampf bekommen.«

»Das ist nur ein einziges Mal passiert! Kein Grund, sich deswegen so aufzuregen! Und dass sie sich dann zu einem Sitzstreik vor Ihrem Büro zusammengeschlossen haben, zeigt nur, wie unreif und kindisch sie sind.«

»Das war kein Sitzstreik. Sie hatten sich bei mir einen Termin geben lassen. Leider mussten sie hier zwei Stunden auf mich warten, weil ich noch im OP zu tun hatte.«

»Sag ich doch: Sitzstreik!«

Daniel gab auf. Er würde es nicht schaffen, die Meinung seines Mitarbeiters zu ändern. Zumindest nicht zu dieser späten Stunde.

»Wir machen für heute Schluss, Herr Berger«, bestimmte er deshalb und nahm dem Notfallmediziner die Mappe mit den Beurteilungen aus der Hand. »Das lese ich mir morgen durch. Jetzt, um kurz nach acht, habe ich einfach nicht mehr die Nerven dafür.«

Achselzuckend stand Berger auf.

»Wie Sie wünschen, Chef.« Mit einem knappen Kopfnicken verabschiedete sich Erik Berger und verließ das Büro. Doch wenn Daniel dachte, dass das Kapitel Berger für heute abgeschlossen war, so hatte er sich geirrt.

»Was machen Sie denn noch hier?«, hörte er dessen barsche Stimme. »Ist man denn nie vor Ihnen sicher? Haben Sie kein Zuhause? Wollen Sie hier nun auch noch Ihr Nachtlager aufschlagen?«

Daniel war schon bei den ersten Worten aufgesprungen und ins Vorzimmer geeilt. Katja Baumann, seine fleißige und eigentlich immer gut gelaunte Assistentin, saß hinter ihrem Schreibtisch und sah Erik Berger so niedergeschlagen an, dass Daniel befürchtete, sie würde gleich in Tränen ausbrechen.

»Herr Berger, wollten Sie nicht gehen?« Auch Daniel hatte jetzt seine Stimme erhoben. Überrascht sah Berger von ihm zu Katja.

»Was ist denn hier los? Seit wann müssen Sie für Ihre sonst so streitbare Perle in die Bresche springen?«

»Auf Wiedersehen, Herr Berger«, sagte Daniel so eisig, dass Berger entschied, den Rückzug anzutreten. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, nahm sich Daniel einen Stuhl und setzte sich zu seiner Assistentin.

»Also, Frau Baumann, was ist los? Wollen Sie es mir nicht endlich erzählen?«

»Es ist alles in Ordnung«, schniefte sie so leise, dass Daniel sie kaum verstehen konnte.

»Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Normalerweise hätten Sie auf das unverschämte Benehmen Bergers nicht so eingeschüchtert reagiert. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass es zwischen Ihnen und Herrn Wolfram Ärger gibt.«

Katja nickte. Es hatte keinen Zweck, es zu leugnen. Ihr Chef war ein guter Menschenkenner und ahnte es ohnehin bereits. Außerdem war Katja ein wahrheitsliebender Mensch und hielt nichts vom Schwindeln. Deshalb konnte sie es auch nicht verstehen, warum Hagen sich auf ein Spiel voller Lügen und Täuschungen eingelassen hatte.

»Es hängt mit einem Fall zusammen, den Hagen bearbeitet. Sie verstehen bestimmt, dass ich darüber gar nicht reden darf. Ich bin ja auch nur durch Zufall darauf gestoßen.«

»Fee würde jetzt bestimmt sagen, dass es keine Zufälle gibt. Womöglich sollte es ja so sein. Aber egal, ob Zufall oder Schicksal, Sie sollten es sich unbedingt von der Seele reden. Ich sehe doch, wie sehr es Sie belastet.«

Katja haderte mit sich. Einerseits war sie natürlich Hagen verpflichtet, aber andererseits …

Diese Geheimniskrämerei tat ihr nicht gut. Und dass sich Hagen seit dem Streit in seinem Büro nicht mehr bei ihr gemeldet hatte, belastete sie und machte sie traurig. Sie hatte so sehr gehofft, dass er am Wochenende vorbeikommen würde, doch sie hatte allein in ihrer Wohnung gesessen und verzweifelt auf ein Lebenszeichen von ihm gewartet. Warum also sollte sie noch weiter auf das, was er wollte, Rücksicht nehmen?

Außerdem machte sie sich Sorgen um Steffi Seidel. Mit dieser Sorge wollte sie nicht länger allein bleiben. Wenn sie nicht mit Hagen darüber sprechen konnte, dann würde es eben ihr Chef sein. Und bevor sie es sich anders überlegen konnte, schüttete sie Daniel Norden das Herz aus und sagte ihm, was sie bedrückte.

Daniel gefiel gar nicht, was ihm seine Assistentin erzählte. Die Kriminalpolizei brachte zusammen mit Hagen Wolfram eine unbeteiligte Zivilistin mit einer verdeckten Ermittlung in Gefahr? Nach seinem Verständnis hatte das nichts mit guter, verantwortungsvoller Polizeiarbeit zu tun. Auch wenn es natürlich wichtig war, kriminellen Banden das Handwerk zu legen. Aber so?

»Frau Baumann«, begann er sehr ernst, »bei der Sache kann ich nicht tatenlos zusehen. Das verstehen Sie doch sicher.«

Erschrocken sah Katja ihren Chef an. »Was haben Sie denn vor?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich weiß nur, dass das, was hier läuft, nicht gut ist. Weder für Frau Seidel noch für Sie.« Daniel stand von seinem Stuhl auf. »Heute werden wir nichts mehr unternehmen. Sie machen jetzt endlich Schluss und fahren nach Hause. Versuchen Sie, zur Ruhe zu kommen und zu schlafen. Morgen sehen wir dann weiter.«

*

Björn Lange wartete vor der Schule, in der Steffi heute einen zusätzlichen Malkurs gab. Es gehörte inzwischen zu seinem festen Tagesablauf, sie zur Galerie oder zu ihren Kursen zu fahren, um sie im Anschluss wieder abzuholen. Es gefiel ihm, und manchmal vergaß er sogar, dass das alles nicht echt war, und er den fürsorglichen Freund nur spielte.

Als Steffi aus der Schule kam und ihn entdeckte, lächelte sie ihn so glücklich an, dass es Björn wie Schuppen von den Augen fiel: Sie empfand genau wie er. Auch für sie war die kleine Scharade wahr geworden.

Er stieg aus dem Auto und lief auf sie zu. Diesmal begnügte er sich nicht damit, sie flüchtig auf die Wange zu küssen.

Er umfasste sanft ihr Gesicht und küsste sie auf den Mund. Mit diesem Kuss offenbarte er ihr seine Gefühle.

Und als Steffi ihre Arme um seinen Hals schlang und den Kuss erwiderte, jubelte sein Herz.

»Das war nicht geplant«, sagte er später leise.

»Was? Dieser Kuss?«

»Nein, dass ich mich in dich verlieben würde.«

»Das hatte ich auch nicht geplant, aber es ist trotzdem passiert«, erwidert Steffi lächelnd. Sie war so unsagbar glücklich. Björn hatte sie geküsst und ihr seine Liebe gestanden. Doch sein ernstes Gesicht und die steile Falte, die sich zwischen seine Augenbrauen geschoben hatte, machten ihr Sorge.

»Wir müssen das unbedingt beenden, Steffi«, beschwor er sie.

Augenblicklich ließ sie ihn los und rückte enttäuscht von ihm ab. Sofort zog Björn sie in seine Arme zurück.

»Ich meinte nicht uns, mein Liebling, sondern die Sache mit Kaminski. Seit Tagen denke ich darüber nach. Ich möchte nicht, dass du da weiterarbeitest, Steffi.«

»Ich soll aufhören? Aber ich habe doch noch gar nichts herausbekommen!«

»Das ist mir völlig egal. Aber du und deine Sicherheit sind mir nicht egal. Gib noch heute deine Kündigung ab und überlass die Ermittlungsarbeit den Profis. Das Ganze war von vornherein eine miese Idee gewesen.«

»Auf einmal? Das hatte sich damals aber ganz anders angehört. Was hat sich plötzlich geändert?«

»Ich habe mich geändert, Steffi. Ich habe mich in dich verliebt und kann es nicht ertragen, dich dort in Gefahr zu wissen.«

»Aber …«

»Nein, mein Liebling, dein Einsatz dort ist beendet.« Björn küsste sie zärtlich auf die Nasenspitze. »Und das mit uns fängt jetzt erst richtig an.«

Schweren Herzens setzte Björn die Frau, in die er sich unverhofft verliebt hatte, vor der Galerie ab. Er hatte zugestimmt, dass sie diesen einen letzten Spätdienst noch machen würde.

»Ich kann das Frau Werner nicht antun«, hatte Steffi gesagt. »Wenn ich heute schon ohne Vorwarnung ausfalle, muss sie meinen Dienst übernehmen. Wer soll dann auf ihr Enkelkind aufpassen?«

Björn fiel es nicht leicht, Steffi gehenzulassen. »Mach bitte nichts Unüberlegtes. Versprichst du mir das?«

»Mir passiert schon nichts. Keine Sorge. Das wird heute genauso ein langweiliger Spätdienst werden wie an den anderen Tagen auch.«

Steffi meinte ihre Worte ernst. Sie konnte nicht wissen, was dieser Abend für sie bereithielt.

Dabei begann ihr Dienst ganz harmlos. Frau Werner verabschiedete sich von ihr, kaum dass Steffi ihre Jacke abgelegt hatte. Kaminski war unterwegs und würde heute – so Frau Werners Meinung – wohl nicht mehr in die Galerie kommen. Nicht ein einziger Kunde ließ sich blicken, und Steffi langweilte sich. Sie überlegte kurz, noch einmal Kaminskis Büro zu durchsuchen. Doch diese Idee verwarf sie schnell. Nicht nur, weil es nichts bringen würde, sie hatte auch Björn versprochen, kein Wagnis einzugehen.

Bei dem Gedanken an Björn lächelte sie glücklich und verlor sich wieder einmal in ihren Tagträumen. So bekam sie erst spät mit, dass ihr Chef über den Hofeingang die Galerie betrat. Diesmal war er nicht allein. Er wurde von zwei Männern begleitet, die so finster und undurchsichtig aussahen, dass Steffi sofort vermutete, keine braven Bürger vor sich zu haben.

Ohne Steffi zu beachten, marschierte Kaminski mit den Besuchern in sein Büro. In den nächsten zwei Stunden bekam sie die Männer nicht mehr zu Gesicht. Erst kurz vor Feierabend kamen sie wieder heraus. Sie verließen diesmal die Galerie durch die Vordertür. Vor dem Haus stand eine große, schwarze Limousine, in die sie einstiegen und fortfuhren.

Sofort witterte Steffi ihre Chance, doch noch etwas Wichtiges herauszubekommen. Sie machte sich nicht die Mühe, in Kaminskis Büro zu gehen, sondern lief stattdessen zur Hintertür. Sie lauschte kurz und schloss dann die Tür auf. Auf dem Hof stand ein großer, schwarzer Lieferwagen, den sie hier nie zuvor gesehen hatte. Ein paar Sekunden verweilte sie an der Hoftür und horchte in die Dunkelheit hinein. Vorsichtig, sich nach allen Seiten umsehend, wagte sie es schließlich hinzugehen.

Es war ein geschlossener Kastenwagen, der keine Seitenscheiben besaß. Schade, sie hätte zu gern einen Blick hineingeworfen. Angestrengt dachte sie nach. Sollte sie wieder zurückgehen? Aber was sollte sie dann später Björn sagen? Dass im Hof ein Transporter stand? Das allein reichte sicher nicht für einen Durchsuchungsbeschluss aus. Und überhaupt, bevor der ausgestellt wurde, war der Transporter bestimmt längst über alle Berge. Wenn sie doch wenigstens wüsste, was in dem Wagen war …

Noch ein kurzes Zögern, dann tastete sie nach dem Griff der Seitentür. Ihr Herz setzte kurz aus, als sie merkte, dass sie unverschlossen war. So leise, wie es bei einer Metalltür überhaupt möglich war, schob sie sie auf. Sie ärgerte sich, dass sie vergessen hatte, eine Taschenlampe mitzunehmen. Doch sie erkannte auch so, dass sich in dem Transporter viele Holzkisten befanden. Steffi kannte solche Kisten. Sie wurden für die Lagerung oder den Transport von Gemälden und anderen Kunstwerken genutzt.

»Steffi?«

Sie zuckte zusammen, als sie Björns leises Rufen hörte. Als sie einen Blick zurückwarf, sah sie ihn in der hell erleuchteten Hoftür stehen.

»Hier! Ich bin hier!«, rief sie genauso leise zurück.

Nur Augenblicke später stand er neben ihr. »Was zum Teufel machst du hier?«, knurrte er ärgerlich und starrte in das Wageninnere.

»Wir haben endlich die Beweise, Björn! Ich wette, dass die Kisten voller Diebesgut sind. Nun können wir …«

Björn presste ihr eine Hand auf den Mund.

»Psst!«, zischte er ihr panisch zu. Und im selben Moment hörte sie es auch: Kaminski war mit seinen Männern zurückgekehrt!

»Los, versteck dich!« Björn hob sie hoch und schob sie in den Transporter. Sofort suchte Steffi hinter einer hohen Kiste Schutz. Die Geräusche, die kurz darauf von draußen zu ihr drangen und nach einem Kampf klangen, machten ihr schreckliche Angst. Die stieg ins Unermessliche, als die Tür des Transporters mit Schwung zugeschmissen wurde und sie nun in völliger Dunkelheit saß. Plötzlich startete der Motor, und der Wagen fuhr los.

*

Daniel hatte sich gedacht, dass er Hagen Wolfram noch im Gericht antreffen würde.

»Dr. Norden!« Hagen sah seinen späten Besucher überrascht an.

»Guten Abend, Herr Wolfram. Haben Sie einen Moment Zeit für mich?« Leise mahnend fügte er hinzu: »Gönnen Sie sich mal eine kleine Pause. Sie sehen aus, als könnten Sie eine gebrauchen.«

»Ja … Das ist vielleicht eine gute Idee.« Selbst Hagen fiel auf, wie erschöpft er sich anhörte. Wahrscheinlich sah man ihm auch an, dass er kaum noch schlief.

»Es gibt auf dem Flur einen Kaffeeautomaten. Wenn Sie möchten …«

Daniel winkte ab und zeigte zu der Wasserflasche und den Gläsern, die auf dem Tisch in der Besprechungsecke standen. »Ein Glas Wasser reicht mir völlig. Mein Kaffeekonsum ist ohnehin viel zu hoch und Ihrer sicher auch.«

Als sie sich gegenübersaßen, sagte Daniel: »Sie können sich bestimmt schon denken, warum ich hier bin.«

Hagen sah ihn müde an, dann nickte er. »Katja hat mit Ihnen gesprochen. Habe ich recht?«

»Ja, ich habe sie so lange bedrängt, bis sie es endlich getan hat. Es blieb mir nämlich nicht verborgen, wie sehr sie leidet. Herr Wolfram, ich bin nicht hier, um Ihnen Beziehungstipps zu geben. Das kann meine Frau viel besser als ich. Ich wollte Ihnen nur sagen, wie schade es ist, dass Sie es nicht schaffen, Ihre Probleme in den Griff zu bekommen. Jemanden zu finden, den man tief und aufrichtig liebt, ist keine Selbstverständlichkeit. Dieses Geschenk muss man hüten und bewahren.«

Hagen fuhr sich mit einer Hand über die brennenden Augen. »Zurzeit … Es ist alles ziemlich kompliziert. Die Arbeit häuft sich, und es ist so stressig, dass ich gar nicht weiß, wo mir der Kopf steht. Sobald hier wieder Ruhe eingekehrt, bringe ich das mit Katja in Ordnung.«

»Sie sollten nicht so lange warten, bis es irgendwann mal in Ihren Terminkalender passt und die Arbeit nicht so drängelt. Wenn Sie das immer wieder verschieben, kann es irgendwann zu spät sein.«

Hilflos wies Hagen auf die vielen Aktenberge, die sich überall türmten. »Sehen Sie sich doch nur um, Herr Norden. Das sind alles Fälle, die ich gleichzeitig bearbeiten muss. Und das stört mich noch nicht mal, weil ich meinen Job liebe. Natürlich liebe ich auch Katja, aber manchmal weiß ich einfach nicht, wie ich alles unter einem Hut bekommen soll. Können Sie das verstehen?«

»O ja, vielleicht besser, als Sie denken. Mir geht es doch nicht anders. Auch ich liebe meinen Beruf. Und trotzdem ist meine Frau das Wichtigste in meinem Leben. Ohne meine Liebe zu Fee könnte ich in meinem Beruf nicht so gut sein, wie ich es bin. Sie ist diejenige, die mich erdet und die mir durch ihre Liebe die nötige Kraft für meine Arbeit gibt. All das kann Ihnen Katja auch schenken. Sie sollten nicht darauf verzichten, Herr Wolfram!«

Seine Worte drangen zu Hagen durch. Das konnte Daniel sehr gut am Mienenspiel des Mannes ablesen.

»Ich werde mich mit Katja aussprechen«, sagte Hagen schließlich. »Und ich werde alles tun, damit wir das hinbekommen. Ich liebe Katja. Sie zu verlieren, könnte ich nicht ertragen.«

»Sehr gut! Und nun kommen wir zum nächsten Problem, das mich hergeführt hat: Steffi Seidel.«

Hagen winkte ab. »Das ist bereits erledigt. Ich habe vorhin die Anweisung rausgeschickt, dass es keine Zusammenarbeit mehr mit ihr geben wird. Wir werden ihre Dienste nicht mehr in Anspruch nehmen. Ich war ohnehin nicht davon begeistert gewesen und ärgere mich inzwischen, dass ich meine Zustimmung gegeben habe. Die Polizeidienststelle weiß schon Bescheid. Leider konnten sie Björn Lange noch nicht erreichen. Auch Frau Seidel geht nicht an ihr Telefon.«

»Beide sind nicht erreichbar?«, fragte Daniel alarmiert nach. »Und das kommt Ihnen nicht verdächtig vor?«

»Jetzt, wo Sie es sagen …«

Hagen griff zum Telefon und wählte eine Nummer. »Ja, Staatsanwalt Wolfram hier. Bitte schicken Sie sofort einen Streifenwagen zur Wohnung von Frau Seidel und einen zur Galerie. Die Kollegen sollen sich da mal umsehen.«

Hagen legte auf. Er hatte es plötzlich sehr eilig. »Ich muss jetzt leider los, Herr Norden. Die Galerie ist hier in der Nähe. Ich will schnell selbst vorbeischauen.«

»Kein Problem, ich begleite Sie.« Daniel Norden hatte das so bestimmt gesagt, dass Hagen gar nicht auf die Idee kam zu widersprechen.

»Wieso steht die Ladentür offen?«, fragte Daniel besorgt, als sie ankamen.

Hagen erwiderte nichts, sondern stieg hastig aus. Aus der anderen Richtung näherte sich ein Streifenwagen mit Blaulicht. Gemeinsam mit zwei Polizisten ging Hagen Wolfram in die Galerie. Vorher bat er Daniel, in seinem Wagen zu warten.

Es dauerte nur ein paar Minuten, bis ein Polizist aus dem Laden gelaufen kam. »Schnell, Dr. Norden, wir brauchen Ihre Hilfe. Es gibt einen Verletzten.«

Daniel griff nach seiner Arzttasche und folgte dem Beamten auf den Hof der Galerie. Hier fand er Björn Lange auf dem Boden liegend vor. Er war bei Bewusstsein und versuchte mühsam, sich aufzurichten.

»Mir geht’s gut«, sagte er mit schwacher Stimme. »Ihr müsst dem Transporter folgen! Schnell! Steffi ist im Wagen!«

»Wir haben doch schon alles veranlasst, Herr Lange«, entgegnete Hagen. »Beruhigen Sie sich endlich!«

Zu Daniel sagte er leise: »Das geht schon die ganze Zeit so. Er wiederholt sich ständig.«

Daniel untersuchte den jungen Mann zügig. »Haben Sie einen Schlag auf den Kopf bekommen?«

»Ja, kann sein … Ich weiß nicht so genau … Ich glaube, ich war kurz weggetreten. Aber Steffi … Sie müssen Steffi finden. Sie hat sich im Transporter versteckt … Sie sind mit ihr fort … Sie waren zu dritt … Ich hatte keine Chance … Sie haben Steffi …«

»Keine Sorge, Herr Lange. Ihre Kollegen werden Steffi finden und sie zu Ihnen zurückbringen.«

Daniel gab dem Kommissar ein schwaches Beruhigungsmittel. Die Symptome deuteten darauf hin, dass Björn Lange ein leichtes Schädelhirntrauma hatte. Dass sich der junge Mann an alles Wesentliche erinnern konnte, war ein gutes Zeichen und ließ vermuten, dass keine ernsthaften Verletzungen vorlagen. Ein paar Tage Bettruhe, und ihm würde es schnell wieder gutgehen. Im Moment machte sich Daniel um Steffi Seidel mehr Sorgen. Was er aus den wirren Erzählungen herausgehört hatte, beunruhigte ihn. Das durfte er sich seinem Patienten gegenüber natürlich nicht anmerken lassen. Für den angeschlagenen Polizisten war Ruhe nun die beste Medizin.

»Sie kommen jetzt in die Behnisch-Klinik, damit Sie gründlich untersucht werden können. Sobald Steffi gefunden wurde, wird sie zu Ihnen gebracht. Einverstanden?«

»Ich … Ich …« Das Mittel, das Daniel gespritzt hatte, begann bereits zu wirken. Björn Lange schaffte es nicht mehr, die Augen offen zu halten, und schlief schließlich ein.

Als er wieder wach wurde, lag er in einem Klinikbett. Ruckartig setzte er sich auf, als ihm einfiel, was geschehen war.

»Nicht! Bleib liegen!« Steffi eilte an sein Bett und drückte den überraschten Mann sanft in das Kissen zurück.

»Steffi! Du bist hier! Wie … Wann …?«

Lachend erklärte sie ihm alles. »Ich bin schon seit Stunden hier. Aber davon hast du nichts mitbekommen, weil du tief und fest geschlafen hast.«

»Ich hatte solche Angst um dich!«

»Mir ging es doch nicht anders, Liebster. Ich saß da in diesem Transporter und wusste nicht, was sie dir angetan hatten. Zum Glück wurde Kaminskis Wagen schon nach kurzer Fahrt von der Polizei gestoppt. Du hättest mal sein Gesicht sehen sollen, als die Polizisten mich da hinten rausholten. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass ich mich dort versteckt hielt.«

»Und was war nun in den Kisten? Hat sich die ganze Aufregung wenigstens gelohnt? Haben wir nun endlich unsere Beweise?«

Steffi nickte strahlend. »Ja, das war ein voller Erfolg. Der ganze Laderaum war prall gefüllt mit Diebesgut. Kaminski wird mit seinen Kumpanen für die nächsten Jahre ins Gefängnis wandern.«

Björn griff nach ihrer Hand und küsste sie zärtlich. »Bitte versprich mir, dass du nie wieder so leichtsinnig bist und auf eigene Faust Nachforschungen anstellst.«

»Keine Sorge, mein Schatz. Für die nächste Zeit habe ich genug von verdeckten Ermittlungen.«

»Und ich werde dafür sorgen, dass sich daran nichts ändert«, sagte Björn schmunzelnd. »Ich werde sehr gut auf dich achtgeben.«

»Ach ja?«, lächelte Steffi.

Björn nickte. »Ja, für den Rest meines Lebens.«

*

Steffi räumte gerade die Malutensilien in den Schrank, als Fee Norden zu ihr kam.

»Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dass Sie auch heute mit den Kindern malen würden«, sagte Fee zu ihr. »Nach den ganzen Aufregungen.«

»Warum nicht? Björn stört es nicht, wenn ich ihn mal für eine Stunde allein lasse. Außerdem macht mir das hier viel zu viel Freude, als dass ich darauf freiwillig verzichten würde.«

Fee lächelte. »Dann habe ich eine sehr gute Nachricht für Sie, Steffi. Die Klinik bekommt Fördergelder für unser Projekt ›Kunst heilt‹.«

Steffi ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Und was bedeutet das?«, fragte sie atemlos.

»Das bedeutet, dass die Finanzierung einer Vollzeitstelle für die nächsten zwei Jahre gesichert ist. Also, wenn Sie mögen …«

Fee kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden, weil Steffi aufgesprungen war und jubelnd herumhüpfte.

»Mein Mann hatte mich gewarnt«, lachte Fee. »Er meinte, ich soll es Ihnen schonend beibringen, damit Sie nicht so geschockt sind. So wie’s aussieht, ist mir das nicht gelungen.«

Auf den Weg zu ihrem nächsten Termin dachte Fee daran, wie gut es ihre kleinen Patienten mit Steffi Seidel getroffen hatten. Steffi liebte das, was sie tat, und schenkte den Kindern die Freude, die sie selbst bei ihrer Arbeit empfand. Für die Heilung konnte sich das nur positiv auswirken.

Fee war froh, dass Steffi ihr Glück gefunden hatte. Und das nicht nur beruflich. Björn Lange hatte ihr Herz erobert und liebte sie aufrichtig. Ja, mit den beiden stand alles zum Besten. Doch wie sah es bei Katja aus? Fee machte sich Sorgen, seitdem ihr Daniel von Katjas Streit mit Hagen berichtet hatte. Die Hoffnung, dass die beiden jungen Menschen schnell wieder zueinander finden würden, hatte sich leider nicht erfüllt. Denn das traurige Gesicht, mit dem Katja seit Tagen durch die Gegend schlich, verhieß nichts Gutes.

Katja wusste, dass den anderen ihr großer Kummer nicht verborgen blieb. Sie bemühte sich wirklich, sich nicht anmerken zu lassen, wie es in ihrem Innern aussah. Aber sie war noch nie eine gute Schauspielerin gewesen und ahnte deshalb, dass ihr das nicht gelingen würde. Seit sie Hagen im Gericht besucht hatte, wartete sie darauf, dass er sich bei ihr meldete. Und allmählich fiel es ihr schwer, daran zu glauben, dass er es noch tun würde.

Traurig stieg sie an diesem Abend die Treppe zu ihrer kleinen Dachgeschosswohnung hinauf. Sie war so in ihren trüben Gedanken versunken, dass sie den Mann, der auf der obersten Stufe vor ihrer Wohnung saß, erst bemerkte, als sie ihn fast erreicht hatte.

»Hagen!«

Hagen Wolfram stand auf. In seinen Händen hielt er einen riesigen Strauß roter Rosen.

»Hallo, Katja«, sagte er leise.

»Was machst du hier draußen? Du hast doch einen Schlüssel und hättest drin auf mich warten können.«

»Ich wusste nicht, ob ich noch willkommen bin.«

»Du warst immer willkommen. Warum sollte sich daran etwas geändert haben?«

»Weil ich ein ziemlich großer Dummkopf war, dem in der letzten Zeit die Arbeit wichtiger war als die Frau, die er liebt.«

»Tust du das denn noch?«, hauchte Katja. »Liebst du mich noch?«

»Natürlich, Katja!«, rief Hagen aus. Mit einem großen Schritt überwand er die Distanz zwischen ihnen und zog sie in seine Arme. Er atmete erleichtert auf, als er das Lächeln in ihrem schönen Gesicht sah. »Ich werde niemals aufhören, dich zu lieben! Und es tut mir so leid, dass du daran zweifeln musstest. Ich verspreche dir, dass ich alles wieder gut mache. Wenn du mich noch willst.«

Katja lachte glücklich auf. »Ich werde dich immer wollen! Ich liebe dich!«

Hagen küsste sie. Er konnte sein Glück kaum fassen. Die Angst, dass Katja ihn nicht mehr lieben könnte, war gebannt.

»Ich habe so viel falsch gemacht, Katja«, sagte er, als sie engumschlungen auf dem gemütlichen Sofa saßen. »Ich hatte mich so in meiner Arbeit verloren, dass ich vergaß, welcher Schatz hier auf mich wartet. Ich verspreche dir, dass das nie wieder passieren wird.«

»Keine Sorge, mein Liebling«, erwiderte Katja lächelnd. »Ich habe vor, dich oft daran zu erinnern.«

Chefarzt Dr. Norden Box 10 – Arztroman

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