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Der absolute Katastrophenfall: Ein System implodiert
Оглавление„Mich erreichen Telefonate von weinenden Frauen und Männern von den Höfen, die nicht mehr ein und aus wissen. Die sagen: ‚Ich töte meine Schweine, und ich werde mich umbringen.‘ Das ist die Situation Stand gestern auf unseren Höfen in Niedersachsen. Und (…) ich wäre froh, wenn ich diesen Menschen sagen könnte, dass das Schlimmste bereits überstanden ist. Aber genau das kann ich nicht. Meine Erwartung an die Schweinehalter in Niedersachsen ist daher, dass sie jetzt sofort ihre Produktion auf den vermutlich länger anhaltenden Engpass bei der Schlachtung, Zerlegung und Vermarktung anpassen.“ Schon eine Weile schwankt die Stimme der Sprecherin, ihre Augen sind feucht, spätestens jetzt brechen sich Tränen Bahn. „Entschuldigung, aber ich bin ein bisschen angefasst.“ Applaus. Nach schweren Ausbrüchen von Covid-19 in einem zu Vion gehörenden Schlachthof in Emstek und im Tönnies-Schlachthof Weidemark in Sögel drohten beiden die zeitweise Schließung. Was das für die Betroffenen bedeutet, umriss Niedersachsens Landwirtschaftsministerin Barbara Otte-Kinast in ihrer emotionalen Rede am 8. Oktober 2020 im Landtag. Fielen beide Betriebe aus, verlöre das gesamte Bundesland 40 Prozent seiner Schlachtkapazitäten, was wöchentlich 100.000 Schweinen entspräche. Sie machte deutlich, dass der Ausfall nicht durch andere Schlachthöfe in Niedersachsen oder den angrenzenden Bundesländern kompensiert werden könne. Bundesweit haben nach dem schweren Covid-19-Ausbruch im Sommer 2020 am Tönnies-Hauptstandort in Rheda-Wiedenbrück etliche große Schlachtbetriebe ihre Produktion drosseln müssen. Einzelne mussten zeitweise schließen. „Die Ereignisse zeigen, dass die Auswirkungen der Pandemie uns weiterhin massiv betreffen und keinesfalls an ein Weiterso zu denken ist“, sagte Otte-Kinast in ihrer Rede. Am Ende konnten nach rechtlichen Schritten von Tönnies und Protesten der Bauern beide betroffenen Schlachthöfe in Niedersachsen mit strengeren Hygieneregeln und Schutzmaßnahmen – im Falle von Weidemark mit verminderter Kapazität – weiterarbeiten. Die wochenlangen Schließungen waren vom Tisch.
Ein Sinnbild, wie anfällig eine gesamte Branche ist. Kein Wunder, denn sie ist auf wenige Großbetriebe konzentriert. 2019 wurden deutschlandweit 55,16 Millionen Schweine geschlachtet, 44,16 Millionen alleine bei den zehn größten Unternehmen, die damit gemeinsam Marktanteile in Höhe von 80,1 Prozent halten. Die zehn größten Unternehmen sind laut dem Onlinemagazin Fleischwirtschaft in absteigender Aufzählung: Tönnies-Gruppe, Westfleisch, Vion, Danish Crown, Müller-Gruppe, Böseler Goldschmaus, Tummel, Willms-Gruppe, Simon und Manten.1 Das System der Fleischindustrie vom Ferkelerzeuger, über den Mastbetrieb, Schlachthof, die Weiterverarbeitung bis zum Handel ist komplex und zeitlich perfekt aufeinander abgestimmt. Die Produktionsschritte greifen wie Zahnräder in einem Uhrwerk ineinander. Das ist auf der einen Seite durchaus effizient, wenn es darum geht, möglichst große Mengen kostengünstigen Fleisches zu produzieren. Auf der anderen Seite hält uns als Gesellschaft die aktuelle Pandemie in vielen Bereichen den Spiegel vor und zeigt auf, welche Strukturen sich als (relativ) krisensicher erweisen und welche nicht. Im Falle der Fleischindustrie reicht es, wenn wenige Großbetriebe nicht mit voller Leistung produzieren können, um das gesamte System implodieren zu lassen. Die pandemiebedingten zeitweisen Schließungen einzelner großer Schlachtbetriebe und die weitgehend verminderten Produktionsleistungen haben zu einem gigantischen Stau in deutschen Schweineställen geführt. Zeitweise warteten mehr als eine halbe Millionen Tiere bundesweit auf ihre Schlachtung.
Bei einer Schraubenfabrik kann man jederzeit auf den Pauseknopf drücken. Der „Bremsweg“ bei Mastschweinen ist allerdings lang. Elf Monate dauert es in der konventionellen Mast von der Besamung bis zum schlachtreifen Tier. Schweine, die im Frühjahr 2021 geschlachtet werden sollen, wurden bereits geboren. Sie sind da und können nicht einfach weggeworfen oder „zwischengelagert“ werden. Derweil spitzt sich die Situation auf den Höfen zu. Weil sie längst im Schlachthof abgeliefert sein sollten, sind die Schweine mittlerweile schwerer und größer als geplant. Der Platzbedarf ist im effizienten Stall genau berechnet. Spielraum gibt es vielerorts nur eingeschränkt. Mit Tierschutz und Tierwohl ist das nicht mehr vereinbar.
Die Mehrkosten für das längere Füttern treffen auf einen Schlachtpreis für Schweine aus konventioneller Landwirtschaft, der aufgrund des Überangebots längst im Untergeschoss des Kellers wohnt. Jeder Bauernhof muss seine Tiere so schnell wie möglich loswerden. Pro Kilo zahlten Schlachthöfe Ende Februar/Anfang März 2020 noch etwas über zwei Euro. Gegen Ende des Jahres stürzte der Preis auf um die 1,27 Euro ab. Zeitweise lag er sogar darunter, mancherorts wurde von 1,12 Euro gesprochen. In der Sendung Report Mainz nach seiner Gewinnmarge gefragt, gab Landwirt Alfred Tigges zu Protokoll: „Die liegt bei minus 35 Euro. Die Schweine hier, die haben 100 Euro gekostet, 60 Euro Futtergeld. Wenn ich dann 125 Euro, 130 Euro kriege, mache ich 35 Euro Verlust pro Tier.“ Ein anderer Landwirt erklärte: „Also zurzeit machen wir seit Februar (2020 – Anmerkung des Autors) kontinuierlich Verlust mit jedem Durchgang – pro Mastplatz zwischen 70 und 100 Euro. Es geht ans Eingemachte.“2 Das Tier ist nichts mehr wert, die Arbeit der konventionellen Schweinemäster und Ferkelerzeuger auch nicht.
Und wäre die Pandemie nicht schon schlimm genug gewesen, brach unter Wildschweinen in Brandenburg im Jahr 2020 auch noch die hoch ansteckende Afrikanische Schweinepest aus. Vorsorglich verhängten Südkorea, Japan und China einen Importstopp. Gerade nach China ging im ersten Halbjahr 2020 ein Viertel des deutschen exportierten Schweinefleisches. Von heute auf morgen fielen die Zugänge zu wichtigen Absatzmärkten weg.3
Doch wie sieht es in der ökologischen Landwirtschaft aus? Auch wenn es die Bio-Branche oftmals ungern zugibt, ist sie auf mehreren Ebenen mit den großen Schlachtkonzernen eng verwoben. Wohl die wenigsten bewussten Öko-Kunden vermuten, dass die aufgrund der Arbeitsbedingungen seit Jahren stark in die öffentliche Kritik geratene Tönnies-Gruppe Deutschlands größter Produzent von Bio-Schweinefleisch ist. Genaue Schlachtzahlen möchte das Unternehmen auf Anfrage nicht nennen, allerdings betrage der Anteil von Bio-Schweinefleisch zwischen 1,5 und zwei Prozent. „Bio ist keine Frage der Schlachtung und Verarbeitung, sondern der Tierhaltung“, sagte ein Tönnies-Sprecher.4 In den Schlachthöfen wird in Sachen Tötungsvorgang nicht zwischen Tieren aus konventioneller und ökologischer Landwirtschaft unterschieden. Vielerorts sind Landwirte auf die Konzerne angewiesen, weil es je nach Region kaum noch kleine und mittelständische Betriebe gibt – wenn überhaupt. Im direkten Vergleich ist die Bio-Branche winzig: Während 2019 deutschlandweit 5,2 Millionen Tonnen konventionelles Schweinefleisch produziert wurde5, waren es lediglich 30.900 Tonnen Bio-Schweinefleisch. Das entspricht einem Marktanteil von 0,7 Prozent entspricht.6 Im ersten Corona-Jahr zog die Nachfrage nach Bio-Schweinefleisch kräftig an, so dass es einen Umsatzanteil von 3,4 Prozent erreichte. Generell war Bio-Fleisch gefragt wie nie.
Wie sieht also die Situation der Bio-Schweinehalter aus? Stauen sich auch dort die Tiere in den Ställen? Sind kleine und mittelständische Schlachtbetriebe noch zu retten? Wenn ja, wie lassen sie sich wirtschaftlich tragfähig führen und vor Übernahmen durch Konzerne schützen? Bricht gar eine Renaissance regionaler Strukturen an oder erweist sich der aktuelle Diskurs als Strohfeuer? Welche alternativen Wege kann die ökologische Landwirtschaft in puncto Schlachten beschreiten? Welchen Einfluss kann die Bio-Branche mit ihrem vergleichsweise geringen Marktanteil auf das System der Fleischindustrie nehmen? Kann und sollte sich die Bio-Branche von Großkonzernen emanzipieren? Diesen und weiteren Fragen gehen wir in den nächsten Kapiteln nach.