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Meister Körnlein und der Graupelz
ОглавлениеEs ist ein wunderschöner Morgen. Die Luft riecht nach frischem Weizen – ein Geruch, dem Meister Körnlein nicht widerstehen kann. Eine leichte Brise schmeichelt seiner Nase und er erkennt, dass die Zeit der Ernte und somit auch seine Zeit des Körnersammelns gekommen ist.
Der Wind streicht sanft durch die Ähren des Feldes und ein Hauch von Musik entsteht.
Meister Körnlein sitzt in seinem Feldhamsterbau. Er hat es sich in seinem Sessel, einem Erbstück seines Großvaters Willibald, gemütlich gemacht und hört interessiert zu.
Oh, das klingt ja wie die „Ährensymphonie“ von Richard Maus! Was für eine herrliche Musik, denkt er und schiebt sich seine Brille zurück auf die Nase. So fängt der Tag gut an!
Er geht hinüber zu der Glasscherbe, die als Spiegel an der Lehmwand seiner Behausung hängt, und betrachtet darin seine Zähne.
„Die müssten auch mal wieder angeschliffen werden“, murmelt er und macht sich auf den Weg zu seiner Vorratskammer, aus der er einen alten, steinharten Brotkanten holt.
Irgendein Menschenwesen muss das leckere Brot einfach so weggeworfen haben.
Aber warum nur? Das ist doch noch gut!
Meister Körnlein schüttelt den Kopf und beginnt, seine Zähne daran zu schleifen, indem er versucht, das Brot abzunagen. Danach ist er gerüstet. Er setzt seine Mütze auf und schiebt die Nase langsam aus dem Bau.
Draußen ist schönstes Sammelwetter. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau und weit und breit ist kein Feind zu sehen. Meister Körnlein ist guter Dinge. Er läuft im schnellen Zickzack, damit ihn der Bussard Bertram nicht entdeckt, denn um diese Zeit kreist der immer über dem Weizenfeld.
Würde er ihn erwischen, so müsste Meister Körnlein womöglich noch als Futter für die Bussard-Jungen herhalten. Was für ein gruseliger Gedanke!
„Brrrr!“ Meister Körnlein schüttelt sich. Dann sucht er sich eine besonders große und schöne Ähre aus. Er will gerade mit seiner Arbeit beginnen, da nimmt seine feine Nase einen üblen Geruch wahr. Er kennt diesen Mief, aber bevor ihm einfällt, woher, zwickt ihm jemand in den Schwanz.
„Na, Körnlein? Schon so früh bei der Arbeit?“
Meister Körnlein erschrickt und dreht sich langsam um. Er schielt über seine große Brille und erkennt die alte, struppige Wanderratte Graupelz.
„Ja, ja, Graupelz, ich bin doch immer bei der Arbeit. Im Übrigen, sei doch so lieb und nimm deine Pfote von meinem Schwanz, das schickt sich nicht.“
Graupelz ist sichtlich irritiert.
„Auch noch frech werden, was?“, fragt er garstig. „Ich esse zwar meist Früchte und Getreide, aber wenn es sein muss, würde ich auch so einen schmackhaft fetten Hamster verspeisen.“
Auweia, denkt Meister Körnlein und erkennt, in was für einer schlimmen Lage er sich befindet. Denn zu allem Überfluss schiebt sich nun auch noch ein Schatten vor die Sonne, der das Aussehen eines Raubvogels hat. Meister Körnlein weiß sofort: Das kann nur Bertram, der Bussard, sein, der noch immer nach einem Mittagsschmaus für seine Jungen Ausschau hält.
Ich muss eine zündende Idee haben, und zwar schnell, sonst bin ich verloren. Der kleine Hamster überlegt fieberhaft, was er nun tun kann. Einer von beiden wird mich fressen, wenn mir nicht gleich etwas einfällt. Und der Tag hat doch so schön angefangen ...
„He, Graupelz, ist es nicht üblich, dass man vor seinem Tod noch einen letzten Wunsch frei hat?“
Die Ratte legt ihre zerschundene, grindige Nase in Falten.
„Das hab ich ja noch nie gehört! Bei uns kommt man immer gleich zur Sache.“
Er fletscht seine gelben, stinkenden Zähne.
„Igitt! Und mit den unsauberen Beißern willst du mich fressen? Was für eine Verschwendung! Da werde ich dir garantiert nicht schmecken. An deiner Stelle würde ich mir erst einmal die Zähne putzen.“
Bei diesen Worten wird Graupelz erst recht wütend. Er versucht, kurz darüber nachzudenken – was ihm aber ziemlich schwerfallt, denn Denken ist seine Sache nicht. Da verlässt er sich lieber aufsein Bauchgefühl –und das sagt ihm: HUNGER!
„Gut ... Vielleicht hast du ja recht, Körnlein. Ich werde mir jetzt erst einmal die Zähne reinigen, damit du mir auch richtig schmeckst. Warte hier, ich bin bald wieder zurück!“
Meister Körnlein kann gar nicht glauben, wie dumm dieser Graupelz ist. Er schüttelt den Kopfund lacht so laut, dass ihm die Brille fast schon wieder von der Nase rutscht.
Auf einmal hört er hoch oben am Himmel den schrillen Ruf eines Raubvogels und auch der seltsame Schatten vor der Sonne wird immer größer und größer.
Jetzt aber nichts wie weg!
Körnlein fängt an zu rennen, so schnell ihn seine kleinen Füße tragen, und schwupp – verschwindet er wieder in seinem Bau.
„Das ist ja gerade noch mal gut gegangen!“, seufzt er ganz außer Atem und sein kleines Hamsterherz pocht so schnell und heftig, als wollte es aus seiner Brust herausspringen.
Aber es ist geschafft – dank Meister Körnleins List und Raffinesse.
Und Bussard Bertram?
Der bringt seinen Jungen eine alte, struppige Wanderratte zum Mittagessen mit.