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Im Revier

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WENN man ihn – den Geist, den Wiedergänger – so die Straße herunterkommen sieht, an diesem grauen Alltagsmorgen, den Blick erhoben, aber den Körper nicht gestrafft, eher trottend als schreitend, irgendwie bekleidet, aber nicht angezogen, die Haare geschnitten, aber nicht frisiert, dann könnte man ihn für einen Träumer halten, einen Idealisten, Intellektuellen, dessen Gedankenwelt über alle Äußerlichkeiten gesiegt hat. Es ist jedoch ein Trug. Der Deutsche, den wir aus der grauen Masse von Passanten in einer grauen Großstadt herausgegriffen haben, kann in derselben Aufmachung (oder vielmehr Nicht-Aufmachung), mit derselben weltverlorenen Miene genauso gut an seine gestohlene Bürotasse, die Börsenkurse, einen Autokauf oder elektrisierende neue Möglichkeiten des Steuerbetrugs denken. Er ist abwesend, er träumt. Aber dass er träumt, sagt nichts über die Würde seiner Träume. Das gleichgültige Äußere, der seltsam unvorteilhafte Gang, der Mangel an Beobachtung seiner Umgebung, überhaupt der Verzicht auf präsente Haltung, sind weder notwendige noch hinreichende Zeichen von höheren Zielen.

Hier liegt eine Hauptquelle aller Missverständnisse über Deutsche in der Welt. Wenn, sagen wir einmal, Lateinamerikaner einem solchen Tropf begegnen, werden sie sofort geneigt sein, ihn für einen höchst seriösen Menschen zu halten, mit moralischen Prinzipien und von äußerster, vielleicht fast lächerlicher Zuverlässigkeit. Selbstverständlich werden sie ihn nicht ernst nehmen – womöglich als geborenes Opfer sehen. Aber darin könnten sie sich wiederum gefährlich täuschen. Der unelegante Deutsche kann auch ein höchst gerissener Geschäftsmann sein, ein Aufschneider, Hochstapler, Waffenhändler. Überall in der Welt neigt die Tugend dazu, sich in härene Gewänder zu kleiden, nur in Deutschland nicht. Hier gehen alle in Sack und Asche, selbst die giftigste Schlange verzichtet auf ihr buntes Schuppenkleid.

Das muss man wissen, um sich zu orientieren. Die leichtsinnigsten Hallodris (die es bei uns genauso gibt wie andernorts) können ganz graumäusig, in fabelhaft schlechtsitzenden Anzügen oder grotesk verwaschener Freizeitkleidung auf treten. Oberflächlichkeit lässt sich bei Deutschen nicht an der Oberfläche erkennen. Hier ist alles Tarnung, und selbst die Tarnmuster unterscheiden sich kaum. Man könnte sagen, Deutschland ist die Urheimat der Heuchelei, und für einen schreckhaften Moment, in der Bismarckzeit, hat dies auch das Ausland so gesehen, das bisher die Deutschen für die biedersten aller Biedermänner gehalten hatte. Die geradezu überirdische Geschicklichkeit und Tücke Bismarcks öffnete allen die Augen.

Indes wäre es, in gewisser Hinsicht, nicht gerecht, alle Deutschen, und erst recht die heute lebenden, mit der Verlogenheit Bismarcks zu belasten. Im übrigen war er seinerzeit auch nicht gar so schlecht gekleidet wie deutsche Politiker heute, auch nicht so ungeschliffen, als junger Diplomat sogar bewundertes Vorbild internationaler Kollegen. Der Kern der Heuchelei lag und liegt noch immer überhaupt in keiner bewusst gewählten Camouflage. Der Kern liegt in jener Verachtung von Äußerlichkeiten, die vielleicht einmal ein protestantisches Tugendideal war, dann als romantische Innerlichkeit umformuliert wurde und sich schließlich in dem Ideal der Natürlichkeit verschlüsselte.

Nichts könnte dem Selbstverständnis der Deutschen ferner liegen, als sich verstellen zu wollen. Der Zusammenhang bildet sich vielmehr umgekehrt: Gerade weil die Deutschen schon Liebenswürdigkeit und Manieren für Heuchelei halten, für falschen Schein, und deshalb ablehnen, können sie die Heuchelei, die in ihrer Unscheinbarkeit liegt, nicht erkennen.

Der biedere Deutsche ist ein Zivilisationsprodukt, Erzeugnis einer Gesellschaft, die aller Raffinesse misstraut. Das hat nichts mit der brutalen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu tun, in der es gewiss ein Zuviel an Inszenierung, an Kinoeffekten, Militärparaden, Massenaufmärschen und Phantasieuniformen, ganz allgemein an »Lametta« gegeben hat, wie Loriot das in seinem berühmten Sketch genannt hat. Die Graumäusigkeit ist nicht das Ergebnis eines Reinigungsprozesses – eben kein Büßergewand, kein Signal von Läuterung. Es reicht, sich in der ferneren Vergangenheit umzusehen, damit sich ein ähnlicher Befund einstellt – in den Schilderungen Stendhals aus seiner Zeit als napoleonischer Kriegskommissar in Braunschweig oder, noch viel früher, in der ungeschickten Figur, die Liselotte von der Pfalz am Hofe Ludwigs XIV. machte. Die berüchtigten zwölf Jahre der jüngeren deutschen Geschichte müssen nicht herangezogen werden, um in der Gesellschaft der Völker eine gewisse linkische Gestalt auszumachen, die manchmal bewundert, aber selten angesprochen und nie in den heiteren Kreis der anderen gezogen wird. Sie erinnert an den einsamen Streber auf dem Schulhof, dem man gute Noten, aber ebenso allerlei Finsteres zutraut, was er dann auch zuverlässig liefert.

Der Deutsche, wenn er so an einem Alltagsmorgen, sagen wir, die Frankfurter Zeil, die Hamburger Mönckebergstraße, den Berliner Tauentzien oder irgendeine andere dieser trostlos grauen Großstadteinkaufsmeilen entlangtrottet, ist also eine historisch sattsam bekannte Gestalt. Er wird es nicht wissen, er wird sich vielleicht sogar gesteigert modern, zeitgenössisch und fortgeschritten fühlen; wie er denn überhaupt von seiner ferneren Herkunft und näheren Umgebung nur selten Notiz nimmt. Deswegen weicht er auch jetzt, wo sich die Straße langsam und unaufhaltsam mit seinesgleichen füllt, nur selten aus, wenn ihm jemand entgegenkommt.

Streng genommen kommt ihm auch niemand entgegen, sondern immer nur in die Quere. Der Deutsche ist ganz und gar in sich gefangen, das ist der Grund seiner oft behaupteten Rücksichtslosigkeit. Sie ist nicht eigentlich bös’ gemeint – er möchte nur Kurs halten. Man könnte sagen, er bewegt sich auch durch die Zivilisation wie Robinson auf seiner Insel.

Wenn er die Augen höbe – aber er hebt sie nicht –, würden sie auf die Landsleute fallen, die wie er auf dem Weg ins Büro sind und wie er nur Kurs halten, nichts sonst im Schilde führen. Hinter ihnen die Fassaden genauso grauer, genauso schmuckloser Häuser, die entlang der Straßenflucht Kurs halten, Kurs auf die Rendite ihrer Eigentümer. Auch sie wollen nichts anderes als ihre Schuldigkeit tun, keinesfalls irgend etwas darüber hinaus, keine Schönheit, keine Überraschung, keine Freude oder auch nur den anekdotischen Reiz eines überraschenden Erkers entfalten. Diese Gebäude sind vollendete Demut – Demut vor ihrer Funktion, Büros, Geschäfte, Arbeitsplätze zu beherbergen. Es wäre vermessen, ihre armselige Gestalt auf die seinerzeit exquisite Bauhaus-Ästhetik zu beziehen. Nicht die Bauhaus-Architektur hat sich in ihnen verwirklicht, sondern nur der Bauhaus-Gedanke, dass die Form der Funktion zu folgen habe. Darum ist die Form trostlos, weil die Funktion trostlos ist. Sie erschöpft sich darin, Glied in der Kette des Wirtschaftskreislaufes zu sein.

Übrigens entfaltete sich auch in der Bauhaus-Idee das Dogma der Natürlichkeit, mit dem paradoxen Resultat, dass Baukörper von einer Kantigkeit entstanden, die ohne organisches Vorbild sind. Das ist aber kein Widerspruch in der Theorie; der Natürlichkeitsbegriff des Bauhauses ist ganz abstrakt, eine Art Tugendideal ehrlichen Bauens. Organische Formen wären Lüge; die »Natur« des Architektonischen (so etwas wie dessen innere Bestimmung) besteht darin, Gehäuse zu schaffen und keine florale Landschaft.

So ist vieles von dem, was in der deutschen Zivilisation wie eine Kette des Missglückten, Zufälligen, Ungehobelten, wenn nicht Barbarischen erscheint, tatsächlich das Ergebnis tiefen Nachdenkens. Es ist fast tragisch, aber bei all den hässlichen Plätzen, trostlosen Bushaltestellen, unvorteilhaften Brillen und wenig kleidsamen Kleidungsstücken muss immer damit gerechnet werden, dass sie keinem Unvermögen, sondern einer höheren Vernunft, bürokratischen Vorschrift oder sogar raffinierten Berechnung gehorchen. Die grotesk unstrukturierten Hamburger Plätze, eigentlich bloß freigeräumte Straßenkreuzungen, mit ihren zurückgesetzten Eckhäusern, verrutschten Straßenfluchten, sind zum Beispiel keine Kriegsfolge, sondern Folge des Wiederaufbaus und seiner stadtplanerischen Vorgabe, für freie Luftbewegung zu sorgen. Die ist auch entstanden, aber um den Preis seelischer Beklemmung.

Und ähnlich ist auch der Umstand, dass ein Schuh nicht gut aussieht, in deutscher Perspektive kein Makel, sondern nur die vernachlässigenswerte Nebenfolge einer fabelhaft atmenden Sohle oder einer sinnreich verbreiterten Spitze, die das »freie Zehenspiel« ermöglicht, wie eine seinerzeit populäre Werbeaussage lautete.

Das freie Zehenspiel ist geradezu der Inbegriff eines spezifisch deutschen Kalküls, das kaum sonstwo in der Welt und schon gar nicht in romanisch geprägten Kulturkreisen verstanden wird. Wie hätte die einst legendäre Schuhsammlung der philippinischen Staatspräsidentengattin Imelda Marcos zustande kommen können1, wenn sie sich am freien Zehenspiel orientiert hätte? An natürlich gegerbten Ledersandalen, weit geschnitten genug, um Platz für eine schweißabsorbierende Frotteesocke zu haben? Es sind gerade Länder der Dritten Welt, die nicht verstehen, wie der märchenhafte Wohlstand der Deutschen so versessen aufs Praktische, Bequeme oder technisch Befriedigende sein kann, unter Hintanstellung von Eleganz, Schönheit und Stolz. Warum strebt so viel Geld ins Verschrobene?

Die Menschen ärmerer Länder blicken auf deutsche Gewohnheiten mit etwa der Verwunderung, mit der wir einen Mistkäfer seine Mistkugel rollen sehen oder einen Leoparden dabei beobachten, wie er eine Antilope, die sein eigenes Körpergewicht weit übersteigt, auf einen Baum hinaufwuchtet. Was soll die Anstrengung? Muss eine Mistkugel erst perfekt rund sein, um der Nachkommenschaft Schutz und Nahrung zu bieten? Aber wie der Deutsche hat auch der Käfer für alles seine Gründe. Die Kugelform bietet ein Maximum an Rauminhalt bei einem Minimum an Oberfläche, das muss von anderen Lebewesen, die andere Probleme zu lösen haben, nicht verstanden werden. Ebenso wenig wird der Leopard das exklusive Erfahrungswissen erläutern, das ihm sagt, eine mühsam erjagte Antilope sei nur auf dem Baum vor den Hyänen sicher, die sonst alles rauben, was sie selbst nicht erbeuten können.

Und so ist es auch mit den deutschen Seltsamkeiten. Sie gehorchen geheimen Notwendigkeiten, und was man braucht, um sie zu verstehen, ist meistens unsichtbar, eine Gedankenkette, voraussetzungsreich und kompliziert, aber nicht weniger gebieterisch als das angeborene Verhalten der Tiere, im Grunde etwas Vergeistigtes – so sonderbar es angesichts der plump praktischen Resultate klingen mag.

Das freie Zehenspiel beruht auf Metaphysik. Und diese, wie jede Metaphysik, beruht auf einer Reihe ererbter, nicht näher befragter Annahmen, über die Natur des Kosmos, die Bestimmung des Menschen, die innere Balance der Schöpfung – oder was weiß ich. Eine unbequeme, womöglich ungesunde Schönheit hat darin gar keinen Platz. Schönheit muss natürlich und praktisch sein. Leider hält der Deutsche oft auch den Umkehrschluss für wahr: dass Natürliches und Praktisches notwendig schön seien.

Der Deutsche

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