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MEINE LEBENSRETTER: DIE BEATLES

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An das Jahr 1960 habe ich keine guten Erinnerungen. Mein Vater hatte sich in Schulensee, einem Vorort von Kiel, ein Haus bauen lassen. Dorthin zog er mit seiner neuen Frau, und ich musste mit. Schlimm war daran erstens die Umschulung, neue Schule, neue Klasse – davor graute mir. Außerdem war ich gerne ein Großstadtkind und wollte nicht in so einen bürgerlichen Vorort mit gepflegten Vorgärten. Und schließlich wollte ich lieber bei meiner Mutter wohnen; sie war eine lebenslustige Person und verkehrte am liebsten in Künstlerkreisen. Da wurden ständig irgendwelche rauschenden Feste gefeiert – mit Rotwein, Schnaps und Zigaretten, versteht sich. Ich liebte diese Stimmung, mit dem blauem Dunst in der Luft und der Weinlaune der Erwachsenen; ich erinnere mich an volle Aschenbecher und tropfende Kerzen, die auf diesen mit Bast ummantelten Chianti-Flaschen brannten. Wenn das flüssige Wachs am Flaschenhals herunterlief, habe ich gerne damit rumgespielt. Dann sagte meine Mutter manchmal „nich’ kokeln!“ Getrunken wurde außer Chianti meist Kalterersee aus Zwei-Liter-Flaschen. Ich mochte die Leute aus dieser Künstlerszene, mit denen meine Mutter verkehrte, vornehmlich Maler, Grafiker und Bildhauer. Dadurch lernte ich so verrückte Begriffe wie Chromoxidgrün feurig, der Name einer Farbe – wäre auch ein geeigneter Namen für eine Punk-Band. Der Kopf der Künstlerclique war der Maler Werner Rieger, eine charismatische Persönlichkeit und ein geistreicher Philosoph, den ich sehr verehrt und bewundert habe. Er wohnte damals in der Kieler Altstadt, in der Straße Klosterkirchhof, in einem uralten Haus, das später abgerissen wurde. Seine kleine Ein-Zimmer-Behausung war spartanisch eingerichtet und diente gleichzeitig als Atelier. Als ich sie sah, war ich begeistert und wünschte mir, später auch einmal so zu wohnen. Von Werner habe ich viel gelernt – nicht nur philosophische Weisheiten. Zum Beispiel trank er schon gerne mal einen Aquavit, und bevor er ihn kippte, hielt er das Glas hoch und sagte mit lauter Stimme, „Rein Gottes Wort!“ Es hatte immer etwas Andächtiges, wenn er das sagte. Später, als Erwachsener habe ich selbst den einen oder anderen Alkoholrausch erlebt, und es gab da Momente, die würden Japaner als Satori bezeichnen, eine Einheits- oder Gipfelerfahrung. In solchen Momenten musste ich immer an Werner Riegers Trinkspruch „Rein Gottes Wort!“ denken. Der Kater am nächsten Morgen war dann des Teufels Antwort.

Nach der Umschulung kam ich in die dritte Klasse der Uwe-Jens-Lornsen-Schule in Kiel-Hammer; Hammer war ein Nachbarort von Schulensee, und dahin gingen nicht nur wir, die Kinder aus dem gutbürgerlichen Schulensee, sondern auch die Proletarier-Kids aus Hammer, die zum Teil noch in Baracken wohnten. Da gab es dann echte Klassenkämpfe, im doppelten Wortsinn. Ich kann mich noch genau an den ersten Schultag erinnern. Die Hammer-Kids hatten einem von uns aus Schulensee die Mütze geklaut und warfen sie im Klassenzimmer hin und her. Aus Versehen landete sie plötzlich bei mir. Ich gab sie dem Beklauten zurück. Daraufhin kam so ein untersetzter Proletariertyp auf mich zu, rammte mir seine Faust in die Fresse, verletzte sich dabei die Hand und schrie auf, wohingegen mir wie durch ein Wunder nichts passierte. Mein Schutzengel hatte gute Arbeit geleistet: Ich sah wie der Sieger aus, obwohl ich nichts dafür getan hatte. Gleich dieses erste Ereignis verschaffte mir eine gute Position innerhalb der Klassenhierarchie. Aber es ist mir wichtig zu betonen, dass nicht alle Jungs aus Hammer solche Schlägertypen waren, da waren auch prima Kumpels dabei, mit denen ich mich verstanden habe. Und umgekehrt gab es Kids aus Schulensee, die arrogant und eingebildet waren. Ein kleiner Trost oder, besser gesagt, ein großer war, dass es wieder eine gemischte Klasse war. So konnte ich heimlich nach den Mädels schielen und hatte natürlich meine Favoritinnen. Ein Mädchen kam aus Hammer, hatte blonde Haare und sah gut aus – ne Hammer-Braut eben. Das Besondere an ihr war, dass sie nicht sprach, weder im Unterricht noch auf dem Schulhof; ich habe nie ein einziges Wort von ihr gehört. Aber gerade das machte sie für mich so interessant und weckte meinen Beschützerinstinkt. Außerdem fühlte ich mich irgendwie mit ihr verbunden; ich war ja auch nicht gerade gesprächig. Außer Lesen, Schreiben und Rechnen habe ich auf dieser Hammer-Schule auch noch die Fäkalsprache gelernt und für ein paar Groschen meine ersten Pornos erworben, Schwarz-Weiß-Fotos mit nackten Frauen; mir gingen die Augen über. Ich glaube, heute im Zeitalter des Internets, ist das für die Kids nichts Besonderes mehr. Aber damals!

Anfang der ’60er Jahre, genau am 13. August 1961, wurde die Berliner Mauer gebaut, das habe ich mit meinen zehn Jahren natürlich mitgekriegt. Es gab dagegen auf dem Rathausplatz in Kiel eine Kundgebung. Ich war mit meinen Eltern dort und weiß noch, dass mich dieses Ereignis tief erschüttert hat. Am nächsten Tag habe ich den Zeitungsartikel aus den Kieler Nachrichten ausgeschnitten, weil ich stolz darauf war, mit dabei gewesen zu sein. Walter Ulbricht, der Staatsratsvorsitzende der DDR, war das erklärte Feindbild, mein Vater bezeichnete ihn als Brechmittel. Zwei Jahre später besuchte dann der amerikanische Präsident John F. Kennedy Berlin und rief den legendären Satz „Ich bin ein Berliner!“ in die Menge, um seine Solidarität mit den Berlinern zu bekunden. Nur fünf Monate später wurde Kennedy in Texas erschossen; was für eine Tragödie.

Es gab auch eine persönliche Tragödie bei uns; mein Vater und meine Stiefmutter hatten zwei Söhne, und der Ältere der beiden starb kurz vor seinem dritten Lebensjahr an Leukämie. Es war so traurig. Nach der Beerdigung hieß es, ich hätte mich nicht korrekt verhalten. Offenbar hatte ich keine angemessene Trauermiene gezeigt. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Aber wenn es so war, dann deshalb, weil ich unsicher und verlegen war. Ich habe meinen Bruder sehr gern gehabt. Und ich wusste, wie schlimm das für meine Eltern war.

Aber ich will nicht alles, was damals passiert ist, als grau und freudlos hinstellen, obwohl mir vieles so vorkommt, wenn ich zurückblicke. Ich hatte bald neue Freunde in Schulensee, und sobald ich die Hausaufgaben hinter mich gebracht hatte, durfte ich nach draußen, mit Freunden abhängen, Musik hören, Fahrrad fahren. Ich habe aber sowieso meistens versucht, die Hausaufgaben zu umgehen, für mich waren das Schularbeiten, und die mussten morgens in der Schule erledigt werden; ich war Spezialist darin, sie von irgendjemand abzuschreiben. Eines meiner schönen Erlebnisse war, dass ich Anfang ’62 zusammen mit meinem Vater in der Kieler Ostseehalle dabei war, als der THW Kiel Deutscher Meister im Hallenhandball wurde. Sport war neben Musik etwas, das mich interessierte, zumindest ein bisschen. Ich war sogar Mitglied in einem Ruderverein, dem Kieler Ruderclub am Düsternbrooker Weg, habe es da aber nur ein Jahr ausgehalten, von ’66 bis ’67; es ging dort unerträglich versnobt zu, allein schon diese Club-Abende, bei denen jeder so eine bestimmte Clubjacke trug! Nur das Rudern als solches war okay. Einmal haben wir einen Ausflug gemacht, sind die Schwentine entlang gerudert und haben irgendwo ein paar Tage gezeltet; das hat mir gefallen. Da hatten wir ja auch nicht diese Jacken an. Vorher war ich bei den Christlichen Pfadfindern, geleitet vom Sohn unseres Pfarrers. Ich wollte eigentlich nicht mitmachen, aber mein Vater übte so einen Druck auf mich aus, dass ich schließlich hingegangen bin und gestammelt habe „ich will hier rein“; das hat mich große Überwindung gekostet. Wir haben ’64 und ’65 jeweils im Sommer große Rucksackreisen unternommen, einmal an den Edersee in Hessen, das andere Mal nach Südnorwegen. Bei dem Norwegen-Trip sind wir mit einer Fähre über den Skagerrak gefahren, es war sehr windig und dementsprechend gab es hohen Seegang; fast alle Passagiere wurden seekrank und haben gekotzt wie die Reiher, ich eingeschlossen. Ich fühlte mich so elend, dass ich sterben wollte. Als wir endlich an Land waren, hätte ich am liebsten den Boden geküsst, so dankbar war ich. Bei beiden Fahrten haben wir immer im Zelt geschlafen und am Lagerfeuer gekocht, es wurde viel gesungen, Spirituals, Gospels und Lieder aus dem kleinen Liederbuch Die Mundorgel, mit dem genialen Untertitel „Der Globus quietscht und eiert“. Und wir haben viel Zeit in der Natur verbracht und solche Sachen gemacht wie Räuber und Gendarm zu spielen. Für mich war das fast schon so etwas wie eine Initiation. Da wurden auch bestimmte moralische Werte vermittelt, wie zum Beispiel einmal am Tag eine „gute Tat“, oder das berühmte Pfadfinder-Ehrenwort. Aber es wurde auch gesagt, wenn meine Eltern mir Vorschriften machten, die sich nicht richtig anfühlten, dann sollte ich das hinterfragen; das fand ich sehr in Ordnung. Und – es waren ja christliche Pfadfinder – die Werte, die Jesus im Neuen Testament der Bibel in seiner programmatischen Rede, der Bergpredigt, zum Ausdruck bringt, haben mich umgehauen und begleiten mich bis zum heutigen Tage: die Feindesliebe, wohl eine bis dahin in der Menschheitsgeschichte noch nie dagewesene Ansage, „der Verzicht auf das eigene Recht“, zum Beispiel Rache zu üben, und die Goldene Regel: „Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun, so tut ihr ihnen“.

Zu dieser Zeit war ich sehr berührt von dem Chanson Dominique, geschrieben, gespielt und gesungen von Soeur Sourire. Eine französisch singende Nonne aus Belgien schreibt ein Lied über den Heiligen Dominikus für ihre Schwester Oberin und landet damit in den USA auf Platz 1 der Single-Charts. Sagenhaft! Alles schien möglich in dieser Zeit. Soeur Sourire hieß in Wirklichkeit Jeanine Deckers, und dieses Lied war für sie sowohl Segen als auch Fluch. Weil Dominique ein internationaler Millionenseller war, klopfte Hollywood bei ihr an und verfilmte ihr Leben. Aber sie hatte beim Eintritt in das Dominikanerkloster ein Armutsgelübde abgelegt, deswegen bekam sie für das Lied nur einen Bruchteil der Einnahmen, das meiste ging an den Orden, und so ähnlich war es auch bei den Filmrechten. Irgendwann kam es zum Streit mit der Schwester Oberin, die nicht wollte, dass Jeanine einen neuen Plattenvertrag unterschrieb; daraufhin verließ Jeanine das Kloster. Später bekam sie Ärger mit dem Finanzamt, das die Steuern für das Geld einforderte, das Jeanine nie bekommen hatte, und das Kloster hielt sich bedeckt. Am Ende blieb ein Schuldenberg übrig. Jeanine versuchte weiter als Musikerin zu arbeiten, aber leider erfolglos, jedenfalls in kommerzieller Hinsicht. Deswegen soll sie zeitweise auch alkohol- und tablettensüchtig gewesen sein. Tatsache ist, dass sie ’85 zusammen mit ihrer Freundin aus dem Leben schied. In ihrem Abschiedsbrief schrieb sie: „Wir kehren zum Herrn zurück“.

Noch ein anderes französisches Lied war eine musikalische Sensation in diesem Jahrzehnt: Milord, gesungen von Edith Piaf mit dem Text von Georges Moustaki. Es war ungewohnt, so etwas zu hören, ich verstand kein Wort, aber es ging mir unter die Haut. Ebenso wie Ein Schiff wird kommen aus dem Film Sonntags … nie! Die Hit-Version von Lale Anderson war nicht schlecht, aber die Fassung von Melina Mercouri mit ihrer rauchigen Stimme fand ich klar besser – auch heute noch. Beide Stücke haben etwas mit dem zu tun, was ich Halbwelt nennen würde. Ich erwähnte ja schon, dass ich als Junge gelegentlich im Kieler Hafen herumstreunte und vom Rotlichtmilieu fasziniert war. Deswegen finde ich es interessant, dass in diesem Milieu oft neue Musikstile geboren wurden. Louis Armstrong trieb sich in seiner Jugend in Storyville herum, dem Rotlichtbezirk von New Orleans, der Geburtsstätte des Jazz. Die Beatles hatten ihr erstes größeres Engagement auf der Großen Freiheit in Hamburg. Und der Londoner Marquee Club, in dem die Rolling Stones 1962 ihren ersten Auftritt unter diesem Namen hatten, befand sich im Rotlichtviertel Soho.

Zu Weihnachten ’61 bekam ich eine Langspielplatte von Louis Armstrong & His All-Stars, mit Titeln wie Mack The Knife und Basin Street Blues. Dieser musikalische Charme, Trompete, rauer Gesang – oh Louis Armstrong, du bist mir bis heute ans Herz gewachsen, du warst der erste richtig große Weltstar des 20. Jahrhunderts!


Louis Armstrong Schallplattenhülle (© Z+Z Multidigital Services)

Unsere Single-Plattensammlung, meine und die im Haushalt meiner Mutter, wuchs langsam, aber stetig, Red River Rock von Johnny & The Hurricanes gehörte dazu, eine fetzige Instrumentalnummer ohne Text; das Stück hat einen besonderen Groove und vermittelt ein ganz bestimmtes Lebensgefühl dieser Zeit. If I Had A Hammer von Trini Lopez war auch dabei, ebenso wie Blueberry Hill von Fats Domino, der mit seinem ureigenen Stil, einer Mischung aus Boogie-Woogie und Rhythm & Blues, den Nerv der Zeit traf, auch meinen. Fats Domino ist übrigens der einzige ’50er-Jahre-Star, den ich live erleben durfte – 1990 in Glücksburg – ich hatte vor Freude Tränen in den Augen.

1964 endlich, mit dem Song I Want To Hold Your Hand, begann für mich eine neue Ära. Ich wurde von der Beatlemania ergriffen. Die Beatles waren ja keine Boygroup heutiger Tage, die nur sangen und tanzten, das waren vier Individualisten, die ihre eigenen Lieder schrieben und fast alle Instrumente selber spielten. Sie waren die Erfinder der kleinen Rockband als verschworene musikalische Gemeinschaft. Und sie hatten lange Haare, die im Laufe der ’60er zum Symbol der späteren Flower-Power-Kultur und überhaupt des Unangepasstseins wurden. Die Idee für die Pilzfrisur hatte Astrid Kirchherr, eine Fotografin, die sie im Indra oder im Kaiserkeller auf der Großen Freiheit kennengelernt hatten, und die mit dem schon 1962 gestorbenen fünften Beatle Stuart Sutcliff befreundet war. Ich ließ mir nun auch die Haare länger wachsen, und es gefiel mir. Aber wenn ich an einer Baustelle vorbeiging, riefen die Bauarbeiter hinter mir her, „Hey, bist du’n Junge oder’n Mädchen?“. Und das waren noch die charmanteren Sprüche. Die heftigeren Beschimpfungen lauteten später in Berlin: „langhaariger Affe“ und „geh doch nach drüben“. Als ob man da drüben, auf der anderen Seite der Mauer, nicht genauso damit angeeckt wäre. Der kurzgeschorene Schädel war das Zeichen für Autoritätshörigkeit und soldatische Disziplin, die langen Haare Zeichen einer ästhetischen Rebellion dagegen, die auch das Weiche, Feminine betonten. Ich lebte fortan nur von Beatles-Hit zu Beatles-Hit; fast alle Songs der Fab Four waren Lebenselixiere für mich. Und die Anfangszeit war besonders schön; ich war dreizehn Jahre alt, und Nummern wie Can’t Buy Me Love, A Hard Day’s Night, I Should Have Known Better oder I Feel Fine umhüllten mich wie ein magischer Zauber. Musik war für mich damals wie heute etwas Heiliges, im wahrsten Sinne des Wortes, sie heilt mich. Die Beatles hatten einen ganz eigenen Sound. Ich weiß noch, dass ich einmal – das war natürlich später – in der Straßenbahn der Linie 1 nach Hause gefahren bin und ein Jugendlicher, der ein paar Reihen von mir entfernt saß, Musik aus einem Kofferradio hörte. Ich habe nicht weiter darauf geachtet, aber auf einmal wurde ich hellhörig. Das, was jetzt kam, berührte mich sofort, und ich dachte noch, das klingt ohrwurmartig, fast wie ein Kinderlied, ist es vielleicht von den Beatles? In den nächsten Tagen achtete ich beim Radiohören immer darauf, und schließlich kam die Auflösung: es war Yellow Submarine. Musik bestimmte mein Leben, deshalb wünschte ich mir eine Gitarre und bekam eine sogenannte Schlaggitarre der Firma Hoyer mit zwei länglichen Schalllöchern in f-Form. Zusammen mit ein paar Freunden nahm ich Unterricht, um ein paar Akkorde zu lernen. Ich tat mich schwer damit, aber nach ein paar Monaten konnte ich mich und andere beim Singen ganz passabel begleiten. Einer der ersten Hits, die ich ganz gut nachspielen konnte, war nicht House Of The Rising Sun – der kam etwas später -, sondern Eve Of Destruction von Barry McGuire; ein Protestsong, wie man damals sagte. Was ich auch toll fand und mir natürlich auch einstudierte, war Spiel nicht mit den Schmuddelkindern von Franz Josef Degenhardt. Ich mochte den Text, konnte mich in ihm wiederfinden. Ein Junge wird ermahnt, brav und angepasst zu sein wie seine Brüder, aber er will lieber in einem Kaninchenstall zusammen mit Schmuddelkindern rauchen, Karten spielen und den Mädchen unter die Röcke schielen. Ich wollte definitiv auch ein Schmuddelkind sein.

Zu meiner Gitarre gesellten sich später noch zwei Banjos, die ich einem Schulfreund für wenig Geld abkaufte. Eines davon war ein achtsaitiges Mandolinen-Banjo, das ich Jahre später beim Rauchhaus-Song spielte; mich fasziniert dieser klare, metallische Klang des Banjos auch heute noch. Meine Kumpels und ich haben dann natürlich versucht eine Band zu gründen; Besetzung: drei Gitarren und ein Banjo. Die Eltern meines besten Freundes Hermann hatten im Garten eine kleine Bude aus Holz, die durften wir uns zurechtmachen. Leider begingen wir den Fehler, sie mit Karbolineum zu streichen, einem braunrötlichen Holzschutzmittel, das fürchterlich nach Teer stank. Wir dachten, der Geruch würde sich mit der Zeit verflüchtigen, aber das tat er nicht, und der Teergeruch setzte sich immer in den Klamotten fest. Wenn ich abends nach Hause kam, wusste meine Stiefmutter immer sofort, wo ich gewesen war. Trotzdem haben wir unsere Bude geliebt und sie ausgiebig genutzt, haben Musik gemacht, heimlich Zigaretten geraucht und manchmal auch Wein getrunken, den ich aus dem Weinkeller meines Vaters stibitzte. Dazu hatte ich folgenden Trick: Ich nahm eine Flasche aus dem Regal, ging damit durch die Hintertür nach draußen und versteckte sie hinter der Mülltonne. Später verabschiedete ich mich von meinen Eltern, ging durch den Vordereingang unseres Hauses hinaus, nahm heimlich die Weinbuddel und fuhr zur Bude. Leider ist das durch meine eigene Blödheit aufgeflogen. Einmal hatte ich den Wein schon bei der Mülltonne versteckt, dann wurde unser Treffen kurzfristig abgesagt, und ich vergaß die Buddel. Als meine Stiefmutter am nächsten Vormittag den Müll wegbringen wollte, entdeckte sie die Flasche. Das gab Mecker, aber es hielt sich in Grenzen. Mir was das Ganze sehr peinlich.

Leider Gottes gab es nicht nur Musik, sondern auch noch die Schule. Und es ging weiter abwärts! Das heißt, erst aufwärts, dann abwärts. Ich musste aufs Gymnasium, auf die Max-Planck-Schule. Das verlangte meine Familie von mir, allen voran mein Vater. Der Junge muss doch Abitur machen und studieren, hieß es. Ich hatte jetzt einen sehr viel längeren Weg zur Schule, den ich mit dem Fahrrad bewältigen musste. Obendrein bekam ich auch noch Nachhilfeunterricht in der Gutenbergstraße, im Zentrum von Kiel. Das waren echt weite Fahrradtouren; jeden Tag eine Stunde hin und eine wieder zurück, und das zu jeder Jahreszeit, egal ob es regnete oder schneite. Im Sommer blieb nur das Fahrrad, da gab’s keine Diskussionen; in einem Winter habe ich einmal für zwei oder drei Monate ein Straßenbahnticket bekommen. Aber es hatte auch was, sich auf dem Fahrrad mit gesenktem Kopf durch den Schnee zu kämpfen.

Damals fingen meine morgendlichen Halsschmerzen an, jeden Morgen ganz früh, noch im Bett, ließ ich als Erstes eine kleine, saure Lutschtablette namens Cebion auf meiner Zunge zergehen, danach ging’s besser. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, die Halsschmerzen und Schluckbeschwerden waren psychosomatischer Natur. Ich konnte und wollte dieses Schulleben nicht mehr akzeptieren, nicht mehr „schlucken“. Es gab Tage, an denen ich an Selbstmord dachte, aber das hört sich dramatischer an, als es war; tief in mir wusste ich, es gibt irgendeine höhere Instanz, die mir dieses Erdenleben geschenkt hat, und ich habe zwar die Freiheit, aus eigenem Entschluss vom Diesseits ins Jenseits zu wechseln, aber es ist besser, dieser höheren Instanz die Entscheidung zu überlassen. Deswegen war ich eigentlich nie wirklich selbstmordgefährdet. Aber das Gymnasium war entsetzlich! Lauter eingebildete Schüler und Lehrer, die alle glaubten, sie wären was Besseres – mit wenigen Ausnahmen. Einige Lehrer waren vom Denken her noch Nazis. Es entwickelte sich bei mir eine Verweigerungshaltung gegenüber der Schule, die stetig zunahm. Irgendwann zu dieser Zeit gab es ja auch schon die ersten Gammler in Deutschland, Typen mit langen Haaren, die nur abhingen und rauchten und den lieben Gott einen guten Mann sein ließen. Sie lebten die totale Verweigerung gegenüber der etablierten Gesellschaft. Ich schätze mal, wenn ich zwei, drei Jahre älter gewesen wäre, hätte aus mir ein prima Gammler werden können. In den Augen der Mainstream-Bevölkerung war ein Gammler natürlich ein Taugenichts. „Was er ja auch war, das war doch gerade der Witz“, könnte man sagen, aber ich denke, „Taugenichts“ ist eine moralische Bewertung, als „Gammler“ haben sich die unangepassten Jugendlichen selbst bezeichnet. Das hieß auch nicht unbedingt, dass sie gar nichts machten, aber sie kleideten sich lässiger und verweigerten sich den Normen der Leistungsgesellschaft. Und irgendwie fühlte ich mich diesen Leuten zugehörig. Tief in meinem Herzen war und bin ich Nonkonformist. Und deswegen musste ich auf dem Gymnasium natürlich eine Ehrenrunde drehen und die Sexta wiederholen. Aber die zweite Runde war noch schlimmer. Mein neuer Klassenlehrer – Dr. Reshöft hieß er, wenn ich mich nicht irre – ein kleiner, pummeliger Kerl und armseliger Geist, hatte mich irgendwie auf dem Kieker und versuchte mich zu quälen, wo immer er konnte. Seinen größten „Erfolg“ hatte er, als er dafür sorgen konnte, dass ich nicht mehr im Chor des Kieler Theaters bei den Turandot-Aufführungen mitsingen durfte, das Einzige, was mir in dieser Zeit wirklich Freude bereitet hatte. Dafür verachtete ich ihn zutiefst. Mir wurde übel, wenn ich ihn nur von Weitem sah. Zwar bin ich in die Quinta versetzt worden, aber das Ende vom Lied war der Abgang vom Gymnasium. Ich wurde aussortiert und kam auf die Realschule. Das war Ostern ’65, ich war vierzehn. Danach wurde es besser, immerhin. Ich kam auf die III. Knaben-Mittelschule, wie sie früher hieß, später dann Klaus-Groth-Realschule. Leider gab es, wie schon auf dem Gymnasium, keine gemischten Klassen, nur Jungs. Das war für mich ein dicker Wermutstropfen. Ich war der Älteste in der Klasse und wurde deswegen Opa genannt. Aber nach ein paar Wochen Eingewöhnungszeit war ich dort gut integriert. Die Mitschüler und Lehrer waren echt in Ordnung. Ich wurde sogar zum Klassensprecher gewählt. Aber unserer Klassenlehrerin passte das nicht, sie setzte mich nach kurzer Zeit wieder ab, mit der Begründung, ein Klassensprecher müsse sich, was den Notendurchschnitt betrifft, im oberen Drittel befinden, und das war bei mir definitiv nicht der Fall. Die Absetzung war mir nicht unrecht, ich hing nicht an der Verantwortung, die dieses Amt mit sich brachte. Ich bin sowieso lieber ins Kino gegangen.

Der erste Kinofilm, den ich überhaupt gesehen habe, war ein Zeichentrickfilm, aber ich weiß nicht mehr, ob es Susi und Strolch war oder Bambi. Einer von beiden, ich habe beide gesehen. Ins Kino zu gehen war immer ein Fest für mich und manchmal mit überraschenden Erlebnissen verbunden. Irgendwann in den ’50er-Jahren hatte ich diesen schönen, sentimentalen Song von Frankie Laine gehört, „Do not forsake me, oh my darling“ – High Noon. Ein trauriges Lied, das mich tief berührte. Mitte der ’60er-Jahre sah ich den Hollywood-Western Zwölf Uhr mittags – mit Gary Cooper als schießender Marshal, der eigentlich nur noch Frieden will, und Grace Kelly als gewaltfreie Quäkerin, die sich gezwungen sieht, einen Revolver in die Hand zu nehmen – gegensätzlicher geht’s wohl kaum. Und nun erfuhr ich, dass der Song ursprünglich aus diesem Film stammte. Musik und Film passten perfekt zusammen. Und auch bei einem anderen Kino-Highlight hörte ich zuerst das Lied, North To Alaska von Johnny Horton, das war in den Sommerferien ‘61 in unserem Häuschen an der Schlei. Ein Nachbarmädel hatte die Single und spielte sie wochenlang mehrmals täglich, und das Lied weckte bei mir die Abenteuerlust. „Way up north“, singt Johnny Horton – „Weit oben im Norden“ -, also irgendwo hingehen und sein Ding machen, das war die Botschaft. Immerhin verstand ich noch soviel von dem englischen Text, dass es dabei um Gold, um eine Frau mit dem Namen Jenny und um honeymoon ging, also um Liebe. Natürlich war da sehnsuchtsvolle Romantik mit im Spiel. Viele Monate später ging ich ins Kino, um mir den Western Land der tausend Abenteuer anzuschauen. Als der Vorspanns lief, bekam ich eine Gänsehaut, weil ich unverhofft North To Alaska hörte. Ich sah John Wayne und Stewart Granger in den Hauptrollen als Goldsucher in Alaska, und natürlich war auch eine schöne Frau mit im Spiel, dargestellt von der Schauspielerin Capucine. Die beiden Abenteurer suchen zwar nach Gold, aber tief drinnen suchen sie auch nach Liebe. Kurz vor Ende des Films wird John Wayne vor die Entscheidung gestellt, Capucine entweder laut und deutlich seine Liebe zu gestehen oder sie abreisen zu lassen.

Aber das Land der tausend Abenteuer war gar nichts im Vergleich mit dem, was sich dann ereignete. Es war eines der ergreifendsten Erlebnisse meines damaligen Lebens und fand statt, als ich mir den Kinofilm West Side Story anschaute, mit der genialen Musik von Leonard Bernstein. Ich war zwölf, kam aus dem Kino und wusste nicht mehr, wo ich war. So etwas hatte ich noch nie erlebt, es war atemberaubend! Wieso hat mich der Film so mitgenommen?, habe ich mich oft gefragt. Die Geschichte geht ja zurück auf das Theaterstück Romeo und Julia von William Shakespeare, und in diesem Film ist alles drin, was das Leben zu bieten hat, Liebe, Drama, Gewalt, Spannung, Ekstase, Humor, Trauer – und dazu diese grandiose Musik und die rasanten Tanzszenen. Nachdem ich den Film gesehen hatte, war ich wie verwandelt. Alles hatte sich verändert, ich mich, aber auch meine Umwelt. Als ich langsam wieder zu mir kam, hatte ich nur noch einen Gedanken: Die Musik muss ich haben, koste es, was es wolle. Es gelang mir, über ein paar Ecken jemanden zu finden, der bereit war, mir die Langspielplatte zu borgen, damit ich die Musik auf Tonband aufnehmen konnte; denn genug Geld für eine eigene LP hatte ich nicht. Die geliehene Platte enthielt allerdings nicht die originale Filmmusik, und das ging gar nicht. Also habe ich nicht lockergelassen und dann doch noch jemanden gefunden, der die LP mit dem richtigen Soundtrack hatte. Ich weiß noch, dass ich eines Morgens ganz früh aufstehen musste, um an einem bestimmten Ort zu sein, wo die Übergabe stattfand. Aber ich wäre bereit gewesen, bis nach Alaska zu reisen, um an diese Platte zu kommen. Die Musik dieser Zeit, allen voran die der Beatles und die von Leonard Bernstein, machten die Schule zwar nicht erträglicher, aber es gab etwas, auf das ich mich freuen konnte, sie machte mich glücklich.

Und dann auf einmal hatte das Schicksal ein Einsehen. Der Tag der Befreiung nahte. Es war Ende ‘67 – ich hätte bis zur mittleren Reife noch ungefähr anderthalb Jahre gebraucht – da fuhr mein Vater mit mir nach Lübeck und ließ den Direktor der Schleswig-Holsteinischen Musikakademie einen Eignungstest mit mir machen. So eine Art Vorchecking vor der Aufnahmeprüfung. Ich spielte etwas auf der Gitarre und sang dazu, auch meine Blockflöte kam zum Einsatz; der Direktor prüfte mein Gehör, indem er auf dem Klavier einen Akkord spielte und sagte „das ist G-Dur“, dann spielte er irgendeinen einzelnen Ton, und ich sollte herausfinden, welcher das war. Ich glaube, ich hatte drei Versuche, und zweimal lag ich richtig. Dann wurde ich hinausgeschickt, und mein Vater sprach allein mit dem Direktor. Auf der Rückfahrt nach Kiel hielt mein Vater an einer Raststätte an und eröffnete mir, dass ich die Schule verlassen könne. Noch heute, fast fünfzig Jahre danach, bekomme ich Glücksgefühle, wenn ich an dieser Raststätte vorbeifahre. Wegen irgendwelcher Formalien folgten noch zwei, drei Schultage, dann, am 1. November 1967, war mein letzter Schultag. Es war einer der schönsten Tage meines Lebens. Ich hätte schreien können vor Glück! Und ich habe es nie bereut, die Schule vorzeitig verlassen zu haben. Bis zum Beginn der Ausbildung hatte ich ein paar Monate frei. Ich bekam privat Trompeten- und Klavierunterricht und ging zur Tanzschule, weil das meine Kumpels auch taten. Aber nur ein paar Mal, dann hat’s mir gereicht. Wir waren ein Haufen verklemmter, pubertierender Jugendlicher, die versuchten, sich zu aktuellen Hits wie Judy In Disguise zu bewegen. Und dann auch noch die klassischen Tänze wie Walzer und Foxtrott, also nein, das war nun wirklich nichts für mich. Selbst die Tatsache, dass da auch ein paar ziemlich hübsche Mädels waren, hat mich nicht umstimmen können.

Genaugenommen hatten meine Eltern mir zwei Vorschläge gemacht, der erste war, in die Fußstapfen meines Patenonkels zu treten; der hatte auch Schwierigkeiten mit der Schule gehabt und war in dem großen Konzern seines Onkels – also meines Großonkels – zum Manager aufgestiegen. Um mir diesen Vorschlag schmackhaft zu machen, lockte man mich mit der Aussicht, schon bald einen schicken Sportwagen fahren zu können. Ich war vielleicht naiv und manchmal auch etwas schwer von Kapee, aber dieses Spiel durchschaute ich sofort. Ohne mich! Ich bin kein Typ für die Karriereleiter. Deswegen kam für mich nur die Musikakademie in Frage, auch wenn ich alles andere als sicher war, ob ich wirklich Orchestermusiker werden wollte: denn das war das erklärte Ziel des Studiums. Ich bestand im März ’68 die Begabtenprüfung, wurde aufgenommen und habe drei Semester studiert; Hauptfach Trompete, Nebenfächer Klavier, Harmonielehre, Gesang und ein Fach, das hieß Allgemeinunterricht. Das musste ich belegen, weil ich noch nicht alle Pflichtschuljahre absolviert hatte. Trompete als Hauptfach zu wählen, war übrigens nicht meine Idee gewesen, das haben die mir einfach aufgedrückt; Trompeter waren wohl gerade Mangelware. Ich habe mich redlich bemüht, aber das war einfach nicht mein Instrument. Nie werde ich vergessen, wie ich einmal mit einigen Kommilitonen zusammensaß – wir wollten aus Spaß ein bisschen Jazz spielen. Ich spielte Banjo, weil ich auf der Trompete viel zu schlecht war. Ein anderer Student war Asmus Hinz, heute Professor, er kam plötzlich reingeschneit, schnappte sich meine Trompete und legte los. Er war eigentlich Orgelschüler, kein Trompeter, und konnte trotzdem so gut spielen. Also, das war ein Schock für mich, der ich mich monatelang abquält hatte und dann so erbärmlich vor sich hindümpelte. Auch das Musizieren nach Noten fiel mir nicht leicht, und ich fragte mich immer häufiger, ob ich den richtigen Weg eingeschlagen hatte.

Gewohnt habe ich in Lübeck in einem Studentenwohnheim, und an den Wochenenden bin ich mit dem Zug nach Kiel gefahren oder getrampt, um Geld zu sparen. In dieser Zeit habe ich auch meinen Führerschein gemacht, die einzige amtliche Urkunde, die ich jemals aufgrund einer bestandenen Prüfung erworben habe. Und hier, in Lübeck, hatte ich auch meine ersten sexuellen Erfahrungen. Mein Mitbewohner, ein angehender Posaunist, war ein gelegentlicher Puffgänger, dessen Wahlspruch war, „ich vögele alles, nur keinen Igel, der hat Stacheln“. Er nahm mich mit in die Hafengegend, irgendwo an der Untertrave, allein hätte ich mich da nicht hin getraut, ich war viel zu schüchtern. Zwanzig Mark waren eine Menge Geld für mich, aber ich wollte unbedingt diese Erfahrung machen. Ich weiß noch ziemlich genau, wie die Frau aussah: dunkelblonde, halblange toupierte Haare, etwas vollschlank, mit kurzem, engem Rock; sie stand gelangweilt in einem Hauseingang und rauchte. Sie wirkte auf mich abgeklärt und cool, aber durchaus sexy; dann fixierte sie mich mit ihren Augen und sagte etwas, das ich akustisch nicht verstand, aber intuitiv sehr wohl. Da habe ich gespürt, die ist es, jetzt oder nie. Als sie mit mir eine Treppe hochstieg, die zu ihrem Zimmer führte, ging sie vor mir, und ihr kurzer Rock ließ tief blicken. Ich war wahnsinnig aufgeregt, aber es ging alles gut, und hinterher war ich einfach happy. Circa zwei Jahre später sah ich den Western Westwärts zieht der Wind, in dem Lee Marvin mit seiner tiefen Bassstimme Wand’rin Star singt; er intoniert teilweise etwas unsauber, aber genau das macht den Charme dieser Aufnahme aus. Man sieht im Film, wie Lee Marvin einen jungen Burschen zu einer Prostituierten ins Zimmer schiebt und zu ihr sagt, „Ich bring dir hier einen Jungen, gib ihn mir als Mann zurück.“ Da wurde mir erst richtig bewusst, was an jenem Abend in Lübeck mit mir geschehen war.

Wie schon erwähnt, war ich nur drei Semester in Lübeck, Trompete war nicht mein Ding, nach Noten zu spielen, fiel mir schwer, ich konnte mir immer weniger eine Berufslaufbahn als Orchestermusiker vorstellen. Und die schematische Einteilung in U- und E-Musik, in Unterhaltungsmusik und ernste Musik, gefiel mir überhaupt nicht. Für mich gab und gibt es nur Musik, egal ob Klassik, Jazz oder Pop. Entweder sie berührt mich oder nicht – das ist das Qualitätsmerkmal. Zu einem Schlüsselerlebnis auf der Musikakademie kam es, als ich die Rhapsody in Blue von George Gershwin entdeckte. Ich war total begeistert und dachte, vielleicht gibt es Noten dazu oder einen Klavierauszug, um etwas davon auf dem Piano nachzuspielen. Ich ging zur Notenbibliothek der Musikakademie und trug der Bibliothekarin meinen Wunsch vor. Ihre knappe Antwort lautete „Unterhaltungsmusik führen wir nicht!“ Ich war sprachlos. Ein Kommilitone von mir hatte kurz zuvor behauptet, der russische Komponist Tschaikowski sei kein ernstzunehmender Musiker der Klassik. Da hatte ich noch gedacht, na ja, der Junge ist eben etwas versnobt. Aber nach diesem Erlebnis in der Bibliothek wurde mir klar, ich bin hier fehl am Platz. Heute würde ich übrigens sagen, die Rhapsody in Blue war damals schon klassische Musik, in der Pop-Musik war man längst über Gershwin hinaus.

Die zweite Hälfte der ’60er Jahre war, was die populäre Musik betrifft, eine unglaublich kreative Zeit und wird deshalb zu Recht die „Goldene Ära des Rock“ genannt. Britische Bands wie die Kinks; The Who mit ihrem rebellischen My Generation; die Small Faces; Procol Harum, die Pretty Things oder Eric Burdon & The Animals, schafften nicht nur eine neue Musik, sondern auch ein neues Lebensgefühl. Mit Cream gab es die erste sogenannte Supergroup – mit Eric Clapton, Jack Bruce und Ginger Baker – einfach irre! Aus den USA kamen fantastische Gesangsgruppen wie die Beach Boys oder die Mamas & Papas und ein Supergitarrist namens Jimi Hendrix. Keiner spielte so abgefahren wie er. Und nicht zu vergessen Bob Dylan, der mir zuerst durch seinen Hit Like a Rolling Stone auffiel. Der amerikanische Autor Greil Marcus hat ein ganzes Buch über diesen Song und seine historische Bedeutung geschrieben. Von ihm stammt die Bemerkung, dass Elvis Presley der Rebell der ’50er-Jahre war und Bob Dylan der Rebell der ’60er. Es gab noch eine weitere Band, die absolut herausragend war, die Rolling Stones mit ihrer rauen bluesigen Art, Musik zu machen – „mit ’ner Schaufel Dreck“, wie Rio zu sagen pflegte. The Last Time, Paint it Black und Jumpin’ Jack Flash waren ihre ersten Hits in Deutschland, die mich nachhaltig beeindruckten, oder Let’s Spend the Night Together – allein schon der Titel war natürlich für einen Sechzehnjährigen ein ganz heißes Thema. Jumpin’ Jack Flash habe ich Anfang der ’70er-Jahre noch mal laut mit Kopfhörern in bekifftem Zustand angehört und gedacht, „wow, Charlie Watts, der Drummer, spielt keinen einzigen Wirbel“ – Einfachheit – weniger ist mehr! Das machte Mut, denn es war offensichtlich möglich, mit bescheidenen technischen Mitteln tolle Grooves hinzukriegen.

Es gab auch Songs ohne rebellischen Sound, die mich faszinierten. Einer davon war The Girl from Ipanema, gesungen von Astrud Gilberto, mit einem klasse Saxofon-Solo von Stan Getz – absolut cool! Diese Bossa-Nova-Single war zwar schon ’64 erschienen, kam aber erst ein paar Jahre später bei mir an. Ich war sofort fasziniert. Später habe ich versucht, das Lied auf dem Klavier zu spielen. Very complicated. Das waren Akkorde, von denen ich noch nie gehört hatte. Lauter krumme Dinger, wie 7+9 und so was, also der große Septakkord mit ’ner None oben drauf. Von Kurt-Weill-Liedern hatte ich schon gelernt, dass die Gesangsmelodie auch mal längere Zeit über die Sexte läuft, doch hier war es auf einmal die None, das war noch einen Zacken schärfer. Wie ich später gelesen habe, hat Tom Jobim, der Komponist von The Girl from Ipanema, sich dabei von Claude Debussy inspirieren lassen, dem Hauptvertreter des musikalischen Impressionismus. Als ich im Jahre ’99 während einer Brasilien-Reise in Rio de Janeiro war, habe ich es mir nicht nehmen lassen, am Strand von Ipanema spazieren zugehen, nur um dabei an das Girl From Ipanema zu denken, das mit wiegendem Schritt vorübergeht und dessen Körper die Sonne vergoldet. Ein anders Beispiel dafür, wie verwoben die sogenannte E- und die U-Musik miteinander sind, ist der Titel A Whiter Shade of Pale von Procol Harum, der basiert auf Air, einer Komposition von Johann Sebastian Bach. Zu meinen Lieblingssongs gehört aber auch Strangers in the Night von Frank Sinatra, der Sommerhit des Jahres 1966; Sinatra war zwar kein Rebell, dafür ein Anti-Rassist und noch vor Elvis der erste große Teeniestar der westlichen Welt. Strangers in the Night ist ein Song, der sich nie abnutzt, so ähnlich wie Like A Rolling Stone, beide klingen immer wieder neu, auch wenn du sie oft hörst. Rio und ich, wir haben Strangers beide sehr gemocht und bei allen möglichen Gelegenheiten gesungen, auf der Autobahn, beim Spazierengehen oder auf einer Party.

Die Aufbruchstimmung der ’60er-Jahre hatte mich total ergriffen. Sie umfasste ja nicht nur den Ungehorsam gegen die Obrigkeit und einen Wertewandel in der Politik, sondern auch die Moralvorstellungen; ich habe damals die sogenannte sexuelle Revolution hautnah mitbekommen, obwohl ich gerne ein paar Jahre älter gewesen wäre. Sprüche wie „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ sollten die Spießer schocken, „Make love, not war“, lautete die Devise der Hippies. Hervorragend in diese Zeit passte das Chanson Je t’aime … moi non plus, gesungen, oder besser gesagt geflüstert und gestöhnt, von Jane Birkin und Serge Gainsbourg im Sommer ’69. Leicht dadamäßig, besonders der widersprüchliche Text, „Ich liebe dich – ich dich auch nicht“. Gainsbourg schuf damit eine Hymne für die sexuelle Revolution. Ich liebe dieses unvergängliche Stück heute noch, es ist in Musik gebadete Erotik. Besonders gefreut hat mich, dass Papst Paul VI. das Stück auf den Index setzen ließ, den millionenfachen Verkaufserfolg jedoch nicht verhindern konnte. Das war ein Machtkampf; auf der einen Seite die bürgerliche Sexualmoral des Establishments, vertreten durch den Papst als Sittenwächter, und auf der anderen Seite die Propheten der sexuellen Revolution, vertreten durch Serge Gainsbourg als Künstler.

Der Höhepunkt der Hippiebewegung war der sogenannte „Summer of Love“ – 1967. Ich wäre gern nach San Francisco geflogen, in die heimliche Hauptstadt der Hippies, doch für mich als sechzehnjährigen Schüler, der noch zu Hause wohnte, war das nur ein Traum. Ich spürte aber diese spezielle Energie, die in dieser Zeit in der Luft lag, vor allem die fantastische Musik. San Francisco von Scott McKenzie und All You Need Is Love der Beatles, das waren die großen ’67er-Hymnen. In diesem Sommer kaufte ich mir von meinem Taschengeld meine erste Langspielplatte, Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, das Konzept-Album der Beatles, ein wahrhaft großes Werk.

Aber es war natürlich nicht nur alles hippiemäßig easy in der Zeit. Es gab die Ermordung von Che Guevara in Bolivien, es gab den Sechstagekrieg zwischen Israel und Ägypten, und für Berlin und die BRD war der Wendepunkt mit weitreichenden Folgen definitiv der 2. Juni ’67. Friedliche Demonstranten wurden von der Polizei brutal niedergeknüppelt. Und der negative Höhepunkt war die gezielte Hinrichtung von Benno Ohnesorg durch einen Schuss in den Hinterkopf. Damit wurde eine rote Linie überschritten. An diesem Tag wurde die Saat der Gewalt gesät, und zwar ausgehend von Seiten des Staates, das war eindeutig. Das Wort Deeskalation war für die politisch Verantwortlichen damals noch ein Fremdwort. Die Obrigkeit durfte sich nun nicht wundern, dass sich als Reaktion darauf Gruppen wie Die Umherschweifenden Haschrebellen, Berliner Blues, Bewegung 2. Juni oder die RAF bildeten, die im Laufe der Zeit immer militanter wurden. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt schaukelte sich in den nächsten Jahren immer weiter hoch.

Zu den Ereignissen, die mich wie viele andere auch aufwühlten, gehörten ein Jahr später die Attentate auf Martin Luther King, Rudi Dutschke und Robert Kennedy, und nicht zuletzt der Einmarsch der Sowjetunion mit ihren Zwangsverbündeten in die Tschechoslowakei. Das alles war erschreckend. Besonders berührt haben mich damals noch zwei Ereignisse. Bei den Olympischen Sommerspielen in Mexiko kam es bei der Siegerehrung für die 200-Meter-Läufer zum Eklat. Tommie Smith hatte die Goldmedaille gewonnen und John Carlos die Bronzene. Beide waren Afroamerikaner. Während sie auf dem Siegerpodest standen und die amerikanische Nationalhymne gespielt wurde, streckten Tommie Smith und John Carlos die zur Faust geballte Hand in die Höhe, umhüllt von einem schwarzen Handschuh. Damit protestierten sie gegen den Rassismus in den USA und für die Einhaltung der Menschenrechte. Und gewollt oder ungewollt bekundeten sie damit auch ihre Solidarität mit der Black-Power-Bewegung. Wow, habe ich gedacht, endlich sind da mal zwei Typen, die den Mumm haben, ihre besondere Position zu nutzen. Ich habe mir das Foto aus der Zeitung ausgeschnitten und übers Bett gehängt.


Smith & Carlos (TV-Standbild; Bearbeitg.: Ruud Englebert)

Tommie Smith und John Carlos bewiesen Mut und Charakter, denn sie konnten sich denken, welche Reaktionen ihr Handeln auslösen würde. Sie mussten Mexiko sofort verlassen und wurden danach in den USA von vielen Menschen angefeindet. Doch irgendwann drehte sich der Wind, heute werden sie verehrt. Kürzlich sagte Carlos in einem Spiegel-Interview, „1968 ging es darum, Menschlichkeit einzufordern. Fast jeder Konflikt lässt sich darauf zurückführen, dass Menschen von oben dirigieren und andere einstecken müssen.“ Der Olympiaprotest geschah Mitte Oktober ’68. Drei Wochen später pirschte sich die Journalistin Beate Klarsfeld bei einer CDU-Versammlung in Berlin an Bundeskanzler Kiesinger heran, schlug ihm mit der Hand ins Gesicht und beschimpfte ihn als Nazi. Mit dieser Aktion wollte sie darauf aufmerksam machen, dass unser amtierender Bundeskanzler ein ehemaliger Nazi war. Ich lehne ja eigentlich Gewalt ab, aber in diesem Fall fand ich sie angebracht. Diese Aktion sorgte für weltweite Schlagzeilen und trug dazu bei, dass die Verfolgung von Naziverbrechern neuen Schwung bekam. Der Schriftsteller Heinrich Böll schickte Beate Klarsfeld nach ihrer Tat fünfzig rote Rosen. Irre gut, dachte ich. Das sprach mir genau aus dem Herzen.

Die Musikschule interessierte mich immer weniger, und mir war klar, wohin ich wollte: nach Berlin! Das war der angesagte Ort. Berlin bedeutete für mich Freiheit! Freiheit von der Schule in Lübeck. Freiheit von meinem Elternhaus und – ganz wichtig – Freiheit von der drohenden Gefahr zum Bund eingezogen zu werden, also zum Wehrdienst bei der Bundeswehr. Und die einfachste Lösung, den Wehrdienst zu umgehen, war damals, seinen ersten Wohnsitz in West-Berlin anzumelden. Für Berlin galt zu dieser Zeit der Vier-Mächte-Status – USA, England, Frankreich und UdSSR – deshalb gehörte der Westteil der Stadt streng genommen nicht zur Bundesrepublik Deutschland, und die Bundeswehr hatte keinen Zugriff auf Berliner Bürger. Vielleicht war das auch der Grund dafür, dass Berlin zur Hauptstadt der APO wurde, lauter Studenten, die keine Lust hatten, zur Bundeswehr zu gehen. Berlin war auch deswegen für mich mit Freiheit verbunden, weil es dort die Demos, die Hippies, die Wohngemeinschaften, die Kommunen gab – die ganze antiautoritäre Bewegung eben, man hörte davon in den Nachrichten, ich las davon in Zeitschriften wie Der Spiegel oder Konkret, und es hatte eine ungeheure Anziehungskraft. Ich träumte, wie viele andere auch, von einem selbstbestimmten Leben, ohne mich irgendwelchen Autoritäten beugen zu müssen. In den Osterferien ’69 flog ich zum ersten Mal nach Berlin, um meine Schwester Barbara zu besuchen, die dort zusammen mit ihrem Freund Jens lebte. Jens Johler hatte ich schon im Sommer ’67 kennengelernt, als die beiden, sie waren damals noch Schauspieler in Dortmund, in unserem Häuschen an der Schlei Urlaub machten. Ich weiß noch, dass sie versucht hatten, meine Begeisterung für die Beatles auszunutzen, um mein Englisch zu verbessern. Wir haben zusammen den Text von With a Little Help from My Friends übersetzt; natürlich durchschaute ich diesen pädagogischen Trick, aber es interessierte mich trotzdem. Im August ’68 waren die beiden von Dortmund nach Berlin umgezogen, nachdem sie sich mit einem Essay Über den autoritären Geist des deutschen Theaters ihre Schauspielerkarrieren vermasselt hatten. In Berlin hatten sie sich nach alternativen Theatergruppen umgesehen und dabei auch das Hoffmanns Comic Teater kennengelernt. Als ich nach Berlin kam, hausten sie in einer kleinen Anderthalb-Zimmer-Wohnung in der Admiralstraße in Kreuzberg.

Berlin gefiel mir auf Anhieb, das Stadtfeeling, die Schwingungen dort, das groovte für mich; auch die Berliner mit ihrer leicht prolligen Art mochte ich, „Herz mit Schnauze“, wie man so sagt. Das stand im Gegensatz zu der vornehmen Kühle der Hamburger, mit der ich nicht so richtig klar kam. Durch Barbara und Jens lernte ich auch Rio Reiser und seine Brüder kennen, Peter und Gert Möbius. Die drei Brüder waren schon ’64 zusammen mit Dietmar Roberg und Blalla Hallmann von Nürnberg aus in einem Trecker mit Anhänger über Land gezogen und hatten in den Dörfern ihre Theaterstücke aufgeführt – wie ein kleiner Wanderzirkus. 1967 hatten sie in Berlin die erste Rockoper der Welt aufgeführt, mit Musik von Ralph Möbius, wie Rio damals noch hieß. Die Aufführung fand im Theater des Westens statt, in dem ja noch heute Musicals aufgeführt werden. Es muss eine ziemlich chaotische Produktion gewesen sein, zurück blieb jedenfalls ein Defizit von 100.000 DM.

Die Begegnung mit Rio beeindruckte mich sehr, er sah gut aus, hatte lange Haare und eine enorme Ausstrahlung. Dieser erste und leider sehr kurze Berlin-Aufenthalt bestärkte mich in meinem Entschluss, so bald wie möglich ganz nach Berlin zu ziehen. Zurück in der Heimat verbrachte ich den Sommer im Haus meines Vaters in Schulensee. Eines schönen Nachmittages lief dann im ZDF ein verrückter Film mit dem Namen Drehorgelwalzerwelthit, und in der Fernsehzeitung stand dazu, „Musik: Ralph Möbius“; wow, dachte ich, den kenne ich doch. Die Musik fand ich klasse, und meine Bewunderung für Rio wuchs. Rockmusik mit deutschen Texten in einer Art und Weise, die funktionierte, das war neu. Alles Gründe für mich, nach Berlin zu gehen; und sehr bald sollte es soweit sein. Mein Glück war, dass Barbara und Jens sich im Sommer ’69 auch für zwei, drei Wochen in Schulensee aufhielten, weil mein Vater und seine Frau verreist waren und wir somit das ganze Haus zu Verfügung hatten. Ich erinnere mich noch ziemlich genau an die berühmte Mondlandung, die wir uns zusammen im Fernsehen angesehen haben. Es war am 21. Juli 3:56 MEZ, bei uns also mitten in der Nacht, als Neil Armstrong als erster Mensch den Mond betrat.

Im August schmiedeten wir dann Fluchtpläne für mich. Als mein Vater aus dem Urlaub zurückkam, eröffnete ich ihm, dass ich zusammen mit Barbara und Jens nach Berlin fahren wollte – er war alles andere als erfreut. Aber was sollte er machen? Ich war zwar erst 18 Jahre alt, volljährig war man damals erst mit 21, ich brauchte also die Erlaubnis meiner Erziehungsberechtigten, aber erziehungsberechtigt war meine Mutter, und die hatte nichts dagegen. Das Einverständnis meines Vaters war sozusagen moralischer Natur, hatte aber auch mit Geld zu tun, sprich mit finanzieller Unterstützung. Ich erinnere mich aber daran, dass er sich ausgesprochen fair verhalten hat. Das Hauptproblem für ihn war, dass ich meine Ausbildung in Lübeck abbrechen wollte, die in seinen Augen eine große Chance für mich war, weil ich keine abgeschlossene Schulausbildung hatte. „Was soll jetzt aus dir werden“, meinte er. Dem ganzen 68er-Protest stand er sowieso kritisch gegenüber. Barbara und Jens hatten ihm von der kubanischen Revolution vorgeschwärmt und von der Idee, das Geld abzuschaffen, und er sagte nur, „Gute Idee, das Geld abzuschaffen, wenn es nichts zu kaufen gibt“. Sie haben oft Skat mit ihm gespielt, zwischendurch wurde diskutiert, und er sagte einmal, „Wenn es zur Revolution kommt, stehe ich auf der einen Seite der Barrikade und ihr auf der anderen“, und dann haben sie weiter Skat gespielt. Wir alle mochten unseren Vater, auch wenn er etwas bürgerlich war. Immerhin hatte er auch Sinn für das Verrückte. Er war Mitglied im Freundeskreis Till Eulenspiegel und als Anfang der ’70er das vermeintliche Original der Eulenspiegel-Geschichten von einem gewissen Hermann Bote gefunden wurde, überarbeitete er es und veröffentlichte es neu. Diese Ausgabe gilt bei Kennern bis heute als eines der besten Till Eulenspiegel-Bücher. Als dann klar war, dass ich mit nach Berlin fahre, bestand mein Vater darauf, dass ich in Berlin eine Ausbildung mache, und sagte dann, „Wenn du keine Ausbildung machst, dann zahle ich dir auch keinen Unterhalt“. Das war seine Bedingung, und die habe ich akzeptiert. Ich weiß noch, dass er hinzufügte, „du kannst ja immer noch Straßenfeger werden, das ist auch ein ehrenwerter Beruf“. Das war so ein Spruch, den hatten damals viele Eltern drauf.

Und dann ging’s los. Den genauen Tag weiß ich nicht mehr, aber es muss so Mitte August gewesen sein. Wir sind zu dritt in Jens’ VW-Käfer von Kiel nach Berlin gefahren – es war einer der aufregendsten und bedeutendsten Tage meines Lebens. Ich habe dann erstmal bei Barbara und Jens in der Admiralstraße gewohnt. Diese Wohnung gehörte eigentlich dem Schauspieler Heinrich Giskes, der gerade ein längeres Engagement in Westdeutschland hatte. Sie lag im Hochparterre, anderthalb Zimmer. Wenn wir die Tür zum Treppenhaus öffneten, machten wir immer ksch-ksch, damit die Ratten sich verzogen. Ich habe erst später erfahren, dass sie ihre Nester im Keller unter der Wohnung hatten, in dem Möbellager eines Trödlers. Mein Gästezimmer war ein kleiner Raum, in dem man sofort war, wenn man die Wohnungstür aufschloss, einen Flur gab es nicht. Zum Klo musste ich durch das Zimmer von Barbara und Jens hindurch, was natürlich auf Dauer kein angenehmer Zustand war, weder für sie noch für mich. Die Verabredung lautete, dass ich mir so schnell wie möglich eine eigene Bleibe suchte, was ich aber nicht tat. Ich nahm erstmal Kontakt zu Rio auf, den ich ja schon Ostern kurz getroffen hatte. Ich besuchte ihn in einer Fabriketage in der Oranienstraße, dem Hauptquartier des Hoffmanns Comic Teater. Wir verstanden uns auf Anhieb, tranken Jasmintee und rauchten – nicht nur Zigaretten. Die Musik war unser verbindendes Element. Wir hörten Platten von Johnny Cash und Bob Dylan; Pet Sounds, das tierische Album der Beach Boys, aber auch die älteren LPs der Rolling Stones, die überragende Aftermath, sowie Between The Buttons, Their Satanic Majesties Request und Beggars Banquet. Ich kannte ja nur die Single-Hits der Stones, jetzt erschlossen sich mir ganz neue musikalische Welten. Damals gab es noch keine CDs, sondern nur LPs, und die relativ große Fläche der LP-Cover konnte gut für künstlerische Zwecke genutzt werden. Ich erinnere mich an Gespräche mit Rio über das Thema Covergestaltung. Einmal zeigte er mir das Plattencover der LP Between The Buttons von dem Fotografen Gered Mankowitz. Man sieht die Band etwas unscharf am frühen Morgen in freier Natur, das Foto wirkt ungestellt und strahlt eine besondere, etwas surrealistische Stimmung aus – ein kleines Kunstwerk. Rio erklärte mir dazu, wie wichtig das Image einer Band sei. Ich war etwas verwirrt, denn ich wusste noch nicht, was das Wort genau bedeutete. Sechzehn Jahre später haben wir uns als Scherben-Band ein bisschen an der Idee von Gered Mankowitz orientiert. Wir haben für die Fotosession zum LP-Cover Scherben extra eine Nacht durchgemacht, um dann im Morgengrauen übernächtigt auszusehen.

Ich war schwer beeindruckt von Rios Liedern, die er auf einem Revox-Tonbandgerät aufgenommen hatte und mir nach und nach vorspielte, alle mit deutschen Texten. So, wie Rio sang, das war immer authentisch, nie aufgesetzt oder peinlich – ähnlich wie bei Johnny Cash. Das hört man einfach. Durchs Musizieren und die Gespräche habe ich im Laufe der Jahre viel von Rio gelernt. Er vertrat zum Beispiel die Ansicht, dass es ein bestimmtes Qualitätsmerkmal ist, wenn sich ein Song nur auf einem einzigen Instrument spielen lässt, auf der Gitarre oder auf dem Piano.

Bereits nach wenigen Tagen fragte Rio mich, ob ich nicht bei zwei Stücken Bassgitarre spielen wollte. Dazu gibt es eine Vorgeschichte: Rio hatte dem Schlagerproduzenten Peter Meisel ein Demoband geschickt, und der hatte sich zwei Songs ausgesucht, die er produzieren wollte: Freitagabend und Baby. Das sollten A- und B-Seite einer Vinyl-Single werden. Doch Bassist Georgie, mit dem Rio vorher gespielt hatte, hing an der Nadel und konnte oder wollte irgendwie nicht mehr spielen. Deswegen fragte Rio mich, ob ich nicht für Georgie einspringen wolle. Ich sagte, ich könne zwar ein bisschen Lagerfeuer-Gitarre, aber einen E-Bass hätte ich noch nie in der Hand gehalten. „Das macht nix“, sagte Rio, „ich zeig’s dir“. Und ehe ich mich’s versah, hatte er mir einen Bass der Marke Höfner umgehängt, den sogenannten Beatles-Bass, und zeigte mir als Einstieg den Anfang der Basslinie von I Can’t Help Myself von den Four Tops. Das war ein Basslauf von James Jamerson, dem Kult-Bassisten, der mir damals aber noch kein Begriff war. So nahm das Schicksal seinen Lauf: Ich wurde Rock’n’Roll-Bassist! James Jamerson war, wie ich später erfuhr, der Bassist einer Studioband, die sich Funk Brothers nannte. Das war die Motown-Studioband aus Detroit, die haben die ganzen Motown-Sachen eingespielt. Alle Musiker waren großartig, aber für mich ragte Jamerson heraus, weil er mich mit seinen fantasievollen Basslinien beeindruckte. Ich habe später versucht, seine Bassläufe nachzuspielen, und das war verdammt nochmal nicht einfach. Ich konnte die natürlich nicht auf Anhieb und auch nicht alle Phrasierungen, aber ich habe mich relativ schnell reingefummelt, jedenfalls in die Grundlinien. Und ich begann von nun an, wenn ich einen Song hörte, immer auf den Bass zu achten, das hatte ich früher selten getan. Viel geprobt habe ich nie; doch wenn zu einem Stück eine Basslinie nötig war und sie mir gefallen hat, dann habe ich solange rumprobiert, bis ich sie konnte. Wir haben später nicht nur eigene Songs gespielt, sondern auch viele andere Sachen nachgespielt, dadurch lernst du viel. Denn natürlich geht es auch darum, sein Instrument von Grund auf zu beherrschen, also um das Handwerk. Aber ich habe nie irgendwelche Fingerübungen gemacht, um meine Technik zu verbessern. Bill Wyman, der Rolling Stones-Bassist, spricht in diesem Zusammenhang von Simplizität – ist genau mein Ding. Bloßes Virtuosentum hat mich nie interessiert. Im Gegenteil, wenn ich das Gefühl habe, da spielt jemand besonders schnell oder kompliziert, nur weil er beweisen will, was er alles draufhat, dann langweilt mich das.

Zu den Musikern des Hoffmanns Comic Teaters gehörten auch RPS Lanrue und Dietmar Roberg. Die waren aber gerade verreist, daher war ich in den ersten Tagen mit Rio allein. Er sang und begleitete sich auf der Gitarre oder am Piano, und ich zupfte dazu den Bass. Dann kam Dietmar zurück und spielte Rhythmusgitarre. Ein paar Tage später folgte Lanrue und übernahm das Schlagzeug. Da waren wir dann komplett. Das war die erste richtige Band, in der ich gespielt habe. Und was soll ich sagen? Es war einfach affentittengeil. Jeder macht etwas, eins greift ins andere, und das Ergebnis ist ein Musikstück. Ich war glücklich, auch wenn ich wusste, dass wir uns musikalisch noch erheblich steigern mussten.

Die Geschichte mit dem Schlagerproduzenten Peter Meisel sollte ich aber noch zu Ende erzählen. Wir, also Rio Reiser, RPS Lanrue, Dietmar Roberg und ich als Band, Rios Bruder Gert, sowie Barbara und Jens als Gäste, waren dann im Sonopress-Tonstudio der Ariola, dem späteren Hansa-Tonstudio, in dem David Bowie den Song Heroes aufnehmen sollte. Es befand sich in einem ziemlich verfallenen Gebäude in der Köthener Straße 38, ganz nah am Potsdamer Platz. Das Haus stand allein in der Wüste, die der Krieg hier hinterlassen hatte, niemand hatte ein Interesse daran, hier zu bauen, weil die Mauer direkt durch den Potsdamer Platz hindurch führte. Es war eine seltsame Situation, über diesen verwaisten, vom Regen aufgeweichten Platz zu stapfen, auf ein heruntergekommenes Gebäude zu, um dort eine Karriere als Rockband zu starten. Das hätte wahrscheinlich auch ein gutes Coverfoto abgegeben. Es hatte etwas Unwirkliches. Für mich sowieso, weil ich ja gerade erst ein paar Basslinien gelernt hatte. Wir hatten Freitagabend und Baby wochenlang geprobt und nahmen diese beiden Lieder schließlich in diesem legendären Studio auf. Ich durfte sogar noch meine Künste auf der Blockflöte zum Besten geben, doch Peter Meisel hatte irgendwas gegen Rios Stimme oder seine Art zu singen, ich weiß nicht mehr genau, was es war, jedenfalls wurde die Single nicht produziert. Jens hat die Geschichte anders in Erinnerung. Er meint, dass wir nach den Aufnahmen alle zusammen in Meisels Büro gingen. Meisel saß hinter seinem dicken Schreibtisch, Rio auf der anderen Seite, Jens zufällig neben Rio, wir anderen dahinter, und es war eine merkwürdig gedrückte Situation. Meisel schob Rio einen Vertrag und einen Kugelschreiber rüber und fragte, „Nur der Sänger oder die ganze Band?“ Und Rio saß da wie gelähmt und reagierte nicht. Starr, unbeweglich, stumm. Er sagte nicht ja, er sagte nicht nein, aber er hat auch nicht unterschrieben. Wahrscheinlich wusste er, dass es der unwiderrufliche Schritt in eine kommerzielle Karriere gewesen wäre, und die wollte er nicht. Witzigerweise ist Rio nach Auflösung der Scherben dann doch bei Meisel gelandet. Sein Manager für die Solokarriere als König von Deutschland wurde George Glück. George Glück war ’75 in den Meisel-Verlag eingestiegen, und so hat sich der Kreis geschlossen. Ironie des Schicksals, könnte man sagen. Vielleicht hat Meisel damals hinter seinem Schreibtisch gesessen und gedacht, „wo immer du auch hingehst, du entkommst mir nicht“. So ist es eben in der Haifischbranche.

Mein Gästezimmer in der Admiralstraße musste ich nach drei oder vier Wochen räumen. Das Prinzenpaar – so nannten wir Barbara und Jens inzwischen, das war eine Idee von Lanrue – hatte mir ein Zimmer bei einem Studenten in der Görlitzer Straße besorgt, in einer ziemlich tristen Gegend, nahe der Mauer. Sie fuhren mich mit meinen Sachen dorthin, und ich weiß noch, wie Barbara zu mir sagte, „So, und hier kannst du deinen Müll so hoch stapeln, bis er zur Decke reicht“. Uff, das saß! Das war ’ne echte Lektion. Und als ob das nicht gereicht hätte, folgte gleich der nächste Schock: In meinem möblierten Zimmer lag das Buch Geschichte der O, ein Sado-Maso-Roman. Es war eine gebundene Ausgabe, aber der Schutzumschlag fehlte, deswegen gab es kein Bild, das auf den Inhalt schließen ließ. Ich war zuerst völlig ahnungslos und fing unbekümmert an, darin zu lesen, bis ich irgendwann merkte, was da abging. Alter Schwede! Wie konnte sich jemand so etwas ausdenken? Ich empfand überwiegend Abscheu beim Lesen, und trotzdem habe ich immer weitergelesen. Seltsam, nicht wahr? Wahrscheinlich gehören Aversion und Faszination irgendwie zusammen; der Roman hat mich noch Jahre verfolgt. Aber lange habe ich es in der Görlitzer Straße nicht ausgehalten, ich bin dann vorübergehend zu Rio und Lanrue in die Fabriketage in der Oranienstraße gezogen, manchmal bin ich auch in irgendwelchen heruntergekommenen Szenewohnungen mit Matratzenlagern auf dem Fußboden untergekommen – alles immer in Kreuzberg. An eine kann ich mich recht gut erinnern, es war eine Zwei-Zimmer-Ladenwohnung in der Dresdener Straße, dort wohnte ich mit einem Mädel namens Rolli, die mit Opium zugange war. Wir kannten – das hat jetzt aber nichts mit dem Opium zu tun – einen netten Typen, der nachts irgendwelche Milchprodukte ausfuhr. Jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe hielt er vor unserer Wohnung und versorgte uns mit Joghurt, Fruchtquark und solchen Sachen – das war immer eine leckere Erfrischung. Da ich von meinem Vater keine Unterstützung bekam, musste ich mich irgendwie durchschlagen, „Tu was Du willst und schade niemandem“ war meine Parole. Eine Zeit lang habe ich mit Lanrue zusammen an der Uni Raubdrucke verkauft, manchmal auch beim Sklavenhändler gejobbt. Raubdrucke waren meistens vergriffene Bücher, die im Siebdruckverfahren billig nachgedruckt wurden. Ich erinnere mich an ein Buch von Anna Freud über Psychoanalyse für Kinder, und an ein anderes über das Monopolkapital, von Baran und Sweezy, die gingen besonders gut. Aber auch aktuelle Veröffentlichungen wie die von Günter Wallraff wurden nachgedruckt. Das war natürlich illegal und auch nicht fair. Doch wir haben gedacht, wir müssen ja irgendwie überleben, also was soll’s, legal, illegal, scheißegal! Sklavenhändler waren kleine Arbeitsvermittlungen, da konntest du morgens ganz früh hingehen und bekamst einen schlechtbezahlten Job für einen Tag; Rio hat einen Song darüber geschrieben: „Sklavenhändler, hast du Arbeit für mich? Sklavenhändler, ich tu’ alles für dich. Und wenn ich 7,50 verdiene, geb ich dir 3,50 ab“.

Einmal, es war in der TU-Mensa, wo Lanrue und ich diese Raubdrucke verkauften, sprach uns ein junges Pärchen an, ob wir nicht einen Schlafplatz wüssten. Charlie und Gabi hießen die beiden. Wir gaben ihnen die Adresse von der Oranienstraße, und gleich am selben Abend kamen sie bei uns vorbei. Mit Gabi habe ich mich dann ein bisschen angefreundet. Wir haben im selben Bett geschlafen, ’n bisschen geknutscht und gefummelt; damals sagte man Petting dazu. Und morgens, oder besser gesagt vormittags, nach dem Aufwachen, habe ich als Erstes auf nüchternen Magen eine Rote Hand geraucht, die filterlose Zigarette der Marke Roth-Händle, so dass mir schwindelig wurde. Ich glaube, ich mochte dieses schwindelige Gefühl. Heute schaudert es mich bei dem Gedanken – was habe ich meinem Körper bloß zugemutet?

Natürlich haben wir nicht nur Zigaretten geraucht; ich hatte schon in Lübeck erste Erfahrungen mit Haschisch gemacht. Es gab Wochenenden, da bin ich nicht nach Hause, sondern mit Kommilitonen nach Hamburg gefahren. Wir sind dann meistens einmal die Reeperbahn rauf und runter und irgendwann in dieser Underground-Disco Grünspan gelandet, da wurde dann gekifft, wenn auch maßvoll. In Berlin ging es mit dem Kiffen aber richtig los, Schwarzer Afghane, Roter Libanese, Grüner Türke, der allerdings manchmal auch aus Marokko kam. Hasch brachte nicht nur diesen völlig neuen Kick in der Birne, es löste auch den Alkohol und die Zigaretten von der Verbotsliste ab, denn ich durfte ja jetzt, mit 18 Jahren, öffentlich trinken und rauchen. Somit hatte jeder Joint, der gedreht und geraucht wurde, auch etwas Konspiratives. Das war spannend und schaffte eine besondere Art von Gemeinschaftsgefühl. „Wie hat Haschisch auf dich gewirkt?“, bin ich immer wieder gefragt worden. Es ist nicht leicht zu beschreiben. Ich wurde passiv und friedlich. Diese Friedfertigkeit habe ich auch bei allen anderen Kiffern beobachtet, mit denen ich zusammen war. Alkohol macht oft aggressiv, kiffen dagegen … Es gibt darüber einen netten Witz: Drei Drogenfreaks sitzen zusammen im Knast, ein Kokser, ein Kiffer und ein LSD-Freak. Eines Tages beschließen sie, auszubrechen. Der LSD-Freak sagt, „Wir werfen jeder einen Trip ein, dematerialisieren uns und schweben durch die Gefängnisgitter nach draußen“; „Nein“, sagt der Kokser, „wir nehmen jeder eine dicke Line, überwältigen die Wärter und brechen durch“; daraufhin meldet sich der Kiffer und sagt, „Die Ideen sind gut, aber können wir das nicht morgen machen? Lasst uns doch erst mal einen Joint rauchen.“ In der Anfangszeit meines Kifferdaseins bekam ich immer Appetit auf Süßes, habe mir Vanillepudding gekocht oder bin nachts zu einem Automaten gestiefelt, in dem es Schokolade gab. Manchmal wird man auch albern, bekommt einen Lachanfall und weiß gar nicht, warum. Aber das Wichtigste war, glaube ich, ein Gefühl von Grenzüberschreitung, ein gewisser Rausch, das Gefühl, etwas völlig Neues zu erleben. Allerdings hatte das Kiffen auch Nachteile, jedenfalls bei mir. Die Libido wurde geweckt, aber die Potenz ließ nach; das war alles andere als „herausragend“. Ich habe einige Monate gebraucht, um dahinterzukommen. Das war aber noch harmlos im Vergleich zu den Depressionen, die ich bekam. Regelmäßiges Kiffen führte bei mir zu immer stärkeren Irritationen. Beim Fahren auf der Autobahn, wenn ich unter einer Brücke oder Unterführung hindurchfuhr, hatte ich Angst, mit meinem Kopf dort oben anzuschlagen. Irgendwann kam noch Paranoia dazu. Eines Tages bin ich beim Trampen auf der Autobahn von der Polizei aufgegriffen worden und war noch froh darüber. Ich war total durch’n Wind. Einmal bin ich in so einer typischen Kifferhöhle in Kreuzberg gelandet, mit Matratzenlager auf dem Fußboden, lauter langhaarige Freaks, von denen ich niemanden kannte. Rolli hatte mich dorthin mitgenommen. Es kreisten mehrere Joints, und auf einmal wurde mir ganz schwindelig, richtig schwarz vor Augen. Ich hatte wohl zu viel intus und bekam Angstzustände. Ich stand auf, um an die frische Luft zu gehen, machte zwei, drei Schritte und fiel ohnmächtig zu Boden. Als ich nach ein paar Minuten wieder zu mir kam, war ich mit Rolli allein. Sie sagte, die anderen hätten gedacht, ich wäre tot, und seien getürmt. Aber dann, als ich nach draußen ging, war ich baff. Alles war irgendwie neu, ich befand mich in einem noch nie zuvor erlebten Bewusstseinszustand, fast paradiesisch. Ich fühlte mich einfach super, mit einem tiefen inneren Frieden. Leider hielt dieser Zustand nur ein paar Stunden an, aber ich kann ihn bis heute nicht vergessen, so wunderschön war es. Ein anderes Ereignis war dramatischer. Es war Anfang der ’80er-Jahre, ich war mit den Scherben auf Tour und hatte schon Jahre nicht mehr gekifft. Nach einem Gig trafen wir uns noch im Hotelzimmer unseres Tour-Gitarristen Dirk Schlömer, als ein Marihuana-Joint kreiste. Da ich gut drauf war und auch schon etwas angetrunken, wurde ich leichtsinnig, zog zwei oder drei Mal und merkte ziemlich schnell eine negative Wirkung. Ich ging sofort auf mein Zimmer, und spürte auf einmal einen unwiderstehlichen Sog, mich aus dem Fenster zu stürzen. Es war die nackte Todesangst, urplötzlich war sie da. Das klingt unwahrscheinlich, ich weiß, aber es war so, als ob sich ein Geist meiner bemächtigt hätte, und dieser Geist befahl mir, aus dem Fenster zu springen. Das Hotel war ein Hochhaus, ich wohnte so weit oben, dass ich einen Sturz nicht überlebt hätte. In meiner Not lief ich ohne nachzudenken ins Bad, drehte die kalte Dusche auf, setzte mich angezogen darunter und fing an zu beten. In dieser Stellung, betend unter der Dusche, verharrte ich einige Zeit – vielleicht zehn Minuten oder so -, und allmählich ließ der schreckliche Sog nach. Und es blieb dabei: Je länger ich kiffte, desto mieser fühlte ich mich, und trotzdem hörte ich nicht auf damit, völlig absurd. Ich glaube, ich habe immer gehofft, die allerersten Zustände, die ja positiv waren, noch einmal wiederzuerleben. Doch dann, nach circa zwei bis drei Jahren, so gegen Ende ’72, habe ich konsequent aufgehört und stattdessen angefangen, Whiskey zu trinken. War deutlich bekömmlicher! Meine Lieblingsmarke war Jim Beam, ein Bourbon aus Kentucky. Der wurde zu meinem kleinen Helferlein, immer und überall gegenwärtig, so wie der kleine Glühbirnenroboter von Daniel Düsentrieb. Aber richtig betrunken habe ich mich, abgesehen von einigen Reisen nach Kentucky, selten. Hier muss ich wieder an den Trinkspruch von Werner Rieger denken: „Rein Gottes Wort“; es war fast so, als würde Jim Beam mir dabei helfen, den Anschluss nach „oben“ nicht zu verlieren.

Meine ach so geliebten ’60er-Jahre endeten – musikalisch gesehen – mit einer Überraschung. Der Gospelsong Oh Happy Day von den Edwin Hawkins Singers wurde im August ’69 zum internationalen Sommerhit! Das hat mich umgehauen. Gospels sind ja aus den Spirituals der schwarzen Sklaven in den USA hervorgegangen, und diese Musik findet den Weg in den kommerziellen Mainstream. Nicht zu fassen! Gesungen wurde über den „glücklichen Tag, als Jesus meine Sünden wegwusch“; ob das in Deutschland alle verstanden haben? Aber unbewusst hat wohl jeder irgendwie gefühlt, was gemeint war. Im selben Monat gab es das denkwürdige Woodstock-Festival in den USA, das hatte für mich zwei Höhepunkte: den Urschrei von Joe Cocker bei With A Little Help From My Friends und das Gitarrensolo von Pete Townshend bei See Me, Feel Me von den Who. Beide zusammen, Schrei und Solo, verschmolzen für mich zu einer musikalischen Essenz, die sowohl den bitteren Schmerz als auch die schönen Sehnsüchte einer rebellischen Jugend- und Studentenbewegung zum Ausdruck brachten, die über ein Jahrzehnt lang versucht hatte, die Welt positiv zu verändern.


Kai bei den Aufnahmen zu „Macht kaputt …“, 1970 (© Archiv Scherben)

Vage Sehnsucht

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