Читать книгу Ein Essen bei Viktoria - Jens Johler - Страница 3
Inverness
ОглавлениеEs kam mir länger vor, aber ich war tatsächlich erst zwei Stunden wieder in Berlin. Und schon betrunken.
Ich hatte meine letzten drei, vier Zigaretten geraucht und ebensoviele Gläser Sherry geleert. Danach überfiel mich der Heißhunger auf Spiegeleier. Vermutlich, weil ich schon zum Frühstück Spiegeleier gegessen hatte, bacon and eggs. Wenn ich morgens Spiegeleier esse, komme ich den ganzen Tag nicht davon los. Das ist wie mit dem Alkohol. Oder den Zigaretten. Ich rannte in die Küche, stellte den Herd an, wartete darauf, dass die Butter in der Pfanne schmolz, gab drei Eier hinein, legte zwei Scheiben Käse darauf, tat den Deckel auf die Pfanne und betete, dass das Zeug da drinnen endlich gar würde.
Im Kühlschrank war noch eine Flasche Sekt. Ich öffnete sie, füllte mir ein Glas ab, verschloss die Flasche wieder und stellte sie zurück. Dummerweise waren die Zigaretten alle. Jetzt hätte ich gern noch eine geraucht. Eine jetzt und eine nach dem Essen. Schade. Zum Automaten gehen kam nicht mehr in Frage. Ich wollte mit dem Rauchen aufhören. Unbedingt. Mit dem Rauchen, mit dem Saufen, mit dem Essen. Nur vorher noch die Spiegeleier.
Ich ließ die Eier auf den Teller gleiten, kramte Messer und Gabel aus der Schublade, rannte zurück ins Wohnzimmer und aß den Teller leer. Dazu trank ich den Sekt. Danach legte ich mich ins Bett. Mein Bauch war voll, meine Brust schmerzte, mein Kopf war benebelt –, da half nur noch das Bett. Ich hätte nicht lesen können, erst recht nicht schreiben, auch nicht mit irgendjemand reden, noch nicht einmal ins Kino gehen. Fernsehen vielleicht, fernsehen geht immer. Mein Fernseher war kaputt.
Ich lag im Bett und dämmerte vor mich hin. Wie spät war es? Halb sechs. Zu früh, um sich ins Bett zu legen. Zu früh zum Betrunkensein. Zu spät, um mit dem Tag noch etwas anzufangen.
Ich dachte an Andrea. Ich war nicht betrunken genug, um nicht an sie denken zu müssen, und nicht nüchtern genug, um mich auf etwas anderes konzentrieren zu können. Ich war ihr ausgeliefert. Es ist in Ordnung, dachte ich, es ist in Ordnung. Die Sache lief nicht mehr, schon lange nicht, sie ist im Grunde nie gelaufen, nicht einmal in den ersten Wochen. Es war Lüge, alles Lüge. Sei froh, dass es zuende ist, sei froh!
Ich war nicht froh. Ich dachte an den neuen Lover. Wahrscheinlich war er jünger als ich, lebensbejahend, sportlich, attraktiv, und was man sich als Frau so wünschen kann von einem Mann. Für einen resignierten, selbstzerstörerischen, jede gute Laune verderbenden Anfangvierziger hätte sie mich nicht verlassen müssen. Da hätte sie auch bei mir bleiben können.
Wahrscheinlich schläft sie jetzt mit ihm, dachte ich. Na und? So toll war es nicht. Sie sagte, es sei toll, ich sagte, es sei toll, und in Wirklichkeit habe ich gedacht, wie komme ich bloß hier raus. Ich habe mich immer nur nach einer anderen gesehnt. Oder nach dem Alleinsein.
Du wolltest allein sein, sagte ich zu mir, jetzt bist du es, was willst du mehr? Sie ist mit ihrem Lover glücklich, und du bist wieder ein freier Mann. Ist doch in Ordnung.
Aber je mehr ich dachte, es ist in Ordnung, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass es irgendetwas anderes war, eine Gemeinheit, eine Bosheit, eine Hinterhältigkeit. Ich wollte sie lossein und meine Ruhe haben, jetzt bin ich sie los und habe doch nicht meine Ruhe. Ich saufe, ich rauche, ich fresse, ich lasse mich gehen. Und alles nur, weil sie den neuen Lover hat.
Du bist ein Kind, sagte ich dann wieder zu mir, du bist ein alter Mann, aber ein Kind. Du bist mit ihr nicht glücklich, aber du willst auch nicht, dass sie mit einem anderen glücklich ist, das ist kindisch. Du bist nie richtig erwachsen geworden! Du kannst dich mit deinem verkniffenen Gesicht und der dahintersteckenden Kinderseele nirgendwo mehr blicken lassen. Du hast verloren, endgültig verloren.
Es gelang mir, mich im Bett aufzusetzen und erst das rotgemusterte und dann auch noch das grüngemusterte Kissen zwischen mich und die Wand zu schieben. Meine Nase war verstopft. Ich holte vom Fußboden ein Plastikfläschchen mit Nasenspray herauf und sprühte in jedes Nasenloch zwei Spritzer. Die Nase wurde freier. Meine Weinerlichkeit nahm ab.
Nein, dachte ich, ich habe nicht verloren. Morgen beginnt ein neues Leben. Heute ist nichts mehr zu machen, aber morgen. Ichhabe ein Recht zu leiden. Ich wollte, dass sie mich in Ruhe lässt, aber sie hat mich nicht in Ruhe gelassen, sie hat mich in Panik versetzt. Sie hat gewartet, bis sie mich in Panik versetzen konnte, sonst hätte sie mich schon eher verlassen, schon bevor sie ihren neuen Lover hatte. Aber so sind die Frauen, sie müssen unbedingt so lange warten, bis der neue Lover da ist, vorher verlassen sie dich nicht.
Noch Ende Februar hatte Andrea mir geschrieben, dass sie sich riesig darauf freue, mich in London zu sehen. Anfang März war sie auch noch herzlich und in Vorfreude. Und dann, am Tag vor meinem Abflug, auf einmal dieser Eilbrief: »Ich möchte Dich bei Deinem Londonaufenthalt nicht sehen, den Grund dafür wirst du erraten können.« War das in Ordnung? Ich hatte mich auf sie eingestellt, ich hatte alles arrangiert, den Flug, das Hotel, das Doppelzimmer, alles. Es fehlt nicht viel, und ich hätte sogar schon die Mütze gekauft, die Mütze für Mrs Kingdom.
Mrs Kingdom war ihre Wirtin. Sechzig Jahre, Witwe, zwei Töchter, ein bisschen schwerhörig. Das Zimmer, schrieb Andrea, sei so richtig gemütlich und nett, das Reihenhaus so typisch englisch, und das Frühstück so richtig lecker, mit cerials und allem. Manchmal koche Mrs Kingdom sogar für sie, obwohl sie ja nur bed and breakfast habe und nicht bed and dinner , aber trotzdem. Sie habe sich sogar schon überlegt, ob sie nicht ganz dableiben solle, nicht nur die sechs Wochen für den Englischkurs, sondern für immer! Bei Mrs Kingdom fühle sie sich so richtig wie zu Hause. Und eines Abends hatte sie mich angerufen und gesagt, ich müsse unbedingt noch eine solche Mütze besorgen, wie ich sie ihr vor ihrer Abreise geschenkt hatte, Mrs Kingdom sei nämlich ganz verrückt nach dieser Mütze.
Es war eine Mütze aus der Volksrepublik China. Außen braunes Leder, innen Kaninchenfell, an der Seite Ohrenklappen mit Bändern, die man unterm Kinn zusammenbinden konnte. Ich hatte sie Anfang der 70er Jahre in einem Laden gekauft, in dem es rotchinesische Hochglanzillustrierte, Jacken im Mao-Look und diese Mützen gab. Getragen hatte ich sie nie, sie war zu klein. Andrea passte sie hervorragend. Sie war in London, während sie Stunden um Stunden durch die Straßen lief und sich alles anschaute, die Häuser und die Menschen, die Busse und die Taxis, alles ganz toll, immer wieder auf diese Mütze angesprochen worden, das hatte sie schon in ihrem ersten Brief geschrieben. Ganz London stand gewissermaßen Kopf nach dieser Mütze. Und Mrs Kingdom wollte auch so eine.
Ich hätte sie auch gekauft, ich hatte nur den Laden nicht mehr finden können. Zum Glück. Sonst läge die Mütze jetzt bei mir herum. Das mit der Mütze war nochmal gutgegangen, das mit dem Flug und mit dem Doppelzimmer weniger. Wozu für eine ganze Woche ein Doppelzimmer reservieren und sogar im voraus bezahlen, wenn man am Ende doch allein ist und nicht länger als drei Tage bleiben will? Das war doch Unsinn! Drei Tage musste ich sowieso nach London, weil ich zusammen mit Viktoria eine alte Dame für den Rundfunk interviewen wollte. Den Rest der Woche hatte ich mit Andrea verbringen wollen, damit sie noch einmal mit mir zusammen durch die Straßen laufen und alles anschauen konnte, die Häuser und die Menschen, die Busse und die Taxis, alles ganz toll – und dann kam auf einmal dieser Eilbrief.
In meiner ersten Panik hatte ich Maria angerufen. Aber noch während bei ihr das Telefon klingelte, fragte ich mich, ob ich nicht wieder auflegen sollte. Sollte ich mich nicht lieber hinsetzen und warten, bis es vorbei war? Aber nein, sagte ich mir dann, du kannst nicht dein ganzes Leben lang immer nur warten, bis es vorbei ist, irgendetwas musst du tun. Wenn Maria nicht da ist, umso besser.
Maria war da. Ich sagte, ich hätte mich mit einer jungen Dame in London treffen wollen, und die junge Dame habe mich versetzt. Maria lachte.
»Nun ist das Doppelzimmer frei«, sagte ich, »bzw. das zweite Bett im Doppelzimmer, willst du mich nicht besuchen? Von Sonntag bis Donnerstag, auf meine Kosten, Flug und alles?«
»Das ist ja ein verlockendes Angebot«, sagte sie.
»Dann nimm es doch an«, sagte ich.
»Von wann bis wann, sagtest du?«
»Von Sonntag bis Donnerstag.«
»Ich werd's mir überlegen.«
»Ich muss es aber heute wissen«, sagte ich, »ich fliege ja schon morgen.«
»Gut«, sagte Maria, »ich rufe dich in einer halben Stunde wieder an.«
Danach war ich beruhigt. Die Panik hatte sich gelegt. Ich machte mich daran, den Koffer zu packen, vor allem das Aufnahmegerät, das Mikrophon und die Kassetten für das Interview, und als ich mich im Innersten befragte, ob es mir lieber wäre, wenn Maria ja sagte oder nein, da musste ich mir ehrlich sagen, dass es mir egal wäre.
Nach einer halben Stunde rief Maria wieder an und sagte, sie habe es sich überlegt, es sei wirklich ein äußerst verlockendes Angebot, und es täte ihr schrecklich leid, dass sie es nicht annehmen könne. Aber sie müsse noch einen Artikel für die Neue Zürcher Zeitung schreiben, und ich wisse ja, wie langsam sie arbeite.
»Ist gut«, sagte ich, »es war ja nur ein Angebot.«
»Ja«, sagte Maria, »und was für ein verlockendes!«
Am nächsten Morgen holten Viktoria, ihr Sohn Max und Winfried mich mit dem Taxi ab, und wir fuhren zum Flughafen. Winfried war Max' Kindermädchen oder, wie Viktoria richtig sagte, sein »Kindermann«.
Erst in London dachte ich wieder an Andrea. Sie hatte mir geschrieben, es sei warm und frühlingshaft. Es war kalt und regnerisch.
Im Hotel gab es eine Überraschung. Man hatte kein Zimmer für uns. Irgendein Computer hatte irgendetwas durcheinandergebracht. Das sagte man uns natürlich nicht sofort, sondern erst, nachdem man uns solange hingehalten hatte, bis wir kampfunfähig waren. Max verspielte währenddessen ein Vermögen an einem dieser elektronischen Geräte, mit denen man Flugzeuge abschießen kann, Winfried maulte, weil er unbedingt sofort die Stadt sehen wollte, Viktoria regte sich mehrere Male auf, ab, und wieder auf –, nur ich blieb ruhig. Ich hatte es nicht eilig. Je länger ich hier im Hotel saß und nicht wusste, was nun werden würde, desto geringer war die Gefahr, Andrea und ihrem Lover über den Weg zu laufen. Sie hockten jetzt wahrscheinlich in der Tate Gallery vor einem Turner oder Constable, und ich konnte vorbeikommen und mir ihr Glück anschauen. Aber darauf konnten sie lange warten, ich würde doch nicht kommen, weder in die Tate Gallery noch in die National Gallery. Die Kunst war mir für dieses Mal verleidet. Ich hätte nicht einmal an Cézanne meine Freude gehabt, mit Andrea und ihrem Lover davor.
Nach ungefähr drei Stunden kam der Manager des Hotels, drückte uns ein Begleitschreiben für ein anderes Hotel derselben Kategorie sowie zwei einzelne Pfundnoten für das Taxi in die Hand und wünschte uns alle Gute. Das Taxi fuhr ein paar Straßen weiter zu dem anderen Hotel, der Fahrer war mit den zwei Pfund zufrieden, und nur die Sache mit derselben Kategorie erwies sich als Schwindel. Aber inzwischen waren wir so müde, dass es auch das Obdachlosenasyl getan hätte. Wir schleppten die Koffer in unsere Zimmer und trafen uns eine halbe Stunde später im Foyer. Viktoria und Winfried wollten in die Stadt, Max musste wohl oder übel mit, und auch ich schloss mich ihnen zögernd an. Zwar fürchtete ich, unterwegs Andrea mit ihrem Lover zu begegnen, aber ich hatte auch keine Lust, allein in meinem Doppelzimmer auf dem viel zu großen Bett zu liegen und die Decke anzustarren.
Wir fuhren mit dem Taxi zum Trafalgar Square, und gleich nachdem wir ausgestiegen waren, sah ich sie: Andrea! Mit Lover! Eng umschlungen! Direkt neben einem der großen Löwen, die die Säule mit dem Admiral bewachen! Geistesgegenwärtig versteckte ich mich hinter dem breiten Rücken des Kindermannes. Mein Herz klopfte, meine Knie schlotterten, mein Atem stockte. Es war demütigend. Ich hatte es vorausgesehen, es hatte so kommen müssen, ich kannte die Zufälle, man konnte sich hundertprozentig auf sie verlassen. Ich hätte im Hotelzimmer bleiben sollen, soviel war sicher. Ich fühlte mich wie ausgestoßen, wie einer, der auf dieser Welt nichts mehr zu suchen hat, weder in London noch in Berlin noch sonstwo, und vor allem nicht auf dem Trafalgar Square. Und das, obwohl London meine Stadt war! Ich hatte sie für mich erobert, vor Jahrzehnten schon. Andrea war nicht die erste, die hier einen Englischkurs mit bed and breakfast besuchte, ich hatte das vor fünfundzwanzig Jahren schon gemacht, da lag Andrea noch so gut wie in den Windeln!
Das Gefühl der Demütigung wurde nicht geringer, als ich erkennen musste, dass Andrea nicht Andrea und ihr Lover höchstwahrscheinlich auch nicht ihr Lover war. Ich hatte mich blamiert.
Wir bogen in den Strand ein und kauften im Adelphi Karten für das Musical Me and My Girl. Nur noch zwei Stunden, dann würden Viktoria und ich im Theater sitzen, und wenn Andrea nicht noch unvermutet dort auftauchte, dann war der Tag gerettet.
Im Covent Garden, beim Cappucino, erzählte ich Viktoria von dem Eilbrief. Ich hatte es eigentlich nicht verraten wollen, aber die Begegnung mit Andrea hatte mich weich gemacht, obwohl es nicht Andrea gewesen war. Viktoria konnte mit der Geschichte wenig anfangen. Sie ließ sich den Text des Eilbriefes dreimal wiederholen, schüttelte verständnislos den Kopf und sagte schließlich: »Wieso glaubst du, dass sie einen Lover hat?«
»Was denn sonst?« sagte ich.
»Keine Ahnung.«
»Und der Brief?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie, »ich finde ihn kryptisch.«
Kryptisch! Das war es! Der Brief war kryptisch! »Warum ich Dich bei Deinem Londonaufenthalt nicht sehen will, wirst du sicherlich erraten können.« Kryptisch. Viktorias Fähigkeit, zur rechten Zeit das rechte Wort zu finden, war meine Rettung.
Das Wort befreite mich von dem Verdacht, dass es die Abfuhr gewesen war, die mich geärgert hatte, und der Brief bloß Nebensache. Nun aber, wo Viktoria das erlösende Wort gefunden hatte, war dieser Verdacht mit einem Mal verflogen. Der Brief war kryptisch, und das Kryptische daran war ärgerlich. Einen neuen Lover haben, ist eine Sache, einen kryptischen Eilbrief schreiben, eine andere.
Das Wort erleichterte mich so, dass ich nicht einmal mehr darauf bestand, mit dem Taxi ins Hotel zu fahren. Auf Winfrieds Wunsch fuhren wir mit der berühmten Londoner tube. Das brachte noch einmal das Risiko mit sich, Andrea und ihrem Lover zu begegnen, aber diesmal ging alles gut.
Der nächste Tag war so gut wie verplant. Nachmittags das Interview, abends nochmal Theater, morgens meinen Rückflug buchen. Ich hatte ja immer noch das Ticket für die ganze Woche, von Freitag bis Donnerstag, aber was sollte ich noch hier, wenn Viktoria, Max und Winfried am Sonntag wieder abgeflogen waren? Mich vor Andrea verstecken? Das konnte ich in Berlin besser.
Viktoria und Winfried wollten vormittags Bahnhöfe besichtigen, Charing Cross, St.Pancrass, Viktoria Station und Paddington. Max wollte unbedingt auch noch ins London Dungeon, ein Wachsfigurenhorrorkabinett. Viktoria war davon nicht angetan, Winfried auch nicht, aber Max setzte es durch.
Ich fuhr allein zur Shaftesbury Avenue und kaufte im Lyric Theatre eine Theaterkarte. Dann ging ich zur Regent Street, um den Flug zu buchen. Unterwegs, am Picadilly Circus, aß ich ein »Shawarma«, eine Art indisches Kebab. Das Leckere daran war die scharfe Currysauce, und das Besondere die Tatsache, dass ich vor einem halben Jahr schon einmal hier gestanden hatte, mit Andrea. Sie war zum ersten Mal in London und fand alles ganz toll, den Picadilly Circus, die Coca-Cola-Reklame, die Erosstatue, das Shawarma und die Idee, hier in den Ferien einen Sprachkurs zu machen, mit bed and breakfast. Ob ich sie dann besuchen kommen würde?
Im Büro der British Airways war es ziemlich voll. Man musste seinen Namen auf eine Liste setzen lassen und warten, bis man aufgerufen wurde. Ich setzte mich hin und blätterte in einem Flugplan herum. Es war sehr interessant zu sehen, wohin man mit British Airways fliegen konnte. Nach New York, zum Beispiel, oder nach Colombo, Sidney oder Rio de Janeiro, und noch an eine Vielzahl anderer Orte, in denen Menschen lebten und sich irgendwie zu Hause fühlten. Sogar nach Inverness. Merkwürdigerweise landete ich immer wieder bei Inverness. Der Name erinnerte mich an irgendetwas, ich wusste nur nicht mehr an was. Inverness. Liegt irgendwo in Schottland, dachte ich, eine Menge Schafe, Whisky, Nordseeöl, sonst nichts. Und dennoch hatte ich mit einem Male die größte Lust, nach Inverness zu fliegen. Warum nicht Inverness, sagte ich zu mir, was spricht dagegen? Inverness – das klingt. Vielleicht findest du da dein Glück. Einen Ort, von dem du ausgehen und an den du wieder zurückkehren kannst. Warum sollte Inverness nicht dieser Ort sein? Es ist vielleicht verrückt, nach Inverness zu fliegen, aber so ganz verrückt kann es nicht sein, sonst würden British Airways keine Linienflüge dorthin anbieten. Inverness ist meine Rettung, dachte ich und schaute mich erschrocken um, weil ich nicht wusste, ob ich es laut oder leise gedacht hatte: Du gehst jetzt, wenn du aufgerufen wirst, an desk number soundsoviel und sagst, ich möchte einen Flug nach Inverness, und wenn der British Airways-Angestellte dich fragt, ob du es auch wirklich ernst meinst, sagst du ja. So fest war ich entschlossen.
Als mein Name aufgerufen wurde, ging ich zum Schalter mit der Nummer vierzehn, schaute dem Angestellten fest in die Augen und sagte, ich wolle einen Flug nach Berlin.
So bin ich, das ist es, was mich von Andrea unterscheidet. Ich habe keinen Mut. Ich weiß, obwohl ich es nicht kenne, dass Inverness meine Rettung ist, und gehe, nur weil ich Angst vor dem Neuen habe, zurück nach Berlin.
Das Interview mit Mrs Arnold, der Witwe des jüdischen Schwänkeschreibers Franz Arnold, lief glatt. Die alte Dame wusste über ihren Mann nicht mehr, als Viktoria und ich schon vorher gewusst hatten, und das war herzlich wenig, aber sie sagte es mit ihrer eigenen Stimme und mit ihren eigenen Worten, und damit hatten wir die »Originaltöne«, auf die es ja beim Rundfunk ankommt, im Kasten. Im übrigen war Mrs Arnold reizend. Sie hatte Tee gemacht und Schwarzwälderkirschtorte besorgt. Es war eine tiefgefrorene Torte, sie war noch nicht ganz aufgetaut, und Viktoria sagte: »Oh, Halbgefrorenes, wie lecker!«
Das Theaterstück – »Fool for Love« von Sam Shepard – war grauenvoll. Es handelte von zwei jungen Menschen, die aus irgendeinem Grunde weder zusammensein noch auseinandergehen konnten. Unentwegt schlugen sie mit dem Kopf oder den Fäusten gegen die Wand, stürzten aus dem Zimmer, kamen zurück, stürzten wieder hinaus und kamen wieder zurück, um noch einmal mit dem Kopf oder den Fäusten gegen die Wand zu hämmern. Ich nahm mir fest vor, in der Pause zu gehen, aber als der Vorhang fiel und das Licht anging, stellte sich heraus, dass es keine Pause gab, sondern Schluss war.
Nach der Aufführung war ich mit Winfried verabredet, aber er war noch nicht da. Also machte ich eine Runde durch Soho, das gleich um die Ecke lag. Ich kam an einer Menge Sexbars und Peepshows vorbei und wäre gern hineingegangen, aber ich war zu feige. Stell dir vor, sagte ich mir, du kommst gerade aus der Peepshow und triffst Winfried, wie peinlich. Oder du gehst hinein und triffst ihn da drinnen. Noch peinlicher.
Als ich zum Lyric Theatre zurückkam, war Winfried da. Er trug einen Jeansanzug, und seine krausen Haare standen wild vom Kopf ab. Er hatte viel zu lange Beine für seinen kurzen, mächtigen Oberkörper und wirkte wie ein Zwerg auf Stelzen. Sein rundes Gesicht zeigte wie immer ein Lächeln, das zugleich mild und überheblich wirkte. Er kam gerade aus dem Barbican Centre, wo es ein Konzert gegeben hatte.
»Wie war das Konzert?« fragte ich.
»Wie war das Theater?« fragte er.
Wir gingen ein paar Straßen weiter in die Frith Street zu Ronnie Scott's Club, setzten uns an einen Tisch und bestellten eine Flasche Macon. Vorn, auf der Bühne, spielte die »GB Blues Band«, und es sang ein Schwarzer mit Namen Roots Jackson. Ich wollte Winfried die Harmoniefolge des Blues erklären, aber bevor ich noch richtig damit angefangen hatte, hatte er es schon begriffen.
Als wir wieder im Hotel waren, wollte Winfried unbedingt noch einen Drink. Die Bar war offen. Die Pubs schlossen um elf oder halb zwölf, die Hotelbars um zwei oder drei. Winfried nahm wieder Weißwein, ich einen doppelten Whisky. Inmitten eines englischen, irischen und schottischen Stimmengewirrs kam unser Gespräch wie zufällig auf die Liebe. Winfried vertrat genau die Ansichten, die ich vor zwanzig Jahren vertreten hatte. Man müsse das Geistige mit dem Körperlichen vereinen, sagte er, die Mathematik und die Philosophie mit der Frau, die Musik und die Literatur mit der Frau, die Malerei und die Architektur mit der Frau. Ich machte dazu ein skeptisches Gesicht. »Und?« fragte ich, »ist es dir gelungen?«
»Ich habe es immerhin erlebt«, sagte er.
»Und warum ist es vorbei?«
»Woher weißt du, dass es vorbei ist?«
»Ich sehe es dir an«, sagte ich.
»Und wenn schon«, sagte er, »das heißt noch lange nicht, dass es unmöglich ist.«
»Nein«, sagte ich, um nicht immer nur den resignierten Anfangvierziger zu spielen, »vielleicht ist es ja möglich, ich glaube nur nicht mehr daran. Aber ich wünsche dir dabei viel Glück.«
»Danke«, sagte Winfried, »das wird mir sicherlich viel helfen.«
Es hat keine Zweck, dachte ich, es hat einfach keinen Zweck. Es steht mir auf der Stirn geschrieben, dass mein Leben ausläuft, dass ich das Spiel nur noch pro forma zuendebringe, wie eine Fußballmannschaft, die hoffnungslos im Rückstand liegt und nur noch darauf wartet, dass der Schlusspfiff kommt.
Und dann, auf einmal, dachte ich an Inverness. Und wieder erschien es mir als die einzige Rettung. Ich fliege morgen nicht nach Berlin, ich fliege nach Inverness, noch habe ich die Wahl. Und während ich das dachte, lächelte ich Winfried so freundlich, ja euphorisch, an, dass er verwirrt von seinem Barhocker herunterrutschte und überhastet stammelte, er müsse jetzt aber wirklich auf sein Zimmer gehen, es sei schon viel zu spät.
Am Morgen wachte ich mit einem fürchterlichen Kater auf. Ich ging hinunter in den Frühstücksraum und dachte, ich muss mich entscheiden, Berlin oder Inverness. Oder sterben. Am meisten war mir nach Sterben zumute. Ich hatte den Teller mit Spiegeleiern vor mir, bacon and eggs, streute Salz auf die Eier und wünschte, es wäre Strychnin. Dann fiel mir ein, dass ich nicht wusste, ob man Strychnin streuen kann. Ich fragte Winfried, und der wusste es auch nicht.
Viktoria sagte, ich möge bitte damit aufhören, das sei kein Thema, aber Max hatte bereits Blut geleckt. Strychnin sei nämlich ein ganz gefährliches Gift, sagte er, und im London Dungeon habe er eine Frau gesehen, die habe acht Männer mit Strychnin vergiftet. Es sei allerdings keine wirkliche Frau gewesen, auch keine wirklichen Männer und kein wirkliches Strychnin, sondern alles nur aus Wachs. Ob ich schon mal im London Dungeon gewesen sei? »Nein«, sagte ich.
Ich müsse unbedingt mal hingehen, sagte Max. Es gebe da Menschen, die hätten anderen Menschen getötet, zerstückelt, gekocht und aufgegessen, aber natürlich alles nur aus Wachs. Er würde am liebsten gleich nochmal hingehen, es sei viel spannender als Sesamstraße.
»Hör endlich auf damit!« sagte Viktoria. Sie kramte ein paar Münzen aus ihrer Handtasche und schickte ihn zu einem Apparat, an dem man Flugzeuge abschießen konnte und den es auch in diesem Hotel gab, obwohl es nicht dieselbe Kategorie war.
Dann gingen wir in unsere Zimmer und packten die Koffer. Ich machte es genauso, wie ich es am Abend zuvor im Theater gesehen hatte, in »Fool for Love«: alle Sachen irgendwie hineinschmeißen und den Reißverschluss zuziehen. Ich hätte auch gern noch ein bisschen mit dem Kopf oder mit den Fäusten gegen die Wand geschlagen, aber wozu, wenn niemand zuschaut.
Die Fahrt nach Heathrow war beruhigend. Man durfte im Zug nicht rauchen, das war gut. Man musste schweigen, das war besser. Ich hatte Max erzählt, man dürfe in den Londoner U-Bahnen nicht reden, und wie durch ein Wunder hatte er es geglaubt. Und wirklich, wenn der Zug an einem Bahnhof hielt, war es darin so still wie in einer Kirche. Man spürte Gottes Nähe. Natürlich auch, weil man nicht rauchen durfte.
In Heathrow sagte ich, ich würde nicht mit nach Berlin fliegen, ich wolle woandershin.
»Wohin denn?« fragte Viktoria.
»Ich weiß noch nicht«, sagte ich.
»Soll das ein Witz sein?« sagte Winfried.
»Nein«, sagte ich, »kein Witz.«
»Also dann, bis nachher!« sagte Viktoria. »Du kommst ja doch.«
Wieso ist sie so sicher, dachte ich, als ich zum tickets-and-reservations-desk ging. Was hat sie davon, wenn ich mit ihr nach Berlin fliege? Sie geht mit ihrem Sohn und ihrem Kindermann nach Hause, und ich muss wieder zurück in meine Wohnung, die kein zu Hause ist, sondern ein Obdachlosenasyl oder meinetwegen ein Luxusobdachlosenasyl. Nein, dachte ich, ich fliege jetzt nach Inverness. Ich suche mir ein kleines cottage und eine Mrs Kingdom und fange an zu arbeiten. Ich habe immer nur in Ruhe arbeiten wollen, mehr nicht, stattdessen bin ich wie ein Nomade in der Welt umhergeirrt und habe eine Frau gesucht. Ich wollte eine Frau, die mir das Arbeiten ermöglicht, aber ich habe immer nur Frauen getroffen, die es mir geradezu unmöglich gemacht haben, indem sie mit anderen Männern davonliefen und mir kryptische Eilbriefe schrieben. Wenn ich jetzt nicht nach Inverness fliege, dachte ich, dann habe ich verspielt. Dann tue ich wieder nur das, was Viktoria sagt, anstatt das zu tun, was meine innere Stimme sagt. Du fährst jetzt sofort nach Inverness, rief meine innere Stimme, als ich in der Schlange vor dem tickets-and-reservations-desk stand, nach Inverness!
Je näher ich dem Schalter kam, desto glücklicher wurde ich. Mein Gesicht entspannte sich, mein Körper straffte sich, und als ich an die Reihe kam, brauchte ich mich nicht einmal zu räuspern, so entschlossen und innerlich gefestigt war ich. Ich machte den Mund auf, um zu sagen, ich hätte ein Ticket nach Berlin und wollte es gegen eins nach Inverness eintauschen, aber bevor ich über Berlin hinausgekommen war, stürzte eine atemlose und völlig aufgelöste Frau herbei und bat mich, sie vorzulassen. Ihr Flugzeug starte in zwanzig Minuten, sagte sie, und sie habe noch nicht einmal ein Ticket. Please!
Ich sah, dass diese Frau in äußerster Not war und ließ sie vor. Sie wollte nach Birmingham. Während die British Airways-Angestellte auf dem Computer herumtippte, erzählte die Frau in ihrem atemlosen Englisch, sie sei gerade aus Amerika gekommen und habe zwei Tage und zwei Nächte nicht geschlafen. Ihr Vater sei schwerkrank, deswegen müsse sie nach Birmingham, aber das Flugzeug gehe schon in wenigen Minuten, und Koffer habe sie auch noch. Wohin ich denn wolle?
»Nach Berlin«, sagte ich.
Oh, Berlin! sagte die Frau, da sei ihr Mann sehr oft gewesen. Er sei sehr angetan von Berlin und den Deutschen. Man sage zwar, die Deutschen könnten sich nicht benehmen, aber das sei nur ein Vorurteil. So redete sie weiter und weiter und steigerte sich dabei immer mehr in ein Loblied auf Deutschland und die Deutschen hinein, und als sie ihr Ticket in der Hand hielt, musste ich sie unsanft und schon unhöflich an ihre Koffer und ihren Vater in Birmingham erinnern, damit sie nicht bis in alle Ewigkeit von Berlin und von den Deutschen schwärmte.
»Womit kann ich Ihnen helfen«, sagte die British Airways-Angestellte. In diesem Augenblick kam aus dem Lautsprecher der Aufruf für den Flug nach Berlin, second call. Es klang wie ein Befehl. Ich nahm meinen Koffer mit den Originaltönen von Mrs Arnold, ging zum check-in und zeigte mein Ticket.
»Die Economy Class ist voll«, sagte die junge Dame, die in ihrer blauroten Uniform bezaubernd aussah, »ich gebe Ihnen Club Class.« In der Abflughalle saßen Viktoria, Max und Winfried.
»Da bist du ja«, sagte Viktoria und wunderte sich überhaupt nicht darüber, dass ich nicht nach Inverness geflogen war.
Ich setzte mich mit meiner boarding card neben den Kindermann und sagte, ich hätte Club Class.
»Ist das was besseres?« fragte er.
»Ich denke schon«, sagte ich.
»Und warum?«
Das bessere an der Club Class war, dass man soviel trinken durfte, wie man wollte. Champagner, Weißwein, Brandy, Rotwein. Oder Tomatensaft. Ich nahm Champagner, zwei Flaschen, eine zum Essen, eine für hinterher. Das Essen lehnte ich ab. Der Mann zu meiner Linken war ein großer, kräftiger, blonder Mann, der mich an den berühmten Tenor Peter Hofmann erinnerte, wahrscheinlich weil er Peter Hofmann war. Er besetzte mit seinem rechten Ellenbogen sofort die ganze Lehne zwischen uns, so dass mein linker Ellenbogen von da an in der Luft hing. Der Mann zu meiner Rechten war Professor für Altenpsychiatrie. Er kam gerade aus Glasgow von einem Kongress der Weltgesundheitsorganisation. Er war sehr optimistisch. Die alten Leute seien schwer im kommen, sagte er. Im Jahre zweitausend werde es doppelt soviele alte Leute geben wie heute. Selbst in den Entwicklungsländern sei dieser Trend schon zu bemerken. Das Problem dabei sei aber, sagte er, dass die alten Menschen keine Lobby hätten, man müsse für sie sorgen und für sie eintreten, und dazu sei er da.
»Und Sie?« fragte er. »Was machen Sie?«
»Journalist«, sagte ich und erzählte von Mrs Arnold und den Originaltönen.
»Dann machen Sie doch eine Sendung über Altenpsychiatrie«, sagte er, »was halten Sie davon?«
In diesem Moment setzte das Flugzeug zur Landung an. Ich hielt mir die Ohren zu, um den Druck auszugleichen, und der Professor redete weiter.
In Berlin schneite es, obwohl es bereits Mitte März war. Viktoria, Max, Winfried und ich nahmen gemeinsam ein Taxi. Ich stieg als erster aus. Ich nahm den Fahrstuhl, schloss die Wohnungstür auf und war wieder allein. Auf dem Teppich vor der Tür lagen Briefe von der Bank, der Versicherung, dem Finanzamt und der Bausparkasse. Das ist dein Leben, die Bausparkasse. Kein Brief von Andrea, kein Lebenszeichen von irgendeinem Menschen, nur Briefe von der Bank und von der Bausparkasse. Das hast du offenbar gewollt. Du bist nicht in Inverness, du bist in Berlin. Dies ist kein cottage, dies ist ein Luxusobdachlosenasyl. Und trotzdem! Trotzdem hörst du morgen auf. Ab morgen hörst du auf, zu rauchen und zu trinken, und fängst an zu arbeiten. Heute noch die drei, vier Zigaretten, und dann Schluss. Gerade noch das bisschen Sherry, und dann Schluss. Du musst nur wollen. Wenn du etwas willst, dann schaffst du es auch, das war bisher immer so, du hast nur noch nie etwas gewollt!
Und dann überfiel mich der Heißhunger auf Spiegeleier. Ich aß sie, legte mich ins Bett, dämmerte vor mich hin, dachte an Andrea – und auf einmal klingelte das Telefon.
Es war nicht Andrea, es war Maria.
»Du bist ja schon wieder da«, sagte sie, »damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet.«
»Warum rufst du dann an?«
»Ich hatte einfach den Impuls«, sagte sie. »Wie war's denn in London?«
»Geht so.«
»Was machst du gerade?«
»Ich liege im Bett, bin vollkommen besoffen und habe drei Spiegeleier gegessen.«
»Warum Spiegeleier?«
»Weil ich aus London komme«, sagte ich und hatte das Gefühl, damit alles erklärt zu haben, Andrea, Viktoria, die Originaltöne und den Kindermann.
»Ich würde dich gern sehen«, sagte Maria.
»Schade, dass ich so besoffen bin«, sagte ich. »Wenn ich gewusst hätte, dass du anrufst, hätte ich die Spiegeleier nicht gegessen.«
»Macht doch nichts.«
»Doch, ich würde sonst zu dir kommen und dich in die Arme nehmen.«
»Komm«, sagte Maria, »komm doch einfach. Komm!«
»Ich kann nicht, ich bin zu besoffen.«
»Dann komme ich zu dir.«
»Ist gut«, sagte ich, »aber nicht sofort. Ich muss mich erst duschen und zum Zigarettenautomaten gehen, ich habe keine Zigaretten mehr.«
»Lass doch das Rauchen«, sagte sie, »das schmeckt doch nicht.«
»Nein, es schmeckt nicht, und ich habe mir auch vorgenommen, damit aufzuhören. Aber erst morgen. Heute schaffe ich es noch nicht.«
»Egal«, sagte Maria, »ich komme jetzt.«
Ich stand auf, ging unter die Dusche, rasierte mich, zog mir was an und ging hinunter zum Automaten. Ich zog eine Schachtel West und dachte an Andrea. Es war ihre Marke. Ich hätte die Schachtel gern wieder umgetauscht und Marlboro genommen, aber dafür war der Automat nicht eingerichtet. Ich ging zurück in meine Wohnung, zündete mir eine West an und schaute aus dem Fenster. Es schneite, und ich dachte, jetzt könnte Maria kommen. Ich ging zum Plattenspieler und überlegte, ob ich das erste Klavierkonzert von Beethoven auflegen sollte oder die letzte Platte von Van Morrison.
Es klingelte und ich machte die Tür auf. Maria leuchtete mich aus ihren schmalen Augen heraus an. Sie trug einen schwarzen Mantel, der sehr bieder aussah. Ihre dunkelblonden Haare waren so lang und voll, dass ich mich wunderte, woher ihr kleiner Kopf die Kraft hatte, eine solche Last zu tragen. Als sie in die Wohnung kam, sagte sie: »Chopin.«
»Nein, Beethoven.«
»Ach ja«, sagte sie, als das Orchester wieder einsetzte, »jetzt erkenne ich es. Erstes Klavierkonzert.«
Ich nahm ihr den Mantel ab, und wir gingen ins Wohnzimmer. Maria war noch nie bei mir gewesen, und als wir das Zimmer betraten, lachte sie laut auf.
»Ja«, sagte ich, »so richtet man sich heute ein. Es ist nicht Ikea, sondern eine Klasse teurer, aber im Grunde ist es nur ein besseres Ikea.«
»Das gefällt mir so an dir«, sagte Maria. »Du richtest dich auf diese Weise ein, aber du nimmst es nicht ernst. Ich kenne Leute, die richten sich so ein und glauben auch noch daran.«
Ich sah, dass in meiner Wohnung alles voll Chrom und Glas und schwarzgebeizter Esche war, und ich schämte mich nicht dafür, dass ich es nicht ernst nahm, sondern dafür, dass ich keine Wohnung hatte, die ich ernst nahm. Nur ein Obdachlosenasyl aus Chrom und Glas in italienischem Design. Ich bot Maria eine Zigarette an. Sie lehnte ab. »Lass uns so tun, als ob nichts gewesen wäre«, sagte sie.
»Wieso? Was soll denn gewesen sein?«
»Du bist immer so verletzend.«
»Wieso verletzend?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie, »ich sage irgendetwas, und du sagst etwas Verletzendes dazu.«
»Das ist mir gar nicht bewusst.«
»Umso schlimmer.«
»Es liegt vielleicht daran, dass du so enthusiastisch bist«, sagte ich. »Du findest immer alles großartig, die Menschen und die Kunstwerke, die Musik und die Malerei, das Theater und die Literatur. Ich finde das eigentlich auch, aber wenn du davon schwärmst, dann kann ich nicht mehr mit. Ich muss es dann irgendwie zurechtrücken.«
»Lass uns nicht mehr darüber reden«, sagte sie, »wir machen sonst alles kaputt.«
»Ist gut«, sagte ich und umarmte sie. Aber ich kam mir lächerlich vor inmitten all des Chroms und des Glases und des italienischen Designs und musste lachen. »Komm«, sagte ich und zog sie ins Schlafzimmer.
»Meinst du, es geht gut?«
»Ja«, sagte ich, »es geht gut.«
Wir legten uns aufs Bett, und es ging gut.
»Lass uns rausgehen«, sagte Maria nach einer Weile, »ich halte es hier nicht mehr aus.«
»Wohin?« sagte ich. »Es schneit.«
»Irgendwohin, wo man einen Calvados trinken kann.«
»Ich weiß nicht wo«, sagte ich. »Ich lebe jetzt seit sechzehn Jahren in dieser Stadt und weiß noch immer nicht, wo man einen Calvados trinken kann.«
»Wir finden schon etwas. Lass uns nur erstmal gehen.«
Wir zogen uns an und gingen hinunter auf die Straße. »Was hast du eigentlich in London gemacht?« fragte Maria.
»Eine alte Dame interviewt. Eine Mrs Arnold. Für den Funk.«
»Wie langweilig«, sagte sie.
Wir gingen in ein Restaurant, in dem Maria schon einmal gewesen war. Es hieß »Josef«. Es war ein modern gestyltes Restaurant in einem alten Fachwerkhaus in Moabit. Wir sagten dem Kellner, dass wir nichts essen wollten, sondern nur Calvados trinken, und der Kellner sagte, wunderbar.
Zum Dank dafür bestellten wir doch etwas zu essen, eine Suppe mit Fleischklößchen in einem grauweißen Teig. Maria aß die Suppe und die Fleischklößchen und sonderte den Teig aus. Ich aß, wie immer, alles, was auf den Tisch kam. Ich war Maria dankbar dafür, dass sie den Teig nicht lobte, bevor sie ihn stehenließ, wie Andrea es getan hätte, und auch dafür, dass sie tatsächlich Calvados trank. Wenn Andrea sagte, lass uns einen Wein trinken, dann trank sie Mineralwasser, und ich fühlte mich betrogen. Ich war froh, dass ich mit Maria zusammen war und nicht mit Andrea.
Maria erzählte von einem Artikel, den sie an die Neue Zürcher Zeitung geschickt hatte, und den die Neue Zürcher Zeitung auch tatsächlich abgedruckt hatte, obwohl es die beste deutschsprachige Zeitung war. Ich erzählte noch einmal von Mrs Arnold und von ihrem Mann, dem Schwänkeschreiber.
»Lass uns aufhören«, sagte Maria, »es ist langweilig. Wir reden miteinander, als würden wir dasselbe machen, nur weil du schreibst, und weil ich schreibe, aber das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, überhaupt nichts.«
Ich bestellte noch einen Calvados und die Rechnung. Und dann kam Inverness. Die Rechnung war bereits bezahlt, als Maria anfing, von Inverness zu reden. Ausgerechnet an diesem Tag. Ausgerechnet im Josef. Ausgerechnet Inverness.
»Wieso Inverness?« sagte ich. »Wie kommst du jetzt auf Inverness?«
»Da wollte ich doch immer hin.«
»Nach Inverness?«
»Aber ja!« sagte Maria. »Ich war doch schon mal da, vor fünf oder sechs Jahren, und ich hatte mir geschworen, wenn ich mit dem Studium fertig bin, miete ich mir dort ein Cottage und fange an zu schreiben. Das habe ich dir übrigens mal erzählt, erinnerst du dich?«
»Nein«, sagte ich. »Tut mir leid.«
»Ist ja auch egal, auf jeden Fall ist Inverness für mich der Ort. Der Ort, an dem ich bleiben kann. Der Ort, von dem ich ausgehen und an den ich wieder zurückkehren kann. In Berlin kann ich nicht bleiben. Ich liebe Berlin, aber es ist schrecklich. Die Wohnung ist zu kalt, ich kann die Kohlen nicht bezahlen, und ich mag nicht immer nur von Körnern leben. Was die Neue Zürcher bezahlt, reicht gerade für die Körner. Du weißt, ich schreibe langsam. Es ist gut, was ich schreibe, es ist sogar sehr gut, aber es geht zu langsam, ich kann davon nicht leben. Und ich will auch gar nicht für die Zeitung schreiben, nicht einmal für die Neue Zürcher, obwohl es wirklich die beste deutschsprachige Zeitung ist, trotzdem. Ich mache das nur wegen des Geldes.«
»Dann lass es doch.«
»Und wovon soll ich leben?«
»Das wird sich schon finden.«
»Wenn ich in Inverness wäre«, sagte Maria, »dann wäre alles anders. Ich muss nur irgendwie dort hinkommen. Ich würde mir ein Cottage mieten, meine Schreibmaschine aufstellen und anfangen. Ich habe alles im Kopf, Drehbücher, Romane, Kurzgeschichten, Gedichte. Es ist alles hier drin. Ich bräuchte nur einen Ort, an dem ich bleiben kann, in meiner Wohnung kann ich nicht bleiben. Es ist zu einsam. Es ist zu kalt. Und es gibt immer nur diese Körner, die zwar gesund sind, die ich aber langsam hasse. Ein kleines Cottage in Inverness, und ich hätte die Kraft, alles zu schreiben, was hier drin ist, die Drehbücher, die Kurzgeschichten, die Romane und die Gedichte.«
»Lass uns nach Inverness gehen!« rief ich plötzlich und bestellte noch zwei Calvados. »Nur wir beide! Ganz allein!«
»Meinst du das ernst?«
»Aber ja! Lass uns die Koffer packen und losfliegen! Erst nach London, und von da nach Inverness.«
Ich war fest entschlossen. Es war kein Zufall, dass ich seit gestern morgen unaufhörlich an Inverness gedacht hatte. Es war kein Zufall, dass Maria mich angerufen hatte. Es war ein Zeichen.
Es lief alles wie vorherbestimmt darauf hinaus. Nach Inverness!
»Ich muss noch einen Artikel für die Neue Zürcher schreiben«, sagte Maria.
»Lass ihn sausen«, sagte ich, »er bringt doch nichts.«
»Er bringt fünfhundert Mark.«
»Was sind fünfhundert Mark gegen Inverness?«
»Und wovon soll ich leben?«
»Von mir! Ich zahle alles. Den Flug, die Kohlen, die Körner, alles. Komm mit nach Inverness! Wir mieten uns ein Cottage und arbeiten, jeder für sich. Du in dem einen Raum, ich in dem anderen, und das eine wird mit dem anderen nichts zu tun haben, gar nichts. Du schreibst deine Drehbücher und Romane, ich schreibe die Geschichten, die ich schon immer schreiben wollte, und wir reden nicht darüber und lesen es einander nicht vor, wir gehen nur am Abend zusammen in ein Pub und trinken Calvados, wenn es dort Calvados gibt, sonst eben Guinness oder Scotch. Jeder sitzt in seinem Zimmer wie auf einem eigenen Stern, und doch ist es dasselbe Cottage und dieselbe Stadt, nämlich Inverness. Es ist die Rettung«, sagte ich, »ich weiß es genau, es ist die Rettung!« Und ich bestellte noch zwei Calvados und noch einmal die Rechnung, und Maria sagte ja.
Ich fuhr Maria nach Hause und ging zurück in meine Wohnung. Ich hatte einen schweren Kopf und legte mich ins Bett. Ich dachte an Inverness und war glücklich.
Am nächsten Morgen rief Maria an. Sie sei noch immer ganz benommen von den vielen Calvados, sagte sie, und irgendwie hätten wir zuviel geredet, zuviel und das falsche, wie immer. War da nicht irgendwas mit Inverness?
»Ja«, sagte ich, »ich packe gerade meine Koffer.«
»Ist doch Unsinn«, sagte Maria, »was sollen wir in Inverness Ich muss noch den Artikel für die Neue Zürcher schreiben, sonst kann ich meine Miete nicht bezahlen.«
»Lass doch das dumme Geld, was hast du immer mit dem Geld? Ich zahle das für dich.«
»Nein, ich muss es selbst verdienen.«
»Wozu? Du verdienst es ja doch nicht mit dem, was du eigentlich schreiben willst, mit den Drehbüchern und mit den Kurzgeschichten.«
»Trotzdem«, sagte sie, »die Neue Zürcher gibt mir fünfhundert Mark.«
»Also gut, dann war es eben ein schöner Abend und ein schöner Traum.«
»Nimm's mir nicht übel«, sagte sie und legte auf.
Ich war enttäuscht und dachte, ich bin enttäuscht, aber als ich das gedacht hatte, war ich schon erleichtert. Die Sache mit Maria und dem Cottage war eine Schnapsidee gewesen, eine Calvadosidee. Wenn schon nach Inverness, dann allein. Mit Chinamütze und zu Mrs Kingdom. Aber die Chinamütze gehörte Andrea, und Mrs Kingdom war ihre Wirtin. Es war alles nur ein Hirngespinst. Ich wollte immer das, was die anderen wollten oder was sie schon hatten, einen Englischkurs, eine Mrs Kingdom oder Inverness. Ich hatte, als ich in London war, einfach vergessen, dass es Marias Idee war, nach Inverness zu gehen, und nicht meine, dass es Marias Traum war und nicht meiner. Um ein Haar wäre ich nach Inverness geflogen, hätte mir ein Cottage gemietet und angefangen zu schreiben, und nach Jahren und Jahrzehnten wäre mir eingefallen, dass es nicht mein Cottage wäre, sondern Marias, nicht mein Traum, sondern ihrer.
Und ich war froh, dass ich nicht nach Inverness geflogen war. Ich war froh, dass ich in Berlin war. In meinem Luxusobdachlosenasyl. Hier gehörst du hin, sagte ich zu mir, hier ist deine Wohnung. Das hast du gewollt. Du kannst deine Kohlen bezahlen und deine Körner, du bist endlich allein und kannst anfangen zu schreiben. Sei froh!