Читать книгу Detektiv Kim unter schwerem Verdacht - Jens K. Holm - Страница 4
2
ОглавлениеWir rannten los, und die beiden Beamten rannten hinter uns her. Da wir aber die kleineren waren, konnten wir leichter zwischen den Trockengestellen für die Fische hindurchschlüpfen. Wir liefen, so schnell wir konnten, aber wir konnten die beiden nicht abschütteln. Erik rief uns leise zu:
»Es ist wohl besser, wenn wir uns trennen und jeder für sich weiterläuft. Ich verschwinde jetzt zwischen den Schuppen hier rechts.«
»Dann laufe ich in die entgegengesetzte Richtung, wieder mitten zwischen die Zelte und zurück auf den Festplatz«, schnaufte Brille.
»Okay«, sagte ich. »Ich laufe dann weiter geradeaus.«
In diesem Augenblick waren wir gerade vor unseren Verfolgern verborgen. Aber wir konnten hören, wie sie hinter uns herkeuchten. Erik flüsterte:
»Wir treffen uns an der Schiffschaukel wieder, sobald wir sie losgeworden sind.«
Dann war er weg. Brille war auch nicht mehr zu sehen. Ich lief weiter geradeaus und hoffte, einen Schlupfwinkel zu finden. Ich war noch niemals vorher hier gewesen, in dieser Wildnis von Schuppen und Trockengestellen, von Schubkarren, Teerfässern und Fischbehältern. Ich wußte gar nicht so recht, wie ich hier wieder herausfinden sollte. Andererseits gaben mir alle diese Dinge große Chancen, einen Unterschlupf zu finden. Ich blieb einen Augenblick an einem der Arbeitsschuppen stehen und versuchte die Tür zu öffnen. Aber sie war abgeschlossen. Als ich weiterlief, hörte ich, wie hinter mir jemand rief:
»Da ist er!«
Ich lief noch schneller und war den Blicken der beiden sofort wieder entschwunden. Alle beide waren hinter mir her. Das bedeutete, daß Brille und Erik ihnen entwischt waren. Ich brauchte jetzt also nur noch an mich selber zu denken.
Das tat ich dann auch. Ich überlegte und überlegte, und dabei lief ich weiter, so schnell ich nur konnte. Es wurde mir jetzt bewußt, daß wir da in eine ganz unglückliche Lage geraten waren. Wir waren doch ganz unschuldig. Im Gegenteil, wir hatten den beiden Dummköpfen, die mir jetzt prustend und stöhnend auf den Fersen waren, sogar helfen wollen. Ich überlegte, was ich tun könnte, falls sie mich erwischen sollten. Ich hatte keine Angst. Mein Gewissen war so halbwegs rein. Dann kam mir der Gedanke, daß ich, falls es schiefgehen sollte, versuchen mußte, mit Larsen, unserem Dorfpolizisten, zu sprechen. Er kennt uns ja. Er würde den beiden fremden Beamten schon klarmachen können, daß wir es nicht gewesen waren, die die Gewinne des Schießstandes zerdeppert hatten.
Puh! mir wurde ordentlich warm. Mein einziger Trost war, daß es für meine Verfolger noch wärmer sein mußte. Noch viel wärmer sogar!
Aber alles, was ich jetzt erzählt habe, spielte sich in viel kürzerer Zeit ab, als man beim Lesen meint. Die Verfolgungsjagd hatte viel weniger Zeit in Anspruch genommen, als ich zum Niederschreiben gebraucht habe.
Jetzt war ich schon fast unten am Wasser. Aber da, direkt am Strand, standen sämtliche Autos und Wohnwagen der Zeltbesitzer. Ich schlüpfte zwischen ihnen hindurch und lief auf einen grünen Wohnwagen zu, dessen Tür offenstand.
Ich blickte zurück. Zwischen mir und meinen Verfolgern befanden sich gerade einige Wagen. Ich sprang darum schnell die Treppe des grünen Wagens hinauf und verschwand in seinem Innern. Ich bemerkte erst hinterher, daß ein junges Mädchen dicht neben der Treppe gestanden hatte. Ich hatte es nicht gesehen, weil es Wäsche auf eine Leine hängte. Es konnte aber kein Zweifel darüber bestehen, daß es mich gesehen hatte.
Ich hatte mich gerade unter dem Tisch im Wohnwagen versteckt, als ich die beiden Beamten heranstürmen hörte.
Der eine rief:
»Ist hier ein Junge vorbeigelaufen?«
Ich hörte das Mädchen antworten:
»Ja, er ist da hinuntergelaufen, zum Festplatz hin.«
Aus dem Geräusch der Schritte hörte ich, daß die beiden Beamten weiterliefen. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ich war gerettet!
Das Mädchen tauchte im Türrahmen auf. Es war wohl im gleichen Alter wie ich. Es trug einen enganliegenden Pullover mit Silberpailletten und einen ganz kurzen Faltenrock.
Ich kroch aus meinem Versteck hervor.
»Ich danke dir«, sagte ich.
Das Mädchen lächelte mich an. Es war sehr hübsch und hatte ganz blonde Haare.
»Hat das nicht prima geklappt?« fragte sie.
»Ganz prima«, antwortete ich.
Sie sah mich neugierig an.
»Was hast du denn angestellt?« fragte sie dann.
Ich schüttelte den Kopf.
»Das ist es ja gerade, ich habe nichts getan. Es handelt sich um einen Irrtum, verstehst du? Sie glauben, daß ich etwas getan habe. Darum bin ich fortgelaufen, und nun laufen sie hinter mir her. Ich war mit zwei Freunden zusammen, aber die sind ihnen entwischt.«
»Und ihr habt wirklich nichts getan?«
Ich sah ihr an, daß sie nicht ganz glaubte, was ich sagte.
»Es ist wahr«, bekräftigte ich.
»Ja, aber warum . . .?«
Ich guckte mich im Wagen um. Ich war noch nie vorher in einem Wohnwagen gewesen. Es war sehr schön und gemütlich hier, vor allem war viel mehr Platz, als ich je gedacht hatte.
»Da ist irgend so ein Flegel gewesen, der sämtliche Gewinne in einem der Schießstände zerschlagen hat. Wir waren daher um das Zelt herumgegangen und wollten nachsehen, ob von dem Täter noch eine Spur zu entdecken wäre. In dem Moment kamen die Polypen und behaupteten, daß wir es getan hätten. Da sind wir abgehauen. Das ist alles.«
»Ein Schießstand? Welcher denn?«
Das Mädchen wirkte ganz aufgeregt. Ich schilderte ihr, wo das Zelt stand.
»Das gehört meinem Vater.«
»Deinem Vater? War das dein Vater, der da drin stand?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, aber mein Vater ist der Eigentümer. Der Mann in dem Schießstand ist nur bei meinem Vater angestellt. Ist viel zerstört worden?«
Ich nickte.
»Das glaube ich wohl. Der Kerl hat einfach durch die Zeltwand hindurch auf die Gewinne eingeschlagen.«
Das junge Mädchen wurde ganz blaß vor Zorn. Ich verstand das sehr gut.
»So ein Flegel!« sagte sie. Ich hatte Angst, daß sie anfangen würde zu weinen.
Da hörten wir jemanden schnellen Schrittes herankommen.
Das Mädchen stellte sich in die offene Tür. Ich hörte eine Männerstimme:
»Inge, wo ist dein Vater? Irgend jemand hat die ganzen Gewinne im Schießstand und in der großen Tombola vernichtet.«
»Auch in der Tombola?« fragte Inge.
»Ja, eben, vor ein paar Minuten. Zuerst im Schießstand und ein paar Minuten später in der Tombola. Im Schießstand ist viel verdorben worden, aber in der Tombola war es nicht so schlimm. Wo ist dein Vater?«
»Das weiß ich nicht. Er ist vor fünf bis sechs Minuten fortgegangen. Ich nehme an, daß er zum Festplatz wollte. Ich selber gehe auch gleich hin, weil ich in wenigen Minuten auftreten muß.«
Der Mann lief weiter. Inge kam wieder in den Wagen zurück.
»Was gibt es doch für Rüpel«, sagte sie.
Ich nickte.
»Gehört die Tombola auch deinem Vater?«
»Ja. Er hat eine ganze Reihe Zelte hier. Herrje, wird er zornig sein, wenn er das erfährt! Es ist wirklich ärgerlich. Vater hat vorher schon so viel Sorgen gehabt.«
»Jedenfalls weißt du jetzt, daß wir es nicht getan haben. Denn das in der Tombola muß passiert sein, als die Polypen schon hinter uns herliefen.«
Sie lächelte ganz schwach.
»Das habe ich auch gar nicht angenommen«, sagte sie. Dann guckte sie auf ihre Uhr.
»Wo trittst du auf?« fragte ich.
»Drüben im ›Varieté‹. Das ist das größte Zelt von allen. Ich bin Jongleur. Ich werfe Teller in die Luft und fange sie wieder auf.«
»Gehört das Zelt auch deinem Vater?«
»Ja«, antwortete sie. »Jetzt muß ich aber fort.«
»Ich werde auch wieder gehen«, erklärte ich. »Ich danke dir, daß du mir geholfen hast.«
»Nein, geh doch nicht fort!«
»Das werde ich wohl müssen«, sagte ich.
»Nein, du kannst hierbleiben, bis ich zurückkomme. Wohin willst du denn auch gehen?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Zum Festplatz.«
»Dann wirst du sofort geschnappt. Nein, du mußt hierbleiben, bis sie es aufgegeben haben, nach dir zu suchen.«
»Ja, wenn nun aber jemand kommt, solange du fort bist? Dann sieht es doch sonderbar aus, wenn ich hier herumsitze. Und wenn dein Vater kommt?«
»Dann brauchst du ihm nur alles so zu erzählen, wie es ist. Grüß ihn von mir und sag ihm, ich werde, sobald ich nur kann, zurückkommen.«
Sie sah wieder auf ihre Uhr.
»Ich laufe jetzt, aber in einer Viertelstunde bin ich schon wieder zurück. Ich bin bei der großen Schau nicht dabei. Ich werde mich sehr beeilen.«
»Schön«, sagte ich, »nochmals vielen Dank.«
Sie lief hinaus, und ich setzte mich an den Tisch und wartete darauf, daß sie zurückkäme.
An der Wand hing eine Uhr. Mir kam es so vor, als tickte sie nur ganz langsam. Ich horchte auf das Ticken und sah zwischendurch einmal auf den Zeiger. Er bewegte sich kaum.
Ich überlegte, wie es Erik und Brille wohl ergangen sein mochte. Höchstwahrscheinlich standen sie jetzt dort hinten bei der Schiffschaukel und warteten darauf, daß ich auch auftauchte. Vielleicht glaubten sie auch, daß ich festgenommen worden wäre.
Ich habe nie gern gewartet. Vielleicht gibt es Menschen, die dafür geschaffen sind – ich bin es jedenfalls nicht. Ich stand auf und ging in dem Wohnwagen hin und her wie ein Löwe im Käfig. Vom Festplatz herüber konnte ich den Lärm hören. Am lautesten aber klang während der ganzen Zeit die Musik von der Tanzfläche. Ich hätte gern gewußt, ob Katja wohl noch immer mit John tanzte, aber ich hoffte, daß sie es nicht tat. Statt dessen wünschte ich mir, daß sie auf dem ganzen Festplatz herumlief, um mich zu suchen. Ich hatte richtig Sehnsucht nach ihr. Es ärgerte mich, daß ich nicht ordentlich tanzen gelernt hatte. Ich war zwar einige Monate zur Tanzstunde gegangen, aber ich hatte mir nicht besonders viel daraus gemacht. Jetzt ärgerte ich mich darüber und wünschte mir, genauso gut tanzen zu können wie John.
Ich fragte mich, ob wohl alle Polizeibeamten auf dem Festplatz jetzt Ausschau nach uns hielten. Es war schon eine verteufelt unangenehme Lage, in die wir uns selbst gebracht hatten.
Aber auf eine gewisse Art und Weise genoß ich die Situation auch wieder. Es war schon aufregend, gesucht zu werden, vor allem, wenn man nichts ausgefressen hatte. Wenn wir doch nur aufklären könnten, wer es in Wirklichkeit gewesen war! Das wäre prima. Nur so konnten wir uns von dem Verdacht befreien. Wenn wir den Täter erwischten und der Polizei auslieferten, dann wäre alles wieder in Ordnung. Was für große Augen sie dann alle machen würden!
Und es gab ja auch einen Grund, den Täter zu suchen, einen sehr triftigen Grund sogar. Ich würde Inge, dem Jongleurmädchen, und ihrem Vater so gerne helfen. Inge hatte sich mir gegenüber sehr anständig verhalten. Ich konnte darum nur wünschen, daß ich es ihr auf irgendeine Art und Weise vergelten konnte. Es wäre gut, wenn Erik, Brille und ich – und Katja natürlich, wenn sie nicht zu sehr davon in Anspruch genommen war, mit John zu tanzen –, wenn wir vier den Mann fangen könnten, der die Gewinne in den beiden Zelten von Inges Vater zerschlagen hatte.
War es vielleicht nur Zufall, daß beide Zelte, der Schießstand und die große Tombola, Inges Vater gehörten? Oder war es vielleicht ein Racheakt? Gab es jemanden, der ihm schaden wollte und deshalb systematisch vorging und ihm sein Geschäft verdarb?
Es konnte natürlich auch ein ganz gewöhnlicher Dummejungenstreich sein, der mit Inges Vater nicht das geringste zu tun zu haben brauchte.
Auch dann wäre es gut, den Burschen, der dafür verantwortlich war, zu fangen. Er verdiente eine ordentliche Tracht Prügel, dieser Flegel.
Ich ging zur Tür und guckte hinaus, aber ich zog den Kopf schnell wieder zurück. Zwei Männer waren auf dem Weg zu diesem Wagen. Aber keiner von beiden war Inges Vater. Dazu waren sie zu jung. Sie mochten ungefähr zwanzig Jahre alt sein. Sie trugen Arbeitshosen und schmutzige Hemden. Sie glichen den Männern, die am vergangenen Abend hier herumgegangen waren und die Zelte und Karussells, das Riesenrad und alle die anderen Sachen auf dem Strandplatz aufgestellt hatten. Ich mochte ihre Gesichter nicht leiden. Sie sahen so brutal aus. Ich zog meinen Kopf also ganz schnell zurück und konnte daher ziemlich sicher sein, daß sie mich nicht gesehen hatten.
Was sollte ich tun?
Ich hatte keine Lust, mit ihnen zu sprechen und ihnen die ganzen Umstände zu erklären. Ich mußte ja auch annehmen, daß sie nur herkamen, um mit Inges Vater zu sprechen. Wenn sie feststellten, daß er nicht da war, würden sie schon wieder gehen.
Also kroch ich unter den Tisch und versteckte mich.