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„Es geschah am hellichten Tag“

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Am letzten Kalendertag des Monats Mai 1969 verschwinden „Winni“ und „Shatti“, zwei Jungen im Alter von neun Jahren, und ein unvorstellbares Drama braut sich zusammen. Es ist der bis dahin spektakulärste Fall der DDR-Kriminalgeschichte. Angeblich habe der Film, Es geschah am hellichten Tag, aus dem Jahr 1959 Erwin Hagedorn zu den Taten angeregt.

„Niemand weiß, woher das Böse kommt, und wann es wieder geht“; „Was gedacht werden kann, wird auch zur Tat“ oder „Einmal Monster, immer Monster?“ Aussagen, die von Kriminalpsychologen und forensischen Psychiatern stammen und die nachdenklich machen sollten. Was um Himmels Willen sind denn forensische Psychiater? Das sind Sachverständige, die oft den Volkszorn auf sich ziehen – nämlich immer dann, wenn sie mit ihren Gutachten Straftäter zu kranken Menschen erklären, die von der Öffentlichkeit als Bestien angesehen werden, aber den Straftäter und auch seine Tat zu begreifen ist Teil ihrer Aufgabe, gerichtlichen Entscheidungen eine rationale Grundlage zu geben. Wie schwierig das sein kann, zeigt der Fall Hagedorn: Ein Fall, der in die Kriminalgeschichte einging, von der es drei Varianten gibt: die wahre und die beiden Filmfassungen (Im Alter von … DDR, 1974 & Mord in Eberswalde – BRD, 2013) eines Kindermörders, wovon keine von dreien in der DDR existieren durfte. „Wir haben ganz sicher keinen pädophilen, homosexuellen Sadisten in Eberswalde.“ – Auszug aus einem Dialog im Film Mord in Eberswalde (WDR-Produktion). „Es gibt solche Subjekte im Sozialismus nicht!“ geht der Dialog weiter und er endet mit dem Satz: „Das ist übrigens die Haltung der Partei."

Doch zuerst die Fakten: Leipzig, 15. September 1972 – in den Vormittagsstunden wird der „Kinderschlitzer von Eberswalde“, Erwin Hagedorn, einer der grausamsten Sexualmörder in der DDR-Kriminalgeschichte, in der Strafvollzugseinrichtung Leipzig vom Henker Hermann Lorenz durch einen gezielten Nahschuss mit der Pistole in den Hinterkopf hingerichtet.

Unauffällige Transporter fahren in den Hinterhof des Gefängniskomplexes, der mitten in einem belebten Leipziger Wohnviertel gelegen ist. Dass es sich hierbei um die Einfahrt zum Todestrakt handelt, ahnen weder die Bevölkerung noch die Gefangenen selbst. Zum Tode Verurteilte erfahren erst kurz vor ihrer Hinrichtung, was geschehen wird. Sie dürfen einen Abschiedsbrief schreiben, der ihre Angehörigen aber nie erreichen, sondern zu den Akten gelegt werden wird. Bis 1968 werden zum Tode Verurteilte enthauptet, später per „unerwarteten Nahschuss in das Hinterhaupt" getötet. Dabei tritt der Henker unbemerkt von hinten an den Verurteilten heran und schießt. Die Hingerichteten bringt man zur Einäscherung in das Krematorium auf dem Leipziger Südfriedhof, wo ihre Urne dann anonym beigesetzt wird. „Anatomieleiche" oder „Abfall“ – so werden im Totenbuch des Krematoriums auf dem Leipziger Südfriedhof die Menschen bezeichnet, denen in der Hinrichtungsstätte ihr Leben genommen wurde. Erst sehr viel später erfahren die Angehörigen, wo ihr Familienmitglied beigesetzt worden ist. Manche wissen es bis heute nicht.

Zwischen 1960 und 1981 wird ein Teil der Leipziger Strafvollzugseinrichtung in der Alfred-Kästner-Straße/Arndtstraße als zentrale Hinrichtungsstätte der DDR genutzt. Heutigen Erkenntnissen zufolge wurden hier in dieser Zeit 64 Menschen getötet. (Orte-der-Repression.de/Leipzig-Hinrichtungsstätte, Zugriff am 30.01.2013)

Erwin Hagedorn ist gerade 20 Jahre jung, als er hingerichtet wurde. Seine Verbrechen ähneln denen des westdeutschen Kindermörders Jürgen Bartsch. Dieser war ein pädosexueller Serienmörder, der in Velbert im Zeitraum von 1962 – 1966 vier Knaben ermordete.

1969, so die Anklage, habe Hagedorn zwei Jungen im Alter von neun Jahren im Forst bei Eberswalde getötet. Der Täter hatte seinen Opfern den Hals durchgeschnitten. Eine großangelegte, aber streng geheim gehaltene Fahndung blieb vorerst erfolglos.

Als 1971 erneut ein 12-jähriger Junge ermordet aufgefunden wurde, startete die Polizei eine breite Befragung der Bevölkerung. Anonyme Hinweise brachten die Kripo und Stasi schließlich auf die Spur des Lehrlings/Kochs in der MITROPA-Bahnhofsküche von Eberswalde.

H A G E D O R N wirkte erleichtert und gesteht sofort. Die psychiatrische Untersuchung ergibt: Hagedorn ist persönlichkeitsgestört, trotz allem aber schuldfähig. Ist er gar ein Sadist? Von Sadismus im medizinischen Sinn spricht man, wenn ein Mensch (sexuelle) Lust oder Befriedigung dadurch erlebt, dass er andere Menschen demütigen, unterdrücken oder ihnen Schmerzen zuzufügen kann. (Quelle: freie Enzyklopädie – Wikipedia) Gutachter und Rechtsmediziner formulieren es so: Sadisten empfinden beim Quälen Lust. Je wehrloser das Opfer, desto größer die Macht und Kontrolle, die man über es gewinnen kann. Deshalb sind die Opfer oft Kinder. Die Todesangst in den Augen dieser Kinder wird für den Täter zum Quell höchster Lust und Befriedigung.

Sind solche Menschen krank? Wenn dies so ist, dann wirft das die Frage auf, ob sie überhaupt anders hätten handeln können und wenn ihnen dies nicht möglich ist, sind sie für ihre Taten überhaupt verantwortlich zu machen?

Leipzig 2013. Nach 41 Jahren wird der dreifache Kindermörder aus Brandenburg (erneut) zum Film-Thema: Die ARD zeigt am 30. Januar 2013 die WDR-Produktion Mord in Eberswalde. Die Zuschauer bekommen Sadomaso-Fesselsex zu sehen, ein Abschiedsbrief wird verfasst, im Wald wird ein grausiger Leichenfund gemacht. Damit beginnt die TV-Verfilmung. Einen solchen Einstieg nennt man wohl suggestiv. Die Handlung des ARD-Films fußt auf dem oben beschriebenen realen Fall des Kindermörders Erwin Hagedorn, der zwischen 1969 und 1971 in der brandenburgischen Stadt Eberswalde drei Jungen missbraucht und getötet hatte - und erst nach langwieriger Fahndung gefasst werden konnte.

Im Alter von … ein 1974 über den Fall gedrehter „Polizeiruf 110" wurde noch vor der Ausstrahlung im DDR-Fernsehen gestoppt, das Material teilweise vernichtet. Man fürchtete wohl internationalen Druck und die globale Kritik aufgrund des Todesurteils, zumal der Täter bei den ersten beiden Morden noch m i n d e r j ä h r i g gewesen war. Erst 2011 strahlte der MDR eine rekonstruierte Fassung des 1974 entstandenen „Polizeirufs 110“ aus.

Zurück zum wahren deutschen Sexualstraftäter und mehrfachen Kindermörder Hans Erwin Hagedorn (* 30. Januar 1952 in Eberswalde; † 15. September 1972 in Leipzig). Das Absurde, Paranoide, Schizophrene, was dem Ganzen noch die Krone aufsetzt ist, dass die Staatssicherheit/Kriminalpolizei irgendwann doch tatsächlich auf die Idee kommt, die Ermordung der Kinder für einen Lehrfilm nachstellen zu lassen – mit Kindern von Ministeriumskollegen und dem echten Hagedorn, den zum Tode verurteilten Strafgefangenen in der „Hauptrolle“. In einem Protokoll-Vermerk heißt es: „Hagedorn ist mit vollem Eifer bei der Sache. Er steht (endlich mal) im Mittelpunkt und genießt es.“

Der sehr aufwändig gedrehte Rekonstruktionsfilm aus dem Jahre 1972 von der Kriminalpolizei der DDR in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit verschwand kurze Zeit später sang- und klanglos im Archiv. Hagedorns Hinrichtung 1972 war zwar die letzte zivile Exekution in der DDR-Geschichte, aber das letzte Todesurteil wurde 1981 in der Leipziger Hinrichtungsstätte an dem MfS-Offizier Dr. Werner Teske vollstreckt. Danach fanden nach bisherigen Erkenntnissen keine Hinrichtungen mehr statt, wenngleich die Todesstrafe offiziell erst 1987 abgeschafft wurde. Dies stand im Zusammenhang mit Erich Honeckers Kurzbesuch in Bonn bei Helmut Kohl im September gleichen Jahres. Honecker wollte dieses erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen nutzen, um die internationale Anerkennung der DDR als eigenständigem Staat weiter auszubauen und hätte schlechte Karten gehabt, wenn er als Oberhaupt eines sich als demokratisch-sozialistisch bezeichneten Staates hätte zugeben müssen, dass in diesem/seinem Staat die Todesstrafe nach wie vor gesetzlich verankert ist.

Lindenstadt und sächsischer Kleinkram

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