Читать книгу Geschichten heiter bis düster - Jens Richter - Страница 6
Sie sind da!
ОглавлениеAls ich heute morgen das Labor betrat, sah ich sofort den Zettel. «Sie sind da!» hatte jemand hastig gekritzelt und den Zettel direkt vor die Tür gelegt. Es musste etwas Furchtbares passiert sein. Dr. Bremers Gesicht war zu einer Donald Duck-Grimasse erstarrt und schaute direkt aus einem Monitor heraus. Natürlich war er tot. Hatte er den Zettel geschrieben? Kurz vor seinem Tod? Und wer hatte ihn verunstaltet und durch den Monitor geschoben?
Ich öffnete den Tresor und überflog unsere letzten Aufzeichnungen. Wer sollte die gelesen haben? Die Tresorkombination «Maggiwürze» war top secret, nur Bremer und ich wussten davon. Irgend etwas ging hier vor. Aber was?
Ich durchsuchte Bremers Kittel. Nichts außer seinem Schuhspanner und dem Päckchen Zahnpflegekaugummi, Utensilien, die er immer bei sich trug. Es war gerade 6 Uhr. Warum war er heute so früh ins Labor gegangen?
Er kam sonst nie vor 8 Uhr.
Ich versuchte sein Gesicht zu richten, aber die Totenstarre hatte schon eingesetzt und plötzlich sah er aus wie Angela Merkel. Wie sollte ich das seiner Frau erklären? Ich musste die Polizei anrufen. «Sie sind da!» Was hatte er mir mitteilen wollen? Die Botschaft war für mich bestimmt. Er wusste, ich würde wie immer um viertel vor 6 kommen. Hatte es was mit unserem Forschungsprojekt zu tun?
«Wer tut so etwas Furchtbares?», fragte mich der Kommissar, «Angela Merkel! Woran haben Sie zuletzt gearbeitet? Hatte er Feinde?»
«Feinde? Nur seine Frau. Wir erforschten Paralleluniversen. Dr. Bremer war der Ansicht, dass Bewohner von Paralleluniversen zu uns kommen können. Direkt durch die Getränkeautomaten.»
«Gibt es in diesem Labor einen Getränkeautomaten?» Ich zeigte ihm die fünf Automaten. Bremer hatte sich auf die Fantaschacht-Hypothese versteift.
«Sie kommen durch den Fantaschacht», hatte er oft gesagt. Ich war nicht sicher.
«Woran wollen Sie einen Parallel-Menschen erkennen», riss mich der Kommissar aus meinen Erinnerungen. «Bremer war der Ansicht, die Unterschiede seien minimal. Sie trügen zu enge Schuhe.»
«Interessant... Haben Sie was für mich?», rief er der Spurensicherung zu.
«Auf dem Monitor 35 Abdrücke eines Mittelfingers, einen Wollschal, ein Paar schwarze Lederschuhe Größe 34.»
«Größe 34? Wer arbeitet sonst noch hier?» «Niemand», antwortete ich. «Nur Bremer und ich haben Zugang zu diesem Labor.» «Welche Schuhgröße haben Sie?»
«46.»
«Sind das Ihre Lederschuhe?»
Natürlich wusste ich, worauf er hinaus wollte. Ich fing an zu schwitzen und ärgerte mich darüber. Ich war unschuldig, ich hatte die Polizei angerufen und jetzt diese peinigenden Fragen!
«Nein.»
«Sind Sie sicher? Schauen Sie sich die Schuhe an!»
«Es sind nicht meine Schuhe. Sie sind viel zu...» «Ja? Was sind sie? Sprechen Sie's doch aus! Warum sprechen Sie es denn nicht aus? Die Schuhe sind zu...na?»
«Die Schuhe sind zu klein», flüsterte ich. «Lauter! Was sind die Schuhe?» «Zu klein.» «Aha! Warum nicht gleich so? Diese Schuhe wären Ihnen viel zu eng! Nicht wahr?» «Ja.»
«Ziehen Sie sie an! Na los! Ziehen Sie die Schuhe an!»
Er umklammerte meinen Nacken und drückte den Kopf hinunter. «Sie tun mir weh! Ich brauche einen Schuhspanner! Geben Sie mir einen Schuhspanner!»
«Das hätten Sie wohl gerne! Ziehen Sie sie an!» Ich versuchte, meinen zitternden Fuß in die Schuhe zu bekommen. Zwecklos. Es ging nicht. Der Kommissar drückte meinen Kopf weiter hinunter. Ich bekam keine Luft mehr. Gleich würde ich ohnmächtig werden. Im letzten Augenblick bemerkte ich die Baby-Stoffschühchen des Kommissars. «Sie also!» Nur einen Gurgellaut bekam ich heraus. «Sie sind da! Sie sind da!» krächzte ich noch, dann muss ich bewusstlos geworden sein.
Seit heute hat sich mein Leben verändert. Ich schaue aus einem Monitor hinaus. Das ist eigentlich gar nicht so übel. Man sieht die Welt mit anderen Augen. Das Al Bundy-Gesicht ärgert mich ein wenig, zugegeben, aber es gibt schlimmere.