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Teil 1

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Sanft und mit behaglichem Schmatzen schwappt das Wasser gegen den Rumpf des Schiffes. Normalerweise beruhigt das Geräusch Axel, aber nicht heute. Sonst erinnert es ihn an Sonnenstrahlen im Sommer, an Opas Jolle, daran, wie sie zusammen Netze ausgelegt und zur Südspitze Schwedens, die man deutlich sehen konnte, rübergeschaut haben, wie sie ihre Lunchpakete gemampft und Zitronensaft dazu getrunken haben. Aber in Zukunft wird er etwas anderes mit dem Geräusch verbinden: Unsicherheit und Angst.

Er hätte es ahnen müssen. Poul, Keld und einige der anderen, die von den Nazis so begeistert sind, waren kurz vor dem Fliegeralarm aus dem Polizeipräsidium verschwunden. Im Nachhinein entpuppten sich ihre „dienstlichen Belange“ als faule Ausreden. Als die Sirenen losheulten, hörte Axel Explosionen, lautes Rufen und Schüsse. Jeder Widerstand war zwecklos, die Deutschen hatten das Präsidium umstellt und sie hatten Maschinengewehre und Panzerfäuste.

Ohne Rücksicht auf ihren polizeilichen Rang mussten sie sich in Reihen aufstellen. Axel stand hinter Inspektor Ruggård, aber in diesem Moment waren sie gleich. Der sonst so barsche Inspektor schien wie verwandelt. Mit krummem Rücken stand er da wie eine zusammengesunkene Marionette, und als einer der Soldaten einige Warnschüsse in die Luft abfeuerte, um für Ruhe zu sorgen, zuckte Ruggård zusammen wie ein verängstigtes Kind. In diesem Augenblick wurde allen klar, wie ernst ihre Lage war.

Sie wurden gefilzt und entwaffnet und stundenlang ließ man sie im kreisrunden Innenhof des Präsidiums stehen und warten. Dann wurden sie auf die Otto Mønsteds Gade gedrängt und auf Lastwagen gescheucht, die bereit standen. Auf den Ladeflächen empfingen deutsche Soldaten sie, mit entsicherten Maschinenpistolen im Anschlag.

Die Lastwagen setzten sich in Bewegung, rumpelten durch die Straßen der Kopenhagener Innenstadt, Vestre Boulevard, Nørre Voldgade, Østre Voldgade, an der Schwedischen Kirche vorbei. Die Stadt zog vor ihren Augen vorüber. Das Tor zum Freihafen. Am Ende des Langelinjekais lag ein Schiff, M/S Cometa konnte Axel am Achtersteven entziffern. Sie warteten darauf an Bord gelassen zu werden. Sie waren die Ladung.

Sie sind viel zu viele hier unten im Laderaum. Axel versucht, eine erträgliche Position zu finden, kann sich aber so gut wie nicht bewegen. Wie Jutesäcke werden sie gestapelt. Im Vorschiff ist sehr wenig Platz. Sie können nicht stehen, sie können nicht sitzen. Ihre Rücken stoßen aneinander, ihre Beine verhaken sich. Fast liegen sie übereinander.

Das Schiff befindet sich noch im Hafen. Es ist Abend und sie haben Angst. Einige meinen, man werde sie nach Bornholm bringen, einige meinen nach Deutschland. Wieder andere glauben, das Schiff werde auf offener See versenkt, mitsamt seiner Ladung. Mit ihnen.

Er denkt, dass der Meeresgrund immer noch besser ist als Deutschland. Alle haben die Gerüchte über die Konzentrationslager gehört und es sind zu viele, als dass es bloße Schauergeschichten sein könnten. Wenn sie dort landen, wird Axel wahrscheinlich nicht zurückkehren.

Er sieht Kamma vor sich. Sie lehnt sich gegen den Küchentisch. Eine Hand auf dem stetig wachsenden Bauch. Seine Hand auf ihrer Hand. Bald wird ihre kleine Wohnung Zuwachs bekommen. Der Gedanke, dass er heute nicht von der Arbeit nach Hause kommen wird, dass er nicht an seinem gewohnten Platz am Tisch sitzen und sein Abendessen zu sich nehmen wird, Kamma sich nicht an ihn schmiegen wird, brennt als beißender Schmerz in seiner Magengrube. Wann er sie wohl wiedersehen wird? Wird sie erfahren, was mit ihm geschehen ist? Und was wird mit ihm geschehen?

Die Ladeluken sind fest verschlossen. Nicht lange, und die Luft wird stickig. Sie hat kaum noch Energie in sich, ist warm und drückend. Es stinkt nach Motoröl und zusammengepferchten Menschen. Axel hält sich den Ärmel vor Mund und Nase. Neben ihm ringt Johannes nach Luft. Es dringt keinerlei frische Luft hier nach unten. Sie wird nur immer schwerer und schlechter. Einige werden ohnmächtig.

„ Macht endlich die Luken auf, zum Teufel!“ Mit aller Kraft schlägt Axel gegen die Schiffswand. „Wir kriegen keine Luft.“

Johannes stöhnt und schnappt krampfhaft nach Luft.

„ Helft mir“, sagt Axel.

Während Erik Johannes stützt, löst Axel die Krawatte des älteren Polizeihauptwachtmeisters und knöpft dessen Hemd auf. Johannes' Gesicht ist feuerrot. Seine Hände fuchteln, als wolle er sich irgendwo festhalten. Ein pfeifender Laut ist zu hören, jedes Mal wenn er versucht einzuatmen. Axel fasst seine Hand und Johannes drückt sie fest und lange. Er beruhigt sich ein wenig. Plötzlich folgt ein lauter, langgezogener Atemzug, dann ein Keuchen und der Körper bewegt sich nicht mehr. Johannes ist tot.

Lange sitzen sie da, zwischen sich den toten Polizeihauptwachtmeister. Er wird nur einer von vielen sein, denkt Axel. Wen wird es als Nächsten treffen?

Erik hat seine Uhr noch. Es ist Nacht, als ein paar Soldaten Johannes' Leiche wegschaffen. Die wenigen Momente, in denen die Ladeluke geöffnet ist, saugen alle gierig die Luft ein. Oben auf Deck sind Rufe zu hören und jemand schießt. Das Schiff schlägt gegen den Kai. Alle fallen durcheinander und Axel verkeilt sich mit Erik und einem jüngeren Kollegen. Das Schiff setzt sich in Bewegung. Dumpf vor sich hin hämmernd arbeitet der Motor und ein schwerer Geruch nach Öl breitet sich wieder im Laderaum aus.

Stoisch stampft das Schiff durch die Nacht. Niemand schläft und die Nacht ist unendlich lang. Erst am nächsten Vormittag bekommen sie etwas zu essen. Brot, ein wenig Wurst und Wasser. In kleinen Gruppen dürfen sie an Deck und frische Luft schnappen. Axel wartet den ganzen Tag lang. Als er an der Reihe ist, versinkt am Horizont gerade die Sonne. Es ist ein schöner Anblick.

Zurück im Laderaum versucht er vor Augen zu behalten, was er eben gesehen hat. Plötzlich werden die Luken geschlossen. Um sie herum ist alles stockdunkel. Er kann die Ankerkette hören, die rasselnd nach unten fällt, dann den Anker, der mit einem Platschen im Wasser versinkt. Nicht weit von ihm versucht jemand ein Schluchzen zu unterdrücken.

Noch eine Nacht vergeht, ohne Schlaf und quälend langsam. Dann das Geräusch des Ankerspills und das Schiff setzt sich in Bewegung. Ein paar Stunden später spürt er, wie der Rumpf an einem Kai andockt. Die Ladeluken werden geöffnet und sie dürfen nach oben ins Freie.

Axel tippt Erik auf die Schulter. Er soll fragen, denn er kann Deutsch. Erik will nicht, aber Axel überzeugt ihn davon, dass sie wissen müssen, wo sie sich befinden. Widerwillig wendet sein Kollege sich an einen jungen Matrosen.

„ Wo sind wir?“

„ Lübeck“, lautet die kurze Antwort.

Axels schlimmste Befürchtungen sind wahr geworden. Sie sind in Deutschland.

Die Lichtkegel der Scheinwerfer schneiden große Löcher in die Dunkelheit. Sie sind an den Gebäuden auf dem Kai angebracht, wie Augen, die sie überwachen. Dann treffen die Lichter Axel und bohren sich in ihn hinein, sodass es fast körperlich wehtut. Sie finden ihn unter den anderen und fixieren seine riesenhafte Gestalt auf den Deckplanken des Schiffs.

Der Kai ist mit mehreren Reihen Stacheldraht eingezäunt. Gänge und Wege führen hindurch wie in einem verwinkelten Dorf aus spitzem, scharfkantigen Metall. Wie angewurzelt steht er da, paralysiert von dem ungastlichen Empfang.

Überall sind Soldaten und sie sehen alle gleich aus: starrende Augen unter dem Rand eines Stahlhelms, Maschinenpistole an die Hüfte gedrückt, den Finger am Abzug. Die Scheinwerfer projizieren ein glänzendes Licht auf ihre Uniformen. Ihre Bewegungen sind schnell und fieberhaft, ein Ellbogen stößt Axel unnötig hart in den Rücken.

Die Gefangenen steigen die Leiter hinunter. Eine lange Reihe verstörter Männer. Axels Beine zittern. Er muss sich aufs Gehen konzentrieren. Die Schritte, die seit seiner Kindheit das Einfachste von der Welt zu sein schienen, verlangen ihm jetzt große Anstrengung ab. Aber die Uniformen zwingen ihn zu gehen. Sie brüllen ihn vorwärts.

Ein Hund knurrt ihn an, als er zögert, ein bissiges, gefährliches Knurren, und er gerät ins Stolpern und fällt. Gefletschte Zähne, von denen der Geifer tropft, direkt vor seinem Gesicht, ein Schlund, bereit, ihn in Stücke zu reißen. Auf den Knien zieht er sich zurück. Ein Soldat reißt energisch an der Hundeleine und wimmernd verschwindet der Schlund.

Der Soldat greift ihm unter den Arm und hilft ihm hoch. Überrascht von der plötzlichen Freundlichkeit, will er dem Soldaten zulächeln, doch der Mann ist schon zu weit weg.

Der Kai ist ein einziges Wirrwarr aus Soldaten und Gefangenen, die vorwärts getrieben werden. Die Soldaten brüllen Befehle nach links und rechts. „Los, los.“ Die Gefangenen sind stumm.

Die Beine bewegen sich automatisch vorwärts. Er vermeidet jeden Blickkontakt, blickt starr auf den Rücken vor sich. Es ist Eriks Rücken. Der Anblick seines Kollegen steigert seine Angst. Sie sind alle hier. Zu Hause sitzen ihre Frauen in Ungewissheit. Vielleicht haben die Zeitungen etwas geschrieben oder vielleicht wissen sie absolut nichts darüber, was mit ihren Männern passiert ist? Zu Hause wartet Kamma.

Ein Stück entfernt kann er undeutliche Konturen erahnen. Dunkle Rechtecke. Es sind Waggons, ein Zug, zu dem er und die anderen Gefangenen getrieben werden. Endlich wird er sich setzen können, vielleicht den Kopf an eine Scheibe lehnen und sich ausruhen können. Er wird an Kamma denken. An ihre Berührung, ihre Hand, die über seine Wange streichelt, die Fingerspitzen, die ihn am Ohr kitzeln. Er wird sie anschauen. Einen Schritt zurücktreten und sie betrachten. Ihren runden Bauch, die weichen Gesichtszüge, die Augen, die ihn ansehen, wie sonst niemand es kann.

Ohne es zu bemerken, ist er stehen geblieben. Der Gedanke ist es, der ihn dazu bringt. Nie zuvor war er von etwas so überzeugt, selten einmal hat etwas ihn mehr erfüllt: Er muss und er wird nach Hause zurückkehren. Dann spürt er den heftigen Stoß eines Gewehrkolbens im Rücken. Der Schmerz zieht wie ein elektrischer Schlag bis in seinen Kopf. Er muss sich an Erik festhalten um nicht zu stürzen. Eine heisere Stimme direkt an seinem Ohr brüllt das einzige Wort, das er gehört hat, seit sie aus dem Laderaum gestiegen sind. „Los!“

Die Waggons haben keine Fenster, nur Gitter, wie in einem Gefängnis. Sie sind nicht dazu gebaut, Menschen zu transportieren, sondern Tiere. Kurz darauf hocken alle Polizisten in den Viehwaggons, eng zusammengepfercht wie im Laderaum des Schiffs. Sie sind zu viele und die Luft ist zu schlecht. Ein strenger Geruch nach Tierexkrementen steigt vom Boden des Waggons auf. Eine stinkende Pfütze schwappt träge über die Bretter und wächst mit jedem Gefangenen, der nichts anders kann, als sich in eine Ecke zu schieben und Wasser zu lassen.

Mit lautem Krachen werden sämtliche Luken geschlossen. Der Waggon wird verriegelt und in einem Gefängnis auf Rädern setzen sie sich in Bewegung.

Die Wände sind aus Holz. Der Wind pfeift durch den Waggon und die Gefangenen, die vorne stehen, bilden unfreiwillig einen Schutzwall für die übrigen. Axel steht an eine der Seitenwände gedrängt und blickt durch die Ritzen zwischen den Bohlen. Die Landschaft zieht vorbei, zerstört und entstellt. Der Krieg hat seine eigene Heimat nicht verschont.

Plötzlich sieht er sich selbst, draußen, außerhalb des Waggons; ein neugieriges Kind, das nach jemanden oder nach etwas Ausschau hält. Er fühlt sich so hilflos wie das Kind, das er betrachtet. Wieder gehen seine Gedanken auf Wanderschaft, bewegen sich entgegen der Fahrtrichtung des Zuges nach Hause zu Kamma und dem Kleinen. Dem Ungeborenen.

Es ist erst September, aber winterlich kalt. Axels Körper ist steif, in den Beinen ein unangenehmes Kribbeln. Er versucht sich zu bewegen, doch es geht nicht, sie stehen zu dicht aneinander gedrückt. Jegliche Körperwärme ist durch die Ritzen in den Wänden verschwunden, die Männer frieren und klappern mit den Zähnen. Es ist viel zu wenig Platz, um sich die Arme um den Leib zu schlagen und so etwas aufzuwärmen. Es ist nur Platz für Gedanken. Und Angst.

Ein paar Mal hält der Zug an. Niemand weiß warum und niemand stellt mehr Vermutungen an. Andere Züge fahren vorbei. Zwischen den Bodenbrettern kann er die Bahnschwellen erahnen. Dann bewegt sich ihr Zug wieder. Das Geräusch der Räder auf den Schienenübergängen wirkt so friedlich, so ruhig und ungefährlich.

„ Wo zum Teufel bringen sie uns hin?“, ruft eine heisere, vor Kälte zitternde Stimme.

Die Frage lässt einen von ihnen schluchzend zusammenbrechen. Die Umstehenden sprechen ihm Mut zu, sagen Dinge, an die sie selbst nicht glauben, dass alles schon wieder werden wird, dass es sicher nicht so schlimm werden wird. Ihre Worte helfen, obwohl er weiß, dass sie lügen. Der Kollege richtet sich auf und in der Dunkelheit erahnt Axel einen Anflug von Trotz in seinen Augen.

Wieder kommt der Zug zum Stehen und wieder späht Axel durch eine der Ritzen. Ein Mann schiebt eine Schubkarre den Bahnsteig entlang. Ein anderer hebt Pflastersteine auf und legt sie hinein. Soldaten kann Axel nicht entdecken.

„ Mach schon“, sagt Axel. „Frag sie.“

Erik ruft ihnen etwas auf Deutsch zu. Zuerst vorsichtig, dann kräftiger. Er muss ein paar Mal durch eine der Ritzen rufen, bevor der eine reagiert. Der Mann hebt weiter Steine auf und nähert sich dabei ihrem Waggon.

„ Habt ihr Zigaretten?“, fragt er.

„ Wisst ihr, wo sie uns hinbringen?“

„ Habt ihr Tabak? Her damit, sie nehmen ihn euch sowieso ab.“

„ Wo bringen sie uns hin?“

„ Sicher nach Neuengamme. Gebt uns euren Tabak.“

Der Name setzt sich wie ein Kloß in Axels Hals fest. Die Gerüchte gehen längst auch in Dänemark um. Neuengamme ist ein Konzentrationslager.

Sie fahren weiter. Er spürt etwas an seinem Oberschenkel, Zugwind oder eine Berührung. Es ist Eriks Hand. Sie tastet nach seiner. Wie zwei Geschwister auf dem Weg zur Schule halten sie sich an den Händen, während der Zug die Fahrt verlangsamt.

Als ihr Waggon endlich stillsteht, wird die Schiebetür aufgerissen. Licht blendet sie. Arme recken sich ihnen entgegen und reißen sie aus dem Waggon. Widerstrebend lässt Axel Eriks Hand los. Er versucht selbst nach unten zu klettern. Er muss sie überzeugen. Es ist ein Irrtum. Er sollte nicht hier sein, sondern zu Hause bei Kamma. Tatsächlich hatte er nicht einmal Dienst, als sie festgenommen wurden. Er hat nur die Schicht eines Kollegen übernommen. Das müssen sie doch verstehen. „Ich muss nach Hause. Meine Frau bekommt ein Kind“, ruft er verzweifelt. „Ich werde Vater.“

Ein ungeduldiger Soldat packt ihn am Arm und zieht. „Los!“, brüllt er ihn an. Axels Arme und Beine sind so steif, dass er sich nicht abstützen kann. Mit voller Wucht schlägt sein Kopf auf die Erde. Einen Augenblick lang ist es still, dann beginnt der Lärm in seinem Kopf. Ein anderer Däne landet auf ihm und Axels Kopf wird wieder auf den Boden gedrückt. Er öffnet die Augen und sieht einen blank polierten, schwarzen Stiefel, der auf ihn zuschnellt und ihn mitten ins Gesicht trifft.

Seine Lippe ist geschwollen und die Nase blutet, als er auf die Beine kommt. Er wird vorwärts gestoßen. Fieberhaft sucht sein Blick nach Erik.

Die Soldaten sind von der SS. Das verraten die Runen an ihren Kragen. Ihre Hunde kläffen ununterbrochen und schnappen nach den Gefangenen, in den Händen halten sie Reitgerten, die sie drohend heben, damit die Gefangenen sich beeilen. Sie zischen durch die Luft und verewigen sich auf den Rücken der Langsamen.

Ein Stück weiter vorne bleibt einer der etwas älteren Kollegen stehen und fragt in fehlerfreiem Deutsch, was man mit ihnen vorhat. Die Antwort besteht in einem Faustschlag und Blut spritzt nach allen Seiten und auf die Kleidung der Umstehenden. Der Kollege schüttelt sich nur kurz und richtet sich auf und Axel fällt ein, dass Marinus Boxer in der Polizeisportgruppe ist. Der Gedanke hat sich kaum geformt, als Marinus' Arm wie ein Katapult durch die Luft fährt. Der Schlag kommt von unten und trifft den völlig

unvorbereiteten SSler am Kiefer. Ein unschönes Knacken ist zu hören, dann liegt der Stiefel, der Axel im Gesicht getroffen hat, am Fußende des bewusstlosen Soldaten auf dem Bahnsteig.

Andere Soldaten werfen sich auf Marinus. Reitgerten zischen durch die Luft, die plötzlich von zügelloser Brutalität erfüllt ist. In blinder Wut schlagen und treten sie auf den dänischen Polizisten ein. Ein Offizier hält sie schließlich zurück. Nicht, weil sie den Gefangenen nicht zusammenschlagen dürfen, sondern weil die anderen Gefangenen es nicht mitbekommen sollen.

Marinus' Kleidung ist blutdurchtränkt und ein Arm hängt in einem unnatürlichen Winkel von der Schulter herunter, als sie ihn von den anderen Gefangenen wegführen.

Vom Gleis, an dem es nicht mal einen Bahnsteig gibt, gehen die Gefangenen durch das Lager. Die Gefangenen, die sich schon im Lager befinden, sind mit Worten nicht zu beschreiben. Sie sind wie Protagonisten eines unvorstellbaren Albtraums und das Lager ist ein Kabinett des Grauens. Bisher hat Axel nicht für möglich gehalten, dass es Orte wie diesen auf der Welt gibt. Die Gestalten schleppen sich mit langsamen Schritten vorwärts und sehen aus wie Tote, die man schon vor Monaten unter die Erde gebracht und dann wieder ausgegraben hat. Sie sind abgemagert, ausgehungert, bewegen sich wie Invaliden. Ihre Haare erinnern an das Gefieder zerrupfter Hühner. Als Polizist hat Axel Menschen am Tiefpunkt ihres Lebens gesehen, Menschen, für die der Tod zum Alltag gehört und für die das Leben alles andere als ein Zuckerschlecken ist, speziell in den baufälligen Slums in der Adelgade und der Borgergade. Aber nichts ist mit dem hier zu vergleichen. Die Gerüchte, die in Dänemark kursieren, beschreiben Neuengamme nicht annähernd. In der Heimat haben sie keine Ahnung, wie schrecklich es ist.

Der Gestank ist unerträglich. Er liegt über dem Lager wie Morgennebel über einem Feld, ist überall, niemand kann ihm entkommen. Er bohrt sich in Nase, Hals und Brustkasten. Axel sieht, wie sich einige seiner Kollegen übergeben.

Die Dänen werden in den niedrigen Keller eines Steinhauses gebracht. Unter der gewölbten Decke steht Axel in einer kleinen Gruppe, die größer und größer wird. Immer mehr Gefangene werden in den Keller gezwängt. Schweiß läuft ihm übers Gesicht und er will ihn abwischen, kann aber den Arm nicht heben, weil der Mann neben ihm ohnmächtig geworden, aber nicht umgefallen ist. Axels Atem ist heiß und es kommt ihm vor, als habe die Luft, die er einatmet, allen anderen Lungen in diesem Keller bereits einen Besuch abgestattet. Jemand schreit, sie sollen vergast werden und Panik breitet sich aus. Alle schieben und drücken, aber es ist kein Platz, und so vergeuden sie sinnlos ihre Kräfte.

In kleinen Gruppen werden sie aus dem Keller herausgeführt. Die Luft hier unten macht Axel krank. Ihm wird übel, Kopfschmerzen und ein infernalischer Durst stellen sich ein. Stundenlang harren er und Erik aus. Sie sind unter den Letzten, die nach oben kommen.

Sie müssen alles abgeben, was sie bei sich haben. Gestenreich versucht Axel, dem ihm am nächsten stehenden Soldaten klar zu machen, dass er seinen Ehering nicht mehr abnehmen kann, dass sein Finger zu dick geworden ist.

„ Sag es ihm, Erik. Sag ihm, dass ich bald Vater werde. Dass ich nach Hause muss.“

Axel weiß, dass es nichts nützt, aber er muss es wenigstens versuchen. Das ist er sich schuldig, das ist er Kamma und ihrem ungeborenen Kind schuldig.

Erik blickt nur ängstlich zu Boden.

Der Soldat lächelt bloß, nicht boshaft, aber doch hart. Mit einer kurzen Bewegung verdeutlicht er Axel, dass sie den Finger abschneiden werden, direkt am Handknochen. Plötzlich gleitet der Ring vom Finger und verabschiedet sich mit einem leise klirrenden Gruß, als er ihn in eine bereitstehende Schale legt.

Nur ihre Schuhe dürfen sie behalten, ihre abgetragenen, schmutzigen Schuhe, als würden sie ein besonderen Wert für sie darstellen. Jeder Gefangene bekommt eine kleine Plakette aus Blech. Sie haben keinen Namen mehr, sind nur noch eine Nummer. Sie duschen und werden danach entlaust. Wie dreckige Hunde. Anschließend wird ihnen die Kleidung ausgehändigt. Sie ist viel zu klein, ein Hemd, das allenfalls einem Kind passt, eine Hose, die ihm nur knapp über die Knie reicht. Die Sachen riechen streng und kratzen auf der Haut. Sie sehen sich an. Sie gleichen einer Ansammlung von verwahrlosten Kindern und Zirkusclowns. Jetzt sehen sie aus wie alle anderen Gefangenen, abgesehen davon, dass sie noch Muskeln und etwas Farbe im Gesicht haben. Aber das ist nur eine Frage der Zeit.

Die Baracke, in der sie untergebracht werden, ist marode, das Dach undicht. Aber sie ist ihr neues Zuhause. Mehrere hundert Männer werden in einem einzigen, großen Raum zusammengepfercht. Axel spürt eine stille Freude, als auch Erik seiner Baracke zugeteilt wird. Das Gefühl ist vollkommen unnatürlich, denn die Baracke ist kein Ort, an dem man Freude verspürt. Freude verdient sie nicht.

Die Ungewissheit hat Axels Körper in eine Art Ruhezustand versetzt. Es ist, als habe er sich selbst Fesseln angelegt und alle Bedürfnisse unterdrückt, um nicht zur Last zu werden, aber jetzt braucht er dringendst eine Toilette. Axel schiebt sich zwischen den anderen hindurch. Die Klos liegen hinter dem Waschraum. Sie bestehen nur aus Löchern in ein paar Holzbohlen. Er setzt die Arme ein, um sich durch das Gedränge und den Gestank bis zum Pissoir an der gegenüberliegenden Wand vorzuarbeiten. Er atmet in kurzen, flachen Zügen durch den Mund, während er sich erleichtert. Zurück in dem großen Raum hofft er, dass sein Körper die basalen Bedürfnisse wieder vergisst.

Ihr erstes Essen ist eine Kohlrabisuppe, eine saure, durchsichtige Brühe, die nicht viel anders riecht als die Toiletten. Erik hält ihm eine verbeulte Schale hin. Axel starrt auf die trübe Flüssigkeit und bemerkt, das etwas zurückstarrt. Sein Spiegelbild auf der fettigen Oberfläche sieht ihn mit tristem Blick an. Er hört Kammas Stimme mit dem feinen, singenden Bornholmer Akzent. „Iss, Axel, du magst Suppe doch so gerne.“ Er liebt Suppe, aber das hier ist keine Suppe. Er kann sich nicht überwinden zu essen, was in der Schale schwimmt, was es auch immer sein mag, und reicht sie weiter.

Im selben Moment übermannt ihn die Erschöpfung. Die Beine geben nach und zittern unkontrollierbar. Er stützt sich auf seinen Nachbarn, einen breitschultrigen Polizisten, der verzweifelt in seine Suppenschale glotzt. Als Axel ihn berührt, lässt er die Schale fallen, ist aber weder verärgert noch wütend auf ihn. Das Malheur scheint fast wie eine Befreiung zu sein; jetzt muss er sich nicht entscheiden, ob er den widerlichen Fraß zu sich nimmt.

Robert, ein Kollege, den Axel sehr schätzt, hilft ihm in die nächste Koje. Er hat Kinder, Axel kann es spüren, so behutsam, wie er mit ihm umgeht.

Kurz darauf sind alle Kojen belegt. Sie sind so eng, dass es nur eine Liegeposition gibt: auf der Seite. Er teilt sich eine Koje mit Robert, sie liegen dicht aneinander. Unter dem zusammengepressten Stroh, das als Matratze dienen soll, spürt er die harten Bretter. Er kann nicht einschlafen. Der Körper ist ausgelaugt, kann sich aber nicht entspannen. Niemals wird er hier schlafen können.

Sehr früh werden sie aus den Kojen gescheucht. Noch ist die Sonne nur eine schwache Nuance in der Dunkelheit, die überlegt, ob auch sie aufstehen soll. Axel hat nur gedöst und nicht das Gefühl, auch nur kurz geschlafen zu haben. Seine Beine sind steif, als er auf dem kalten Fußboden steht. Er kramt seine Schuhe aus der Koje und plötzlich ist ihr Anblick überwältigend. Er hat geschimpft und geflucht, dass sie alles sind, was sie behalten durften, aber jetzt weiß er ihren Wert zu schätzen. Sie schützen ihn gegen die Kälte, vor Verletzungen und Schnittwunden; vielleicht retten sie sogar sein Leben.

Vor den Waschbecken herrscht dichtes Gedränge. Alle hoffen, den Gestank der Baracke samt der Erlebnisse der letzten Tage abwaschen zu können. Sie geben sich alle Mühe, schrubben beinahe verzweifelt Hände, Gesicht und Achseln, aber der Gestank bleibt der gleiche, und was passiert ist, wird keiner von ihnen jemals vergessen.

Wieder steht Suppe auf der Speisekarte, doch es ist eine Schande, das Gericht Suppe zu nennen. An diesem Morgen isst niemand etwas. Axel und Robert kippen die Suppe vor der Baracke weg, um dem Gestank drinnen zu entfliehen.

Von seinem Standort aus kann Axel den Bottich sehen, aus dem die Suppe kommt, und er kann sehen, wie die anderen Gefangenen des Lagers sich gierig darauf stürzen. Ihr Verhalten hat etwas Rücksichtsloses und Beunruhigendes an sich. Sie sind wie ein Rudel Wölfe, das nach Monaten des Hungers gerade Beute gerissen hat. Nach und nach wird ihm klar, dass er vielleicht so enden wird wie sie.

Dreiecke in verschiedenen Farben sind auf die Kleidung der Gefangenen genäht oder aufgemalt: rote, grüne, schwarze. Er weiß nicht, was sie bedeuten, kann sich aber immerhin denken, dass zwei gelbe, wovon eines verkehrt herum angebracht ist, die Juden kennzeichnen. Die Dänen tragen keine Symbole auf ihrer Kleidung.

Ein hochgewachsener, knochiger Mann taucht neben Axel auf. Er ist schon lange im Lager, wie Axel annimmt, denn seine Haut ist faltig und fleckig.

„ Ihr seid neu hier.“ Der Mann spricht Dänisch, verpackt in einen sonderbaren Dialekt.

Axel nickt.

„ Ich bin schon lange hier.“

„ Wie lange?“

„ Viel zu lange.“

„ Bist du Däne?“

Der Mann zuckt mit den Achseln. „Ich weiß nicht mehr. Ich komme aus Niebüll.“

„ Warum bist du hier?“

Der Mann zeigt auf seine Brust. Ein hellrotes Dreieck ziert den Fetzen, den er trägt. Ein kratzender, ungesund tief sitzender Husten erschüttert seinen ganzen Körper. „Sie finden, meine Arbeitskraft sei für die Ziegelei unentbehrlich, obwohl ich Kunstmaler bin.“

Er tritt näher an Axel heran und richtet sich auf. „Hör mir zu. Du kannst von hier nicht entkommen, aber du darfst nicht aufgeben. Hier gibt es nur zwei Arten von Männern. Die, die aufgegeben haben, und die, die noch Hoffnung haben zu überleben. Die einen sind schon tot, die anderen haben wenigstens eine Chance.“

Ein paar Lagerwachen versuchen, die ausgehungerten Männer auseinanderzutreiben. Wie im Rausch schlagen sie auf sie ein. Keiner der Gefangenen weicht zurück, sie lassen sie einfach schlagen. Dass der Hunger so quälend sein kann, dass man Peitschenhiebe hinnimmt, nur um noch einen Bissen mehr zu bekommen, kann Axel nicht begreifen. In welchem Zustand sie sich befinden müssen!

Der hustende Mann blickt zu Boden. Er flüstert Axel zu: „Vergiss nicht, niemals Blickkontakt.“

Die Lagerwachen schleifen ein paar Gefangene weg, die sich nach der Tortur nicht mehr auf den Beinen halten können.

Axel sieht den Mann neben sich an. Er zuckt nur mit den Achseln, hat es schon so oft gesehen. „Denk dran, was ich dir gesagt habe.“ Der Mann dreht sich um und geht mit schweren, ernsten Schritten davon. Axel sieht, welche Kraftanstrengung jeder Schritt bedeutet.

Das Ganze ist so sinnlos. Kann es etwas Schlimmeres geben als vollkommene Sinnlosigkeit?

Axel erscheint die Zeit endlos. Die Tage laufen immer im gleichen Rhythmus ab. Zuerst der Morgenappell, zu dem alle Gefangenen auf dem großen Platz antreten. Danach werden sie zum Arbeiten gebracht. Einige in die riesige Ziegelei, wo sie Pressen, Zerkleinerungsanlagen und Brennöfen bedienen, einige zu den Walther Werken, die Pistolen und Gewehre herstellen, wieder andere zu weiteren Fabriken und Firmen, die die Arbeitssklaven mit Freude entgegennehmen. Die Polizisten werden nicht wie die anderen Gefangenen im Lager zum Arbeitsdienst eingeteilt. Den ganzen, langen Tag lungern sie in oder vor der Baracke herum und schlagen die Zeit tot, während um sie herum Gefangene unter den Stockschlägen der SS oder der harten körperlichen Arbeit sterben. Der Zustand nagt an Axel, denn er und seine Kollegen haben noch Kraft. Sie könnten die ausgemergelten Gefangenen ablösen.

An diesem Morgen werden beim Appell drei Männer hingerichtet. Zwecks Abschreckung und Einschüchterung hängen sie immer noch am Galgen, als alle zum Abendappell zusammengetrieben werden. Niemand weiß mehr, warum sie hängen mussten, aber Axel meint sich zu erinnern, dass das, was sie getan haben, dort, wo er Polizist war, nicht einmal als Verbrechen betrachtet würde. Vielleicht werden die Lagerwachen nur befördert, wenn sie besonders brutal vorgehen, denkt er.

Heute Abend dauert der Appell stundenlang. Viele fallen vor Erschöpfung um, während die Lagerwachen wieder und wieder zählen. Das Ergebnis will einfach nicht stimmen.

„ Noch einmal“, brüllt eine Stimme über den Platz.

Es ist fast Mitternacht, als es endlich vollbracht ist und sich alle mühsam zu ihren Kojen schleppen.

Axel klettert nach oben in seine Koje. Robert liegt schon da. Gestern Nacht haben sie auf der linken Seite geschlafen, also legen sie sich heute auf die rechte. Bevor sie versuchen einzuschlafen, erzählt Robert von seinen Kindern. Zwei Mädchen und einem Jungen. Es wird zu einer Art Ritual für sie. Robert muss von ihnen erzählen, um die Erinnerung an sie intakt zu halten, und Axel hört gerne zu, weil er ja selbst bald Vater sein wird. In seiner Fantasie werden Roberts Kinder zu seinen eigenen. Axel schließt die Augen mit einem Bild von sich und Kamma, wie sie zusammen mit ihren drei Kindern am Tisch sitzen und zu Abend essen. Die beiden Mädchen haben das blonde Haar zu Zöpfen geflochten und der Junge lauscht mit großen Ohren interessiert allem, was Axel ihm erzählt. In der Wohnung ist es warm und Weihnachten steht vor der Tür.

Ruckartig wacht er auf. Sirenengeheul schneidet durch die Dunkelheit. Scharf und schrill wie Peitschenschläge zerteilt es die Luft. Verwirrt taumelt Axel aus seiner Koje und Panik breitet sich in der Baracke aus. Es ist kein Platz, um sich zu bewegen, alle schieben und drücken und drängen nach draußen. Über allem hängt das enervierende Kreischen der Sirenen. Es ist ihr erster Fliegeralarm.

„ Raus“, brüllt ein SS-Mann, der am Eingang steht.

Die Tür ist schmal, sie zwängen sich hindurch. Durch den Druck von hinten stürzen sie ins Freie. Draußen rennen alle los und im selben Moment geht im ganzen Lager das Licht aus, damit die Bomber es nicht als Ziel ausmachen können.

Erik packt Axel am Arm, sodass sie zusammen bleiben. Einige der anderen Polizisten machen es genauso und so laufen sie in einer langen Reihe und halten sich aneinander fest. Sie stolpern durch die rabenschwarze Nacht. Ein paar stürzen, andere trampeln rücksichtslos über sie hinweg, haben nichts anderes im Sinn, als sich in den Schutzräumen in Sicherheit zu bringen, getrieben vom Willen zu überleben.

Auf der Treppe, die nach unten in den Keller führt, liegt ein Mann. Er hat das Gleichgewicht verloren und keine Chance, wieder hochzukommen. Axel kann ihm nicht helfen. Bleibt er stehen, ereilt ihn das gleiche Schicksal. Der Druck von hinten ist immens; er kann nur weiterstolpern und schnell wird der Körper des Mannes zu einer weiteren Stufe, ein blutiges Hindernis, das alle einfach überrennen.

Hier unten scheinen die Geräusche weit entfernt. Jemand sagt, die Bomber hätten es auf Hamburg abgesehen und nicht auf das Lager. Axels Mund ist trocken, sein Atem geht pfeifend. Er darf nicht nachgeben, nicht bewusstlos werden, denn dann wird er nicht mehr aufwachen. Er will an Kamma denken, bis der Bombenhagel vorüber ist. Aber heute Nacht kann er es nicht. Sie soll nicht hier sein. Sie ist zu gut und zu rein für diesen Ort.

Nach ein paar Stunden ebbt der Angriff ab. Als sie wieder nach draußen kommen, trifft sie das Licht eines neuen Tages.

Axel atmet keuchend. Die entsetzliche Luft des Lagers wirkt plötzlich frisch und energiegeladen. Er weiß nicht, was schlimmer ist, der enge, überfüllte Luftschutzkeller oder das Risiko, von den Bomben in Stücke gerissen zu werden. Er weiß nur, dass sie ihn unter keinen Umständen dazu bringen werden, noch einmal nach unten in den Keller zu gehen.

Sie gehen zurück zur Baracke. Axel schaut sich um. Das Lager wurde nicht getroffen, wie er mit gemischten Gefühlen feststellt. Wird es getroffen, ist das Risiko hoch, dass sie sterben, andererseits könnte es sein, dass die Gefangenen woandershin gebracht werden müssen. Und überall kann es nur besser sein als hier.

„ Wisst ihr, welcher Tag heute ist?“, fragt Erik.

Niemand hat eine Ahnung, was er meint.

„ Der Geburtstag des Königs.“

Erik beginnt zu singen, Robert ebenfalls. Sie singen leise, damit die Lagerwachen sie nicht hören.

König Christian stand am hohen Mast,

in Rauch und Dampf.

Sein Schwert hämmerte so fest,

dass Helm und Hirn des Goten barst.

Da versanken alle feindlichen Achterdecks und Masten

in Rauch und Dampf.

„ Fliehe“, schrien sie, „fliehe, wer fliehen kann!

Wer besteht gegen Dänemarks Christian,

wer besteht gegen Dänemarks Christian

im Kampf?“

Axel geht hinter ihnen und lauscht ihrem Gesang. Zum ersten Mal seit Langem fühlt er so etwas wie Freude. Er spürt seine Verbundenheit mit diesen Männern.

„ Herzlichen Glückwunsch, Eure Majestät“, murmelt er vor sich hin.

Vor vier Jahren feierte der König seinen siebzigsten Geburtstag. Einige Kollegen haben Axel von dem Einsatz erzählt, als der König durch die Stadt fuhr und sie die Menschenmenge am Straßenrand im Auge behalten mussten. Tausende waren gekommen, um ihren König zu feiern. Es war ein Protest der Dänen gegen die Besatzung durch die Deutschen. Sie huldigten dem König, um zu zeigen, dass er immer noch ihr Staatsoberhaupt war.

Überall wehte der Dannebrog, die dänische Nationalflagge. Von Balkonen, Laternenmasten, in den Händen am Straßenrand, an denen die offene Kutsche vorbeikam. Alle wollten einen Blick auf den König erhaschen. Kopenhagen war ein Meer aus Blumen, Freude und Hurrarufen. Am Tag danach war die Stadt wieder in den Händen der Deutschen.

Zurück in der Baracke verbreiten sich die Gerüchte wie ein Lauffeuer. Einige behaupten, dass die Polizisten das Lager verlassen sollen. „Wir dürfen nach Hause“, meinen sie gehört zu haben. In vielen Augen flackert Hoffnung auf. „Es ist der Geburtstag des Königs, deshalb schicken sie uns nach Hause“, vermuten sie.

Axel verkneift sich eine Träne. Es klingt unwahrscheinlich, doch er will es gerne glauben. Er muss es glauben. Darf er wirklich nach Hause zu Kamma?

Umringt von SS-Soldaten werden die dänischen Polizisten zurück durch das Lager geführt, zurück auf den Weg, auf dem sie vor fünf Tagen gekommen sind. Am Gleis warten Viehwaggons auf sie, weshalb niemand zu glauben wagt, dass Dänemark Ziel des Zuges ist.

Wieder werden sie in die Waggons gepfercht, eng zusammengepresst, wieder werden die Türen zugeworfen und verriegelt. Der Zug setzt sich in Bewegung. Sie fahren nach Norden, und in dieser Richtung liegen keine anderen großen Konzentrationslager. Alle jubeln, bis sie kaum noch eine Stimme haben. Axel stellt sich den Anblick des Zuges von außen vor, die dänischen Freudenrufe, die wie der Rauch aus dem Schornstein der Lok durch Norddeutschland ziehen.

Plötzlich kann Axel durch einen Spalt hindurch die Sonne sehen. Sie ist auf der falschen Seite. Sie fahren nicht mehr nach Norden. Jetzt fahren sie nach Süden.

Ihr Ziel ist Buchenwald. Das Gerücht läuft von Mund zu Ohr durch die gesamte Reihe aus Waggons. Sie werden tiefer ins Herz Deutschlands verfrachtet, ein ganzes Stück weiter weg von Dänemark. Nach zwei Tagen und zwei Nächten in dem Waggon, dessen Dach undicht ist, kommen sie an. Axel schämt sich dafür, dass er gehofft hat, sie könnten nach Hause. Dummer kleiner Axel. Naiv wie ein Kind hat er daran geglaubt, aber nur für kurze Zeit. Bei der Ankunft in Buchenwald muss er wie die anderen einsehen, dass er nicht nach Hause kommen wird, bevor der Krieg zu Ende ist. Falls er dann nicht tot ist.

Auch diesmal hat er es geschafft, sich einen Platz an der Seitenwand zu erkämpfen und ist verwundert über die Schönheit, die er durch die Spalten erkennen kann. Eine von Wald bedeckte Landschaft, sanfte Hügel, ein Meer nackter Zweige, die im Wind wiegen. Überrascht spürt er, wie sich ein positives Gefühl einstellt, und er denkt an Kamma. Er hätte nie geglaubt, hier etwas zu erleben, das ihm Freude bereitet. Doch das Gefühl währt nur kurz, wie alles andere hier. Das einzige Dauerhafte ist die Angst.

Das Lager ist in desolatem Zustand. Alliierte Bomber haben große Teile in Ruinen verwandelt. Spindeldürre Männer in halb verwester Gefangenenkleidung stolpern zwischen Trümmern und Bergen aus undefinierbarem Zeugs und Unrat herum. Schieben etwas von hier nach da, etwas anderes hin und wieder zurück. Axel kann in ihrem Tun kein System entdecken, das einzige, woran er denken kann, ist, ob er bald so aussieht wie sie.

Die dänischen Polizisten sollen duschen und mit Gebrüll und Gesten wird ihnen befohlen ihre Sachen auszuziehen. Durch eine Tür werden sie in einen Raum mit Duschen an der Decke bugsiert und erneut breitet sich Unruhe aus. Ein zischender Laut über ihren Köpfen lässt Axel zusammenzucken. Er hält sich die Nase zu, fürchtet, dass ein tödliches Gas gleich seine Lungen platzen oder schrumpfen lassen wird, oder was Gas einem Körper alles antut. Er soll sterben. Das weiß er.

Dann erscheint Kamma. Als stehe sie leibhaftig vor ihm. Sie ist noch nicht niedergekommen. Der Bauch ist immer noch rund und weich. Sie lächelt und ihr Lächeln breitet sich warm in seinem Körper aus.

Ein kräftiger, kühler Strahl trifft seinen Kopf, von wo das Wasser über seinen Körper rinnt. Er öffnet die Augen. Es ist dreckig, aber es ist kein Gas. Fast lässt er es zu, die Dusche zu genießen.

Am Ausgang steht ein junger Soldat. Er hält einen Pinsel in der Hand. Axel macht es wie der Gefangene vor ihm, breitet die Arme zur Seite aus, als solle er gekreuzigt werden. Der Soldat schmiert eine breiige Flüssigkeit unter Axels Achseln und auf dessen Schamhaar. Das Gift gegen die Läuse brennt auf der Haut.

Auch hier sind die Baracken eng. Sie sind zu viele Menschen auf zu wenig Raum, gute Bedingungen für Läuse, sogar für die faulen. Hier sind jede Menge Körper. Und Tag für Tag werden sie dünner. Die Essensrationen sind nicht genug, um einen erwachsenen Mann auf den Beinen zu halten.

Die erste Woche sind alle dänischen Polizisten in Quarantäne. Sie dürfen sich nur in oder unmittelbar vor der Baracke aufhalten. Sie haben nichts zu tun. Irgendwann bemerkt Axel sein Spiegelbild in einer Fensterscheibe der Baracke. Der Schrecken fährt ihm in alle Glieder, er hat sich verändert, ist bleich und hohlwangig. Er tut sich leid. Aber dann sieht er hinüber zum Lager der Juden, das hinter der Holzbaracke der Dänen liegt. Sie leben in einem Zeltlager inmitten eines Pfuhls aus Schlamm. Sie haben keine Kojen, schlafen auf der nackten Erde, ohne Decken oder etwas anderes, womit sie sich gegen die Kälte schützen könnten. Er hat kein Recht sich zu beklagen, wenn er sieht, unter welchen Bedingungen die Juden leben. Oder vielmehr sterben. Die Leichen sind zu einem Haufen aufgeschichtet, weggeworfen wie Abfall. Im Laufe des Tages wächst der Haufen weiter an, bevor die Leichen auf einem Holzkarren ins Krematorium gebracht werden.

Als im Oktober die Rot-Kreuz-Pakete eintreffen, macht Axel das schlechte Gewissen zu schaffen. Die Pakete kommen mit Bussen aus Dänemark und enthalten reichlich Butter, Marmelade, Käse, Salami, Knäckebrot, Kekse und Dosenfleisch. Die Polizisten speisen wie Barone, ziehen sich ihre neuen Wintersachen über und rauchen Zigaretten aus der Heimat, während sie Karten spielen und auf der anderen Seite des Fensters der Haufen aus toten Juden immer höher wird.

Mit den Monaten wird Axels Mutlosigkeit größer. Nur der Inhalt der Pakete hält ihn am Leben. Die Hoffnung, wieder nach Hause zurückzukehren, schwindet und vergräbt sich wie ein harter Knoten tief in seinem Inneren. Mit jedem Tag, der vergeht, wird sie ein Stückchen kleiner, und bald ist nichts mehr von ihr übrig.

Manchmal sprechen Axel und Erik über ihre Frauen. Jedes Mal erscheinen sie ein bisschen liebevoller und schöner. Sie sprechen über Dänemark, obwohl das Land am anderen Ende der Welt zu liegen scheint und der Abstand immer größer wird. Sie sprechen über die Zukunft, als gäbe es sie.

Mitte Dezember werden sie in ein anderes Lager verlegt. Noch eine Fahrt im Viehwaggon, noch eine Demütigung der früher so stolzen Polizisten. Sie sind weniger geworden. Einige sind in Buchenwald gestorben, dem Lager mit dem schönen Namen. Dieser Buchenwald ist ein Massengrab.

Dann sind sie in Mühlberg. Stalag IV-B wird das Lager genannt, als sei es eine gut laufende Fabrik. Schornsteine ragen auf und die Baracken sind so lang wie Lagerhallen, aber hier werden nur Menschen gelagert und das einzige Produkt, das die Fabrik herstellt, ist der Tod.

Das Lager hat kein Ende. Es ist so groß wie eine Stadt in der Provinz. Hier sind Amerikaner, Engländer, Franzosen, Russen und Polen. Die Silhouetten der Wachttürme gleichen riesigen Spinnen, die einen Mann mit einem Biss verschlingen können.

Früher hatte Axel volles Haar, inzwischen fällt es in Strähnen aus und rieselt zu Boden. Er erkennt sich selbst nicht wieder, weder äußerlich noch innerlich. Sogar sein Name ist ihm fremd geworden. Axel Skjold ist jetzt nur noch eine Nummer.

Dann ist Weihnachten. Entgegen aller Vernunft feiern sie. In Axel wächst der Hass. Anfangs geschah es nur langsam, wie eine Pflanze, die gedeiht, aber heute flammt er ungezügelt auf. Er sollte nicht hier sein. Er sollte zu Hause sein, bei Kamma. Das hatte er ihr versprochen, als sie geheiratet haben. Dass er immer an ihrer Seite sein wird. Wie sie wohl den Weihnachtsabend feiert? Weint sie? Hält sie das Kleine auf dem Schoß und weint?

Er versucht, sich die Gedanken an Kamma aus dem Kopf zu schlagen und stellt sich in der Reihe für die Essensausgabe an. Mit einer Schale dünner Suppe, in der ein paar Rübenblätter schwimmen, geht er zu Erik. Sein Freund sieht ihn mit verzweifeltem und finsterem Blick an, richtet sich in seiner Koje auf, bricht aber sofort wieder zusammen, als sei sein Rückgrat in Stücke zerbrochen. Er hat keine Kraft mehr und ist dabei, sich der Unvorhersehbarkeit des Grauens zu ergeben. Er kommt nur noch aus seiner Koje, wenn sie ihn dazu zwingen. Früher war er stark wie ein Ochse oder ein störrischer Packesel. Jetzt sieht es so aus, als würde er allmählich verfaulen.

Axel setzt sich zu ihm und spricht mit der Stimme, die er wohl auch benutzen würde, sollte er jemals die Chance bekommen, mit seinem Kind zu sprechen. „Hier gibt es nur zwei Arten von Männern. Die, die aufgegeben haben, und die, die noch Hoffnung haben zu überleben. Die einen sind schon tot, die anderen haben wenigstens eine Chance. Du darfst nicht aufgeben.“

Erik sieht ihn mit einem entschuldigenden Blick an. Die Suppe, mit der Axel ihn zu füttern versucht, läuft über sein Kinn, ohne dass er es merkt.

Jeden Tag verlassen sie das Lager und schlurfen müde in einer langen Kolonne zur Elbe. Es ist Schnee gefallen und die Kälte arbeitet sich durch ihre Kleidung.

Ein Stück vom Flussufer entfernt stehen die Kipploren. Mühsam schaufeln die Gefangenen Schlacke, Schotter und Sand hinein. Sie arbeiten zu langsam und Schläge prasseln auf sie ein. Die Wachen sind noch nicht erwachsen, wohl nicht mal zwanzig Jahre alt, aber ihre gut genährten Körper haben Kraft und die Totenköpfe an den Schirmmützen verleihen ihnen Macht. Ihre Gesichter bleiben für Axel verschwommen. Er will sie auch nicht sehen, sie können nicht menschlich sein.

Selten treffen die Schläge ihn, aber der Körper braucht keine Schläge, um übel zugerichtet zu werden. Der Gedanke daran kann schon genug sein.

Axel arbeitet hart. Keinen Blickkontakt und ein konstanter Rhythmus. Als die Lore voll ist, drücken sie mit ihren verfrorenen Händen gegen das kalte Metall, um sie die Schienen entlang zu schieben. Sie ist schwer, die Räder sind verrostet und der Schnee hat den Boden in Schlamm verwandelt. Die Lore rührt sich erst, als Robert die Schulter dagegen stemmt. Erik geht ganz außen neben Axel. Sein Husten verleiht seinen Wangen ein wenig Farbe. Ihr Atem bildet eine kleine Wolke über der Lore. Unten am Fluss kippen sie sie aus, schieben sie zurück, beladen sie erneut und ducken sich unter den Stockschlägen.

Axel versucht, Wärme in die geballten Fäuste zu pusten. Dann wieder die Schienen entlang hinunter zum Fluss. Die Männer keuchen, die Lore bewegt sich ruckartig. Erik rutscht aus. Auf einmal ist er weg, geht nicht mehr neben Axel her. Ein grässliches Knirschen lässt alle innehalten.

Eriks Bein liegt unter der Lore auf den Schienen. Die Hose ist zerrissen und das Bein unterhalb des Knies zermalmt. Entsetzt starrt er es an. Der Mund ist aufgerissen, aber er kann nicht schreien. Axel will ihm hoch helfen, ist aber wie gelähmt. Etwas läuft ihm über den Rücken, kalt und klamm wie ein Tropfen. Eine Weile steht er nur da und sieht hinunter auf seinen Freund, bis eine Peitsche ihren Abdruck auf seinem Rücken hinterlässt.

Am Abend gehen Axel und Robert zurück ins Lager. Sie tragen Erik zwischen sich. Immer wieder verliert der Freund das Bewusstsein, wacht wieder auf. Sollte Axel irgendwann Gelegenheit haben, seine Erlebnisse zu beschreiben, er könnte es nicht. Nie hat er über den Tod nachgedacht und ihn deshalb auch nie gefürchtet. Bis jetzt nicht.

Geistesabwesend betrachtet der Lagerarzt Eriks Bein. Dann breitet er die Arme aus, schüttelt den Kopf und zündet sich eine Zigarette an.

Von der Tür zum Krankenrevier aus sieht Axel hinüber zu seinem Freund. In Eriks Augen stehen Tränen, der Stumpf seines Beins zuckt, als habe er seinen eigenen Willen. Wie ein zurückgelassenes Kind wird er auf ein Bett gelegt. Das Bein ist von Schorf bedeckt und mit Blasen übersät. Die Kälte kriecht durch die Wände und gesellt sich zu ihm ins Bett. Er zittert. Jemand schließt die Tür, Axel kann ihn nicht mehr sehen, und am nächsten Tag ist Erik tot.

Gerüchte machen die Runde, angeblich sollen sie nach Leipzig transportiert werden. Es heißt, diejenigen, die die Deutschen dorthin schicken, dürfen nach Hause gehen, wenn die Arbeit dort erledigt ist. Alle wollen dazugehören. Axel will dazugehören. Er muss nach Hause.

Die Gefangenen sind vollzählig auf dem Appellplatz angetreten. Wie gewöhnlich genießen die SS-Wachen ihre Macht, prügeln wahllos auf Männer ein, weil sie es können.

Dann werden die Glücklichen auserwählt. Die Nervosität läuft wie ein Windstoß durch die Reihen. Ausgewählt zu werden bedeutet das Leben, hier zu bleiben wohl den Tod.

Mit Listen in den Händen laufen die Wachen zwischen den Gefangenen herum. Brüllen Namen, zählen, brüllen mehr Namen. Axel hält den Atem an. Roberts Name ist dabei, Eriks ebenso, aber seiner nicht. Niemand hat ihnen gesagt, dass Erik tot ist.

Als alle aufgerufen sind, spürt Axel den aufkommenden Zusammenbruch. Die Reihen lösen sich auf, aber er bleibt stehen. Paralysiert von seinem Unglück. Er ist wütend auf sich selbst. Wie konnte er nur so dumm sein, zu hoffen. Ein Soldat steht nicht weit entfernt, und Axel rafft seinen Mut zusammen. Nach und nach hat er sich ein paar Brocken Deutsch angeeignet, und er hat nichts zu verlieren.

Er wendet sich an den Soldaten. „Erik Rømer ist tot.“

„ Was?“

„ Erik Rømer ist tot.“

Der Mann blättert in einer Liste.

Axel zeigt auf den Namen. „Er ist tot.“

„ Geh jetzt! Warte, dein Name?“ Er schreibt Axels Namen auf die Liste.

In der Baracke packen sie ihre wenigen Habseligkeiten. Die Zurückgelassenen stehen da und sehen ihnen zu, wie Wrackteile, Verzweiflung im Blick. Einige heulen.

Sie klettern in die Waggons, klammern sich an ihre Rot-Kreuz-Pakete. Sie haben fast keine Kraft mehr, sich zu freuen, aber jetzt müssen sie nur die Arbeit überstehen, dann können sie nach Hause und alles hinter sich lassen.

Leipzig ist von zahlreichen Bombenangriffen gezeichnet. Alles ist mit grauer Asche bedeckt. Die soliden Bahngleise zeugen von der Kraft, der sie ausgesetzt waren. Sie sind verbogen und unbrauchbar. Das ist der Grund dafür, dass die Gefangenen hierher geschickt wurden: Sie sollen neue Schienen verlegen.

Zuerst werden sie in zwei Gruppen aufgeteilt. Jede Gruppe soll in Zwölf-Stunden-Schichten die Schäden beseitigen, so kann rund um die Uhr gearbeitet werden. Axel wird der Nachtschicht zugeordnet.

Die Arbeit ist anstrengend und mühselig, und während der ersten Tage schneit es. Die Kälte schneidet Axel durch Mark und Bein. Er hat kein Fett mehr am Körper, nichts, um sich gegen den Winter zu schützen. Niedergeschlagen blickt er auf seine Schuhe. Sie sind so gut wie verschlissen, und wenn sie zerfallen, wird er erfrieren. Es sei denn, ein anderer stirbt vor ihm und er kann die Schuhe des Toten an sich bringen.

Nach einer Woche in der Stadt stirbt Laurits, den schon seit einiger Zeit der Husten plagte. Leider sind Laurits' Schuhe Axel vier Nummern zu klein. Vergeblich versucht er, sie anzuziehen.

Am zehnten Tag ist Axel kurz davor aufzugeben. Die Tage sind endlos, die Arbeit ist zermürbend. Aber er reißt sich zusammen und nach dreizehn Tagen unmenschlich harter Arbeit teilt ihn der leitende SS-Wachsoldat mit, dass die Dänen noch einen Tag arbeiten müssen und dann zurück dürfen. Überglücklich umarmen sie sich, denn jetzt geht es endlich nach Dänemark. Der Soldat lacht, sodass seine Zähne zu sehen sind. Sie werden zurück nach Mühlberg gebracht. Wer hat gesagt, dass sie jemals zurück nach Dänemark kommen werden?

Plötzlich spürt Axel einen heftigen Druck hinter der Stirn und sinkt auf die Knie. Er weigert sich, es zu glauben. Dann spürt er den Schlag im Rücken. Der Soldat nimmt alle Kräfte zusammen und schlägt noch einmal und ein blutiger Geschmack füllt Axels Mund.

Die Zeit vor dem Tod: Teil 1

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