Читать книгу Das Ideal des Kaputten - Jessica Jurassica - Страница 7

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Irgendwann im Herbst, Ende Oktober oder so, saß ich mit meiner Familie in einem Zug, der mit 300 km/h durch die Po-Ebene Richtung Napoli raste, wo wir eine Woche verbringen wollten, also eigentlich in Torre del Greco, einem Ort in der Nähe von Napoli, wo es eine alte Fischfabrik gab und sonst nichts, direkt am Meer und am Fuße des Vesuvs. Die Luft im Zug war schlecht und ich schlecht gelaunt. Unter meinen Augen lagen Schatten.

Wir hatten bei einem Faschisten namens Pio für eine Woche eine Wohnung gemietet. Der Code zum Tresor, in dem der Schlüssel zur Wohnung bereitlag, war 1921, und deshalb, sagte mein Vater, während die Po-Ebene mit 300 km/h an uns vorbeiraste, sei Pio bestimmt ein Faschist. Später stellte sich heraus, dass der Code für das WLAN 1923 war, auch irgendein Eckdatum aus dem italienischen Faschismus. Die Fascho-Wohnung war ganz nett, aber mit den denkbar hässlichsten Ikea-Möbeln ausgestattet, und so saß mein Vater in einem Ikea-Sessel vor einer Ikea-Tapete und las in Die Ästhetik des Widerstands. Meine Mutter saß draußen auf dem Balkon und strickte in der Sonne Socken und meine Schwester neben ihr rauchte Zigaretten und starrte aufs Meer raus. Meine Schwester war fünf Jahre jünger als ich und rauchte inzwischen drei Zigaretten, während ich eine rauchte.

Ich bewohnte das Eckzimmer. Nachts, wenn es stürmte, schien der Wind die Fassade und die Fensterläden wegzutragen und es pfiff durch die Ritzen, alle Wände knarrten. Tagsüber sah ich von meinem Ikea-Bett aus und wenn ich rauchend am Balkongeländer lehnte und über die Wellen hinweg aufs Meer rausschaute, so wie ich es am liebsten den ganzen Tag getan hätte, weit draußen im Dunst: die Insel Capri. Ich machte mir ständig Gedanken über diese Insel, aber ich kam auf keinen Punkt. Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Scheiß-Insel.

Wenn man auf der vom Meer abgewandten Seite der Wohnung rausschaute, blickte man auf einen kleinen, ordentlichen Innenhof, da lagen ein paar Taschen gefüllt mit Früchten auf einem Tisch. Dahinter ragte der Vesuv mitten aus der Landschaft raus, manchmal hatte er etwas Bedrohliches, manchmal etwas Schützendes und manchmal auch beides gleichzeitig. Ich schaute mir diesen riesigen Krater an und fragte mich, wie das wohl so war, wenn der ausbrach und dann über alles drüberejakulierte: über Sorrento, Torre del Greco, Napoli, einfach über alles drüber und ins Meer hinein.

Täglich fuhren wir mit Sammeltaxis von der Fascho-Wohnung zur Haltestelle der Circumvesuviana, jener heruntergekommenen Bahn, die nach Napoli und an der Küste entlang um den ganzen Vulkan herumfuhr. Aus den Boxen in diesen Sammeltaxis dröhnten manchmal irgendwelche Best-of-Reggaeton-Playlists und ich starrte raus auf den Verkehr, den ich nicht verstand.

Vier Jahre zuvor war ich gerade eben in Lima angekommen und fuhr mit Gabriela in Bussen und Taxis durch die verstopften Straßen der absurd großen Millionenstadt, aus den Boxen dröhnten entweder Cumbia-Klassiker oder die aktuellen Reggaeton-Hits. Manchmal durchquerten wir so die ganze Stadt, um an der Promenade entlangzugehen und irgendwo Ceviche zu essen, während vom Meer her Wind kam und man draußen vor Lima eine schwarze, felsige Insel liegen sah, die nur von Vögeln bewohnt und vor hundertfünfzig Jahren Grund für einen Krieg zwischen Peru und Chile gewesen sei, wie mir Gabriela erklärte.

Einmal fuhren wir in die Anden und Gabriela heiratete in einem ländlichen Amtsgebäude, in dem es von der Decke tropfte und die Wände Risse hatten, einen Peruaner. Aus einem alten Radio schepperte traditionelle Musik, die hauptsächlich aus unerklärlich hohen Jauchzern bestand. Diese Musik erinnerte mich an das Appenzell und Gabriela erzählte mir später, dass es hier in der Gegend Bräuche gebe, die ganz ähnlich seien wie das Silvesterklausen, mit Masken und Tänzen.

Bei der Hochzeit war ich Trauzeugin und unterschrieb ein Dokument, von dem ich kein Wort verstand. Danach aßen wir Pachamanca, das traditionelle Gericht dieser Region, es bestand aus drei verschiedenen Fleischarten und ebenso vielen Kohlenhydraten: Schwein, Meerschwein, Hühnchen, Kartoffeln, Yucca und Mais. Dazu tranken wir trüben, lauwarmen Kräuterschnaps, die Sonne brannte auf uns nieder, und jedes Mal, wenn sich eine Wolke davorschob, wurde es augenblicklich sehr kühl. Gabriela spielte mit ihrem Ehemann eine Runde Tischtennis im Garten des Restaurants, hinter ihnen tat sich eine weite Ebene auf, am Horizont türmten sich Wolken und eine Bergkette. Ich saß auf einem Plastikstuhl an einem Plastiktisch mit der Familie des Bräutigams und verstand kein Wort von dem, was sie sagten.

Kurz darauf trennte sich Gabriela von ihrem Ehemann und wir reisten Richtung Norden, die beiden liebten sich zwar, aber die Heirat war nur fürs Papier gewesen und Gabriela wollte nach einem Jahr endlich raus aus Lima, dieser unerträglichen Stadt.

Gabriela und ich waren ein halbes Jahr zusammen unterwegs, meistens war noch eine dritte Person dabei und meistens war das ein Mann, den wir irgendwo aufgelesen hatten, ein Argentinier, ein Ecuadorianer oder ein Peruaner. Wir hatten es immer gut, und manchmal hatte Gabriela mit diesem Argentinier, Ecuadorianer oder Peruaner Sex, während ich im selben Bett lag und tief schlief.

Nachdem wir im kolumbianischen Urwald zwei lange Nächte lang auf Ayahuasca getrippt hatten, begannen wir, Städte zu meiden, und hingen nur noch in kleinen, halbtouristischen Dörfern ab. Einmal landeten wir in einem dieser Dörfer, das sehr klein war und rundherum in den Hügeln Kaffeefarmen, so weit das Auge reichte. Damals war es ein Mexikaner, der uns begleitete und der Nacht für Nacht zwischen uns schlief. C.s linke Körperhälfte war voller Tätowierungen und Narben und in seinem Bein steckten noch ein, zwei Kugeln, die man nicht entfernt hatte und die seither unter der Haut ertastbar waren und ihm bei jeder Flughafenkontrolle Probleme bereiteten, weil die Metalldetektoren ausschlugen. Seine rechte Körperhälfte war unerklärlicherweise unversehrt. Das Hostel, in dem wir wohnten, befand sich etwas außerhalb des Dorfes und war eigentlich kein Hostel, sondern eine ziemlich abgefuckte Hippiekommune. Die Hippies nannten diesen Ort Casa del Duende, Zwergenhaus, es bestand aus zwei Hütten mit eingeschlagenen Fenstern, es gab insgesamt nur dreieinhalb Gabeln in der improvisierten Küche und die Dusche war ein Schlauch neben dem Klo, draußen stand ein Zitronenbaum und in der Nähe gab es einen kleinen Fluss, an dessen Ufern wilder Ingwer wuchs.

Das Casa del Duende war also ziemlich romantisch und heruntergekommen, die kolumbianischen Hippies ganz nett, sie trugen Shirts mit Pilzen drauf, abends kifften sie und spielten Djembe und tagsüber gingen sie ins Dorf, um sich an eine Ecke zu setzen und ihren handgemachten Makrameeschmuck zu verkaufen. Wir gingen dann jeweils mit ins Dorf, setzten uns zu ihnen oder in die Smoothiebar am oberen Ende der Straße, wo wir die verschiedenen grünen Smoothievariationen durchprobierten, und wenn wir Lust hatten, stiegen wir noch auf den Hügel über dem Dorf, auf dem ein Denkmal stand. Alle Touristen stiegen dort hoch, und meistens war ein junger Kolumbianer da und verkaufte Galletas, selbst gemachte Haferkekse, die waren nicht besonders gut, aber ich kaufte trotzdem immer welche, weil mir der Kolumbianer gefiel. Manchmal stieg ich auch nur auf den Hügel, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln, und dann kaufte ich Kekse. Aber meistens waren wir zu dritt unterwegs, Gabriela, C. und ich, in der Smoothiebar, in einem der zwei Kaffees, in den umliegenden Hügeln zwischen den Kaffeefeldern oder in dem abgefuckten Hostel. Während wir Smoothies oder Kaffees tranken, erzählte uns C. von einem Mexiko, das er nicht mehr gesehen hatte, seit er die Zeit im Gefängnis überlebt hatte und nach seiner Freilassung direkt nach Indien geflogen war, um sich für ein Jahr im Osho-Ashram in Pune niederzulassen.

Wir verbrachten ein paar Tage in diesem Dorf und reisten an jenem Tag ab, als im Casa del Duende das Wasser ausfiel und sich ein unangenehmer Gestank auszubreiten begann.

Wir fuhren dann direkt mit dem Bus nach Bogotá, wegen unserer Rückflugtickets. Von Bogotá flogen wir nach Spanien, um von da aus über Land zurück in die Schweiz zu reisen. Wir dachten, dass der Kulturschock nach diesen ganzen Monaten Südamerika etwas geringer sei, wenn wir nicht direkt in die Schweiz, sondern erst nach Spanien flögen, schließlich sprach man da ja auch Spanisch. Europa traf uns trotzdem wie eine Faust ins Gesicht. Wir fanden die Spanier unfreundlich und herzlos, ihr Spanisch ziemlich hässlich, die Luft irgendwie seltsam und sowieso alles zu teuer.

C. hatte sich uns spontan angeschlossen, er war noch nie in Europa gewesen und also begleitete er uns erst nach Spanien, dann nach Frankreich und am Ende in die Schweiz, Geld für die Reise hatte er mehr als genug, schließlich war er Erbe eines der größten Drogenkartelle Mexikos. Aber zuerst irrten wir in Madrid umher, und weil es uns da überhaupt nicht gefiel, fuhren wir nach Barcelona, wo wir bei einer kolumbianischen Salsalehrerin mit Schilddrüsenfehlfunktion unterkamen, die ziemlich überdreht und außerdem Buddhistin war und täglich laut irgendwelche Mantras herunterratterte. Durch sie lernten wir eine französische Hippiefrau kennen, die in der Nähe von Carbonne, einer unscheinbaren französischen Kleinstadt, auf einem Hof lebte und uns zu sich einlud. Also fuhren wir da hin. Es lag sowieso einigermaßen am Weg.

Der Ayahuasca-Trip hatte zur Folge gehabt, dass ich das Schreiben wiederentdeckte, schließlich musste ich das Erlebte irgendwie verarbeiten, es drohte mich zu erdrücken. Also schrieb ich die ganze Zeit manisch, und manchmal schrieb ich so lange, dass ich an Orte driftete, an die ich lieber nicht gedriftet wäre, und dann trat ich aus meinem Körper raus, sah mich von oben, und ein ohrenbetäubendes Dröhnen schwoll in mir an. Manchmal schrieb ich auch einfach zwanghaft jedes Detail dessen nieder, was ich erlebte, wenn ich nicht gerade schrieb. Und so schrieb ich auch ununterbrochen, als wir diese Hippiefrau in Frankreich besuchten, die uns auf ihren Hof eingeladen hatte.

Nach den Tagen in San Sebastian brachen Gabriela und ich nach Frankreich auf. Ich war in dieser Zeit öfters und immer wieder abgedriftet in ein warmes Gefühl der Gedankenlosigkeit und hüllte mich zufrieden in mich selbst. Wir beschlossen, den Weg nach Carbonne per Anhalter zurückzulegen, und bald hatten wir die Grenze überquert, fuhren durch die Landschaft vor den Pyrenäen, standen an Autobahneinfahrten, ohne Wasser und Essen in der Hitze, 34 Grad im Schatten und kein Hauch eines Luftzuges.

Den letzten Teil der Reise legten wir mit dem Zug zurück und ließen uns von Elisabeth am Bahnhof in Carbonne abholen. Bei ihr zu Hause erwarteten uns C., vier Freundinnen von Elisabeth und ihre Tochter. Als es dämmerte, aßen wir alle gemeinsam in der Küche, das große Fenster umrahmt von Efeu und sperrangelweit offen. Von draußen drang von Zeit zu Zeit ein Schwall trockener Landluft herein und mit ihr der Geruch der gemähten, austrocknenden gelben Felder, ein Duft, der demjenigen von C.s Haar ganz ähnlich war.

Nach dem Essen ließen wir C. mit dem schmutzigen Geschirr in der Küche zurück und folgten Elisabeth und ihren Freundinnen zu einer kleinen Weidenhütte, wo sie monatlich ein Leermondritual durchführten. Wir stellten uns vor der Hütte im Kreis auf und reinigten unsere Chakren mithilfe von brennendem Salbei, Eulenfedern und Tambourenschlägen. Dann traten wir dem Alter nach abfallend ein.

Nachdem wir das Ritual in der Weidenhütte durchgeführt hatten, mit Medizinrad, Mantras und Tränen, umarmten wir jede einzelne der Frauen und uns gegenseitig zum Abschied und Dank. Dann legten Gabriela und ich uns in der großen Jurte, in der uns Elisabeth einquartiert hatte, zu C., der bereits schlief.

Den nächsten Tag verbrachten wir mit langen Gesprächen mit Elisabeth am Küchentisch, und später spazierten wir durch den Abend. Die schwere Luft versprach ein Gewitter. Wir gingen auf einem staubigen, trockenen Feldweg zwischen den Feldern durch die Hügel, bis wir vor einem Sonnenblumenfeld standen, so groß, dass wir kein Ende sahen. Nachdem wir zwischen den Sonnenblumen gewandert waren, deren Köpfe alle in dieselbe Richtung schauten, gelangten wir an einen Waldweg. Gabriela trug ihr langes, weißes Kleid und tanzte vor uns her, durch die erdrückende Luft des bevorstehenden Gewitters, mit einer Sonnenblume in der Hand, summend und singend. Am anderen Ende des Waldes setzten wir uns in das Stroh, das die bearbeiteten Felder bedeckte, und Gabrielas Haar schimmerte im selben Goldton wie die geschnittenen Halme.

Irgendwann begannen erste Tropfen zu fallen und wir brachen auf, um auf der von Bäumen gesäumten Landstraße nach Hause zu spazieren, während das Sommergewitter losbrach. Die großen Tropfen verdampften augenblicklich auf der heißen Erde. Durchnässt verkrochen wir uns in die Jurte und saßen halbnackt oder in Tücher gehüllt auf dem weichen Teppichboden.

Wie wir so dasaßen und uns im Kerzenlicht trockneten, begann C. zu erzählen, von seiner Mutter, davon, dass er erst nach ihrem Tod erfahren hatte, dass sie entführt worden war, als er noch ein Kind war. Er sprach darüber, dass er die ersten drei Monate seines Lebens im Gefängnis verbracht hatte, da sein Vater damals in Mexico City saß und genug Geld für eine kleine gefängnisinterne Wohnung hatte, in die er seine Frau mit dem Neugeborenen holen konnte. C. weinte still, während er sprach.

Am nächsten Morgen erwachten wir früh und ergriffen die Gelegenheit, mit Elisabeth nach Carbonne zu fahren. Dort blieben wir einige Stunden, während sie für irgendwelche Besorgungen nach Toulouse fuhr. Wir kauften Brot, Gemüse und Früchte und suchten das verlassene Haus im Wald auf, in dem ich ziemlich genau ein Jahr zuvor gewohnt hatte, zufällig gestrandet auf einer völlig planlosen Reise Richtung Meer. Nun frühstückten wir oben auf dem Dach unter der Kuppel. Das Haus war im selben Zustand wie letztes Jahr, nur die Dielen in der Kuppel waren etwas morscher und einige Graffitis waren hinzugekommen. Wir stiegen von der Ruine hinunter an den Fluss und saßen am Wasser. Ich starrte in die Luft und war zufrieden.

Und jetzt sind wir wieder auf diesem Hof und das ganze Haus und der Garten sind voller Menschen. Elisabeths Tochter feiert ihren sechzehnten oder siebzehnten Geburtstag, aber wir sitzen wie immer stundenlang irgendwo zu dritt. Vorhin erzählte C. vom Gefängnis in Mexiko, in seiner eindringlichen Art zu sprechen, wie er es manchmal stundenlang tut, und wir lauschten ihm regungslos. Vielleicht bleiben uns nur noch wenige Tage zu dritt, danach geht er seiner Wege und wir unserer. Oder vielleicht auch nicht und alles kommt ganz anders als erwartet.

Am Ende begleitete uns C. bis in die Schweiz, nachdem er auf dem Weg mindestens dreimal bereits ein Ticket sonst wohin gekauft hatte, nach Italien oder so, sich aber nie von uns hatte losreißen können. Zurück in der Schweiz trennte sich mein Weg von jenem der anderen beiden und es brach mir nach all den Monaten, die wir zu dritt verbracht hatten, das Herz. Ich war in C. verliebt und er wohl auch ein wenig in mich, aber viel mehr war er in Gabriela verliebt und sie in ihn, und also gingen sie eine leidenschaftliche Liebesbeziehung ein und zogen gemeinsam weiter nach Indien, um sich die komplette Dosis des globalen Millennial-Hippie-Programms zu gönnen: Rohkosternährung, Darmspülungen, Osho-Meditationen, Permakultur und so.

Aber all das war lange her, Gabriela und C. hatten sich inzwischen wieder getrennt, sie war in die Schweiz zurückgekehrt und hatte versucht, in verschiedenen Kommunen Halt zu finden, und er war wieder in Mexiko, wo er eine Avocado-Farm aus dem Kartellerbe seines Vaters, der in der Zwischenzeit gefoltert und von Kugeln durchlöchert eines Tages in irgendeinem Graben gefunden worden war, zu einem Permakulturbetrieb umstellte und mit Segelschiffen Avocado-Öl nach Kanada exportierte. Und ich saß in einem Sammeltaxi in diesem neapolitanischen Vorort am Fuße des Vesuvs und starrte raus auf den Verkehr, den ich nicht verstand. Ich hatte eigentlich gedacht, wenn ich nach Napoli führe, wäre einfach alles weg, beim ersten Einatmen der mit dem Gestank des liegen gebliebenen Mülls versetzten Meerluft. Aber es war alles noch da und ich konnte nicht einschlafen, in meinem Kopf drehte sich die Medienkrise, während draußen der Wind pfiff und sich die Wellen brachen. In mir breitete sich ein ausgeprägtes Unwohlsein aus, mein Körper fühlte sich seit Wochen fremd an. Ich dachte, ich hätte mich eingerichtet in der Welt und in meinem Körper. Ich dachte, das System zu stören, würde helfen, das System zu verstehen. Ich dachte, irgendetwas würde sich komplett verändern. Aber irgendwie war alles noch beim Alten. Unter meinen Augen lagen Schatten, und mein Leben, mein Körper: nichts als eine Summe von Unzulänglichkeiten.

Während der Fahrt las ich ein Büchlein mit einem hübschen Einband in Schwarz und einer Karte des Golfs von Napoli vorne drauf, geschrieben von einem Mann namens Alfred Sohn-Rethel, der sich in den 1920er-Jahren mit der ganzen deutschen Bohème auf der Insel Capri aufhielt. Über der Karte stand weiß auf schwarz der Titel des Büchleins: Das Ideal des Kaputten.

Wäre ich eine klassische Literatin gewesen, ich wäre wohl auch ein paar Monate dort am Fuße des Vesuvs geblieben oder vielleicht sogar auf der Insel Capri und hätte ein langweiliges, depressives Tagebuch geführt und es wäre unter dem Titel Notizen aus Torre del Greco erschienen, bei einem sympathischen kleinen Verlag, mit einem hübschen Einband, in Schwarz oder Grau, keine Ahnung. Aber ich war ja keine klassische Literatin, oder vielleicht auch schon, keine Ahnung. Jedenfalls saß ich nach einer Woche wieder im Zug, die Luft war schlecht und ich schlecht gelaunt, unter meinen Augen lagen Schatten und der Zug raste mit 300 km/h durch die Po-Ebene, zurück in die Schweiz.

Ein paar Wochen später schickte mir mein Vater eine E-Mail. Sie enthielt ein Foto, das mit caprisonne.JPG beschriftet war. Das Foto zeigte mich im Profil, wie ich in dieser heruntergekommenen Circumvesuviana saß und aus dem schmutzigen Fenster schaute, raus aufs Meer, und hinten erkannte man im Dunst: die Insel Capri. Es war bewölkt, aber an einer Stelle brach die Sonne milchig durch die Wolken. Ich trug alle meine gefälschten Adidas-Sportjacken übereinandergeschichtet und mein Gesichtsausdruck war herzzerreißend traurig.

Das Ideal des Kaputten

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