Читать книгу Dämon und Lamm - Jessie Adler Gral - Страница 4
Licht und Schatten
ОглавлениеSiri. Manchmal stehe ich vor dem Spiegel, stelle mir Karla Taubnessel vor und kneife die Augen zu Schlitzen zusammen. „Du mieses Schrapnell!“, sage ich zu ihr. „Du wirst dein Waterloo erleben!“ Und was antwortet sie mir? Meistens so etwas wie: “Pah, träum weiter, dummes Luder.“ Taubnessel hält mich nämlich für ein kraftloses Plasma, das nur heulen und den Schwanz einziehen kann. Dann schneide ich dem Spiegel eine höhnische Grimasse und sage: „Du wirst noch blutige Tränen weinen, du arrogantes Stück! Wart‘ s nur ab.“
Vorgestern bin ich vor ihrem Haus auf und ab promeniert. Es war ein klarer Herbsttag, noch hochsommerlich warm, und die Bäume trugen buntes Laub. Der Himmel hatte einen milchigen Blauton. Ein leichter Wind strich sanft über meine nackten Unterarme.
Ich hatte einen Dalmatiner aus dem Kölner Tierheim bei mir. Man sollte nicht glauben, was es da für schöne Hunde gibt. Ich hatte den Pflegern versprochen, mit dem Hund spazieren zu laufen, was ich auch tat. Ich lief mit ihm am Rhein entlang und ließ ihn auf den verwilderten Wiesen frei laufen, was ihn in schäumende Begeisterung versetzte. Anschließend fuhr ich mit ihm zu Karla Taubnessels Bungalow in der Pfauenstraße.
Der gelbe Anstrich war erkennbar neu, wirkte aber trotzdem irgendwie schäbig und angeschmuddelt. Es war eine Art Pissgelb, wie der konzentrierte Urin von Fleischfressern. Karlas Schreibtisch stand direkt an ihrem großen Panoramafenster, genau wie sie es auf ihrer unerträglich eitlen Website verraten hat. Von diesem Fenster aus schaut man genau auf die Pfauenstraße. Ich schlenderte zusammen mit dem Hund an Taubnessels Haus vorbei. Der Dalmatiner ging brav bei Fuß und war selig, seinem öden Zwinger entronnen zu sein. Damit Karla ans Fenster kam, veranlasste ich Armin durch ein paar angetäuschte Würfe mit einem gelben Bällchen, direkt vor ihrem Haus lange und laut zu bellen.
„Los Armin!“, feuerte ich ihn an und schwang den Ball, der an einer Lederschlaufe hing. „Gib dein Allerbestes!“ Und der Hund tat mir den Gefallen, sprang in die Luft und bellte, was das Zeug hielt. Armin ist ein Riesenexemplar seiner Rasse, viel größer als ein Durchschnittsdalmatiner, und die charakteristischen schwarzen Flecken auf seinem weißen Fell sind klar und schöngezeichnet. Er trug ein breites, klatschmohnrotes Lederband mit blitzenden Similisteinen um den Hals, das ich extra zu diesem Zweck gekauft hatte. Der Hund funkelte wie eine Erscheinung, und wir gingen Seite an Seite gemächlich an Karlas Haus vorbei. Nach fünfzehn Minuten schlenderten wir dann wieder sehr langsam zurück. Bevor ich den Hund ins Tierheim zurückbrachte, nahm ich ihm das auffallende Halsband ab.
Ich bin ganz sicher, dass Karla uns gesehen hat.
Diese perfide Schlampe hat nämlich mein Gehirn gestohlen, und der Tag, an dem ich es merkte, war einer der schwärzesten meines neunundvierzigjährigen Lebens. Es war der 17. Dezember 1997, ein eisig kalter Tag, an dem es einfach kaum hell wurde. Für Minuten, die mir wie Jahre erschienen, war mein Kopf leer vom Schock. Dann jagte ein schneidender Schmerz durch die Wattenebel meines gelähmten Bewusstseins, und die schreckliche Erkenntnis kam mit der Wucht einer niedersausenden Axt über mich. Meine Lungen und mein Solarplexus brannten, als stünde mein Körper in Flammen, die sich unbarmherzig durch mein Fleisch fraßen. Gleichzeitig brach mir ein salziger Angstschweiß aus allen Poren.
Erst nach einer ganzen Weile wurde mir klar, dass sie mein Gehirn nicht erst gestern oder vor ein paar Wochen gestohlen hat, sondern bereits vor fünf Jahren. Und ich hatte nichts gemerkt! Die glühende Wut, die daraufhin in mir emporschoss, überschwemmte meine Augen mit Blut.
In diesem Zustand - von brennender Wut versengt und mehr tot als lebendig -, blieb ich fast ein ganzes Jahr, während ich die Dokumentation erstellte, mit der ich sie vor Gericht bringen werde. Im Wachen und im Schlafen loderten Zorn und ohnmächtige Verzweiflung in meinem Inneren. „Dreckige Hündin!“, beschimpfte ich sie. „Widerliche Schlampe! Ich breche dir das Genick! Krimineller Abschaum! Ich zerstampfe dich zu Mus!“
Nicht, dass meine Beschimpfungen mir besonders gut getan hätten. Ich bekam Magenschmerzen und konnte nicht mehr schlafen. Oft fiel ich erst nach Stunden mit Hilfe von Tabletten in einen von bitteren Träumen durchsetzten Schlaf wie in einen finsteren Brunnenschacht. Ich litt seelische Qualen, die ich meinem übelsten Feind nicht wünsche, ausgenommen natürlich Karla Taubnessel, die dies und weit Ärgeres verdient hat.
Natürlich hat Taubnessel nicht wirklich mein Gehirn geklaut. Was sie gestohlen hat, ist die Festplatte meines Computers, auf der alles enthalten war, was ich in rund dreißig Jahren meines Lebens geschrieben habe. Ich bin nämlich Schriftstellerin. Und genau genommen hat sie auch nicht die Festplatte geklaut, sondern ihren Inhalt. Diese abscheuliche Hexe ist in meine Wohnung eingedrungen und hat meine Festplatte kopiert, als ich beim Einkaufen war oder bei einer Internetrecherche in der Bibliothek, beim Fitnesstraining in meinem Club oder mit einem Freund im Café. Vielleicht war ich sogar im Urlaub, dem einzigen Urlaub, den ich mir in vierzehn Jahren leisten konnte, zwei Wochen türkische Riviera in Bodrum, wo es scheußlich war, aber das gehört nicht hier her.
Vermutlich ist sie tagsüber gekommen, zusammen mit einem Helfer - wahrscheinlich mit ihrem Mann Martin. Schließlich widmet sie jedes ihrer von mir abgekupferten Machwerke diesem Kerl. Für Martin, für alles! Klar, fürs Einbrechen und Stehlen und - nicht zu vergessen - fürs Schweigen. Allein hätte die verfluchte Hündin es nie und nimmer geschafft, meine Wohnungstür aufzukriegen. Aber Martin ist Inhaber eines Kölner Schlüsseldienstes, den er von seinen Eltern geerbt hat.
Karla. Gestern ist eine Frau, die ein bisschen wie Jammerliese aussah, an meinem Haus vorbeipromeniert. Allerdings hatte die Frau schwarze Haare, aber die Figur war genau wie die von Jammerliese. Dummerweise konnte ich ihr Gesicht nicht richtig sehen, denn ich hatte gerade meine Kontaktlinsen rausgenommen. Jedenfalls führte die Tussi einen Dalmatiner spazieren und machte vor meinem Haus irgendwelche Faxen mit einem Bällchen. Also war es wahrscheinlich nicht Jammerliese, denn die hat keinen Hund. Oder hat sie sich seit meiner letzten Stippvisite in ihrer Wohnung einen angeschafft? Blödsinn, wahrscheinlich sehe ich Gespenster. Schließlich hat sie sich in all den Jahren nicht gerührt, warum sollte sie es also jetzt tun? Jammerliese hat doch sowieso keinen Mumm zum Kämpfen.
Klar war ich beim ersten Einbruch in ihre Wohnung etwas zittrig. Ich meine, schließlich bin ich ja keine Kriminelle. Diese Einbrüche bei Jammerliese mussten einfach sein. Ihr Manuskript Das eisblaue Auge der Finsternis war einfach zu gut, ich musste es haben. Aber das ganze Drum und Dran - besonders das Filzen ihrer Wohnung - war ein echter Aufreger. Ich kam mir vor wie eine Detektivin. Natürlich habe ich Handschuhe getragen, transparente Chirurgenhandschuhe, und auch Martin hatte welche an, als er die Festplatte kopierte. Wirklich ein Glück, dass Martin diese hervorragenden Allround-Dietriche hat. Wir hatten die Haustür in weniger als fünfzig Sekunden auf.
Wir waren beide nervös und hektisch, aber im Grunde bestand nie eine echte Gefahr. Jammerliese war mit ihrer Sporttasche zum Training abgezischt, und die Luft war rein. Außerdem haben wir in ihrer Wohnung doch überhaupt nichts verändert. Woran hätte sie es also merken können? Jammerliese hatte doch keine Ahnung und auch nicht den geringsten Grund, misstrauisch zu sein.
Während Martin die Festplatte kopierte, durchsuchte ich die Wohnung. Das hat mir ehrlich gesagt ziemlich viel Spaß gemacht. Ich sah mir einige ihrer unzähligen Akten an, filzte vorsichtig ihre Wäscheschublade (alles verwaschener alter Kram) und las ihren albernen Tagesplan, auf dem die zu erledigenden Aufgaben standen. Offenbar erstellt Jammerliese jeden Tag eine solche To do-Liste, denn bei unserem zweiten Einbruch eineinhalb Jahre später lag wieder eine auf dem Tisch. Diesmal hatten wir es viel leichter, denn wir hatten ja ihre Ersatzschlüssel, die wir beim ersten Mal hatten mitgehen lassen. Arme Jammerliese, sie ist wohl ein bisschen zwanghaft. Na, mir kann es weiß Gott egal sein.
Über der Heizung im Schlafzimmer hing ein getragenes Höschen, können Sie sich das vorstellen? Ich beschloss sofort, das in meinem nächsten Roman zu verwenden. Und dann ihre Yucca-Palmen - alles voller Yucca-Palmen und Kiefernholz. Ich meine, spießiger geht‘s nun wirklich nicht mehr. Auf ihrer Festplatte war nicht nur das Manuskript von Das eisblaue Auge der Finsternis, sondern auch der zweite Band ihrer Serie mit dem Titel Kinderjäger, alles schon komplett redigiert und druckreif. Und dazu noch die Hälfte ihres dritten Bands! Außerdem haufenweise Erzählungen, Gedichte, Romanentwürfe und jede Menge der sozialpolitischen Artikel, die sie geschrieben hat, bevor sie auf Romane umgestiegen ist.
Bloß dass ihre Romane keiner will, haha! Auf der Platte waren auch die sozialpolitischen Bücher, die sie früher verzapft hat, und die alle veröffentlicht sind. Die fasse ich natürlich nicht an, naja, jedenfalls kaum. So ein kleiner Halbsatz hin und wieder, wer will das schon nachweisen? Ich konnte mein Glück kaum fassen, denn mit solch einer reichen Beute hätte ich im Leben nicht gerechnet. Ganz besonderen Spaß machten mir die beiden umfangreichen Manuskripte Erinnerungen in ihrem elektronischen Papierkorb, den sie offenbar zu löschen vergessen hatte. Diese Manuskripte sind - na sagen wir - ziemlich intim, und damit habe ich Jammerliese fest an der Gurgel.
Den Beischlaf mit ihrem späteren Ehemann auf dem Küchenstuhl hab ich sofort für die Szene zwischen Judy und Rudi genommen. Das kommt sehr schön. Ich hab einfach nur die Ichform in die dritte Person geändert, und das war’s. Jammerlieses Erinnerungen sind überhaupt eine wahre Fundgrube für ausgefallene Szenen und Formulierungen. Ich brauche mich nur zu bedienen, und das Beste ist: Sollte Jammerliese es jemals schaffen, wieder ein Buch rauszubringen, kann sie diese Sachen nicht mehr benutzen. Die sind für sie unrettbar verloren, ha!
Siri. Zwei Monate, nachdem ich Karlas Einbrüche entdeckt hatte, bekam sie für ihr drittes von mir abgekupfertes Machwerk einen Preis, den Rhett. Der Rhett hat seinen Namen von Rhett Butler aus Vom Winde verweht, und er ist eine begehrte Trophäe in der Welt der Herz-Schmerz-Literatur.
Ich selbst schreibe Thriller über ernste und traurige Themen, die mit Umweltzerstörung, Flüchtlingselend und sexuellem Missbrauch zu tun haben. Vom ersten Band meiner Serie um meine schwarzäugige Heldin Lara Andernach schickte ich fünfzig Seiten samt einem Exposé an den Kondorverlag. Das war er, der Fehler. Im Kondorverlag nämlich hat irgendeine pflichtvergessene Lektorin Taubnessel mein Manuskript in die Hand gedrückt. Guck mal hier, das ist sehr originell, du wolltest doch immer schon mal ein Buch schreiben! Vielleicht aber hat Taubnessel mein Manuskript auch von irgendeinem Schreibtisch gestohlen, als sie im Kondorverlag die Fußböden schrubbte oder Gottweißwas. Jedenfalls bekam sie meine Texte, schön mit meiner Adresse versehen, in ihre diebischen kleinen Finger, und was sie las, gefiel ihr. Und so beschloss Taubnessel, die bis dahin erst eine einzige jämmerliche Kurzgeschichte veröffentlicht hatte, bei mir einzubrechen, um meine Serie zu klauen. Und das tat sie. Karla nahm die Figuren, die Szenen, die Plots, die Namen und die Formulierungen. Sie bediente sich in meinen Gedichten, Novellen, Artikeln und natürlich in meiner Romantrilogie.
Das musste sie auch, denn sie hat überhaupt kein Sprachgefühl und einen unglaublich beschränkten Wortschatz. Und von der menschlichen Psyche, die für einen Schriftsteller doch so wichtig ist, versteht sie so viel wie ein Wasserschwein von katholischer Liturgie. Wie habe ich gelitten, als sie ihre Judy Krawik mit den ungebärdigen Locken meiner Lara ausstattete! Als sie Judy zu einem Racheengel hochstilisierte wie Lara – ihre banale, kettenrauchende, ungepflegte Judy mit den Proletenmanieren. Auf einmal trug Judy taillierte Lederjacken, schminkte sich und wurde attraktiv. Ja, sie wurde sogar liebenswürdig und - man höre und staune - behutsam und zartfühlend. Etwa so behutsam und zartfühlend wie du, Taubnessel?
Wie auch immer, sie bekam diesen Preis, und ich ging zu ihrer Preisverleihung.
Taubnessel war bereits mit dem Laudator auf der Bühne, als ich mich zu meinem reservierten Platz in der zweiten Reihe durchkämpfte. Ich trug ein auffällig rotweiß gemustertes Kleid mit einem geschwungenen Samtkragen und dazu schwarze Lackstiefeletten mit himmelhohen Absätzen. Das Kleid war sehr kurz. Auf dem für mich reservierten Platz hockte ein dicker Mann mit Entennase und schaute fasziniert zur Bühne hoch. Ich wies dem Dicken meine Platzkarte vor und scheuchte ihn von meinem Stuhl. Dann ließ ich mich auf dem Sitz nieder, legte meine Hände im Schoß zusammen und starrte Karla bohrend an.
Taubnessel erbleichte, als sie mich erkannte.
Sie weiß natürlich, wie ich aussehe, denn in meinem Schlafzimmer hängen ein paar goldgerahmte Fotografien von mir hinter Glas. Sie kennt mein Gesicht auch von den Klappentexten meiner sozialpolitischen Sachbücher. Außerdem haben Taubnessel und ihr Handlanger Martin natürlich mein Haus beobachtet und gewartet, bis ich aus dem Weg war. Schließlich konnten sie schlecht einbrechen, während ich daheim war. Daher weiß Taubnessel ganz genau, wie ich heute aussehe – mit langem offenem Haar von leuchtendem Blond und ziemlich dünn und elegant.
Karla Taubnessel erbleichte also, und ich sah, wie sich auf ihren Wangen zwei rosarote, scharf abgezirkelte Flecken bildeten, was ihr das Aussehen eines Clowns verlieh. Karla hatte tüchtig zugenommen, obwohl sie doch schon früher alles andere als ein zartes Pflänzchen war, wie man auf den stark retuschierten Fotos ihrer Website sieht. Jetzt aber war sie eine richtig massige Erscheinung, fast ein Koloss. Sicher eine Frust-Fresserin, die sich schon bei den leichtesten Versagungen mit Rumkugeln und Marzipankartöffelchen vollstopft.
Taubnessel fasste sich rasch. Sie straffte die Schultern, stöckelte zu ihrem Stuhl und ließ sich hineinplumpsen. Ihre rundlichen Füße steckten in schmalen Riemchensandaletten mit sehr hohen Absätzen. Karla atmete ein paar Mal tief durch und lächelte verzerrt ins Publikum. Dann begann sie zu lesen, und ich war verblüfft über die atemlose, leicht blecherne Mickymausstimme, die aus ihrem monumentalen Leib drang. Schließlich hörte ich Karlas Stimme zum ersten Mal, und der Gegensatz zwischen ihrer kompakten Erscheinung und der mausartigen Stimme war bestürzend. Karlas Stimme bebte leicht, doch als sie zu einer besonders albernen Passage kam, gewann sie wieder an Festigkeit. Es handelte sich um ein kurzes Dialogstück, das sie offenbar selbst geschrieben hatte, denn es war hundsmiserabel. Ab und zu muss sie sich natürlich ein paar überleitende Zeilen abringen, schließlich kann man eine Geschichte nicht einfach eins zu eins kopieren, sonst landet man auf der Stelle vor dem Kadi.
Karla piepste sich durch die Lesung und hob dann stolz den Kopf. Der Applaus am Ende der Lesung baute sie sichtlich auf, und die rosaroten Flecken auf ihren Wangen begannen zu verblassen. Als sie zum Laudator ging, um ihren Preis entgegenzunehmen, schaute sie nicht ins Publikum, sondern blickte starr geradeaus.
Der Laudator, ein dürrer rothaariger Kerl mit einem Gesicht voller brauner Sommersprossen, pries Karlas alberne Machwerke mit warmen Worten. „Mit der Reporterin Judy Krawik hat Karla Taubnessel eine sympathische und originelle Heldin geschaffen“, sagte er mit tönender Stimme. „Der Roman Krähen im Nebel, Raben im Geäst ist ein großer Wurf der wunderbaren Autorin. Es ist ein spannender und anspruchsvoller Roman, eine leidenschaftliche Hommage an die Liebe! Es ist ein hinreißender Liebesroman mit einer gerüttelten Portion Sprachgefühl!“ Und so weiter, und so fort. Dass die Lobpreisungen, die er zitierte, fast ausschließlich aus den Modezeitschriften Ulla und Larissa stammten, erwähnte er nicht. Und was das Sprachgefühl anbelangt, so sind die poetischen Passagen komplett aus meinen Gedichten und Novellen geklaut.
Mir war, als würde ich von einer heißen Lohe versengt.
Ich bekam Magenkrämpfe, doch ich ignorierte sie hartnäckig. Am schlimmsten schmerzte mich Taubnessels grauenvolle Heuchelei. In ihren Büchern gibt sie vor, sich für unterdrückte Frauen und geschlagene Kinder einzusetzen, und die Leserinnen kaufen ihr diese vorgetäuschte Betroffenheit ab und nehmen ihr Geschwätz über Emanzipation und Schwesternschaft für bare Münze. Sie halten Taubnessel für eine besonders engagierte Kämpferin für Frauenrechte. Dabei hat sie eine „Schwester“, die ihr nie auch nur ein Haar gekrümmt hat, brutal beklaut und ausgeplündert. Karla hat den primitiven und beißfreudigen Charakter eines Pitbulls, der von einem aggressiven Jugendlichen voller Testosteron und Menschenhass abgerichtet wurde.
Endlich überreichte der Laudator Karla mit großer Geste ihren Preis. Der Rhett ist eine geringfügig abstrahierte, vergoldete Nachbildung des Kopfs von Clark Gable, der als Rhett Butler in Vom Winde verweht unsterblich geworden ist. Als Karla nach dem Kopf griff, knickte sie auf ihren zwölf Zentimeter hohen Stilettos um und wäre gestürzt, wenn der Laudator sie nicht aufgefangen hätte. Er hievte ihren schweren Körper wieder in eine aufrechte Position, wobei er selbst ziemlich ins Wanken geriet. Doch der dünne Kerl schaffte es nicht nur, auf den Beinen zu bleiben, sondern verlor auch keine Sekunde seinen bewundernden Gesichtsausdruck.
Taubnessel warf den Kopf hoch wie ein ungebärdiges Pferd und lächelte euphorisch ins Publikum. Ich erschrak bis ins Mark, als ich dieses Lächeln sah, in dem sich Gier und Verschlagenheit mit noch etwas anderem, für das ich keine Worte fand, mischten. Taubnessel hat den räuberischen Mund einer fleischfressenden Pflanze.
Karla stöckelte zum Mikrophon und sagte die üblichen abgedroschenen Dankesworte. Sie bedankte sich bei ihren Freunden und Verwandten, die immer an sie geglaubt hätten, bei den tollen Frauen vom Kloster Sankt Kathrein, bei Mutti und Vati und beim Laudator. Sie vergaß auch nicht ihre Großtante Ottilie in Belgien, ihre Oma väterlicherseits in Kiel und ihre geliebte zweijährige Bulldogge Bürzel, die ihr während ihrer einsamen und harten künstlerischen Arbeit Trost und Unterstützung gespendet hätten.
Ich glaubte ihr jedes Wort. Bestimmt hat sie schwer geschuftet. Wenn man so wenig Talent hat wie Taubnessel, dann ist auch Abschreiben und ein bisschen Umformulieren Knochenarbeit. Während Karlas langatmigem Monolog lauschte ich auf ihre Stimme: Dieser wuchtige Körper und dazu die Stimme einer in die Enge getriebenen Maus. Zugleich hatte ihre Stimme etwas Schrilles, das schnitt wie zerbrochenes Glas. Ich fand, dass Karlas Stimme gut zu dem gähnenden Abgrund in ihrem Inneren passt, an dessen Grund ich mir ein rotgesichtiges Baby vorstelle, das unablässig kreischt: Beachtet mich, beachtet mich, ich bin toll, toll, toll!
Als Taubnessel mit ihrer endlosen Dankesrede fertig war, winkte sie den Laudator zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr, wobei sie sich theatralisch an die Stirn griff. Der Laudator wurde bleich vor Aufregung, sodass die unzähligen Sommersprossen auf seinen Wangen wie Sojasoßenspritzer hervortraten, behielt aber die Nerven. Er stützte Taubnessel fürsorglich und verkündete dem wartenden Publikum, dass ein akutes Unwohlsein die beliebte Autorin leider zwinge, auf die angekündigte Diskussion zu verzichten. Sie bedaure unendlich und bitte um Verständnis.
Taubnessel nickte gewichtig und stützte sich schwer auf den dünnen Arm des Festredners, während ein weiterer Mann auf das Podium stürzte. Zusammen schleppten sie Karla von der Bühne. Taubnessel winkte über ihre Schulter hinweg schwächlich ins Publikum, und alle drei verschwanden hinter dem brandroten Samtvorhang.
Anschließend ließ sich Taubnessel von drei Männern zu ihrem Pajero eskortieren. Einer davon muss ihr Ehemann Martin gewesen sein, denn das saubere Pärchen sprang auf die Vordersitze, und der Wagen brauste davon, als seien Furien hinter ihm her, während ich das Schauspiel von einer schattigen Nische des Nachbargebäudes aus verfolgte. Fast könnte sie einem leidtun, diese eingebildete taube Nuss, aber sie hat kein Mitleid verdient. Taubenuss hat meine Manuskripte gestohlen und meine wunderbare Serie um Lara Andernach zerstört. Sie hat sich in meinen Gedichten, Geschichten, Artikeln und Büchern bedient, um ihre trübselige Sprache aufzuwerten. Sie klaut jedes gottverdammte Wort, das ich je geschrieben habe, und sie nimmt immer nur das Beste: die gefühlvollsten und aufregendsten Szenen, die prägnantesten Sätze und die originellsten Figuren. Außerdem hat sie meine Sprache gestohlen: meinen Satzbau, meine Adjektive, meine Farben, meine Formulierungen.
Taubenuss hat mir die Sprache gestohlen, und dafür werde ich sie erledigen. Und bevor ich sie erledige, werde ich ihr alles entreißen, was sie mir weggenommen hat. Der Presse wird ihr Ende zu diesem Zeitpunkt höchstens noch eine Kurzmeldung wert sein, weil sie schon lange vergessen sein wird.
Fürchte dich, Taubnessel! Ich bin deine Nemesis.
Siri. Nach Taubnessels Preisverleihung ließ ich ihr ein bisschen Zeit, um sich von ihrem Schock zu erholen. Sie hatte garantiert Schiss, dass ich bei ihrer Lesung in Bonn wieder im Publikum sitzen würde, doch das war nicht der Fall. Reingefallen, Taubenuss!
Stattdessen hockte ich mit einem Pokal Gewürztraminer in meinem Wohnzimmer, meinen alten Tigerkater Kalamaki im Arm, und las den Kölner Report. Kalamaki rieb seinen pelzigen Kopf an meiner Schulter, suchte mit seinen smaragdgrünen Augen meinen Blick und schnurrte wie ein Teekessel. Im Kölner Report stand, Taubnessel habe bei ihrer Lesung in Bonn außergewöhnlich nervös gewirkt und sei ganz offenkundig nicht in guter Form gewesen. Und das ständige Umkippen ihrer hohen und ein wenig schrillen Stimme habe den Hörgenuss ziemlich getrübt.
Taubenuss zeigt erste Schwächen, das ist gut. Von nun an wird sich die Waage unaufhaltsam zu meinen Gunsten neigen.
Drei Tage nach ihrer Preisverleihung ging ich wieder mit dem Hund an ihrem Haus vorbei. Ich wusste, dass sie abends in der Kölner Uranus-Buchhandlung lesen würde. Es konnte bestimmt nichts schaden, sie schon vorab ein wenig aus dem Gleichgewicht zu kippen. Diesmal tarnte ich mich mit einer hellblonden kurzen Lockenperücke und einer herzförmigen Lolitasonnenbrille in schrillem Zyklam, die mein Aussehen völlig veränderten. Armin trug wieder sein auffälliges Halsband. Das Wetter war sonnig und für einen Herbsttag außergewöhnlich mild. Ein leiser Hauch von Sonnenmilch und Ozon hing in der Luft und erweckte in mir eine reißende Sehnsucht nach den südlichen Meeren, die ich so liebe und so lange nicht gesehen habe.
Schräg vor Karlas gelbem Bungalow steht ein großer Kirschbaum, der von dem obligatorischen kleinen Grasfleckchen umgeben ist, das man Stadtbäumen zugesteht, damit sie nicht verdursten. An diesem kleinen Grasfleckchen ließ ich Armin lange herum schnuppern, während ich zu Karlas Fenster hochstarrte. Dieses kleine Grasareal wird von allen Hunden der Nachbarschaft aufgesucht, denn viele der in der Pfauenstraße lebenden Menschen sind zu faul, um ihre Vierbeiner lange auszuführen, da man „Gassigehen“ nicht mit dem Auto erledigen kann. Armin wurde es jedenfalls nicht langweilig, er las begeistert seine Hundezeitung.
Karla Taubnessel trat an das riesige Panoramafenster und stand mehrere Minuten lang unbeweglich hinter ihrer grobmaschigen Gardine, die einen trübseligen Beigeton aufweist.
Ich konnte ihre Nervosität bis in meine Zehenspitzen spüren.
Zu ihrer Abendlesung erschien Taubenuss in einem apfelsinenfarbenen Ensemble, das sich scheußlich mit ihrem eher rötlichen Teint biss. An ihrer Seite hatte sie einen Bodyguard, einen sonnengegerbten Kerl, der aussah wie ein Kleiderschrank. Der Bodyguard durfte mit ihr auf die Lesetribüne. Während der ganzen Lesung hockte er dicht neben ihr auf einem Kunststoffstuhl ohne Armlehnen und suchte mit zusammengekniffenen Augen den Raum ab. Dieser Bodyguard muss Taubenuss einen Haufen Geld kosten.
Karla erklärte dem Publikum, dass es Drohungen einer Verrückten gegen sie gegeben habe, weshalb sie sich einen Personenschützer habe zulegen müssen. Sie erhielt ein mitfühlendes Gemurmel von den fast ausschließlich weiblichen Zuhörern, in das sich Aufregung und Entrüstung mischte.
Ich stand in einem schlecht ausgeleuchteten Bereich der Uranus-Buchhandlung und war mit einer rabenschwarzen Perücke im Pagenkopfstil und einer furchterregenden Hornbrille getarnt. Dazu trug ich sehr zurückhaltende Kleidung in verwaschenen Graublautönen. Ich hielt mich auch ein wenig gebückt, wie es ein alter Mensch tun würde. So etwas verändert die Körpersilhouette enorm.
Taubenuss wirkte angespannt. Ihre Blicke geisterten nervös durch den Raum, doch sie erkannte mich nicht. Als sie die erste Seite umblätterte, zitterten ihre Finger, und ihre Blechstimme kippte mehrmals peinlich. Sie trank eine ganze Literflasche Mineralwasser aus und verlangte mitten in der Lesung eine neue. „Judy und Rudi standen verlegen im Türrahmen wie Hänsel und Gretel“, las Karla. „Sie hatten nicht den Mut, einander in die Augen zu sehen …“
Bis ihnen die Hexe einen Stoß ins Kreuz gab, sodass sie in den brennenden Ofen flogen, wo sie hingehörten, höhnte ich in Gedanken. Natürlich stammt dieser Blödsinn nicht von mir. Ich bin auch sicher, dass sie ihn nicht bei Henning Mankell oder Petra Hammesfahr abgeschrieben hat, wie es auch schon vorgekommen ist. Taubenuss schreibt nämlich auch von anderen ab, sogar von Margaret Mitchell und Nabokov, nur viel vorsichtiger. Nein, dieser Schwachsinn musste auf ihrem eigenen Mist gewachsen sein.
Noch bevor die Pause eingeläutet wurde, steuerte ich den engen Durchgang zur Damentoilette an. Ich versteckte mich in einer der beiden Kabinen und schloss die Tür ab. Die Uranus-Buchhandlung eignet sich gut für größere Leseveranstaltungen. Vor allem aber hat sie eine geräumige Gästetoilette mit separaten Kabinen für Damen und Herren, was man in einer Buchhandlung eher selten findet. Ich zog die schwarze Perücke aus und bürstete mein langes blondes Haar, bis es schön locker fiel. Die Perücke verstaute ich unter meiner viel zu weiten Jacke und klemmte sie in meinen Hosenbund. Natürlich nahm ich auch die schauerliche Hornbrille ab. Im Handspiegel zog ich mir in einem dunklen, fast schwarzen Brombeerton die Lippen nach. Ich puderte auch mein Gesicht ab, das vor Aufregung schon leicht glänzte. Dann setzte ich mich auf den Toilettendeckel und lauschte dem Stimmengewirr, das aus dem Lesesaal bis in die Toilette drang.
Ich wartete geduldig. Mir war klar, dass Taubenuss kommen würde, um ihr Makeup aufzufrischen. Und ebenso klar war, dass sie ihren Bodyguard nicht in die Damentoilette mitschleifen konnte. Zunächst kamen zwei Frauen in flachen Schuhen, die ich erst hörte, als sie den Waschraum betraten. Sie brachten den süßlichen Geruch eines Parfüms mit, das mir unbekannt war. „Eine komische Stimme hat sie schon“ sagte die eine. „So hab ich sie mir gar nicht vorgestellt, so dick und dazu die Mickymausstimme.“
„Na, Du hast es nötig, Lia“, gab die andere in unverhohlenem Spott zurück. „Du bist ja auch nicht gerade eine Elfe.“ Sie ging in die Kabine neben mir und pinkelte ausgiebig.
„Aber meine Stimme passt zu mir“, erwiderte Lia leicht pikiert, als das Plätschern des Urinstrahls aufgehört hatte. „Meine Stimme klingt angenehm und hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit diesem blechernen Gequieke.“ Etwas fiel klirrend zu Boden und rollte über die meerblauen Bodenplatten auf meine Kabine zu. Es war ein Lippenstift in einer vergoldeten Hülse. Ich erhaschte einen Blick auf eine füllige Hand mit einem altertümlich geschliffenen Granatring, die den Stift vom Boden aufklaubte.
„Friede, Lia“, sagte die zweite Stimme lachend. „Ich hab’s nicht so gemeint, das weißt du doch. Sag mir lieber, wie dir die Lesung gefällt.“ Der Knopf des Händetrockners begann geräuschvoll zu summen.
„Tja, also im Buch hat’s mir besser gefallen. Alfredo ist schon ein toller Kerl, aber wenn das mit so einer piepsigen Stimme vorgelesen wird, vergällt es einem irgendwie den Genuss.“ Beide lachten, der Wasserhahn wurde zugedreht, und eine Handtasche mit einem Metallverschluss schnappte zu. Dann fiel die Tür hinter ihnen ins Schloss. Danach geschah eine ganze Weile überhaupt nichts, während ich aufgeregt mit den Zehenspitzen auf den Boden tappte. Das Stimmengewirr im Lesesaal war jetzt gedämpfter. Endlich hörte ich Taubenuss, die den aquamarinblauen Teppichbelag des Lesebereichs offenbar hinter sich gelassen hatte; ihre Stilettos knallten auf die steinernen Platten des Durchgangs.
Ich erhob mich vom Klodeckel und wappnete mich. Los jetzt, Siri! Schnapp sie dir!
Taubenuss stieß die Tür auf und polterte in den Vorraum. Sie kippte ihr Kosmetiktäschchen auf dem holzvertäfelten Waschtisch aus, drehte das Wasser auf und riss ungeduldig an der Tülle des Seifenspenders. Ich riss die Kabinentür auf, trat dicht neben sie und blickte ihr im Spiegel in die Augen.
Karla starrte mich an wie einen Geist. Sie roch nach Rauch, und ihre Nasenspitze glänzte. Ihre Augen waren rotgerändert vom Zigarettenqualm. Taubenuss ist nämlich eine starke Raucherin - ein Laster, mit dem sie gern während ihrer Lesungen kokettiert. Sämtliche Finger ihrer rechten Hand waren quittengelb vom Nikotin, und rings um den Mund hatte sie tief eingegrabene Furchen. Sie sah viel älter aus als auf den Fotos ihrer Website.
Karlas Augen flogen furchtsam zur Tür und hefteten sich dann wieder auf den Spiegel, aus dem heraus mein Gesicht sie unbarmherzig anstarrte. Schließlich schien sie sich zu einem Entschluss durchzuringen. Sie warf die Lippen auf, und ein Ausdruck anmaßenden Stolzes legte sich über ihre Züge.
Ich drehte ich mich zu meiner Feindin um und blickte ihr direkt in das leicht gedunsene Gesicht. Ein rasendes Verlangen brandete in mir auf, Karla zu packen und ihren Kopf gegen die Wand zu schmettern, wieder und wieder, doch ich kämpfte diesen atavistischen Impuls meines Reptiliengehirns nieder. Stattdessen zog ich die grauenhafteste Grimasse, zu der ich imstande bin, riss die Augen weit auf und fletschte die Zähne wie eine wahnsinnig gewordene Hyäne. Ich weiß, dass ich so wahrhaft furchterregend aussehe, denn ich habe mal in der Hitze eines Taek Wondo-Trainings eine solche Grimasse gezogen, und mein Sparringspartner, eins siebenundachtzig groß und fast hundert Kilo schwer, sprang einen Meter zurück und erstarrte vor Schreck.
Auch Taubenuss machte einen Satz zurück und erstarrte. Auf ihrem Gesicht malten sich Schock und Unglauben. Gerade als sie den Mund aufriss und loskreischen wollte, zischte ich sie an: „Denk an die Schwarze Susanna und an Wladimir!“
Die Schwarze Susanna und Wladimir sind Figuren aus meinem unveröffentlichten Roman Kälteschauer. Sie sind Spaltpersönlichkeiten der tragischen jungen Julia, die als Kind von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht wurde und darüber multipel geworden ist. Die Schwarze Susanna ist so voller Wut und Hass, dass sie am liebsten jeden Menschen im Umkreis von tausend Metern töten würde, und der Witz ist, dass die sanftmütige Julia von diesen ihren mörderischen Impulsen nicht die geringste Ahnung hat. Auch Wladimir, ihre zweite Spaltpersönlichkeit, ist ein ausgemacht brutaler Kerl. Ich würde diesen beiden nicht gern in einer finsteren Gasse begegnen.
Diese zwei Gestalten also schleuderte ich Taubenuss vor die Füße wie einen scharfkantigen Obsidian. Karla klappte den Mund zu und starrte mich angsterfüllt an. Ich drehte mich um und verließ still die Damentoilette. Die schwarze Susanna und Wladimir sind Mörder. Taubenuss aber wird auf zivilisierte Weise erledigt, schließlich bin ich kein Orang-Utan.
Karla. Als Jammerliese bei meiner Preisverleihung auftauchte und sich dreist in die erste Reihe setzte, dachte ich mir, naja, soll sie, was kann sie schon machen, das elende Gespenst. Auch als sie zum zweiten Mal mit diesem albernen Dalmatiner an meinem Haus vorbeistiefelte, hab ich mich noch nicht groß aufgeregt. Gestern aber hat mir die hässliche Missgeburt auf der Toilette der Uranus-Buchhandlung aufgelauert. Ich stand, noch ganz erfüllt vom rasenden Applaus meiner begeisterten Fans, vor dem Waschbecken, da kam Jammerliese aus einer der Toilettenkabinen, stellte sich direkt neben mich und starrte mich im Spiegel an. So ein freches Luder! Und noch ehe ich mich von meinem Schock erholen konnte, dreht sie sich zu mir um, fletscht die Zähne und rollt mit den Augen, dass man das Weiße sah. Jammerliese sah richtig wahnsinnig aus, und ein paar Sekunden lang hatte ich tierische Angst. Schließlich war außer uns kein Schwein in der Nähe. Was, wenn das dumme Luder jetzt durchdrehte und mit einem Schnappmesser auf mich losging?
Aber nicht doch, wir kennen doch unsere Jammerliese. Alles falscher Alarm. Außer Zähne fletschen und ein bisschen Drohen hat sie nichts gemacht. Ich bin schnell aus der Toilette raus und wieder in den Lesebereich, wo meine treuen Fans mich erwarteten. So ein unverschämtes Miststück! Na, von jetzt ab hab ich auf Schritt und Tritt jemanden bei mir, selbst beim Gang zum Klo. Möglicherweise hab ich Jammerliese falsch eingeschätzt. Wenn ich an ihre Figuren Wladimir und die Schwarze Susanna denke - das sind schon verdammt gewalttätige Typen, die vor Hass und Rachsucht fast bersten. Andrerseits hat sie ja außer Grimassen schneiden nichts getan, obwohl wir allein im Toilettenraum waren. Wenn ich mir vorstelle, was ich ihr antäte, wenn sie bei mir eingebrochen wär, mich beklaut hätte und meine Werke als ihre ausgäbe: Ich würde sie bei lebendigem Leib vierteilen, ihre Viertel auf dem Rost braten und sie verschlingen.
Aber vermutlich sehe ich Jammerliese doch richtig: Die droht bloß, tut aber nichts. Mensch, es ist wirklich ein Glück, dass sie so eine blöde Pazifistin ist. Ich will mir gar nicht ausmalen, was mir passieren könnte, wenn sie mein Temperament hätte. Aber in Anbetracht ihres schwächlichen Charakters kann ich mich wahrscheinlich einigermaßen sicher fühlen.
Jammerliese ist übrigens sehr dünn geworden, richtig hundsmager. Tja, das macht die Erfolglosigkeit, Jammerliese! Du bist ein dürres, altes, vertrocknetes Huhn. Andrerseits überlege ich schon, ob ich nicht besser damit aufhöre, sie in meinen Büchern noch obendrein zu verhöhnen. Das bringt sie sicher noch zusätzlich in Wut, was aber eigentlich auch beabsichtigt ist. Ich baue in jeden meiner Romane eine Figur ein, die Jammerliese darstellen soll. In Das Fresiengespenst war es eine abgehalfterte alte Malerin mit einem lahmen Bein, die einer frechen jungen Konkurrentin weichen und ihren Liebhaber an sie abtreten muss. In Krähen im Nebel, Raben im Geäst war es eine unreife Halbwüchsige, die Konflikte mit ihrer autoritären Mama hat, und deshalb alkoholsüchtig wird. Und in Eisbären überall war es eine unerfüllte reiche Bulimikerin, die ständig mit ihrem Aussehen beschäftigt ist, ohne ihre Vitamintabletten nicht leben kann und pausenlos kotzt. Schließlich hat mir Jammerliese für all diese Personen in ihren Romanen Vorlagen geliefert. Ich reichere diese Personen bloß noch mit Details aus Jammerlieses Erinnerungen an, und fertig ist die scharfe Waffe, die ihr tief ins Herz dringen soll. Ich benutze auch immer die Originalnamen all ihrer Figuren. Natürlich nicht alle auf einmal oder in einem Buch. Aber nach und nach kommen sie alle an die Reihe. So schnell wird mir der Nachschub auch nicht ausgehen, denn bei meinem dritten Besuch in ihrer Wohnung hab ich nicht nur den kompletten dritten Band ihrer Serie auf der Festplatte gefunden, ich hab auch Jammerlieses Liste interessanter Namen, die sie für ihre Romanfiguren vorgesehen hatte, mit meinem Handy abfotografiert.
Diese Liste ist überaus nützlich. Überhaupt macht Jammerliese für mich all die zeitaufwendigen Vorarbeiten und zweckdienlichen Recherchen, was sehr bequem ist. Auch Michelangelo hat ja nicht alles selbst gemalt, sondern die Umrisse und Grundierungen von seinen Schülern machen lassen. Ich glaub, ich werde sie in meinen Werken auch weiterhin aufs Korn nehmen. Es ist wichtig, sie richtig zu demoralisieren, denn so halte ich sie unter Kontrolle. Wenn sie sich bis aufs Blut quält, hat sie keinen Mumm mehr, sich mir in den Weg zu stellen. Deshalb hab ich ihr auch indirekt angedroht, sie bis auf die Knochen bloßzustellen, wenn sie mir in die Quere kommt. Das war im zweiten Band meiner Serie um Judy Krawik, die zufällig genauso aussieht wie Lara Andernach und sich auch genauso benimmt, haha. Sowieso hab ich Jammerliese mit ihren Erinnerungen fest an den Eiern. Da stehen nämlich total peinliche Sachen drin.
Siri. Gestern habe ich Karlas Haus besprüht. Ich kam in tiefster Nacht mit zwei Dosen Lackfarbspray, eine in Giftgrün und die andere in blutigem Rot. Außerdem hatte ich einen starken Handstrahler. Ich war von Kopf bis Fuß in Schwarz und trug uralte, an der Sohle komplett blankgewetzte Turnschuhe. Dicht bei Karlas Haus stank es elendig nach Katerurin – eine durchdringende, widerwärtige Ausdünstung, bei der ich mir am liebsten die Nase zugehalten hätte.
Ich sprühte Diebin! und Einbrecherin! in Blutrot auf die Stirnwand ihres Hauses, und darunter Plagiatorin! und Hochstaplerin! in Giftgrün. Es war nicht gerade einfach, im Stockdunklen sauber zu arbeiten, aber ich führte die Spraydose mit der Rechten und ließ mit der Linken den Lichtstrahl des Handstrahlers parallel wandern, sodass ich einigermaßen sehen konnte, was ich tat. Obwohl ich es wegen der Dunkelheit nicht richtig beurteilen konnte, hoffe ich, dass die brandroten und giftgrünen Farben auf Karlas pissgelber Wand eine schauerliche Wirkung entfalten werden. Die Beschriftung dürfte jedenfalls von der Pfauenstraße aus gut zu sehen sein, ich habe riesige Drucklettern gesprüht.
Anschließend huschte ich wie ein Schatten zu meinem betagten Mercedes zurück, den ich weit weg von jeder Straßenlaterne unter den tiefhängenden Zweigen einer Trauerweide versteckt hatte. Diesen Mercedes habe ich noch aus besseren Zeiten, doch ich fahre ihn selten. Das Benzin ist einfach zu teuer. Bevor ich in den Wagen sprang, zog ich mir den schwarzen Overall und das lange schwarze T-Shirt aus. Ich streifte auch die abgewetzten Schuhe und die Schirmmütze ab, die ich über meine zusammengenestelten Haare gestülpt hatte. Dann stopfte ich den ganzen Kram in eine geräumige Plastiktüte und raste mit dem Wagen heim. Essen konnte ich nichts; alles, was ich probierte, schmeckte wie ranziges Mehl. Ich ließ meine Spiegeleier auf dem Küchentisch erkalten und verkroch mich mit einem Malventee ins Bett, wo ich über mein weiteres Vorgehen nachgrübelte.
Taubenuss ist nämlich überzeugt, sie hätte mich mit meinen überaus persönlichen Erinnerungen fest unter dem Daumen, und ich würde es nicht wagen, etwas gegen sie zu unternehmen. Das geht aus ihren Machwerken und den darin eingeflochtenen vorsichtigen Drohungen klar und deutlich hervor. Dabei kräht doch nach dem, was in meinen Erinnerungen steht, heute kein Hahn mehr. In jedem ins Internet gestellten Teenagererguss liest man viel schärfere Sachen. Aber klar, in ihrem Herzen ist Karla natürlich eine kleine Spießerin und findet meine Erinnerungen deshalb so spektakulär. Und natürlich rührt ihre lächerliche Fehleinschätzung auch daher, dass sie glaubt, die Welt interessiere sich für Schriftsteller. Arme Karla. Die Welt interessiert sich für Paris Hilton, Dieter Bohlen und Angelina Jolie, nicht für Schriftsteller. Deine vermeintliche Waffe ist stumpf, Taubenuss, und wenn du endlich begriffen hast, was wirklich auf dich wartet, wird es zu spät sein.
Am nächsten Morgen schlang ich ein Croissant herunter und trank drei Tassen schwarzen Kaffee. Dann flitzte ich mit dem Rad zum Hauptbahnhof, um von einer Telefonzelle aus die Kulturredaktion des Kölner Reports anzurufen. Der Kulturredakteur ist ein sensationslüsterner Kerl namens Bert Randow, den ich bei der Vernissage der naiven Malerin Veronique Sarkowski kennengelernt hatte. Sarkowski malt grauenhaft schlechte Bilder, aber das gehört nicht hierher. Von Randow meldete sich mit einer tiefen heiseren Stimme, der man den jahrzehntelangen Whiskykonsum deutlich anhörte. „Am Haus von Karla Taubnessel gibt es eine Sensation zu sehen“, haspelte ich in den altmodischen Hörer.
„Karla wer?“
„Karla Taubnessel, die bekannte Literatin.“
„Ach die“, brummte Randow. „Und worin besteht die Sensation?“
„An ihrem Haus stehen wüste Schmähungen, die sollten Sie sich nicht entgehen lassen.“
„Hören Sie“, begann Randow und machte ein schlürfendes Geräusch; offenbar trank er gerade Kaffee. „Zunächst mal brauche ich Ihren Namen und anschließend-“
„Taubnessel wohnt im Pfauenweg 9“, unterbrach ich ihn und hörte, wie er mit Papier raschelte und geräuschvoll zu kauen begann. „Und mein Name ist Cindy Ribbentrop.“
„Ach nee!“, sagte Randow feixend.
Ich hängte den Hörer ein und stürzte aus dem Bahnhof. Zu blöd, diese Sache mit von Ribbentrop. Warum ich ausgerechnet auf den Namen einer Nazigröße verfallen war, konnte ich mir selbst nicht erklären. Aber immerhin hatte ich das von weggelassen und meine Stimme verstellt. Tatsächlich hatte ich versucht, die blecherne Mickymausstimme von Taubenuss nachzuahmen, indem ich höher sprach als normal und etwas atemlos und piepsend, was mir aber nicht recht gelungen ist.
Doch Bert Randow hatte offenbar trotz allem angebissen, denn am nächsten Morgen waren die Schriftzüge an Karlas Haus der Aufmacher des Kölner Reports. Auf der Titelseite prangte ein Foto von Taubenuss, die mit empörter Miene auf ihre geschändete Hauswand starrte. Ich verschlang den Artikel mit hungrigen Augen. Er war ein wenig hämisch geraten, also scheint auch Randow Taubenuss nicht gerade ins Herz geschlossen zu haben. Der beigefügte zweite Schnappschuss war auch nicht viel schmeichelhafter. Karla sah aufgeblasen aus und noch dicker als sonst, und ich erspähte einen Anflug von Hamsterbacken.
Zum ersten Mal, seit ich Taubnessels Schandtaten entdeckt hatte, atmete ich frei durch. Ich schlenderte mit dem Kölner Report in der Hand in meine Küche, wo Kalamaki aufgekratzt um meine Knöchel strich. Ich köpfte einen Piccolo und trank das erste Glas im Stehen, mit genüsslich zurückgelegtem Kopf, während Kalamaki seine rosa Nase gegen meine Waden stupste, um mir klarzumachen, dass er mitfeiern wollte.
Ich gab Kalamaki ein kleines Stück Camembert, sein derzeit bevorzugtes Lieblingsleckerli, und zog mich mit dem Kölner Report und einem frisch gefüllten Sektkelch ins Wohnzimmer zurück, wo ich auf mein Cordsamtsofa sank. Kalamaki folgte mir geräuschlos und sprang auf meine Knie. Er trampelte eine Weile mit den Pfoten auf mir herum, ehe er es sich bequem machte und in einem tiefen, fast grollenden Ton zu schnurren begann. Ich schloss meine Hände um meinen Kater und lächelte gelöst. Zum ersten Mal seit mehr als einem Jahr fühlte ich mich von dem rasenden Schmerz befreit, den Taubnessel mir mit ihren bösartigen Teufeleien zugefügt hat.
Wie ein Flashback blitzte ihre Website vor meinen Augen auf. Ein nicht sehr attraktives Foto von ihr hängt über dem aufgeblasenen Text wie eine düstere Gewitterwolke. Karla twittert auch gern und häufig. Dabei erläutert sie ihren Lesern, in welch einsamen Qualen sich eine Künstlerin winden muss, um ein Werk zu gebären. Was in ihrem Fall besonders peinlich ist, da sie noch nie etwas anderes geboren hat als ungelenke Dialogversatzstückchen, die ihre von mir geklauten Texte mehr schlecht als recht aneinanderbinden. Wirklich erstaunlich, dass sie ihren Lesern noch nicht erzählt hat, wie oft sie am Tag Pipi macht.
Ich lächelte und hob mein Glas in der Parodie eines Trinkspruchs.
Du wirst noch Heulen und Zähneknirschen, Taubenuss!
Karla. Als ich die Schmierereien an meinem Haus sah, war mir sofort klar, dass die nur von Jammerliese sein konnten. Von diesem armseligen Plasma, das sich nicht mal wehrt, wenn man ihr alles klaut, was sie je verzapft hat. Dieses Geschmiere an meiner Frontwand ist doch bloß das Werk einer wütenden Maus, das nehme ich überhaupt nicht ernst. Ich werd das der Presse gegenüber auch gar nicht weiter kommentieren. Dieser ekelhafte Randow, der wie aus dem Nichts heraus plötzlich vor meiner Haustür stand, schien sich über meine Fassungslosigkeit auch noch zu amüsieren. Na, ich habe den unverschämten Burschen stehenlassen, bin ins Haus gerannt und habe Martin im Büro angerufen. Diese verdammten Pressefuzzis sind doch richtige Aasgeier. Alle wollen sie einem ans Leder.
Leider kriege ich im Moment sowieso ziemlich viel Gegenwind. Für meinen Roman Eisbären überall hab ich ein paar unglaublich unverschämte Kritiken kassiert, da musste ich echt schlucken. Dolf Klöver, der Cheflektor des Hauschildtverlags, behauptete, mein Zeug sei mechanisch zusammengehauen und ein total seelenloses Geschreibsel, das man sofort vergäße, sobald man das Buch aus der Hand gelegt hat. Da käme einfach gar nichts rüber, kein sinnvoller Gedanke und kein lebendiges Gefühl. Dieser widerliche Schmierfink! Der kommt ganz oben auf meine Hassliste. Leider haben auch noch ein paar andere Kritiker in das gleiche Horn getutet. Natürlich muss man diesen Kritikermist nicht wirklich ernst nehmen, aber er macht mich wütend. Was fällt diesen jämmerlichen Typen ein? Die sind doch alle bloß giftig, weil ich erfolgreich bin. Die wären selbst gern Schriftsteller, können es aber nicht. Diese Kerle sind einfach grün und gelb vor Neid.
Siri. Es ist mir ehrlich gesagt schleierhaft, warum Taubenuss unbedingt Schriftstellerin sein will, da sie doch zum Schreiben so gut wie keine Begabung zeigt. Warum sattelt sie nicht auf Einbrecherin um? Als Gesetzesbrecherin ist sie nämlich ein beachtliches Talent. Aber natürlich muss man sich bei einer kriminellen Karriere im Schatten halten, während Taubenuss doch auf Teufel komm raus ins Rampenlicht will. Wenn man ihr Internet-Tagebuch liest, begreift man sofort, dass sie sich für einen verkappten Rockstar hält.
Es ist wirklich jammerschade, dass ich Karlas kriminelle Machenschaften erst nach fünf Jahren entdeckt habe. Und wenn sie nicht so dreist gewesen wäre, eine meiner Figuren - die dänische Ärztin Mathilda Palmgren - komplett zu übernehmen, hätte ich es vermutlich nie gemerkt. So aber stolperte ich bei einer Internetrecherche über die Rezension eines Romans namens Krähen im Nebel, Raben im Geäst, in dem die dänische Ärztin Mathilda Palmgren eine tragende Rolle spielt. Und so kam alles ans Tageslicht.
Danach hockte ich wie betäubt vor dem Monitor und fühlte mich, als hätte mir ein Mastodon den Huf in den Solarplexus gerammt. Doch das war nichts gegen das Grauen, das mich erfasste, als ich nach und nach den Umfang ihrer Diebstähle erkannte. Erst ganz allmählich begriff ich nämlich, dass sich alles, was ich in rund dreißig Jahren geschrieben hatte - vieles davon noch unveröffentlicht -, in Taubnessels dreckigen Diebeshänden befand.
Das verursachte mir eine rasende Seelenpein. Es fühlte sich an, als vergewaltige Taubnessel ohne Unterlass mein Gehirn, während ich von den Flammen des Hasses, die in meiner Brust wüteten, langsam aufgezehrt wurde. Nach dem ersten Einbruch haben Taubnessel und ihr Helfer übrigens ein Schlüsselset von mir mitgenommen, was ich wiederum erst Jahre später merkte. Das Schlüsselset lag griffbereit in einem Messingkästchen in meiner obersten rechten Schreibtischschublade. Danach sind die kriminellen Schweine noch zweimal wiedergekommen und haben meine Festplatte erneut kopiert; schließlich brauchte Taubnessel ja Nachschub. Karla ist nämlich völlig fantasielos. Sie kann sich nicht mal die simpelsten Dinge ausdenken und schreibt ungelenk wie ein Schulkind. Wenn sie mal eine kleine Passage selbst schreibt. Die erkennt man immer auf Anhieb, weil ihr Stil gegenüber dem von mir Abgekupferten so unsäglich abfällt. Ich habe nie verstanden, wieso ihrer Lektorin diese Brüche nicht auffallen, aber vermutlich ist die Dame mit von der Betrugspartie. Schließlich muss ja irgendwer Karla mein an den Kondorverlag gesandtes erstes Romanmanuskript in die Hand gedrückt haben.
Übrigens habe ich mir jetzt selbst einen Einbrecher gemietet. Mein Einbrecher heißt Victor, was ich als gutes Omen ansehe. Ich habe Victor im Hauptbahnhof aufgestöbert, wo man Pistolen, Huren, Heroin und sogar Auftragskiller bekommt, falls man welche möchte. Victor ist aber kein Halsabschneider, sondern nur ein routinierter Einbrecher mit erfreulich langer Berufserfahrung. Ich habe ihn mit meinen letzten Kröten dafür bezahlt, in Taubnessels schwefelgelben Bungalow einzusteigen, von dem meine hübsche und äußerst treffende Beschriftung inzwischen abgewaschen wurde. Taubenuss ist seit zwei Wochen auf einer Lesereise durchs Ruhrgebiet, während der ergebene Martin einen Kurzurlaub auf Ibiza macht. Also eine äußerst günstige Zeit für einen Einbruch.
Karla. Jammerliese ist doch wirklich ein Geschenk des Himmels. Seit ihren Schmierereien an meiner Frontwand hat der Verkauf meiner Bücher nämlich wieder ein bisschen angezogen. Uff! In den Klappentexten verkauft mich mein Verlag zwar als Bestsellerautorin, aber tatsächlich laufen meine Bücher gar nicht so toll. Dass ich davon leben kann, wie ich auf meiner Website behaupte, ist jedenfalls gelogen. Aber die Leute sind ja so leichtgläubig. Die schlucken einfach alles, was gedruckt ist oder im Internet erscheint. Denen fällt auch nicht auf, dass meine Biografie frei erfunden ist, und dass die Experten, bei denen ich mir angeblich Rat geholt habe, zum größten Teil überhaupt nicht existieren. Jammerliese merkt es natürlich, weil ich alle Experten mit den Vornamen ihrer Protagonisten ausgestattet habe, aber sonst merkt es offenbar keiner. Es ist wirklich ein Segen, dass Martin mit seinem Schlüsseldienst so gute Geschäfte macht, sonst wäre unser Lebensstandard nämlich ganz schön armselig. Aber der Schlüsselladen ist einfach eine Goldgrube.
Jetzt hat mir Jammerliese mit ihren Beleidigungen doch tatsächlich noch eine Auflagensteigerung verschafft. Tja, sie ist eben eine hirnlose Kuh. Erst lässt sie sich wie ein Gimpel beklauen und merkt es erst nach fünf Jahren, und dann tut sie trotzdem nichts. Ich hab das natürlich vorausgesehen; schließlich steht in ihren Erinnerungen, dass ihr Vater sie als Kind ständig schwer geprügelt hat. Das hat ihr anscheinend das letzte bisschen Mumm ausgetrieben. Falls Jammerliese jemals so was wie Mumm besessen hat, was ich bezweifle. Die hat sich ja auch von ihren Schulkameraden klaglos verdreschen lassen. Und heute ist sie eine New Age-Anhängerin und Esoterikerin, die daran glaubt, dass man verzeihen muss. Na, sie ist eben eine Idiotin. Ihr Romanmanuskript über eine Kindheit zwischen Prügeln, sexueller Belästigung und brutaler Unterdrückung ist allerdings wirklich prima. Und ich hab es in meinem Besitz, ha! Ehe Jammerliese es schafft, auch nur ein Wort davon zu veröffentlichen, hab ich ihr auch diesen Stoff schon dreimal geklaut.
Natürlich muss man das ein bisschen verändern, es verharmlosen und ein bisschen Kitsch einbauen. In Jammerlieses Original ist das doch einfach viel zu brutal. So was will kein Schwein lesen. Aber zum Ausschlachten sind ihre Texte durchaus brauchbar. Fantasie hat sie, unsere Jammerliese. Andrerseits ist es ja nicht so, als ob sie eine tolle Schriftstellerin wär. Ich meine, sonst würd doch irgendwer ihr Zeugs drucken, oder? Ich nehme einfach ihr Rohmaterial, mit dem sie ja sowieso nichts Gescheites anfängt, und mache daraus zeitgemäße, heitere Romane auf einem Niveau, das die Durchschnittsleserin versteht. Deshalb findet sich auch meine Judy Krawik zu dick und ihr Haar strähnig und struppig, denn den meisten Frauen geht’s ganz genauso. Damit können die sich identifizieren.
Siri. Victor hat ein paar interessante Details zutage gefördert. Zwar ist der größte Teil meines Notgroschens jetzt weg, aber dafür weiß ich, dass Taubenuss in Gütertrennung lebt, vierzehn Jahre älter ist als ihr Kerl und spießige weiße Baumwollschlüpfer trägt. Sie hat Kleidergröße achtundvierzig und ist nicht siebenunddreißig, wie sie in ihren Klappentexten behauptet, sondern siebenundvierzig. Victor hat alle interessanten Dokumente, an die er herankam, fotografiert. Man kann nie voraussagen, wozu man so etwas nochmal braucht. Er hat auch ein paar Fotos von Taubenuss und ihrem Kerl mitgehen lassen. Martin sieht darauf aus wie ein richtiger Hallodri. Er hat sich ein blondes Gemsenbärtchen zugelegt und trägt ein mokantes Lächeln im Mundwinkel. Seine Augen sind hell und haben einen arroganten Ausdruck. Es ist ein unverschämter Blick, der signalisiert, dass er nichts anbrennen lässt, wenn er eine Chance wittert.
Ich denke, ich werde Natascha auf ihn ansetzen. Natascha ist fünfundzwanzig Jahre jünger als Taubenuss und hat lange, hellbraune Locken. Außerdem hat sie schwarze Augen, die wie mit Milch gefüllt aussehen. Natascha ist Halbpakistanerin mit einer deutschen Mama und sehr verführerisch. Ich habe sie während der Recherchen zu meinem Buch Spiel mir das Lied vom Sex kennengelernt, einer Reportage über das deutsche Rotlichtmilieu. Natascha hat nämlich eine Zeitlang als Callgirl gearbeitet, aber seit neuestem studiert sie Archäologie. Natascha mag mich, und sie schuldet mir noch einen Gefallen. Ich bin sicher, dass sie mir helfen wird. Außerdem braucht sie ja nicht wirklich mit Martin zu vögeln. Es reicht völlig, wenn sie ihn in eine peinliche Situation bringt - nackt auf einem Hotelbett, in den Armen einer aufregenden, ebenfalls fast nackten Frau. Die Fotos kann Victor schießen. Professionelle Qualität ist nicht nötig, einfache Schnappschüsse tun‘s auch. Victor sollte nur möglichst nah rangehen.
Karla. Hoffentlich sitzt Jammerliese in Duisburg nicht wieder im Publikum! Ich hatte meine Lesung in der Rochus-Buchhandlung zwar bereits abgesagt, werde sie jetzt aber doch halten. Ich hab allerdings schon Schiss, dass sich die dämliche Kuh wieder in eine der ersten Reihen hockt und mich blöde anstiert. Diese Anstiererei ist echt nervig, auch wenn es nur Jammerliese ist. Zu allem Überfluss liegt mein Bodyguard mit einem Aneurysma in der Uniklinik. Blöder Hund. Ich finde, es ist seine Aufgabe, auf mich aufzupassen und nicht im Spital herumzuliegen. Ich wollte Martin und Steffi zur Lesung mitschleifen und ihnen auftragen, Jammerliese scharf im Auge zu behalten, aber beide haben keine Zeit.
Uff! Ich meine, Jammerliese ist ja bloß ein blöder erfolgloser Niemand, aber es ist doch leichter, eine Lesung zu halten, wenn sie nicht da ist. Natürlich hat die dämliche Gans nicht die geringste Chance, mich aus dem Sattel zu werfen, dafür habe ich mich viel zu gut abgesichert. Aber schön ist der Gedanke nicht, dass sie wieder im Publikum hockt und glotzt. Ach, was soll’s, Ohren steif und durch! Jammerliese ist doch nichts weiter als ein armseliger Loser. Außerdem, was hab ich ihr denn schon getan? Klar, ab und zu hab ich eine von ihren Formulierungen genommen, manchmal auch eine ganze Szene oder eine komplette Person. Oder auch mehrere. Jammerliese formuliert ganz nett und erfindet recht brauchbare Figuren, aber das ist auch schon alles, was sie kann. Sie ist eine unbedeutende, erfolglose Null, die sich in ihrer Freizeit ein paar Geschichten ausdenkt, die keiner lesen will. So sehe ich das. Ich bringe ihr Zeug erst unter die Leute. Sie liefert vielleicht den Teig, aber ich hole das gebackene Brot aus dem Ofen, ha! Jammerliese ist einfach viel zu rechtschaffen. Wahrscheinlich will sie deshalb keiner drucken, da brauchte ich gar groß nachzuhelfen. Natürlich war auch ihre gesamte Korrespondenzakte auf der Festplatte, und so war ich immer bestens informiert, welchem Verlag sie ihr Manuskript gerade angeboten hatte. Da genügte dann ein schlichter Anruf meiner Lektorin, und die Leute haben ihr das Zeug wie eine heiße Kartoffel retourniert.
Tja, so ist das Leben, Jammerliese! Nur die Starken überleben. Wer nicht wagt, gewinnt auch nix. Schau mich an, ich hab was riskiert und gewonnen. Und wo bist du heute? Kein Schwein erinnert sich mehr an deinen Namen. Keiner will deinen Kram lesen. Den vermarkte jetzt ich, denn heutzutage ist literarisches Junk Food angesagt. Aber das hast du dummes Luder nie begriffen.
Siri. Victors Fotos sind einfach brillant. Martin liegt mit glasigen Augen und halb erigiertem Schwanz auf einem Hotelbett im eleganten Ambassadeur, und Natascha beugt sich über ihn - nur mit einem aufreizenden Schlitzhöschen und Strapsen bekleidet. Das mit dem nur halb erigierten Schwanz ist schade, aber mehr war bei Martins Alkoholpegel leider nicht drin. Aber auch so sind es gelungene Bilder.
Natascha hat mir erzählt, dass sie Martin nicht viele Fallen zu stellen brauchte. Der Kerl sei ihr praktisch in den Schoß gefallen wie eine überreife Mango. Wir saßen im Café Central, tranken Cappuccino mit Schlagsahne und Schokoladenstreuseln und waren blendender Laune. Natascha hatte Martin in seiner Stammkneipe Backes aufgegabelt, wo er gerade das sechste Bierchen zischte, und ihn nach allen Regeln der Kunst abgeschleppt. Die beiden Eingangssätze, die ich ihr eingebläut hatte - “Das muss doch ermüdend für Sie sein, so eine prominente Frau zu haben! Bestimmt interessieren sich alle nur noch für sie“ - haben Wunder gewirkt. Martin stürzte sich wie ein ausgehungerter Hai auf den Köder und schluckte ihn mit Haut und Haar, was mich nicht erstaunte. Schließlich ist ja bekannt, dass die meisten Männer mit dem Erfolg ihrer Frauen ziemlich schlecht zu Rande kommen. Das sieht man schon daran, dass die Liste bildschöner Schauspielerinnen, die kurz nach dem Empfang eines Oscars von ihrem Kerl verlassen oder öffentlich gedemütigt wurden, von Jahr zu Jahr länger wird.
Martin jedenfalls beklagte sich heftig über seine Rolle als Prinzgemahl und bekundete, dass er es „satt habe bis obenhin“. Von da bis zum Bett im Ambassadeur war es ein Kinderspiel. Während Martin im Bad seine prall gefüllte Blase entleerte, öffnete Natascha Victor leise die Tür und ließ ihn hinter die blausamtenen Fenstervorhänge schlüpfen. Das Bett stand praktischerweise sehr nahe beim Fenster, sodass Victor tolle Nahaufnahmen schießen konnte.
Nachdem ich meinen Fotografen und Einbrecher für seine Dienste entlohnt und Natascha die Spesen - einige Flaschen Champagner einer edlen Marke und die Hotelkosten - ersetzt hatte, war von meinen Ersparnissen fast nichts mehr übrig. Doch das stört mich nicht, denn alles verläuft genau nach dem Plan, den ich so akribisch ausgetüftelt habe. Die Fotos von Martin und Natascha sind hinreißend, besonders der leicht dümmliche Ausdruck auf Martins gemsenbartgekrönter Visage. Und es ist kein einziger Fingerabdruck auf den Fotos, denn Victor und ich haben ständig Handschuhe getragen. Auch jetzt, da ich die Päckchen für KLARSICHT und für Taubenuss packe, trage ich transparente Einweghandschuhe.
Karla bekommt ihr Päckchen als erste, im Briefzentrum abgestempelt und ohne den leisesten Kommentar. Dem KLARSICHT-Redakteur werde ich die benötigten Hintergrundinformationen telefonisch geben, mit verstellter Stimme vom Bahnhof aus, wie ich es schon bei Randow gemacht habe. Für KLARSICHT ist das genau der richtige schlüpfrige Stoff. Ein Hinweis, dass dieser Mann der Ehemann der bekannten Autorin Karla Taubnessel ist, der sich mit einer fremden Schönheit amüsiert, während seine Frau auf Lesereise ist, dürfte genügen. KLARSICHT besorgt den Rest.
Ich hoffe, dass ihr treuloser Kerl Karla schwer zu schaffen machen wird. Das ist das Mindeste, was sie verdient für all die Seelenschmerzen, die sie mir zugefügt hat. Karla hat übrigens ihre Lesung in Duisburg abgesagt, wie mir der Inhaber der Rochus-Buchhandlung bedauernd mitteilte. Eine Unpässlichkeit der geschätzten Autorin, wirklich zu schade. Aber die Sache werde am sechzehnten Dezember nachgeholt. Ich dankte dem Buchhändler und bestellte eine Karte auf den Namen Margot Fonteyn (ein bisschen Fantasie kann bestimmt nichts schaden), abzuholen eine halbe Stunde vor Beginn der Lesung.
Siri. Die Lesung zog sich entsetzlich in die Länge, und ich langweilte mich furchtbar. Karlas blecherne Stimme war die reinste Tortur, und nur die Freude darüber, dass ihre Hamsterbacken noch deutlicher hervortraten als früher, hielt mich bei der Stange. Eine Frust-Fresserin, hab ich‘s doch gewusst. Endlich kam Taubenuss zum Ende und hob siegessicher Kopf.
Es waren nur elf Leute in der Buchhandlung. Möglicherweise lag das an dem regnerischen Wetter. Die Temperatur lag nur knapp über Null, und wahrscheinlich hatten die Menschen einfach keine Lust, ihre gemütliche Wohnung zu verlassen. Vielleicht war aber auch Karlas Stern im Sinken begriffen. Möglicherweise hatten die Leute genug von ihrer quäkenden Stimme. Jedenfalls war die Autogrammschlange vor ihrem Lesepult erfreulich kurz. Nur vier Personen.
Ich stellte mich als Vorletzte an, ein Exemplar von Krähen im Nebel, Raben im Geäst in der Hand. Karla schrieb mit raumgreifenden Gesten Autogramme und lächelte huldvoll. Als ich an der Reihe war, überreichte ich ihr das aufgeschlagene Buch. Auf das Vorsatzblatt hatte ich mit großen Lettern gedruckt:
Jetzt bist du dran, du diebisches Miststück!
Du kommst vor Gericht!
Taubenuss erstarrte und zog scharf den Atem ein.
„Stimmt genau“, sagte ich heiter. „Bitte ein Autogramm, Frau Taubnessel.“
Karla riss den Kopf hoch und starrte mir ins Gesicht. Ich war ungeschminkt und sah so sauber und farblos aus, als hätte man mich mit Kernseife geschrubbt. Dazu trug ich eine Nickelbrille mit kreisrundem Gestell, die mir ein eulenhaftes Aussehen verlieh. Ohne Makeup sehe ich ohnehin völlig anders aus, jung und fast ein wenig unscheinbar. Außerdem hätte mich unter dem braven mausfarbenen Topfhaarschnitt noch nicht mal meine eigene Mutter erkannt.
Karla stierte mit leicht geöffnetem Mund zu mir hoch, die Hand mit dem teuren Montblanc unschlüssig in der Luft verharrend, während sie sich zu einer Entscheidung durchzuringen versuchte. Der Mann hinter mir wurde zappelig und begann mit den Füßen zu scharren. Taubenuss klappte den Mund zu und presste die Lippen zusammen. Dann schrieb sie unter meine drohenden Zeilen: „Mit guten Wünschen, Karla Taubnessel.“
Ihre Hand zitterte, und ihr Namenszug geriet leicht verwackelt.
„Verbindlichen Dank“, sagte ich höflich und fügte, schon halb zum Gehen gewandt, über die Schulter hinweg hinzu: „Woher kriegen Sie nur immer diese interessanten Stoffe und die prägnanten Formulierungen?“
„Ich erfinde sie“, schrie Taubenuss meinem sich entfernenden Rücken hinterher. „Ich denke sie mir aus. Es sind alles meine Erfindungen!“
Ich gestattete mir ein teuflisches kleines Lachen und verschwand rasch in der Dunkelheit. Draußen wartete ich nervös in meinem betagten Mercedes. Würde Taubnessel in Begleitung aus der Tür treten oder allein? Karlas Publikum hatte sich bereits davongemacht. Geblieben war nur der einsame Mann, der hinter mir angestanden hatte. Wenn nicht er oder der Buchhändler Karla nach Köln zurückbegleiteten, würde sie allein zurückfahren müssen.
Ich riss mir die mausbraune Perücke vom Kopf und nahm die runde Brille ab. Dann kauerte ich mich auf den Vordersitzen meines Wagens zusammen und überwachte mit Hilfe meines Schminkspiegels den Eingang der Buchhandlung. Übrigens werde ich Karla tatsächlich vor Gericht bringen. Bei meinem Rechtsanwalt liegt eine ausführliche Dokumentation ihrer sämtlichen Plagiate inklusive aller Beweise - Satz für Satz, Figur für Figur, Szene für Szene, Plot für Plot. Weitere Beweismittel lagern bei meinem Notar. Die Einbrüche durch Taubenuss und ihren willigen Kumpan Martin habe ich, wenn auch mit mehrjähriger Verspätung, bei der Polizei angezeigt, wobei ich nicht versäumt habe, der Kripo sämtliche Hintergrundinformationen einschließlich der Namen des sauberen Einbrecherpärchens zu übermitteln. Das wird bei einem Prozess sehr nützlich sein.
Tja, ich kann sie jederzeit verklagen, und da ich so lange nichts von ihren Plagiaten wusste, und Karla fleißig weiterplagiiert hat, ist der Streitwert inzwischen sehr hoch. Wenn Taubenuss den Prozess verliert, wird sie mir ziemlich viel Geld zahlen müssen. Und verlieren wird sie, denn meine Beweise sind eindeutig. Mein Anwalt hat den Streitwert auf insgesamt 185.000 Euro festgesetzt, und ich glaube, das Gericht wird sich dem anschließen. Selbst wenn Taubenuss keine 185.000 Euro hat - von meinen und ihren Prozesskosten, die sie natürlich auch bezahlen muss, ganz zu schweigen -, ist sie doch im Anschluss an den Prozess ruiniert. Kein Hund wird mehr ein Stück Brot von ihr nehmen, und sie ist alles los, was sie sich ergaunert hat: ihren Ruf, ihr Geld und ihren Rhett, den man ihr natürlich wieder aberkennen wird.
Ich seufzte wohlig, während ich unausgesetzt in den Schminkspiegel starrte, und träumte weiter vor mich hin. Taubenuss vor den Schranken des Gerichts, stotternd, gedemütigt und ständig an Boden verlierend, während sich die Stimmung im Saal allmählich immer stärker gegen sie kehrt und schließlich in blanke Empörung umschlägt. Taubenuss, gejagt von den Geiern der Yellow Press, die einen saftigen Skandal wittern. Taubenuss im Blitzlichtgewitter mit einem Schal über dem Kopf, die sich duckt und die Schultern einzieht, während sie in Handschellen durch die Gänge des Gerichts geführt wird. Bei diesen Träumereien wurde mir die Zeit nicht lang, und ich merkte nicht, dass bereits eine dreiviertel Stunde verstrichen war. Inzwischen war es lausig kalt im Wagen, und meine Finger waren klamm, aber ich wollte auf keinen Fall durch einen laufenden Motor die Aufmerksamkeit auf mich lenken.
Ich wollte wie ein rauchfarbener Geist im Finsteren hocken und auf meine Peinigerin warten. Also starrte ich weiter in den Schminkspiegel, während meine Finger allmählich ertaubten. Nach achtundvierzig Minuten kam sie endlich. Offenbar hatte sie verzweifelt versucht, Zeit zu schinden oder vielleicht auch, jemanden zu überreden, sie nach Köln zurückzubegleiten. Aber es hatte nicht funktioniert.
Taubenuss witterte nach allen Seiten wie ein gehetztes Tier. Inzwischen fiel ein leichter Nieselregen vom Himmel. Karla hastete zu ihrem Auto des Tages, einem knallroten Porsche Carrera, und schmetterte die Autotür zu. Sie stellte ihre Musik, ein übles Technogedröhn, dessen wummernde Bässe durch meine geschlossenen Autofenster drangen, auf brüllende Lautstärke. Mir drehte es den Magen um vor Abscheu. Taubenuss warf noch ein paar sichernde Blicke um sich, bevor sie mit Bleifuß und kreischenden Reifen davonschoss.
Ich wartete, bis Taubnessel um die Ecke war, ehe ich die Lichter einschaltete. Mein Wagen ist alt, aber er fährt noch locker hundertachtzig, denn ich habe ihn immer gut in Schuss gehalten. Und mehr ist auf den meist stark befahrenen Autobahnen zwischen der Kölner Senke und dem Ruhrgebiet ohnehin nicht drin. Dann fuhr ich ihr gemächlich hinterher. Ich kenne die Strecke zur Autobahn wie meine Westentasche, denn ein ehemaliger Liebhaber von mir wohnt in Duisburg. Ich kenne auch ein paar raffinierte Abkürzungen zur Autobahn. Taubenuss konnte mir nicht entwischen.
Wenige Kilometer nach der Autobahnauffahrt sah ich ihre Rücklichter. Taubenuss fuhr inzwischen langsamer, offenbar überzeugt, dass niemand hinter ihr her war. Auf der Bahn war nur geringfügiger Verkehr. Es regnete jetzt stärker, und aus einem Riss im wolkenverhangenen Himmel trat eine schmale Mondsichel hervor und warf ein fahles Licht auf die nasse Fahrbahn.
Jetzt! Ich atmete tief durch und beschleunigte den Wagen. Dann setzte ich mich genau hinter Karlas Auto auf die rechte Spur. Damit sie mich auch erkannte, hupte ich ein paar Mal in Stentorlautstärke.
Taubnessel sah in den Rückspiegel, und ihr hübscher Porsche machte einen Satz.
Sie wechselte auf die linke Spur, und ich folgte ihr auf dem Fuß. So brausten wir auf Gedeih und Verderb aneinander gekettet mit Höchstgeschwindigkeit über die Autobahn, während Taubnessel alarmierte Blicke in den Rückspiegel warf. Der Mond hatte sich wieder verfinstert und der kalte Regen, der vom Himmel fiel, begann in Schnee überzugehen. Der Schnee war nass und pappig und schmolz sofort wieder, aber die Sicht wurde schlechter und die Fahrbahn ein bisschen rutschig. Ich ging leicht vom Gas und ließ mich ein paar Meter zurückfallen.
Dann wurden die Flocken größer und taumelten mir in einem wahren Schneegestöber vor die nachtschwarze Windschutzscheibe. Binnen kürzester Zeit fiel der Schnee so dicht, dass ich kaum mehr die Hand vor Augen sah. Ich wechselte auf die rechte Fahrbahn und fuhr noch vorsichtiger. Kein Grund, sich wegen Taubnessel den Hals zu brechen. Kurz hinter Neuss war es dann ganz plötzlich vorüber. Der Himmel klarte auf, und ein paar Sterne funkelten wie geschliffene Kristalle. Die Fahrbahn trocknete rasch, und ich trat das Gaspedal bis zum Anschlag nieder. Doch obwohl ich raste wie der Teufel, konnte ich Taubnessels Porsche nicht mehr einholen.
„Verdammte Axt!“, sagte ich frustriert in den dunklen Wagen und zog enttäuscht meine Bahn heimwärts.
Ich durchfuhr gerade eine langgezogene Kurve, als am rechten Fahrbahnrand das blinkende Blaulicht eines Polizeiautos auftauchte. Ein Notarztwagen mit offener Tür stand direkt daneben. Ich drosselte das Tempo und folgte den Signalzeichen des Polizisten in Warnschutzweste, der alle Fahrer auf die linke Fahrspur winkte. Dann fuhr ich in mäßigem Tempo an der Unfallstelle vorbei und gähnte ermattet. Die Müdigkeit, die meiner stundenlangen Anspannung gefolgt war, wurde plötzlich übermächtig.
Auf dem Asphalt lag eine Person, die meinen Blicken verborgen blieb, flankiert von den gekrümmten Silhouetten zweier Rettungssanitäter. Zwischen drei Birken am rechten Fahrbahnrand hing Karlas roter Porsche. Die Vorderseite war eingedrückt, die Hinterräder verkeilt. Zwei junge Bäume vor der Unfallstelle waren in halber Höhe abrasiert. Die Schnauze des Porsches war von stumpfer, schwärzlich grauer Farbe. Offenbar hatte die Karosserie gebrannt.
Obwohl es relativ dunkel war, sah ich all das mit überirdischer Klarheit – ganz so, als hätte eine himmlische Hand Licht über die Szenerie ausgegossen. Mein Blutdruck ging steil nach oben, und mein Herz klopfte zum Zerspringen. Dann, genauso plötzlich, wie mein Herz zu rasen begonnen hatte, beruhigte es sich wieder. Eine frostige Klarheit überkam mich, und in mir breitete sich Lautlosigkeit aus. Ich wechselte zur rechten Fahrbahn, verringerte das Tempo noch weiter und zuckelte gemächlich heim.
Am nächsten Tag ließ ich es ruhig angehen. Ich nahm warme Lavendelbäder und legte mir Pfirsichmasken aufs Gesicht. Kalamaki spazierte auf dem Wannenrand auf und ab, wie er es immer tut, wenn ich bade. Von Zeit zu Zeit streckte er eine grau bepelzte Pfote ins Badewasser, als wolle er die Temperatur prüfen, und schüttelte die Pfote anschließend mit angewiderter Miene. Doch nach einer Weile stippte er sie wieder hinein. Derweil sann ich im warmen Wasser vor mich hin. Wollte ich, dass Taubnessel tot war? Nun, nicht um jeden Preis, aber heiße Tränen würde ich ihr bestimmt nicht hinterherweinen. Immerhin wäre dann endlich Schluss mit ihren Plagiaten. Doch über Taubnessels weiteres Schicksal hatte nicht ich zu entscheiden.
Abends lud ich meinen alten Malerfreund Dietmar ins Boccaccio ein und aß ein Filet Mignon mit Strohkartoffeln und grüner Soße, für die ich mein Konto überziehen musste. Dietmar aß gebräunte Forelle an Meerrettichschaum, und wir teilten uns eine große Schüssel Salat Nicoise. Dietmar war aufgekratzt, weil er demnächst bei einer der bekanntesten Kölner Galerien ausstellt, und auch ich war guter Laune. Ich trug ein mintgrünes Kleid mit kleinen schwarzen Tupfen und aß mit gesegnetem Appetit. Ganz egal, ob Taubenuss nun tot war oder bloß verwundet - es war auf jedem Fall eine erfreuliche Nachricht.
Dietmar machte mir Komplimente, während wir aßen. „Heute siehst du wirklich reizend aus!“, sagte er aufgeräumt und säbelte seiner Forelle den Kopf ab. „Ist dein Filet Mignon gut?“
„Himmlisch! Die grüne Soße ist ein Gedicht“, erwiderte ich kauend.
Früh am nächsten Morgen besorgte ich mir sämtliche Regionalzeitungen Kölns. Ich erfuhr, dass die bekannte Autorin Karla Taubnessel einen schweren Autounfall erlitten hatte. Ihr kirschroter Porsche Carrera hatte sich überschlagen, und Taubnessel lag im künstlichen Koma. Natürlich gab es durchaus Hoffnung, doch die Ärzte hatten leider Grund, anzunehmen, dass Taubnessel künftig vom zweiten Brustwirbel an gelähmt sein würde. Weil ihr Wagen in Brand geraten war, und die Rettungskräfte sie nicht rechtzeitig aus dem Wrack befreien konnten, hatte die Ärmste überdies schwere Brandwunden auf der der linken Gesichtshälfte, der Brust und den Oberarmen erlitten. Ihre Haare waren komplett verbrannt und würden auch nicht wieder wachsen. Aber das war nicht so schlimm, denn es gab ja sehr hübsche Damenperücken.
Ich lächelte still vor mich hin. Welch grausamer Schicksalsschlag hatte Taubnessel, die sich doch in ihren Büchern so engagiert für misshandelte Kinder und geschlagene Frauen einsetzt, da bloß getroffen? Diese feine Seele würde ihr weiteres Leben nun vermutlich an den Rollstuhl gefesselt verbringen. Es traf doch immer die Falschen. Armes Ding.
Siri, drei Jahre später. Nach so vielen Nöten und Seelenschmerzen hat sich mein Leben überraschend aufs Wunderbarste gewandelt. Gestern habe ich die Nachricht bekommen, dass mein Roman Archaische Rhapsodie, der die dramatischen Schicksale bei einer Überschwemmung in Mumbai schildert, mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wird. Mit dem Pulitzerpreis, Taubenuss! Das ist was anderes als ein Rhett, nicht wahr? Und mein jüngster Roman Feuriges Grenada über eine Umweltkatastrophe durch einen unterseeischen Vulkanausbruch wird vom renommierten Braveheart Verlag herausgebracht. Feuriges Grenada erscheint zur Buchmesse im Herbst als Hardcover mit einem wirklich großartigen Titelbild, und ich habe einen sehr erfreulichen Vorschuss kassiert. Dazu kommen noch die zehntausend Dollar, mit denen der Pulitzerpreis dotiert ist, sodass auch meine langjährigen Geldsorgen Geschichte sind.
Vorbei die Zeiten, in denen ich zerrissene Unterwäsche tragen und meine alten Pantoffeln mit Teppichklebeband flicken musste. Vorbei die Zeiten, in denen ich mir überlegen musste, ob ich mir eine Straßenbahnkarte leisten könnte oder ob ich zu Fuß ins Stadtzentrum laufen musste. Mein betagter Mercedes hat vor zwei Jahren den Geist aufgegeben, doch jetzt kann ich mir ein hübsches umweltfreundliches Elektroauto leisten. Und ich kann mir ein paar hinreißende Kleider in meiner Lieblingsboutique Nanettes Frühling aussuchen, die ich seit zehn Jahren strikt gemieden habe, da ich ohnehin nichts hätte kaufen können. Übrigens habe ich beschlossen, Karla Taubnessel im Moment noch nicht zu verklagen. Es würde mir zwar eine stolze Summe einbringen, aber Urheberrechtsprozesse sind zeitaufwändig. Stattdessen schreibe ich lieber meinen neuen Roman über einen achtundsechzigjährigen Prokuristen, der den Fotografen in sich entdeckt und auf seine alten Tage weltberühmt wird, zu Ende. Aufgeschoben ist schließlich nicht aufgehoben.
Wenn man der Klatschpresse glauben darf, ist Taubenuss ohnehin am Ende.
Seit zwei Jahren ist es nämlich totenstill um sie geworden. Karla lebt in einer Rehaklinik für Brandverletzte im Allgäu und wird vom Klinikpersonal hermetisch abgeschirmt. Trotzdem ist es irgendeinem Paparazzo mit Teleobjektiv gelungen, sie im klinikeigenen Park abzuschießen. Das Bild ging durch sämtliche Gazetten der Yellow Press, und auch ich sah es mir aufmerksam an.
Taubnessel hockt zusammengesunken in ihrem Rollstuhl, und ihre Schultern hängen mutlos herab. Sie ist mit soliden Gurten an der Rückenlehne festgeschnallt, damit sie nicht vornüberkippt, und starrt mit wütenden Augen in die Kamera. Die linke Seite ihres Gesichts ist von schweren Brandwunden entstellt, die Haut reptilartig vernarbt. Sie trägt ein farbenfrohes Kopftuch, und ihr Mund ist und schief und verzerrt.
Taubnessels Foto berührte mich eigenartig, doch ich konnte die Empfindungen, die flüchtig durch meine Seele geisterten, nicht greifen. War es Fassungslosigkeit? Erbarmen? Grauen? Genugtuung? Ich überlegte, ob ich Taubenuss dazu getrieben hatte, die Kontrolle über ihren Angeberschlitten zu verlieren.
Ich muss zugeben, es hat Zeiten gegeben, in denen ich Taubenuss am liebsten mit bloßen Händen erwürgt hätte. Nicht ohne ihr vorher die Zähne einzuschlagen, wohlgemerkt. Bestimmt hat es ein gewisses Entsetzen in ihr ausgelöst, als ich sie auf der ersten Buchseite darüber informierte, dass ich sie verklagen werde, denn sie wusste ja, dass sie schuldig war wie Kain. Andrerseits – wäre sie nicht mehrfach in meine Wohnung eingebrochen und würde seitdem meine Texte, Stoffe und Plots in übelster Form ausbeuten, würde ich sie doch auch nicht verklagen wollen. Für solche Fälle hat unser Rechtssystem die Urheberrechtsklage vorgesehen, von einer strafrechtlichen Verfolgung ihrer Einbrüche und Diebstähle gar nicht zu reden. Ihr geschieht also Recht.
Habe ich Taubnessel in Panik versetzt, als ich sie mit meinem Wagen die Autobahn entlanghetzte? Höchstwahrscheinlich. Obwohl ich das Resultat überraschend fand. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass sich Taubenuss so rasch in Panik versetzen ließe. Allerdings weiß ich, dass es beträchtliche Angst erzeugt, wenn einem auf der linken Spur ein Auto hinterherjagt, selbst bei dem relativ moderaten Tempo von Hundertzwanzig. Genau das ist mir nämlich selbst passiert, als ich noch jung und leicht zu beeindrucken war.
Ein schlammfarbener Ford, vollgepackt mit vier brutal aussehenden Kerlen, setzte sich auf der Autobahn nach Würzburg direkt hinter meinen klapprigen Volkswagen und trieb mich die linke Fahrbahn entlang. Die Bahn war gestopft voll; es gab einfach keine Lücke auf der rechten Seite, in die ich mich hätte hineinretten können. Weiter beschleunigen war auch nicht möglich, mein altes Auto fuhr bereits Spitzengeschwindigkeit. Im Rückspiegel konnte ich sehen, dass die Schweine über die ganzen viehischen Gesichter lachten, während ich Blut und Wasser schwitzte und mir vor Angst fast in die Hosen machte. Der Abstand zwischen uns betrug gerade mal eineinhalb Meter, und obwohl sie bei einem Crash ebenfalls draufgegangen wären, war das für diese Kerle anscheinend ein Mordsspaß. Endlich erspähte ich eine Lücke auf der rechten Fahrbahn und konnte ihnen entwischen. Von daher weiß ich genau, wie leicht man bei einer solchen Hetzjagd Todesängste aussteht.
Doch als der Unfall geschah, fuhr ich schon eine ganze Weile nicht mehr hinter Karla her. Zwischen dem Schneegestöber, das mich mein Tempo vermindern und zurückbleiben ließ, und Karlas Crash in den Birken lagen bestimmt zehn Minuten, in denen wir kilometerweit voneinander entfernt dahinfuhren. Sie ist also letztlich durch ihre blinde Panik und ihre unsinnige Raserei verunglückt. Habe ich Taubenuss also in den Unfall getrieben? Nein. Hätte ich es getan, wenn das Schneegestöber nicht gekommen wäre? Vielleicht. Unter Umständen.
Ja! Ich hatte es für einige Zeit ausgeblendet, aber jetzt erinnere ich mich wieder genau an die wenigen Minuten, die wir fast Stoßstange an Stoßstange zurücklegten, während wir mit hundertachtzig Sachen über die Autobahn brausten. Eine flammende atavistische Wut raste durch meinen Körper, und ich fühlte mich wie mit flüssigem Feuer gefüllt. Ich trat aufs Gas wie eine Besessene und hätte Taubnessel gerammt, wenn ich es nur gekonnt hätte, ich wollte sie rammen, ihr das Hirn aus dem Schädel rammen, mein Herz schrie nach Rache, nach Blut, und ein roter Nebel senkte sich über meine Augen, während ich ein rasselndes Fauchen ausstieß wie ein tollwütiges Raubtier…
Nur die Tatsache, dass die linke Spur vor Taubnessel plötzlich frei wurde, und sie davonraste, rettete sie und mich vor dem Zusammenstoß, auf den ich es mit jeder Faser meiner Seele angelegt hatte. Dies und das plötzlich einsetzende Schneegestöber, das den blutigen Nebel vor meinen Augen lichtete und mich wieder halbwegs zur Besinnung kommen ließ.
Mit dem Artikel über Karla in der Hand ging ich zum Fenster und zog beide Flügel weit auf. Die hereinströmende eiskalte Winterluft kühlte den glühenden Hass, den ich für einige Minuten erneut empfunden hatte. Ich ließ mich in einen Sessel sinken, hob die Zeitschrift vors Gesicht und las den Text unter dem scheußlichen Foto. Taubnessels Mann war im Begriff, sich von ihr scheiden zu lassen, um Mara Yesudian zu heiraten, was man ihm nicht verdenken konnte, denn Mara war achtundzwanzig Jahre jünger als Taubenuss und entschieden hübscher. Möglicherweise hatte sie sogar einen besseren Charakter, obwohl der diebische Martin das eigentlich nicht verdiente.
Ich blickte auf die dicht herabrieselnden Schneeflocken, die durch die sperrangelweit offenstehenden Fenster ins Zimmer trudelten. Das warme Licht der Stehlampe warf eine goldene Lichtinsel auf die Schneedecke des Gartens.
Tja, du bist eine Nachricht von gestern, Taubenuss.
Ich glaube, ich werde dir ein signiertes Exemplar meines Romans Archaische Rhapsodie schicken. Für Karla Taubnessel, mit freundlichen Genesungswünschen von Siri Hertog. Du wirst darin viele Texte finden, die dir von der gestohlenen Festplatte her bestens bekannt sind. Ich vermarkte meine Inhalte jetzt wieder selbst, Taubnessel. Archaische Rhapsodie wird dir die Zeit vertreiben. Mehr bleibt dir ohnehin nicht mehr, denn wir wissen beide, dass Querschnittslähmung beim derzeitigen Stand der Medizin nicht heilbar ist. Du kannst eine Schwester bitten, dir eine Lesevorrichtung an deinen Rollstuhl zu montieren, falls du das nicht schon getan hast. Ich hoffe doch sehr, dass du noch lesen kannst, Taubenuss. Aber nach dem, was die Yellow Press schreibt, bist du geistig noch absolut klar, wenn auch immer sehr rasch entkräftet.
Nun, Taubnessel, ich würde sagen: Gott hat mich gerächt.