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Der Ist-Zustand

der globalen

Zusammenarbeit

Es gibt weltweit mehr Privatvermögen denn je. Eine für unsere Vorfahren kaum vorstellbare Technik wartet auf unsere Befehle. Wir globalisieren Ressourcennutzung, Warenströme und Informationen, begleiten dies jedoch nicht mit einer passenden Organisation des menschlichen Miteinanders. Wir verfügen über immer mehr Kräfte und werden dennoch ratloser, weil es kaum Strukturen gibt, um sie zielgerichtet auf globaler Ebene zu entfalten.

In der Presse lesen wir Beschreibungen wie die des »ZEIT«-Journalisten Jörg Lau:2 »Zerfall ganzer Staaten(-systeme) wie in Arabien; weltweite Renaissance des Autoritären; Wiederkehr von Tribalismus und Glaubenskriegen; Selbstschwächung des Westens durch einen Kapitalismus, der soziale Unwuchten verstärkt; Flüchtlingsströme als nächste Globalisierungsstufe. Wie in dieser Lage eine freiheitliche Ordnung gedeihen kann, weiß in Wahrheit niemand. Jedenfalls nicht durch Machtgehabe, ›Gleichgewichtspolitik‹ und die übliche ratlose Abfolge von Schurkenknutschen und -bombardieren.« Der Publizist Richard David Precht ergänzt:3 »Wir sind Getriebene und treiben nichts voran. Eine Zukunftsstrategie dagegen ist bei keinem Konfliktherd in Sicht … der gesamte Westen scheint gelähmt … und auch ein paar Milliarden mehr für Entwicklungshilfe sind keine Lösung. Ohne Strategie und kluge Menschen, die sie entwickeln, wird es nicht gehen … Doch bei Google und Facebook werden weiterhin Tausende Genies mit Milliardenaufwand ungezählte kommerziell erfolgreiche Antworten auf nicht gestellte Fragen finden – die wirklichen Probleme der Welt lassen sie stumm.«

Vieles davon trifft sicher zu, doch existiert auch ein konstruktiverer Blickwinkel: Eine Zukunftsvision ist vorhanden – die Weltordnung –, die von Genies wie de Groot, Kant und Einstein vorgedacht wurde. Nur haben wir diese Vision bislang nicht verwirklicht. Dadurch bleibt das globale Geschehen unter den knapp 200 Nationalstaaten unnötig chaotisch. Das Beispiel einer Wohnanlage mag dies illustrieren: Angenommen, 200 Wohnungseigentümer leben in einem Gebäudekomplex mit Grünanlagen und möchten diesen instand halten.

Möglichkeit 1 | Man betraut die einzelnen Wohnungseigentümer mit dieser Aufgabe. Um sich abzustimmen, werden sie endlos konferieren: Was will wer, wann und wo, von wem bezahlt tun? Dach, Fassade, Fenster, Kinderspielplatz, Treppenhaus, Keller, Wasserleitungen, Telekommunikation, Teich- und Baumpflege, Reinigungsdienst, Brandschutz und Müllsammelstelle? Manche werden sich engagieren, andere sich zurücklehnen, wieder andere viel versprechen und wenig halten. Aber das ist erst der Anfang. Die ganz unterschiedlich veranlagten Eigentümer sind weder professionell, noch kann man sie rechenschaftspflichtig für Gemeinschaftseigentum machen. Das alles verletzt eine Grundregel des erfolgreichen Managements: Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung gehören möglichst auf gleiche Ebene. Da diese Regel im vorliegenden Beispiel nicht beherzigt wird, sind die Hausbewohner bald zerstritten, und das Gemeinschaftseigentum leidet. Genau das beobachten wir in unserer planetaren Wohnanlage.

Die Politik nennt gemeinschaftliche Güter »Global Public Goods« (GPGs).4 Darunter fallen z.B. Frieden, Sicherheit, funktionierende Finanz- und Gütermärkte, stabiles Klima oder Regenerationsfähigkeit der Erde. Die meisten von uns wollen diese Gemeinschaftsgüter erhalten. Doch was tun wir? Wir legen sie in die Hände von 193 Regierungen, die naturgemäß nationale Interessen und Kompetenzen vertreten. »Wir leben in politisch paradoxen Zeiten. Denn während jeder (oder fast jeder) weiß, dass die zentralen Krisen, die zu bewältigen sind, globaler Natur sind, gibt es darauf kaum angemessene Antworten. Ob es die globale Finanzkrise ist … ob es die oft verschleierte Krise von Armut und Hunger in weiten Teilen der Welt ist, ob es die ökologische Problematik oder die sogenannte Flüchtlingskrise ist, stets fallen Problemanalyse und politische Reaktion dramatisch auseinander«, diagnostiziert der Politikwissenschaftler Rainer Forst, Leiter des Exzellenzclusters »Normative Ordnungen« an der Goethe-Universität Frankfurt.5 Gleichermaßen paradox wirkt, dass wir zum Er-halt von Gemeinschaftsgütern oft auf Konzerne setzen, die naturgemäß den Profitzwang repräsentieren. Daneben agieren zahllose zivilgesellschaftliche Organisationen, die relativ zur Aufgabe winzig und völlig zerstreut sind, oft um Zuwendungen konkurrieren. Global versuchen Zehntausende von Civil Society Organizations (CSO) mitzureden6 – ebenso gut könnten wir auch eine Handvoll Sand auf eine Dartscheibe werfen. Kompetenz und Verantwortung all dieser Akteure liegen unterhalb der Aufgabenebene. Selbst mächtige Nationen agieren weit unterhalb der Aufgabenebene. Mit dieser Politik kommt die Welt kaum weiter, oft vermehren nationale Eingriffe das allgemeine Chaos und die Desorientierung.

Möglichkeit 2 | Die Menschen in der Wohnanlage schaffen eine Instanz, die sich im Auftrag aller um die Instandhaltung der Wohnanlage kümmert – sie engagieren eine Hausverwaltung. Sie legen eine Gemeinschaftskasse an, mit der die neue Hausverwaltung das Gemeinschaftsgut instand hält. Sie verfügen damit über eine rechenschaftspflichtige Instanz, die Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung so gut wie möglich vereint. Die Hausverwaltung repräsentiert einen vollständigen Managementkreislauf: Ist-Analyse → Ziel setzen → Plan erstellen → Realisieren → Soll-Ist-Analyse. Sie formt keine »Regierung«, sondern einen von uns als Zivilgesellschaft abhängigen Dienstleister für gemeinschaftliche Aufgaben.

Diese Abgrenzung wird enorm beeutsam werden. Denn jeder Schritt hin zu einer Weltregierung stößt auf diamantharten Widerstand. Kaum eine Regierung oder nationale Legislative lässt sich gerne in ihre Partikularinteressen hineinreden, ohne dafür einen klaren Nutzen zu erhalten. Um dies zu verdeutlichen, ließe sich das Verhalten vieler Länder heranziehen. Als Pars pro Toto mögen hier die USA dienen. Genauso gut und noch besser könnten es je nach Fall auch andere Staaten illustrieren. Der US-Kongress beispielsweise verweigert bei der Klärung der Gebietsrechte rund um den Nordpol den Beitritt zum UN-Seerechtsabkommen. Mit der schmelzenden Arktis werden dort neue Fischgründe, Schiffsrouten und Rohstoffe am Meeresboden zugänglich. Gemäß UN-Seerecht prüfen Geologen nun anhand der unterseeisch fortlaufenden Festlandssockel der jeweiligen Staaten, wem welche Gebiete zustehen. Doch der US-Kongress will diese sachlich-geologische Lösung mit den UN nicht, sondern lieber national mit den anderen Arktis-Anrainern über die Grenzziehung verhandeln. Anderes Beispiel: Im Jahr 2002 ermächtigte der Kongress den US-Präsidenten zu einer militärischen Befreiungsaktion, falls vor dem internationalen Strafgerichtshof in den Niederlanden ein US-Bürger angeklagt würde. Hier konkurrieren nationale Strategien mit der Weltrechtsstrategie.

Die Lösung ist eine Globale Hausverwaltung, die nationale Souveränität respektiert und dabei allseits Nutzen bringend und legitimiert genug ist, um gemeinschaftliche Aufgaben und Rechte auf freiwilliger Basis voranzubringen. Der Dreh- und Angelpunkt ist allerdings die praktische Kraft der Globalen Hausverwaltung. Da wir inzwischen als einzelne Menschen vielerorts vernetzt sind, lässt sich diese Kraft heute viel besser sammeln als früher. Der Aufklärer Hugo de Groot vertrat den Weltordnungsgedanken bereits 1625, mitten im Dreißigjährigen Krieg.7 Immanuel Kant8 konstatierte 1795 eine Völkergemeinschaft, in der »die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird«. Die im 19. und 20. Jahrhundert wurzelnden Gremien der Interparlamentarischen Union und des Völkerbunds folgten diesem Ideal. Doch solch supranationale Institutionen erhielten seit je wenig Kompetenzen von den Nationalstaaten.

Der Völkerbund zerfiel vor dem Zweiten Weltkrieg, weil einige Siegermächte des Ersten Weltkrieges ihn nur so lange beachteten, wie er ihren eigenen Interessen diente. Schließlich überfiel Japan im Jahr 1931 die Mandschurei, und Italien warf sich 1935 auf Äthiopien. Beide kamen mit ihrer völkerrechtswidrigen Mordbrennerei praktisch ungestraft davon. Das verdeutlichte, wie wenig die Nationalstaatenwelt willens war, sich für internationales Recht einzusetzen. Albert Einstein schrieb:9 »Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass das gegenwärtige System souveräner Nationen Barbarei, Krieg und Unmenschlichkeit nach sich ziehen muss und dass nur ein Weltrecht zu einer zivilisierten friedlichen Menschheit führen wird.«

Heutzutage bemühen sich die UN zweifellos viel erfolgreicher als der Völkerbund um das Weltrecht. Doch Regierungen umgehen oder nutzen sie oft je nach taktischem Bedarf und beschneiden so den Ruf und die Wirkkraft der UN. Manche Regierungen gehen dabei sehr weit. Beispielsweise zerstörten die Wirtschaftssanktionen des UN-Sicherheitsrates gegen den Irak in den 1990er-Jahren dessen Wirtschafts-, Gesundheits- und Sozialsystem. Experten schätzen, dass dadurch u.a. bis zu einer halben Million Kleinkinder starben.10 Im Irak gab es kaum mehr sauberes Trinkwasser – das Importverbot umfasste auch Mittel zur Wasseraufbereitung. UN-Mitarbeiter, im Irak tätige Hilfsorganisationen und zahlreiche Regierungen erkannten den Kollaps und protestierten gegen die Sanktionsbedingungen, zwei UN-Programmleiter legten ihr Amt aus Protest nieder, 20 Mitarbeiter der Menschenrechtsabteilung ebenso. Die im UN-Sicherheitsrat für die Sanktionen verantwortlichen Regierungen führten die Blockade mit unverminderter Härte weiter. Sie argumentierten, der irakische Diktator sei schuld. Er müsse einlenken und belegen, dass er keine Massenvernichtungswaffen besitze.11 Eine Katastrophe und moralische Selbstschwächung der Menschheit nahmen ihren Lauf: »Wir haben die Beweise für das Leiden der Zivilbevölkerung regelrecht geleugnet und jeden mundtot gemacht, der die Sanktionen infrage stellte«, sagt der zuständige britische Diplomat Carne Ross rückblickend. Von ihm wurden auch die Äußerungen des UN-Generalsekretärs überwacht. »Ich habe die Berichte seines Büros vor Erscheinen redigiert. Annan hat gesagt, was wir wollten.« Ross quittierte 2004 desillusioniert den Dienst. Nach 15 Jahren Diplomatie war in ihm die Überzeugung gereift, dass Regierungen der Grund für viele Instabilitäten in der Welt sind. Er sah zu oft geschützte Eliten politische Entscheidungen treffen, deren Konsequenzen Schutzlose zu tragen hatten.12

Eine klare Abwertung erfahren die UN auch durch den Trend, dass mächtige Regierungen ihre Beschlüsse lieber in von der UN unabhängigen Gremien abstimmen, in abgegrenzten Interessengemeinschaften wie den G8 oder in der OECD, sodass schwächere Staaten von den Entscheidungen zwar oft betroffen sind, aber kaum mitreden können. Bezeichnend ist auch, dass eine privatwirtschaftlich organisierte Veranstaltung wie das Weltwirtschaftsforum in Davos viel Zulauf erhält, während die UN an Präsenz und Status eingebüßt haben. Gleichwohl stellen die UN mit ihren Unterorganisationen die am häufigsten ausgezeichneten Friedensnobelpreisträger. Als globaler Zusammenschluss von zzt. 193 Staaten verfügen sie potenziell über eine hohe Legitimation. Sie kümmern sich gemäß ihrer Charta um die Sicherung des Weltfriedens, um den Schutz der Menschenrechte und die Förderung der internationalen Zusammenarbeit auch im wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Bereich. So wurden im zivilen Sektor sehr erfolgreich souveräne Staaten in ein internationales Regelwerk eingebunden und zahlreiche Abkommen geschaffen, die z.B. die internationale Luftfahrt oder die weltweite Postversendung ermöglichen. Bei genauerem Hinsehen zeigen die UN zwei Gesichter. Das eine Gesicht bilden die Regierungsvertreter. Sie organisieren sich in bestimmten UN-Gremien: in der Generalversammlung, im Sicherheitsrat, im Wirtschafts- und Sozialrat usw. Sie definieren dort Ziele, vergeben Ressourcen und verfolgen dabei naturgemäß oft ein kurzfristiges Nationalinteresse. Entsprechend dem UN-Gründungsjahr 1945 spiegelt sich dabei die Nachkriegsordnung wider: Die fünf Siegermächte dominieren den UN-Sicherheitsrat und können per Vetorecht alle Mehrheitsentscheidungen bezüglich Sanktionen oder militärischen Eingreifens in Konflikte blockieren. Im Hauptorgan der UN-Generalversammlung sitzen weisungsgebundene Diplomaten aller 193 Regierungen. Hinter ihnen stehen verschiedenste Herrschaftsformen mit mehr oder weniger Bürgerbeteiligung. Dabei gilt: Ein Land – eine Stimme. Ein Kleinstaat wie Tuvalu besitzt das gleiche Stimmgewicht wie China, in dem über hunderttausendmal mehr Menschen leben.

»Mir wurde in diesen Jahren immer klarer, wie unglaublich hegemonial oft vorgegangen wurde, um die UNO so zurechtzuschneidern, dass sie den politischen Zielen der Großmächte … angepasst wurde«, sagt Hans-Christof Graf Sponeck nach rund drei Jahrzehnten in verantwortlichen UN-Positionen. Er fährt fort: »Die Auslegung der UN-Charta, vor allem die Auslegung von Art. 100 und Art. 101, muss sehr viel ernster genom-men werden. Art. 101 definiert, welche Mitarbeiter in der UN tätig sein sollen: Da geht es um Effizienz, um Kompetenz und um Integrität. Und Art. 100 sagt: Regierungen, lasst eure Finger aus der UNO-Arbeit heraus. Definiert die Politik, aber der UNO-Generalsekretär und seine Mitarbeiter sind verantwortlich für die Umsetzung. Solange die Regierungen immer wieder versuchen, auf der Führungsebene ihre eigenen Leute zu platzieren … solange kann die UNO nicht optimal arbeiten.«13

Das zweite Gesicht der UN ist also das ausführende Sekretariat mit seinem internationalen Dienst unter dem Generalsekretär. Die Aufgabe dieses zweiten Gesichts ist es, unabhängig von Einzelinteressen für die internationale Gemeinschaft zu wirken. Diese Pflicht lässt sich allerdings nur schwer erfüllen, solange der ausführende Dienst seine Ressourcen von Regierungsgremien erhält, die naturgemäß national gesinnt sind. »Viele der Defizite der UN sind strukturell bedingt – und verwurzelt im begrenzten Interesse der Mitgliedsstaaten, das UN-Sekretariat mit der notwendigen Autonomie und mit den Ressourcen auszustatten, um die Vielfalt der Aufgaben zu erfüllen«, resümiert Sebastian Graf von Einsiedel, Director am UNU Centre for Policy Research, Tokyo.14

Seit einigen Jahren läuft eine Kampagne für eine Parlamentarische Versammlung bei den UN.15 Ziel: National oder regional entsandte Parlamentarier sollen zumindest eine beratende Stimme bilden. Doch die Chancen dafür sind gering.

Davon abgesehen, dass ein großer Teil der Weltbevölkerung gar nicht in Ländern lebt, in denen es »echte« Volksvertreter zu entsenden gibt: Auch ein nur verbal agierendes Weltparlament trifft noch auf betonharten Widerstand vieler Regierungen.

Bei jeder annähernd legitimen globalen Bürgervertretung würden sich klare Mehrheiten bilden. In einer Nationenwertung würden China (ca. 19 % der Weltbevölkerung) und Indien (ca. 18 %) dominieren. Insgesamt stellen die aufstrebenden Länder derzeit rund 85 % der Weltbevölkerung. Viele von ihnen wachsen kopfmäßig schneller als der Westen und sind dabei häufig politisch instabiler und unfreiheitlicher. Aus Sicht z.B. der USA mit 4,4 % der Weltbevölkerung und 31,8 % des Weltprivatvermögens sieht damit jegliche repräsentative Struktur wenig erstrebenswert aus.16 Ein direkterer Weg, die UN zu einer wirksam treibenden Kraft der Global Goals auszubauen, umfasst zwei Schritte: 1. Bei der Analyse der UN ist sauber zu trennen zwischen dem Regierungsgesicht und dem von Einzelinteressen unabhängigen Antlitz des UN-Sekretariats mit seinem internationalen Dienst. 2. Es gilt, das Sekretariat in seiner Autonomie entsprechend der UN-Charta zu stärken und mit den erforderlichen Ressourcen auszustatten. Dies können wir als globale Zivilgesellschaft mithilfe eines UN-Weltkontos leisten. Wenn also im Zusammenhang mit dem Weltkonto von »Globaler Hausverwaltung« die Rede ist, ist das unabhängige UN-Sekretariat mit seinem internationalen Dienst gemeint.

Derzeit bildet sich ein planloses Vakuum, in dem sich repressive Regime ausbreiten. Sie ersetzen die ohne wirkliche globale Kooperation oft schwierigen sachlichen Aufgaben durch die scheinbar leichtere Aufgabe, eine Gesellschaft zu ordnen, die äußeren Feinden trotzt und innere Feinde eliminiert. Um diese Politik zu rechtfertigen, beruft man sich meist auf Angriffe auf die Gesellschaft. Besonders Attentate erhalten so immer wieder die Potenz, unübersehbare Folgeschäden zu legitimieren. Auch die Deutschen haben ihre Erfahrungen damit.

1914: Ein junger Mann erschießt den Thronfolger Österreichs – Vorwand für den Ersten Weltkrieg. 1933: Der deutsche Reichstag brennt, angeblich angezündet von einem jungen Mann. Vorwand für die Aufhebung der Grundrechte aller Deutschen. 1939: Fingierte Schüsse auf deutsche Zollstationen und vorgetäuschter Überfall auf einen deutschen Radiosender an der polnischen Grenze. Vorwand für den Überfall auf Polen. Interessante Notizen dazu hinterließ der amerikanische Gerichtspsychologe Gustave Gilbert in seinem »Nürnberger Tagebuch«.17 Er begutachtete die angeklagten NS-Funktionäre und führte intensive Gespräche, unter anderem mit Hermann Göring, dem Zweiten Mann im Staat und Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe. Auf Gilberts Frage, ob das Volk dankbar für Führer ist, die ihm Krieg und Zerstörung bescheren, antwortete Göring achselzuckend: »Nun, natürlich, das Volk will keinen Krieg. Warum sollte irgendein armer Landarbeiter im Krieg sein Leben aufs Spiel setzen wollen, wenn das Beste ist, was er dabei herausholen kann, dass er mit heilen Knochen zurückkommt. Natürlich, das einfache Volk will keinen Krieg; weder in Russland noch in England, noch in Amerika, und ebenso wenig in Deutschland. Das ist klar. Aber schließlich sind es die Führer eines Landes, die die Politik bestimmen, und es ist immer leicht, das Volk zum Mitmachen zu bringen, ob es sich nun um eine Demokratie, eine faschistische Diktatur, um ein Parlament oder eine kommunistische Diktatur handelt.«

»Nur mit einem Unterschied«, entgegnete Gilbert, »in einer Demokratie hat das Volk durch seine gewählten Volksvertreter ein Wort mitzureden, und in den Vereinigten Staaten kann nur der Kongress einen Krieg erklären.«

»Oh, das ist alles schön und gut, aber das Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.«

Ihr aktuelles Funktionieren beeindruckt: Seit zehn Jahren zieht sich die Zivilgesellschaft kontinuierlich zurück. Im Jahr 2015 beispielsweise gewannen 43 Länder an bürgerlichen Freiheiten, während 72 auf der Verliererseite standen.18 Meinungsfreiheit und Journalismus bekommen das besonders zu spüren. Inzwischen verfügen noch 13 % der Weltbevölkerung über eine freie Presse.19 »Die Pressefreiheit ist weltweit unter Druck, ganz klar«, sagt Christian Mihr, Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation »Reporter ohne Grenzen«.20 Der autoritäre Welt-Trend steuert auf die These zu: Wer die globale Aufgabe verschläft, erwacht in Unfreiheit.

UN-Generalsekretär Ban Ki-moon schildert 2014 die Aufgabe aus Sicht der UN:21 »Mit unserer globalisierten Wirtschaft und unserer ausgereiften Technik können wir beschließen, die uralten Übel von extremer Armut und Hunger zu beenden. Oder wir können unseren Planeten weiter herunterwirtschaften und unerträglichen Ungleichheiten erlauben, Bitterkeit und Verzweiflung zu säen. Unser Ziel ist, die nachhaltige Entwicklung für alle zu erreichen. […] Im großen Reichtum für einige erleben wir allgegenwärtige Armut, krasse Ungleichheiten, Arbeitslosigkeit, Krankheit und Entbehrung für Milliarden. Die Vertreibung ist auf dem höchsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg. Bewaffnete Konflikte, Kriminalität, Terrorismus, Verfolgung, Korruption, Straflosigkeit und die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit sind tägliche Realität. Die Auswirkungen der globalen Wirtschafts-, Nahrungsmittel- und Energiekrisen sind immer noch zu spüren. Die Folgen des Klimawandels haben gerade erst begonnen. Diese Mängel und Unzulänglichkeiten haben ebenso viel getan, um die moderne Zeit zu beschreiben, wie unsere Fortschritte in Wissenschaft, Technik und die Mobilisierung von globalen sozialen Bewegungen. […] Die heutige Welt ist eine Welt in Unruhe, in Aufruhr und Turbulenzen, ohne Mangel an schmerzhaften politischen Umwälzungen. Gesellschaften stehen unter ernsthaftem Druck, resultierend aus der Erosion unserer gemeinsamen Werte, aus dem Klimawandel und der wachsenden Ungleichheit, aus Migrationsdruck und grenzüberschreitenden Pandemien. […] Art und Umfang dieser gewaltigen Reihe von enormen Herausforderungen lassen sowohl Untätigkeit als auch Business-as-usual als Optionen nicht infrage kommen. Wenn die Weltgemeinschaft keine nationale und internationale Führungsrolle im Dienst unserer Völker ausübt, riskieren wir eine weitere Fragmentierung, Straflosigkeit und Unruhe, gefährden sowohl den Planeten als auch eine Zukunft in Frieden, die nachhaltige Entwicklung und Achtung der Menschenrechte. Einfach ausgedrückt, ist diese Generation in der Pflicht, unsere Gesellschaften zu verwandeln.«


Mehrere Jahre arbeitete der UN-Dienst an einer Voraussetzung für die Verwandlung. Unter seinem Dach verhandelten die Vertreter verschiedenster Länder gemeinsame, globale Ziele. Begleitet wurden diese Beratungen u.a. von großen Bürgerbefragungen wie »The World We Want 2015« und »MyWorld2015« sowie den Empfehlungen eines Ausschusses bedeutender Persönlichkeiten. Für die holländische Online-Zeitung »De Correspondent« schilderte die Journalistin Maite Vermeulen Szenen aus den Beratungen inklusive auf den Tisch krachender Fäuste und umkippender Stühle.22

Das Thema »Maßnahmen gegen den Klimawandel« lehnte ein starker Block von Nationen als Ziel ab. In der letzten öffentlichen Tagung wurden der zuständigen Versammlung drei Klima-Entwürfe vorgelegt, doch sie blieben ohne Mehrheit. Der Vorsitzende Csaba Kőrösi aus Ungarn ergriff das Wort. Er berichtete den Teilnehmern von seiner 16-jährigen Tochter Lili: »Als ich ihr erzählte, dass viele Länder kein Klima-Ziel haben wollen, meinte sie sehr direkt: Papa, du bist verrückt. Sage den Leuten, dass sie kein Recht haben, meine Zukunft zu riskieren. Wenn es kein Klima-Ziel gibt, kann man genauso gut keine Ziele machen.« Es wurde still im Saal. Und dann fing der Applaus an.

Am selben Abend gab es ein Klima-Ziel – auf dem Papier. Um Ziel für Ziel wurde zäh gerungen, das Gesamtergebnis bekam den Namen »Globale Ziele für Nachhaltige Entwicklung« – Global Goals for Sustainable Development. Am 25. September 2015 wurden sie einer Gipfelkonferenz der UN in New York vorgelegt. Mehr führende Politiker als je zuvor kamen aus aller Welt zu dieser UN-Vollversammlung: über 150 Staats- und Regierungschefs und viele Minister. »Wir verpflichten uns, auf dieser großen gemeinsamen Reise, die wir heute antreten, niemanden zurückzulassen«, lautete die zentrale Botschaft.23 Der rechtlich unverbindliche Zielkatalog wurde einstimmig angenommen. Er umfasst 17 global gültige Ziele mit 169 Unterzielen, von denen viele bis zum Jahr 2030 erreicht sein sollen.24 Hier die Kurzform:

1 Weltweite Beendigung der Armut in all ihren Formen

2 Beendigung von Hunger und Hungertod

3 Gesundheit und Förderung des Wohlbefindens aller Altersgruppen

4 Hochwertige Bildung und lebenslange Lernchancen für alle

5 Gleichberechtigung der Geschlechter durch Stärkung von Frauen und Mädchen

6 Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen für alle

7 Erschwingliche, zuverlässige, nachhaltige und moderne Energie für alle

8 Inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, menschenwürdige Beschäftigung für alle

9 Ausbau von Infrastruktur, nachhaltiger Industrialisierung und Innovation

10 Reduzieren der Ungleichheit in und zwischen Ländern

11 Schaffung inklusiver, sicherer und nachhaltiger Städte

12 Nachhaltige Konsum- und Produktionsweisen

13 Dringende Maßnahmen fürKlimastabilität

14 Erhaltung und nachhaltige Nutzung der Meeresressourcen

15 Nachhaltige Waldwirtschaft, Stopp von Wüstenbildung, Landdegradierung und des Verlusts an biologischer Vielfalt

16 Gerechte, friedliche und inklusive Gesellschaften, Justizzugang für alle, Aufbau effektiver, verantwortlicher Institutionen auf allen Ebenen

17 Wiederbelebung globaler Partnerschaft, um Ziele zu erreichen

Auf dem Podium des Weltgipfels sang Shakira in einem blütenweißen Kleid John Lennons »Imagine«: »You may say I’m a dreamer, but I’m not the only one. I hope someday you’ll join us and the world will be as one.« Sie ergänzte: »Jetzt ist es Zeit, sich nicht nur etwas auszumalen, sondern zu handeln!« UN-Generalsekretär Ban Ki-moon trat an das Rednerpult und sprach von diesem »entscheidenden Moment in der Menschheitsgeschichte«.25 Die Ziele seien »eine allumfassende, ganzheitliche und umgestaltende Vision für eine bessere Welt«. Er rief: »Wir brauchen ein Handeln von allen, überall.«

Tatsächlich sah sich die internationale Gemeinschaft vor und nach dem Gipfel nicht einmal in der Lage, genügend Fluchtlager für Syrien zu betreiben, weil die Staaten um die Finanzierung stritten. Die Hilfszahlungen für die Camps in Jordanien, der Türkei und dem Libanon wurden gekürzt, bereits zugesagte Mittel nicht überwiesen.26 Das Flüchtlingshilfswerk der UN (UNHCR) sah hierin einen der wesentliche Gründe für die Migrationswelle nach Europa.27 Sprecherin Melissa Fleming: »Das UNHCR und seine Partner in den Nachbarländern Syriens sind katastrophal unterfinanziert. Logischerweise ist es so: Wenn sich die Lebensumstände von Menschen immer weiter verschlechtern, wenn sie in absoluter Armut leben und keine Verbesserung absehbar ist, sie keine Perspektive haben – dann entscheiden sich viele, nach Europa aufzubrechen.«

Angesichts des fünften Kriegsjahres, zerbombten Heimen und einer 50-Cent-Tagesration pro Person erklärte im Oktober 2015 António Guterres als Hochkommissar für Flüchtlinge:28 »Die humanitäre Hilfe ist zwar noch nicht am Ende, wie einige behaupten. Tatsächlich arbeiten wir effektiver als viele andere. Aber wir, die Helfer, sind pleite. Wir sind nicht einmal mehr in der Lage, auch nur das absolute Minimum an Schutz und Hilfe zu leisten, um die menschliche Würde derer zu schützen, um die wir uns sorgen.« Zuständig für die weltweite Versorgung von Flüchtenden ist neben dem UNHCR vor allem das Welternährungsprogramm. Es verfügt über kein eigenes Budget, ohne Planungschancen agiert es je nach Geberstimmung der Staaten. So begründete bereits im Dezember 2014 seine Direktorin Ertharin Cousin das Aussetzen der Nahrungsmittelhilfe für Syrien-Flüchtende damit, dass viele Geberländer zugesagtes Geld nicht überwiesen hätten.29 Trotz vollmundiger Ankündigungen kamen nicht mehr, sondern eher weniger Mittel.

Das Welternährungsprogramm ist das größte humanitäre Gemeinschaftsprojekt der Erde. Und doch entspricht sein Budget kaum einem Zehntel des jährlichen Gewinns eines einzigen Konzerns wie Apple.30 Schräger können globale Verhältnisse kaum sein. Für die finanzstarke OECD-Staatenwelt wäre es ein Leichtes, das Welternährungsprogramm und seine Auffangcamps ausreichend zu unterstützen. Dennoch traten an die Stelle eines systematischen Auffangnetzes rund um Syrien zunehmend experimentelle Politikansätze – besonders in Europa. Sie schwankten zwischen einer Aufhebung von Grenzen und dem Bau von Grenzzäunen. Der politische Preis war hoch, Menschen und Gesellschaften wurden polarisiert: Auf der einen Seite scheinbare Moralisten, auf der anderen Seite scheinbare Realisten. »95 % dieser Leute sind Wirtschaftsflüchtlinge. Wir werden diese dumme Idee nicht unterstützen, jeden aufzunehmen, ganz egal, ob es sich dabei um Wirtschaftsflüchtlinge handelt oder nicht«, sagte der slowakische Premierminister Robert Fico.31 Bald darauf spielte das Einwanderungsthema eine zentrale Rolle in der britischen Volksabstimmung über den Austritt Großbritanniens aus der EU.


Die Grenzöffnungen halfen vielen Menschen, kamen jedoch insbesondere jenen zugute, die lange Wege bewältigen und Schlepper bezahlen konnten. Alte, Kranke, Frauen und Kinder blieben oft zurück, obwohl sie Schutz und Hilfe am ehesten benötigten. Im Ergebnis half man mit vielfachen Kosten einem Bruchteil der Betroffenen, parallel wurden autoritäre Regime gestärkt und deren Hilfe für das Stoppen der Wanderungsbewegungen erbeten. »Ärzte ohne Grenzen« lehnen inzwischen eine weitere Förderung durch die EU und ihre Mitgliedstaaten ab. Damit verlieren sie jährlich rund 50 Millionen Euro Fördermittel. Die »schändliche Politik der Abschreckung … widerspricht unseren Werten«, begründete ihr Generalsekretär Jérôme Oberreit die Entscheidung. »Wir können Gelder von der EU oder deren Mitgliedstaaten nicht annehmen, während wir gleichzeitig die Opfer ihrer Politik behandeln.«32

An sich offenbarten die Migrantenströme nichts anderes als die Notwendigkeit eines globalen Ansatzes. »Wir bräuchten einen Weltgipfel über Migration … Wir müssen aufhören, unseren Blick von einem Land zum nächsten zu wenden … Ich wünsche mir einen ganzheitlichen Plan, nennen wir ihn ›Stabilitätspakt für den Nahen Osten‹«, sagt Kilian Kleinschmidt.33 Er arbeitet seit Jahrzehnten für das UN-Flüchtlingshilfswerk und leitete zuletzt das größte Fluchtlager in Jordanien. Etwas juristischer formuliert es die frühere Richterin am Bundesverfassungsgericht Gertrud Lübbe-Wolf:34 »Ein wirksames transnationales Schutzsystem mit den notwendigen Verteilungs- und Schutzmechanismen steht noch aus.«

Der Syrien-Konflikt steht modellhaft für eine strategische Herausforderung: Ein starkes Bevölkerungswachstum – Syriens Einwohnerzahl verfünffachte sich seit 1960 –, eine klimabedingte mehrjährige Dürre und eine langjährig mangelhafte Politik bilden ein gefährliches Pulverfass.35 Diese Konstellation findet sich potenziell in immer mehr Regionen. Auch in diesem Jahrhundert wächst die Weltbevölkerung nach UN-Berechnungen immer weiter, insbesondere in brüchigen Staaten. Die heute in Afrika lebende eine Milliarde Menschen wird sich etwa vervierfachen.36 Parallel wird voraussichtlich ein großer Teil der fruchtbaren Böden durch Klimawandel und Misswirtschaft verloren gehen. Ein Drittel Afrikas läuft Gefahr, zur Wüste zu werden.37 Vielleicht werden wir uns, gesprochen mit den Worten des Direktors des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, Rainer Klingholz,38 »nach der heutigen Flüchtlingsdebatte zurücksehnen«. Falls es so weit kommt, verdanken wir es dem bisherigen Weltmanagement: Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung bilden keine Einheit.

Viele Regierungen strengen sich an, doch viele befürworten gemeinschaftliche Ziele nur verbal und lassen sie dann konkret unterfinanziert: »Goals yes, contribution no.« Dieses Verhalten »Ziele ja, Beitrag nein« prägt zahlreiche globale Trends, sowohl aufseiten der Industrie- wie aufseiten der Entwicklungsländer. Selbst wenn Regierungen öffentlichkeitswirksam etwas zusagen, bleibt oft unklar, ob und wann es eingehalten wird. Ein Beispiel ist die globale Entwicklungszusammenarbeit. Im Jahr 2013 investieren die Industriestaaten durchschnittlich 0,3 % des Bruttosozialproduktes in die Entwicklungszusammenarbeit.39 Die seit Jahrzehnten bestehende Selbstverpflichtung lautet jedoch auf 0,7 %. Deutschlands Verhalten mit 0,38 % kommentiert Germanwatch:40 »Bereits 1972 hatte die Bundesrepublik in der UN-Vollversammlung versprochen, alles Erdenkliche dafür zu tun, um das 0,7 %-Ziel bis 1975 zu erreichen. Die nie eingehaltene Zusage wurde in der Folgezeit häufig erneuert; schließlich wurde das Ziel in den Millennium-Entwicklungszielen (MDGs) im Jahr 2000 ›endgültig‹ auf 2015 festgelegt. Doch obwohl das Versprechen auf allen relevanten Gipfeltreffen und in allen EU- wie UN-Gremien ständig bestätigt und in sämtlichen Koalitionsabkommen erneut festgeschrieben wurde, ist es von Deutschland nie eingehalten worden.« 2014 (0,42 %), 2015 (0,52 %) und 2016 steigt die deutsche Quote: Die Kosten für Flüchtende im ersten Jahr ihres Aufenthalts gelten als Entwicklungszusammenarbeit, ebenso wie die Kosten für ihre Abschiebung. »Deutschland wird damit selbst zum größten Empfänger seiner eigenen Leistungen für die Entwicklungszusammenarbeit«, deutet die entwicklungspolitische Dachorganisation VENRO den Anstieg.41 Unter die Quote für Entwicklungszusammenarbeit fallen u.a. auch Verwaltungskosten des Geldgebers, also Gehälter und laufende Kosten des zuständigen deutschen Ministeriums, sowie rechnerische Studienplatzkosten der deutschen Hochschulen für Studenten aus Entwicklungsländern, auch wenn diese hierbleiben und den deutschen Wohlstand mehren.42

Kaum jemand bezweifelt also die Bedeutung der Nachhaltigen Entwicklungsziele der Menschheit für unsere Zukunft. Doch wer wird systematisch ihre Realisierung vorantreiben? In New York erklärten die Regierungen, was sie erreichen möchten. Zwei Monate zuvor, in Addis Abeba, legten sie bereits dar, wie sie es tun wollen.43 Diese Addis Abeba Action Agenda »wird weder den aktuellen globalen Herausforderungen gerecht, noch enthält sie die notwendige Führung, Ambition und praktische Aktivität«, resümiert die Koordinierungsgruppe der teilnehmenden Zivilgesellschaft.44 »Sie ist fast völlig befreit von zu erbringenden Leistungen … offenbart eine unüberbrückte Lücke zwischen der Rhetorik des Anspruchs und der Realität der Handlungen.« VENRO folgert:45 »Wie die Weltgemeinschaft mit dem Aktionsplan von Addis Abeba einen nachhaltigen Entwicklungsweg einschlagen will, ist schleierhaft. Konkrete und verbindliche Finanzierungszusagen für nachhaltige Entwicklung und zur Bekämpfung des Klimawandels sucht man im Abschlussdokument vergeblich.«

Die Konferenz in Addis Abeba scheiterte beinahe an der Forderung nach einer globalen Steuerkommission bei den UN. Sie sollte die Maßnahmen gegen Steuerflucht und illegale Gewinntransfers von Unternehmen besser koordinieren. Insbesondere dadurch verlieren Entwicklungsländer bislang für jeden investierten US-Dollar zwei US-Dollar durch Verschiebung ins Ausland. Die wohlhabenden OECD-Länder lehnten die Steuerkommission ab und schwächten damit die UN nachhaltig.46 Dafür gab es erneut das 0,7 %-Versprechen – unverbindlich. »So weit es um konkrete Aktivitäten geht«, bilanziert der britische »Guardian«,47 »gibt es keine Diskussion, ob das Glas halb voll oder halb leer war: es war trocken.«

Ein Jahr später, Mitte 2016, warnt der Internationale Währungsfonds, der selbst oft als Motor der Ungleichheit kritisiert wurde, dass die Ungleichheit den »politischen Rückhalt« für eine liberale internationale Ordnung bedroht. Kurz darauf werden die mächtigen Regierungen der Welt verbal erneut aktiv: Beim Treffen der führenden Wirtschaftsnationen, den G20, im westchinesischen Chengdu heißt es »Die Vorteile des Wirtschaftswachstums müssen breiter verteilt werden, um die Inklusion zu fördern.«48 Es wird diskutiert, wie reiche Menschen besser zur Umverteilung besteuert werden können. Dies könnte etwas mehr Steuereinnahmen für manchen Staatshaushalt bedeuten. Doch Geld in nationalen Händen bedeutet erfahrungsgemäß noch nicht viel für die globale Zusammenarbeit. Interessanter wäre die Diskussion der Grundfrage: Inwieweit eignen sich Staaten überhaupt als Manager des globalen Allgemeinwohls?

rüffer&rub visionär / Ein Konto für die ganze Welt

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