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Erste unfreiwillige Entlassung
ОглавлениеHolstein war sich auch im Frühjahr 1992 noch dessen bewusst: Irgendwann würden sie auch ihn benannt finden. Benannt auf unversehrt gebliebenen Karteiblättern, auf in letzter Eile grob zerrissenen karierten und linierten A4-Bögen, auf Magnetbändern, Disketten, Festplatten. Er wusste immer, es war ein Vabanquespiel, sich der trügerischen Sicherheit hinzugeben, die Beweismittel seiner einstigen, inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem Schild und Schwert der Partei seien vernichtet, versiebt, nicht mehr auffindbar. Aber die Hoffnung wurde genährt mit jeder Überprüfungsrunde, der er selbst nicht zum Opfer fiel, mit den zeitlich immer größeren Überprüfungsabständen und mengenmäßig immer geringeren Betroffenen. Der größte Schwung von Entlassungen stasi-belasteter Behördenmitarbeiter erfolgte bereits unmittelbar nach dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages, ein paar der somit entstandenen Lücken wurden mit politisch unbelasteten, noch in der Warteschleife Verharrender aufgefüllt, ein paar andere mit Leuten, die Holstein nicht kannte. Je mehr Zeit verging, desto mehr verdrängte Holstein die Möglichkeit seiner Entdeckung, ließ auch eine in durchaus verständnisvollen Worten formulierte Frist, die der neue Behördenleiter, ein Beamter des Altbundeslandes Baden-Württemberg, zur freiwilligen Meldung noch nicht entgauckter Mitarbeiter setzte, ohne mit nur einer Wimper zu zucken, verstreichen. Was auch hätte ihm diese freiwillige Meldung nutzen können? Die gesetzlich unumgängliche Entlassung aus einer die Gesetzestreue überwachenden Behörde zu vermeiden? Wohl kaum. Und dies zu einer Zeit, da Daniela gleichermaßen von Arbeitslosigkeit bedroht noch keinen festen beruflichen Boden wieder unter ihren Füßen hatte. Zwei Arbeitslose mit zwei Kindern in kostspieliger Ausbildung? Nein, seine Chance lag nur im Verharren, Verharren ohne jedweden weiteren Mucks. Außerdem hafteten da noch erhebliche Relikte elitären Klassenbewusstseins in ihm. Er, der sich in den stürmischen Novembertages des Jahres ’89 als Aktivist für die sozialistische Erneuerung seines Landes eingesetzt und sich als einziger der später en masse aufgeflogenen IM’s vor nahezu allen Mitarbeitern der ehemaligen Planungsabteilung im Rat des Bezirkes dazu bekannt hatte, für das Ministerium für Staatssicherheit gearbeitet zu haben, er, der in jenen Tagen mit seinem Engagement für einen demokratischen Sozialismus, in dem Sach- und Fachkompetenz statt Ideologien vorherrschten, im wahrsten Wortsinn Kopf und Kragen riskiert hatte, dies zu einer Zeit, da die politischen Würfel noch bei weitem nicht gefallen waren, sollte jetzt vor den neuen Herrn zu Kreuze kriechen, vor den nach seiner Sichtweise hochdotierten Handlangern des einstigen Klassenfeindes devot Reue heucheln und demütig um Vergebung bitten? Reue und Vergebung für eine Sache, die er zwar so wie sie real ablief, nicht aber inhaltlich ablehnte? Nie und nimmer! Niemals!
Die geschichtliche Entwicklung zur schnellen Einheit Deutschlands war so von Holstein nicht gewollt. Indes war er sich, wie schmerzlich diese Entwicklung auch über ihn kam, dessen bewusst, dass jede andere als diese Konfliktlösung zwischen den Systemen, zumal mehrheitlich vom Volkswillen getragen, mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit Blut und Tränen, Mord und Totschlag bedeutet hätte. Es wäre müßig, mit ihm darüber zu debattieren, wie es hätte anders ausgehen können. Holstein anerkennt den historischen Prozess als einen streng determinierten, von jeglichen Geschehnissen, die andere Zufälle nennen, befreiten. Geschichte kennt bei ihm nur „war“ und „ist“, niemals „wenn“ und „hätte“. Schon gleich müßig wäre es, mit ihm darüber zu streiten angesichts der Tatsache, da die DDR zum Zeitpunkt ihres Dahinscheidens gegenüber dem westlichen Ausland dollarseitig hoffnungslos zigmilliardenfach überschuldet war, der Abbau des Schuldenberges die Absenkung des ohnehin im Vergleich mit den Brüdern und Schwestern jenseits der Elbe nicht zum Besten bestellten Lebensstandards um wenigstens zwanzig, wenn nicht gar dreißig Prozent zur Folge gehabt hätte, was wohl von den Werktätigen zwischen Kap Arkona und Fichtelberg kaum mit verständiger Zurückhaltung und wohlwollender Akzeptanz belohnt worden wäre.
Auch nahm Holstein die statt dessen sich entfaltende generelle Entwicklung in Deutschlands Osten nach der Wende nicht wunder, nicht wirtschaftlich und nicht sozial. Politökonomisch hinreichend geschult wusste er um die generellen Spielregeln kapitalistischer Wirkprinzipien lange bevor er sie am eigenen Leibe erfuhr. Er lächelte über diejenigen, die da noch geraume Zeit daran glaubten, nun würden die maroden DDR-Betriebe endlich flott gemacht, und sich alsbald ihrer Hoffnung und ihres einstigen Arbeitsplatzes betrogen allesamt auf den Fluren der Arbeitsämter wiederfanden. Hatten sie geglaubt, das kapitalistische Wirtschaftssystem sei ein Wohlfahrtsverein? Hatten sie geglaubt, die linkselbischen Unternehmen würden bei zu Wendezeiten nur achtzigprozentiger eigener Kapazitätsauslastung eine rechtselbige Konkurrenz dulden?
Dass nach all den Hoffnungen, Sehnsüchten, aufgestauten Erwartungen und darauf begründeten Versprechungen der soziale Ausgleich für die nunmehr gleich dreifach freien Lohnarbeiter Mecklenburgs, Brandenburgs, Sachsens, Thüringens uns Sachsen-Anhalts erst einmal eine gebotene Höhe nicht unterschreiten durfte und entsprechende Mittel fließen würden, ja mussten, war ihm auch klar. Die Zeit würde es noch zeigen, was die Vorhersagen der jetzt die politische Bühne dominierenden Politiker bezüglich blühender Landschaften wirklich taugten.
So verharrte Holstein, derweil seine Ehefrau Daniela mit dem nunmehr in harte Währung getauschten Geld begann, Möbelstück für Möbelstück, Kücheneinrichtung für Kücheneinrichtung, die Wohnung neu zu strukturieren, die fünfzehnjährige Tochter Maria sich der plötzlich wohlfeilen und allenthalben auch erschwinglichen schicken Klamotten und wohlriechender Kosmetika erfreute, Sohn Sven seinen ersten Commodore-Computer auf den Tisch im Kinderzimmer stellte und sich auf den zehnmonatigen Wehrdienst in der Bundeswehr vorbereitete, gedanklich noch eher im Gewesenen und beruflich am bisherigen Arbeitsplatz in der ehemaligen Bezirks-Planungsbehörde. Die hatte sich mittlerweile zum Regierungspräsidium gemausert, abgespeckt allerdings um mehr als eintausend dort vormals Beschäftigte. Letztere dümpelten vorerst bis zur Entscheidung ihres weiteren Einsatzes in einer sogenannten Warteschleife. Inwieweit die Wartenden dabei erkannten, dass ihre Schleife die sanfte Umschreibung eines wesentlichen Bestandteils leninscher Revolutionstheorie war, des Teiles nämlich, der verlangte, dass der niedergerungene vormalige Staatsapparat letztendlich gänzlich zu zerschlagen sei, und zwar inhaltlich, formell und auch bezüglich seiner subjektiven Akteure, war nicht klar deutbar. Eine erhebliche Zahl der in der Schleife Wartenden war des Wartens sowieso beizeiten müde, entsagte jeglicher Hoffnung, je wieder im Osten Arbeit zu finden und wandte sich gen Westen. Viele darunter auch im Wissen darüber, dass man sowieso schon alsbald ihre geheime Zuträgerschaft zu den Dienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit ans Licht der Öffentlichkeit bringen würde.
Holstein blieb von den permanenten, schubweisen Entlassungen verschont. Wäre es nach dem Willen seines letzten Noch-DDR-Vorgesetzten gegangen, dem, den er zur Wendezeit gerade erst kennengelernt hatte und mit dem er so viele unsägliche und heftige Streitgespräche über die Wunderwelt des verblichenen Sozialismus hatte führen müssen, dann hätte es ihn als einen der ersten getroffen, dann wäre es mit ihm auf dieser Arbeitsstelle noch weit vor der Währungsunion im Sommer ‚90 aus gewesen. Wenn, hätte, wäre. Doch die Ergebnisse erster gauckscher Analysen und Aufarbeitungen trafen schon bald ein, der Vorgesetzte musste gehen und Holstein verblieb im Amt, vorerst. Obgleich mit argen Bauchschmerzen, denn die Paragraphen des Einigungsvertrages verlangten die Säuberung jedweder öffentlichen Einrichtungen von ehemaligen Mitarbeitern der Staatssicherheit, offiziellen wie inoffiziellen, egal wann, unter welchen Umständen und wie lange sie dem gebrandmarkten Dienst zur Verfügung standen. Und die Aussiebungen hatten gerade eben erst begonnen .
Holstein klammerte sich an die Aussagen eines Bekannten, den er noch aus den Wendemonaten kannte, und der nunmehr dem die Strukturen der ehemaligen Bezirksdienststelle des MfS auflösenden Bürger-Komitees angehörte. „Nein, keine Angst, ich habe nachgefragt. Deine Akten lagen doch sowieso bei der Aufklärung, die sind doch seit langem schon in Berlin und dort durch den Reißwolf.“ Das klang beruhigend, zumal sämtliche, wenn auch nicht mit allem eigentlich gebotenem Nachdruck veranlasste Bemühungen Holsteins, irgendwo anders eine seiner Qualifikation und seinem bisherigen Berufsweg entsprechende Arbeitsstelle zu finden, ohne jeglichen Widerhall im Sande verrieselten. Die wirtschaftlichen Wiesen und Weiden der Umbruchzeit schienen mit Betriebswirten und Verwaltungsfachleuten nur so gepflastert zu sein, seine bescheidenen EDV-Kenntnisse, die ihn bislang als Einäugigen inmitten die vielen Blinden stellten, nutzten da ebenso wenig. Die neue Zeit brachte die Technik und die dazugehörigen Programme gleich zuhauf in die über Nacht west-gestylten Bürostuben, da bedurfte es keiner Anpassungsprogrammierer mehr. Versicherungsvertreter und Finanzdienstleister, eigenständig und freiberuflich selbstredend, wurden gesucht, und das nicht zu knapp. Das aber konnte sich Holstein zum damaligen Zeitpunkt nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen vorstellen, als Klingelputzer im dunkel-lila Anzug treppauf-treppab den Leuten das Blaue vom Himmel zu versprechen und ihnen im gleichen Atemzuge Lebens-, Hausrat- und andere nützliche wie unnütze Absicherungen aufzuschwatzen! Nein, Holstein tat diesmal, was er sich eigentlich schon längst abgewöhnt hatte zu tun, er befolgte einen der so oft gehörten und ebenso oft in den Wind geschlagenen Kernratschläge seines Vaters. Der hatte freilich etwas martialische Hintergründe, schien aber, bei Lichte besehen, so untauglich wiederum auch nicht, wenngleich aus schwer vergleichbarer Situation abgeleitet: Wenn du im Schützengraben liegst und rundherum schlägt es ein, dass es nur so kracht und wummert, dann bleib in deinem Loch und rühre dich nicht von der Stelle!
Zwar hagelte es im Umkreis des Holsteinschen Arbeitsplatzes in den Monaten nach der durch Volkes Willen erwirkten DDR-Vereinnahmung nicht Bomben und Granaten, statt dessen Enttarnungen und Entlassungen, vielleicht half des Vaters verbales Vermächtnis dennoch. Es half nicht, wie wir sehen werden.
Holstein verpasste, wie man so sagt, mit dieser Art Passivität zu einer frühen Stunde, da sich die meisten seiner Landsleute, wenn zugegebenerweise auch nicht ganz freiwillig, neu orientierten, den abfahrenden Zug. Als man ein paar reichliche Monate später letztendlich auch ihn enttarnte und aus der Behörde warf, waren anderweitig die meisten der neu zu besetzenden und umzuverteilenden Stellen schon vergeben, lösten sich die ersten der gerade gegründeten Unternehmen auch bereits wieder auf.
So beschritt Holstein mit mentalem Abstand eine Ära, welche die industriellen Strukturen, die Landschaft der ehemaligen DDR und die Lebensgewohnheiten ihrer Bürger in einem nie gekannten, eigentlich vorher so nicht vorstellbarem Ausmaß umkrempelte, in dem quasi über Nacht Millionen von Menschen ihres Arbeitsplatzes verlustig wurden, in dem Industriebrachen ungeahnter Weiten entstanden, ganze Landstriche und Stadtteile sich entvölkerten, andererseits Verkehrs- und Kommunikationswege entstanden, die zu den modernsten der Welt zählten, neuer Wohnraum geschaffen wurde in Größenordnung der Bautätigkeit der drei letzten DDR-Jahrzehnte, Gewerbegebiete, Möbeldiscounter, Autohäuser und Baumärkte wie Pilze aus dem Boden schossen als gälte es, in Tagen und Wochen die Versäumnisse vorangegangener vierzig Jahren aufzuarbeiten.
Eine Ära, in welcher die Autobahnen in Richtung Bayern, Hessen und Niedersachsen am Sonntag nachmittags vollgepfropft waren mit anreisenden Berufspendlern aus dem wirtschaftlich entblößten Neubundesgebiet, in dem die Holsteins zum ersten Mal in ihrer Familiengeschichte endlich Autos fuhren, deren Reparatur, so denn überhaupt erforderlich, nicht von Holstein selbst bei Wind und Wetter auf der Straße vollzogen wurde, in dem die Holsteins begannen, Europa und die Welt zu bereisen. Eine Ära, in welcher selbst die Holsteins nach zehn Jahren ein kleines Häuschen und darinnen neben moderner Küche, komfortabler Möblierung auch drei Farbfernsehgeräte ihr eigen nannten, das Häuschen freilich hochgradig kreditbelastet.
Eine Ära, welche Waren, Dienstleistungen, ja alle möglichen und unmöglichen Dinge des Lebens in gar unüberschaubarer Flut aller Orten und zu allen Zeiten darbot und welche dennoch nicht im Entferntesten vermochte, eine der wichtigsten Fragen irdischen Daseins zu beantworten: Was wir morgen sein? Werden wir noch Arbeit haben? Werden die Kinder nach Ausbildung und Studium auch Arbeit haben? Werden sie überhaupt einen Ausbildungsplatz haben? Eine Ära, welche neben der noch vor wenigen Jahren ungeahnten Möglichkeit, im gegebenen kurzzeitigen Moment beachtlichen Wohlstand zu genießen, die stete Bedrohung dieses Wohlstandes, ja des gänzlichen sozialen Abstieges stellte.
Aber nicht allein das Damoklesschwert der Aufdeckung seiner einstigen geheimdienstlichen Verstrickungen schwebte über Holsteins Haupt, auch fachlich gesehen befand er sich mittlerweile in einer ziemlichen Zwickmühle. Es war eine reine Frage der Zeit, wann dies höheren Ortes bemerkt und entsprechende Konsequenzen daraus gezogen werden würden. Nahezu unmerklich, dafür kontinuierlich gingen ihm nämlich seine Arbeitsinhalte verloren. Gleich mit Beginn der Währungsunion trennten sich fast alle Fachorgane von ihren EDV-Spezialisten, „aussourcen“ nannte man wenig später solcherart Trennung. Das freilich war ein Fehler, denn die neuen Chefs, welche sich aus West und Ost in den Büroräumen der alten, in die Wüste geschickten breit machten, verlangten nach Daten. Holstein entging so dem Versand in die Warteschleife, war er doch plötzlich fast der letzte Wissens- und Erfahrungsträger, der sich noch auskannte in der Handhabung von Technik und Software des der Treuhandanstalt anheim gefallenen volkseigenen Kombinates Robotron und auch wusste, wo die gewünschten Daten gespeichert waren. Daten der territorialen Infrastruktur wurden jetzt massiv benötigt, mögliche Flächen für Gewerbegebiete nebst deren Anbindungen an Autobahnen und Fernstraßen, nicht die Planvorgaben und deren Abrechnungen aus den Zeiten der Mangelwirtschaft. Die hatte Holstein nebst anderen Mitarbeitern auch schon längst in den Schächten der Müllentsorgungsanlage verkippt und zwar immer gleich eimer- und schubkarrenweise. Holstein holte die nunmehr gewünschten Daten nicht nur herbei, er schuf auch gleich die Arbeitsmittel zu deren effizienter elektronischer Aufbereitung. So gehörte er mit einem Mal zum Kreis der wenigen fachlich Unabkömmlichen. Und das war gut so, denn merkwürdige personelle Veränderungen brachte die sich im Aufbau befindende Behörde mit sich. Schlecht einzuschätzen waren die Kompetenzen der durchgängig mit Männern aus Altbundesland besetzten obersten Chefetage. In den mittleren Ebenen hingegen tummelten sich auch Leute, die mit der Wende nach oben gespült wurden, die sich nun wider jedweder Erwartung als langjährige und erbitterte Widerstandskämpfer gegen das SED-Regime entpuppten, obgleich zu DDR-Zeiten noch mit Funktionen in diversen Massenorganisationen oder in mit der SED eng verbundenen Blockparteien betraut. Sie alle versuchten, die Umgebung ihres neuen, nachwendigen Arbeitsplatzes mit Personen ihres Vertrauens, mit Personen, deren Loyalität und Unterwürfigkeit sie sich sicher waren, zu bestücken. Wenig Beachtung fand in diesem Gerangel, ob die fachliche Befähigung des Kandidaten oder der Kandidatin den Anforderungen der zu besetzenden Stelle Genüge tat. Auf diese Weise konnte es schon geschehen, dass simple, aber in Schlachten am Buffet und im Bett langjährig erprobte Sekretärinnen schnell zu Stadt- und Territorialplanern, tumbe, aber schon immer willfährig dienende und dienernde Angestellte zu Bewilligern von Fördermitteln mutierten. Holstein sah’s mit Grausen. Sah mit Grausen die einstige Kollegialität und Kameradschaft, die bisher bei allen Querelen das tagtägliche Dienstgeschäft durchdrungen hatte, einer bissigen Konkurrenz beim Kampf um den Erhalt des eigenen Arbeitsplatzes weichen, sah mit Grausen, wie fachlich völlig minderbemittelte, jedoch angepasst ausnehmend gut gekleidete Personen überdurchschnittlich bezahlte, vor allem aber, und das wog nach den Erkenntnissen aus der sich im Osten millionenfach entfaltenden Arbeitslosigkeit weitaus schwerer, gesicherte Arbeitsplätze einnahmen, derweil, aus welchen Gründen auch immer, fachlich dafür eigentlich viel besser Geeignete ins berufliche und soziale Nichts abglitten.
Mit den sich allmählich heraus kristallisierenden und auch personell bald vollständig besetzten neuen Dienstbereichen flossen immer mehr Aufgaben, die Holstein statt derer bislang interimsmäßig wahrgenommen hatte, von ihm ab. Zuletzt verblieb ihm noch die edv-gestützte Übersicht beantragter und ausgereichter Fördermittel, hin und wieder wurde er auch als Springer für alle möglichen Angelegenheiten eingesetzt. Aber auch hier zeichnete sich schon das baldige Ende ab, denn mit der neuen EDV-Anlage, hochmodern und durchgängig alle Arbeitsplätze vernetzend, lagen auch die im Altbundesgebiet bewährten EDV-Programme auf. Holsteins letzte, fast zwei Jahre ihm die Stellung sichernde Bastion würde in Kürze fallen. Als Vorbote dieses bedenklich näher rückenden Ereignisses klopfte im Januar 1992 eine der neuen, Holstein völlig unbekannten Mitarbeiter aus dem Finanzbereich an dessen Tür. Sehr jung, sehr selbstbewusst, mit sehr kurzem Haar im eng anliegenden nadelgestreiften Hosenanzug, der Ansatz wohlgeformter Brüste im großzügig geschnittenen Dekolleté des Jacketts deutlich sichtbar . Sie beanspruchte mit knappen aber durchaus energischen Worten ab sofort alle Auswertungen der Holsteinschen Datenverarbeitungen, sie wäre der nunmehr den Prozess der Fördermittelvergabe controllende Supervisor. Sie hätte aber prinzipiell erst einmal nichts dagegen, dass er, Holstein, bis auf weiteres, bis zum Zeitpunkt der vollen Arbeitsfähigkeit der neuen EDV-Anlage konkret, das diesbezüglich vom ihm selbst erdachte und gebastelte, sie sagte auch wörtlich „gebastelte“, Programm auch höchstselbst noch mit Primärdaten aus dem Fördergeschehen beschickte, dafür hätte sie momentan sowieso keine Zeit. Und außerdem, so wie sie es nach kurzem Blick auf den Bildschirm einschätze, sei sein Progrämmchen, wenn man es denn überhaupt als ein solches bezeichnen könne, ohnehin nicht auf dem letzten Stand: WINDOWS wäre jetzt angesagt, EXCEL und ACCESS. Die Auswerteliste möge er ihr also immer gleich zu Beginn des neuen Monats vorlegen. Ach ja, noch etwas: Sollte er, Holstein, irgendwelche Sperenzchen machen, würde sie weder scheuen noch zögern, darüber Klage zu führen und zwar gleich ganz oben. Außerdem, sie schnupperte arrogant mit erhobenem Näschen, täte es dringend Not, in seinem Arbeitszimmer wieder einmal kräftig zu lüften. Es müffle nach abgestandenem Tabaksqualm und Altherrensocken. Bis bald also, man sieht sich.. Sprach‘s und verschwand, nicht ohne jedoch noch einen abwertend-geringschätzigen Blick auf Holsteins arg verschlissene Jeans zu werfen. Holstein stand wenige Minuten nach ihrem Erscheinen wieder allein im Raum. Baff. Die am Horizont zwischen den Fetzen dunkler Abendwolken rot hindurch blinzelnde untergehende Sonne warf ihm ihre kaum noch wärmenden Strahlen fast waagerecht in den von total entgleisten Gesichtszügen umrahmten halboffenen Mund. Was, verdammt noch mal, bildete sich diese Rotznase denn eigentlich ein, und was um Himmels Willen ging hier eigentlich vor?
Nachdem er seine erste Fassung einigermaßen wiedergewonnen hatte, stapfte er zwecks Klärung des ungeheuerlichen Vorfalls zu Wunderlichs Büro. Das lag mittlerweile eine Etage höher. Dort, wo sich schon immer, auch zu DDR-Zeiten, die Büros der Bereichs- und Abteilungsleiter befanden, denn der obzwar körperlich sehr behäbige, völlig gegensätzlich dazu jedoch geistig äußerst agile und anpassungsfähige Wunderlich hatte es schon geschafft, seine Füße auf die ersten, aber doch schon bedeutenden Stufen der neuen Karriereleiter zu setzen, war bereits zum stellvertretenden Abteilungsleiter avanciert. Bislang hatte er auch, so es um Holsteins Verbleib im Amte ging, stets schützend die Hand über den gehalten, waren beide doch nahezu die einzigen aus dem alten Personalbestand noch Verbliebenen. Das schaffte Nähe. Holstein nahm gleich drei Stufen auf einmal und hätte oben um ein Haar fast den Abteilungsleiter umgerannt.
„Ach, Holstein, gut, dass ich Sie hier treffe. Sie kommen mir wie gerufen.“
Holstein, jäh gebremst in seinem Lauf, den Kopf noch voll mit den düsteren Neuigkeiten aus dem Munde der dekolletierten Nadelgestreiften, stand starr. Musste er auch dem Knaller gerade jetzt über den Weg laufen?! Erfahrungsgemäß trug der zumeist irgendeine völlig abstruse Idee mit sich herum, manchmal auch eine, die nicht auf seinem Mist gewachsen war, oder, wie es Wunderlich so trefflich zu sagen pflegte, beim parallelen Pinkeln auf der Herrentoilette im Lions-Club geboren wurde. Darin wenigstens unterschieden sie sich nicht, die alten wie die neuen Herren: ohne jegliche Ahnung vom Tuten und Blasen erwarteten sie die Abarbeitung ihrer irgendwo aufgeschnappten Vorstellungen, positiv gelöst in ihrem Sinne selbstredend und wurden fuchtig, wenn die Recherchen nicht zu dem von ihnen gewünschten Ergebnissen führten. Allerdings gab es da doch einen nicht unbedeutenden Unterschied: Während die alten, die abgedienten Herren Genossen, in langjähriger Praxis der öffentlichen Verwaltungsarbeit gestählt, sich bei all ihrer Profilierungssucht mehr oder weniger bedeckt hielten, nur hin und wieder mit überraschenden Einfällen ihre Unterstellten traktierten, vermeinten die neuen, die in dieser Tätigkeit noch ungeübten Herren, die öffentliche Verwaltungsarbeit von einem Tag zum anderen revolutionieren zu müssen. Holstein, schon oft als Springer in solcherlei Angelegenheiten missbraucht, sollte sich auch diesmal nicht irren, der Abteilungsleiter zerrte ihn gleich mit sich in sein Büro. Als hier noch dessen Vorgänger und Mitglied des Sekretariats der SED-Bezirksleitung schaltete und waltete, herrschte darin stets peinliche Ordnung. Damit war es nun vorbei: auf dem riesigen Arbeitstisch, an dem dereinst zukunftsfrohe Beratungen zur Führung des sozialistischen Wettbewerbes im Bezirksmaßstab geführt wurden, und Holstein zu Wendezeiten trotzig dem Versuch seiner Disziplinierung widerstand, sah es aus wie in der Festung Tobruk nach deren Räumung: Ordner aller Größen und Farben stapelten sich zuhauf, wie Kraut und Rüben lagen alle möglichen Zettel, Blöcke und Unterlagen durcheinander. Der stete Versuch, hinreichend Übersicht zu organisieren, konnte ob der Vielfalt der auf dem Tisch zu verwaltenden Angelegenheiten nicht gelingen. Alle Bemühungen der erst neu eingestellten Sekretärin, einer schon etwas ältlichen, aber in jahrelanger ähnlicher Tätigkeit ausreichend trainierten Person, mit Hilfe altbewährter Ablagesysteme ein gewisses Maß an Überschaubarkeit zu schaffen, scheiterten stets daran, dass der in Verwaltungsangelegenheiten wenig erprobte Abteilungsleiter ihre permanent geschaffene Ordnung immer wieder durchbrach. Er vermochte die Vorgänge nur zu verwalten, wenn er sie nicht nur vor seinem geistigen sondern vor allem vor seinem physischen Auge liegen sah. Deshalb fanden seine sämtlichen Dienstberatungen, die allein schon aus diesem Grunde dem dicken, weiträumige Bequemlichkeit liebenden Wunderlich ein Gräuel waren, am kleinen Rauchertisch in der Ecke des weiträumigen Raumes statt. Dorthin führte der Abteilungsleiter jetzt auch Holstein und hieß ihn in einem der Sessel Platz nehmen.
„Ich habe da, eh, gestern im Lions-Club, eh“, ach du Scheiße, jetzt kommt’s wieder dicke, Holstein hockte verkrampft und mit seinen Gedanken sonst wo, vor allem bei der Dekolletierten, vornehmlich bei deren arroganter Bedrohung, ein bisschen auch bei derem Dekolleté, im Sessel, „ein interessantes Gespräch, eh, mit dem Chef der hiesigen Niederlassung der Deutschen Bank geführt. Sie wissen schon, mit dem Herrn Doktor von und zu, eh, haste nich geseh‘n. Versuchen Sie doch einmal, eh, die EDV-technischen Möglichkeiten der Datenübernahme von der Bank zu eruieren. Vor allem die der dort gespeicherten, eh, Förderprogramme natürlich. Die generelle Zusage des Bankchefs hab‘ ich schon mal in der Tasche, eh. Standleitung oder so ähnlich, lassen Sie sich, eh, etwas Vernünftiges einfallen. Noch Fragen, eh?“
Damit waren beide am neuralgischen Punkt eines jeden ihrer bisher geführten Fachgespräche angelangt. Diesmal überraschenderweise etwas zügiger, denn der Abteilungsleiter hatte auf den sonst üblichen Vorspann, mit dem er als ehemaliger Dozent der hiesigen Universität gern sein Licht zum Leuchten brachte, verzichtet.
Holstein rutschte etwas nach vorn und schob den Zeigefinger gegen sein Kinn und setzte eine bedenkliche Miene auf. Diese Geste kannte sein Gegenüber bereits zur Genüge, die Miene auch. Deshalb verfinsterten sich auch augenblicklich seine Gesichtszüge und ohne Holstein auch nur zu Wort kommen zu lassen, blaffte er, jetzt krebsroten Angesichts, gleich los:
„Na klar, eh, wie immer, wie immer! Destruktiv, Holstein, wie immer destruktiv! Holstein, sehen Sie zu, eh, dass Sie eine Lösung finden! Und zwar eine brauchbare! Ich, eh, höre von Ihnen!“
Holstein sah zu, dass er aus dem chaotisch zugerichteten Raum kam, womöglich fielen dem Knaller sonst noch eine oder gar mehrere seiner Rosinen ein. Nun hatte er zwei Probleme am Hals, seine funktionelle Enthebung, ausgesprochen de facto durch die Dekolletierte, und die standleitunggestützte Förderdatenübernahme von der Deutschen Bank. Letzteres würde er sich wie mittlerweile hinreichend bei solcherart Aufträgen praktiziert vom Halse zu schaffen wissen: erst mal ein Weilchen in der Schubkastenlade schmoren lassen, dann beim entsprechenden Verantwortlichen der Bank einen langfristig angelegten Termin vereinbaren. Die Wahrnehmung des Termins würde sich dann wie so oft gehabt schon beizeiten erübrigen, denn die zumeist völlig unausgegorenen Ideen seines umtriebigen, aber im seinem Amt offensichtlich überforderten neuen Abteilungsleiters erledigten sich vielfach im Voraus. Abschlägig in aller Regel.
Verblieb Problem Numero eins. Wunderlich, damit konfrontiert und zur Rede gestellt, war nicht ganz ahnungslos. Er saß, die Arme hinter dem Nacken verschränkt, zurückgelehnt im ledernen Drehstuhl, die Füße weit von sich gestreckt, stierte auf einen imaginären Punkt irgendwo an der Decke und rührte sich auch nicht, als Holstein ohne anzuklopfen in den Raum stürmte.
„Was ist denn hier los, Beamtenmikado?“, grunzte ihn Holstein an.
Wunderlich verzog keine Miene. „Versteh nicht, was du meinst.“
„Na, wer sich im Amt zuerst bewegt, der hat verloren.“
„Nee, mein Lieber, ich sinniere.“
„Worüber denn, wenn man fragen darf? Über die Schlechtigkeit aller Welt, deine nächste Gehaltsaufbesserung, das miese und viel zu teure Kantinenessen?“
„Viel schlimmer, mein Lieber. Über dich.“
„Was , wieso denn über mich? Das trifft sich gut, deswegen bin ich nämlich hier. Und der Knaller hat wohl schon bei dir angerufen wegen der Standleitung zur Deutschen Bank? Ist doch sonst nicht so schnell.“
„Knaller? Standleitung? Erstens hat sich die Frau Doktor Werner heute früh schon bei mir über dich beklagt, und zweitens müssen wir sehen, wie wir dich hier zukünftig unterbringen im Bereich, da gibt es nämlich ein kleines Problemchen. Aber mir wird da schon etwas Gescheites einfallen. Mit der EDV jedenfalls geht es so nicht mehr weiter. Sie haben dafür einen eigenen Bereich gebildet, der zentral für alle Abteilungen die anstehenden Aufgaben übernimmt, und die sind auch eher rein technischer Natur, für die Fachprobleme stehen die fertigen Programme schon Gewehr bei Fuß. Und das Fördermittel-Controlling obliegt auf Weisung des Regierungspräsidenten nunmehr den Händen einer jungen Hochschulabsolventin, Juristin von der Uni Freiburg, wenn ich mich nicht irre. “
„Die Lady hat sich mir soeben vorgestellt,“ knurrte Holstein bösartig, „arrogant, weiß alles, kann alles, Wessi eben. Was könnte ich dann hier im Bereich noch machen, deiner Meinung nach? Sind doch alle Planstellen schon längst besetzt. Abgesehen davon, dass ich mit keiner von diesen wirklich fröhlich wäre. Und was wollte denn die Werner? Du meinst doch bestimmt die Ursel aus der ehemaligen Parteileitung. Die mir jedes mal mit Leidensmiene, Wochen nachdem wir Erichs Reden auf allen möglichen Foren schon bis zum Erbrechen durchgekaut hatten, diese nochmal zwecks vertiefendem Studium als Broschüren des Dietz-Verlages andrehen wollte?“
„Lass sie das bloß nicht hören, Ursel und von wegen Parteileitung. Das genossenschaftlich-vertraute „Du“ von einst kannst du dir bei der jetzt auch abschminken, Frau Doktor Werner und „Sie“ ist angesagt, möglicherweise auch Kollegin Doktor Werner. Sie meinte, du hättest, ohne sie zu fragen, Daten ihres Verantwortungsbereiches weitergegeben. Die Vermarktung ihrer Arbeitsergebnisse wolle sie doch bitte schön zukünftig unter eigener Regie führen.“
„Na, die hat wohl nicht mehr alle unter ihrem Hut! Völlig abgehoben seit ihr Alter die Mercedes-Niederlassung leitet, und sie aus der Platte in das noble Häuschen gezogen sind. Soll mir noch mal kommen mit irgendwelchen Sonderwünschen, hat sich was!“ Holstein geriet zunehmend in Rage. „Also: Wie soll es mit mir nun weitergehen?“
„Ich hatte doch gesagt, mir fällt schon etwas Passendes ein, lass uns morgen darüber reden. Jetzt wird hier nämlich gleich ein Herr auftauchen, mit dem ich einen Termin zwecks Fördermittelbewillung habe.“
„Doch nicht etwa wieder dieser dubiose Schwabe, der schon alle Weiber hier verrückt machte und letztlich wie aus Versehen den Umschlag mit der satten Marie hat bei dir auf dem Schreibtisch liegen lassen?“
„Hör mir bloß mit dem auf,“ Wunderlich verzog schmerzhaft das Gesicht, „ich bin ihm ja gleich nachgelaufen und habe ihm sein Geld zurück gegeben. Da hat er zwar mächtig blöd geguckt, sich dann aber getrollt. Seitdem hab‘ ihn nicht mehr wieder gesehen. Nein, diesmal ist es ein Bayer. Will mächtig investieren in hiesige Brauereien und Gaststätten, manches auch gleich in einem. Aber seine Konzeption hinkt noch gewaltig. Kommt wohl selbst auch nicht aus dem Gewerbe. Wir müssen jetzt aufpassen, dass nicht jeder hergelaufene Hanswurst nach dem Motto „ich kann nichts, ich hab‘ nichts, aber im Osten bring‘ ich schon was auf die Beine“ Milliönchen um Milliönchen in den Sand setzt. Da sind mittlerweile nämlich schon genug der faulen Eier gelegt wurden. Der Bayer scheint mir da auch nicht ganz sauber zu sein. Hat mich schon mal, mit Gattin versteht sich, morgen Abend zum Arbeitsessen in sein Hotel eingeladen und irgendwas von gemeinsamen Urlaub auf den Kanaren gefaselt, Na, woll’n mal sehen.
Ach, noch was, Gert. Gewöhne dir doch endlich das dumme Gelaber von Ossis und Wessis ab, zumindest hier im Amt. Wir sind doch jetzt alle Landsleute gewissermaßen, und sie stecken ja auch genug in uns hinein, mehr als genug.“
Na, da hört sich wirklich alles auf! Von wem gingen denn Schmäh und Häme zuerst aus? Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es bekanntlich daraus wieder hervor. Und außerdem:
„Wäre wirtschaftlich nicht alles platt gemacht sondern modern saniert und bevölkerungsanteilig umverteilt worden unter der Treuhand, dann fänden auch genug Leute im Osten eine vernünftige und korrekt bezahlte Arbeit, dann brauchten die Wessis sich nicht zu beklagen über Solidarbeiträge und Finanzausgleich, dann könnte der Osten sich in Größenordnungen selber finanzieren. Aber solch weitreichende Kompetenzen hatte die Treuhand ja gar nicht , das war so ja gar nicht gewollt. Unsere gut qualifizierten und hochmotivierten Arbeitskräfte kamen ihnen gerade recht, ihre brachliegenden Kapazitäten hochzufahren und damit den Osten abzufüttern. Und ganz so freiwillig üben sie die Solidarität wohl auch nicht. Einer dieser noblen Spender hat mich letztlich gefragt, ob ich wüsste, was Solidarzuschlag wirklich bedeute. Als ich verneinte, meinte er cool: Wenn man einem dieser hässlichen Ossis eine auf die Schnauze haut. Bingo! Wir sehen uns also morgen wieder.“
So kam es, aber die fundierte Beantwortung der Frage nach Holsteins weiterem Verbleib in seinem Bereich blieb Wunderlich für alle Zeit erspart. Mit der Rückgabe der unlängst erneut bei der Gauck-Behörde eingereichten Mitarbeiterliste fand Holsteins beruflicher Werdegang im Regierungspräsidium ein jähes Ende. Als er am Morgen des nächsten Tages erneut bei Wunderlich betreffs seines weiteren dienstlichen Einsatzes vorsprechen wollte, winkte der nur müde ab.
„Kannste wahrscheinlich sowieso alles vergessen, wie es scheint. Sie sind diesmal wohl doch noch fündig geworden. Sollst dich um zehn beim Personalchef melden.“
Gut, dann war’s das eben. Alle bestehenden Probleme mit einem Schlag gelöst durch die Schaffung eines einzigen neuen. Vielleicht wird’s doch nicht so heftig. Hatte er doch noch genügend Bekannte und Freunde, die noch oder schon wieder in durchaus respektablen Positionen saßen und ihm schon mal im Vorab ihre Hilfe zugesagt hatten, sollte er einmal in Schwierigkeiten geraten.
Kurz vor zehn also zum Personalchef. Im Vorzimmer hockte schon einer mit bekümmerter Miene. Holstein kannte ihn nur flüchtig, ein ehemaliger, schon recht betagter Mitarbeiter aus dem Bildungswesen. Er wich Holsteins Blicken aus, schaute unentwegt auf den Boden. Aus der sich dann einen Spalt nur öffnenden Tür schlich gesenkten Hauptes eine Holstein gleichermaßen nur flüchtig bekannte Mitarbeiterin aus der ehemaligen Abteilung Handel und Versorgung heraus. Nur mühsam unterdrückte sie ein Schluchzen, Spuren von Tränen im Gesicht, völlig verwischt die am Morgen aufgelegte Schminke. Der Bekümmerte wurde nun hineingerufen, bei dem dauerte es nicht lange. Auch als er wieder herauskam, schaute er an Holstein vorbei. Nun war Holstein dran. Der Personalchef hieß ihn freundlich Platz nehmen, kam aber gleich zur Sache, offensichtlich drängte die Zeit, denn draußen im Vorzimmer harrten schon die nächsten.
„Nun, Herr Holstein, Sie wissen doch sicherlich, weswegen ich Sie habe rufen lassen?“
„Nein.“
„Gut. dann werde ich es Ihnen sagen. Die letzte Überprüfung unserer Mitarbeiter bei den dafür zuständigen Behörden hat ergeben, dass Sie als Inoffizieller Mitarbeiter des DDR-Sicherheitsdienstes gearbeitet haben. Ist das so richtig?“
„Dazu habe ich schon im November 89 Stellung bezogen. Vor vielen, in aller Öffentlichkeit. Ihre Sekretärin wird sich dessen erinnern und dies bezeugen.“
Die beisitzende und protokollierende Sekretärin errötete heftig, beugte sich emsig schreibend über ihre Papiere, sagte jedoch keinen Mucks.
„Das bedeutet nichts. Wie war denn Ihr damaliger Deckname?“
„Habe ich vergessen.“
„Wirklich? Lautete er nicht ...?“ Der Personalchef blätterte in den vor ihm liegenden Papieren und nannte ihn. „Erste Verpflichtungserklärung im Jahr 68, zweite 1984.“
„Schon möglich. Ich habe seit 86 nicht mehr mit diesem Organ zusammengearbeitet. Aus eigenen und freien Stücken übrigens.“
„Auch das ist unerheblich, Sie hätten sich dem Aufruf unseres Amtsleiters folgend freiwillig melden können.“
„Freiwillig zur Entlassung melden mit sechsundvierzig Jahren angesichts hunderttausender Arbeitsloser in der Region? Ich habe Familie, zwei Kinder, beide in Ausbildung.“
„Darüber hätten Sie früher nachdenken sollen!“
„Wann denn zum Beispiel? Als Sie, damals noch Kaderinstrukteur einer Blockpartei, in aller Öffentlichkeit die auf das Wohl des Volkes gerichtete Politik des Politbüros der SED bejubelten? Oder als Sie sich dafür einsetzten, dass zwei Mitglieder Ihrer Partei aus dieser ausgeschlossen wurden, weil die sich gegen die Blockpolitik der Nationalen Front aussprachen? Oder als Sie und Ihre Parteigenossen meinen im Oktober 89 auch an Ihr Parteibüro gerichteten offenen Brief unbeantwortet ließen?“
„Jetzt werden Sie bloß nicht noch frech! Also, letztmalig, was haben Sie als Stasi-Mitarbeiter konkret getan?“
„Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR war ein Geheimdienst wie jeder andere auf der Welt, wenn auch besonderen Umständen unterworfen. Geheimdienste zeichnen sich bekanntlich aus durch die Verschwiegenheit ihrer Mitarbeiter aus, dies gilt für die aktiven wie für die inaktiven. Ich fühle mich, unabhängig davon, wie ich den Dienst an sich und mein Zutun darin aus heutiger Sicht beurteile, nach wie vor daran gebunden.“
„Wie ich sehe, wollen Sie nicht kooperieren. Ich gebe Ihnen jetzt eine letzte Chance: Haben Sie eher technisch oder mehr informationell, ich meine damit mehr an Menschen gebunden, Ihre Funktion ausgeübt?“
Holstein stutze. Was wollte der Mensch wirklich von ihm? Nur aushorchen, gar ermitteln? Dazu war er nicht befugt. Eine Brücke bauen? Brücke wohin? An der Entlassung aus dem Amt würde kein Weg vorbeiführen, die Faktenlage war zu eindeutig. Das bewiesen die wenigen Eckpunkte, welche der Personalchef den Papieren entnahm. Einen neuen Arbeitsplatz hatte er für ihn sicherlich auch nicht parat. Was also sollte das Spiel? Sollte er ihm trauen, sich ihm anvertrauen? Andererseits, der ihn Befragende war eine Blockflöte reinsten Wassers, als nunmehriger CDU-Mann ein Wendehals, wie er im Buche steht. Mit dem Umbruch in die Behörde gespült, vorher bis zuletzt treu dem Staate ergeben. Während der Wendeunruhen still im Loch ausgeharrt und daraus hervorgekrochen, nachdem die Luft einigermaßen rein war und sogleich übergelaufen mit wehenden Fahnen. Nein, der aalglatte Kerl war ihm schon immer zutiefst suspekt gewesen, der würde ihm nicht helfen, der würde ihm nicht einmal helfen können, wahrscheinlich auch nicht wollen. Holstein bockte und gab sich keine Blöße.
„Ich kenne keine technischen Angelegenheiten, die nicht zuerst und auch zuletzt menschlich bedingt wären.“
„Genug! Ich teile Ihnen mit, dass Sie mit sofortiger Wirkung auf der Grundlage der Bestimmungen des Einigungsvertrages aus dem öffentlichen Dienst entlassen sind. Sie haben Ihre dienstlichen Obliegenheiten noch bis morgen zu übergeben, dann treten Sie Ihren Resturlaub an. Ihr Arbeitsvertrag endet zum Monatsende. Die im Vorjahr ausgezahlte Weihnachtszuwendung ist natürlich zurückzuerstatten. Das war’s, Sie können gehen. Und vergessen Sie nicht, sich umgehend mit Ihren Entlassungspapieren auf dem Arbeitsamt zu melden. Und schicken Sie den Nächsten rein.“
Im Vorzimmer drückten sich bereits drei der weiter Gerufenen mit Gesichtern herum, als hätten sie Nierenschmerzen. Holstein versuchte ein Feixen, es misslang, geriet zur Grimasse. Sich dessen bewusst werdend winkte er nur noch wortlos mit der Hand ab. Aus.
Wunderlich hatte das Debakel kommen sehen, er wusste um Holsteins Starrsinn. So packte Holstein seine sieben Sachen, steckte bei dieser Gelegenheit auch einen der Nadeldrucker zuunterst in seine Kiste. Den würde er brauchen für die nun anstehenden Bewerbungsschreiben. Da sowieso weitgehend von allen Funktionen befreit, bedurfte es keiner weiteren Übergaben, also Entlassungspapiere holen und von den wenigen verabschieden, die noch vom alten Kollegenkreis aus DDR-Tagen in den Dienstzimmern saßen. Die schauten ihn verlegen an, manche mitleidsvoll, ein paar auch hämisch. Vor wenigen Monaten noch galt Holstein in ihrer aller Augen als der Held der Wende in der Planungsabteilung. Hatte er sich doch beizeiten schon offen gegen das Parteidiktat gewandt, hatte demokratische Reformen eingefordert. Und, viel wichtiger noch als das: Hatte sich für die schnellstmögliche Installierung eines Angestelltenrates, den sie mit Einzug des BAT-Ost späterhin in Personalrat umbenennen würden, stark gemacht, um mit diesem zu verhindern, dass die aus allen möglichen Führungsebenen des sich in Auflösung und Abwicklung befindlichen DDR-Staatsapparates Quellenden vermittels der vielzitierten Seilschaftsbeziehungen in der Planungsbehörde neuen Unterschlupf fänden und dafür andere, zwar langjährige, aber den Seilschaften weniger wertvolle Mitarbeiter daraus verdrängen würden. Sic transit gloria mundi.
Zu Hause packte er abends den Krempel aus der Kiste, legte wortlos alles auf den Tisch im Wohnzimmer: Kugelschreiber, Schreibblöcke, einen Kalender, ein Lineal, Büroklammern, einen Tacker, einen Locher, zuletzt den Nadeldrucker. Ehefrau Daniela erfasste im Anblick der sich auf dem Tisch ausbreitenden Utensilien die Situation sehr schnell, Tochter Maria hingegen vermeinte wohl, der Vater habe irgendwo eine Ladung Werbegeschenke ergattert und kramte sich schon die besten Stücke aus dem Haufen. Als Sohn Sven hinzutrat, den Drucker bemerkte und fragte, was er mit diesem Oldtimer zu tun gedenke, antwortete Holstein lakonisch:
„Bewerbungen schreiben, bin entlassen. Seit heute.“
Nun ereignete sich, womit Holstein nicht gerechnet hatte: Tochter Maria stand plötzlich wie zur Salzsäule erstarrt, wurde käseweiß im Gesicht und wandte sich wortlos ab. Die von ihr bis dahin aus dem auf dem Tisch liegenden Haufen entnommenen Dinge ließ sie achtlos fallen und liegen. Sie sprach mit ihrem Vater danach zwei Wochen fast kein Wort, und Holstein verspürte das erste Mal in seinem Leben das, was man wohl gemeinhin Herzschmerz nennt. Was hatte er dem Mädchen getan? Warum reagierte es dermaßen verletzend, zumal es die Entlassungsursache nicht einmal kannte? Dani und Holstein mutmaßten damals und mutmaßen auch heute noch, dass sich Maria in diesem Moment mit einem Schlag dessen bewusst war, dass der sich allmählich abzeichnende Wohlstand in ihrer Familie, in der mittlerweile beide Eltern in finanziell durchaus gut gestellten Positionen berufstätig beschäftigt waren, so nicht mehr fortsetzen würde, was sich natürlich auch auf sie auswirken musste, solange sie beruflich noch nicht auf eigenen Füßen stand.
Maria fand erst wieder zu sich und damit auch zu ihrem Vater, da sie feststellte, dass sich eigentlich kein abrupter Verfall des bisherigen Niveaus abzeichnete. Holstein jedoch behielt eine Narbe davon zurück. Die meldete sich manchmal selbst dann noch, als für ihn Entlassungen schon längst zur Alltäglichkeit gehörten, auch wenn sie ihn mit zunehmendem Alter immer stärker belasteten, und Maria, nun deutlich gereifter, in solchen Situationen dann ihre Hand auf die seine legte und ihn tröstend sagte: „Lass mal Papi, hast doch genug geschuftet und dich geplagt und dich geärgert im Job über die vielen Jahre. Bist du eben bald, wie die vielen anderen auch, ein früher Rentner und machst dir auf diese Weise mit Mutti noch ein schönes Leben.“