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Prolog Washington, Weißes Haus, September 2011

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Die im dezent abgedunkelten Raum Versammelten – sechs Männer und eine Frau – schauten in nicht zu verbergender Anspannung auf den Präsidenten. Sie wussten bereits um die Brisanz des Meetings, denn nicht ohne Grund hatte der Präsident sie an diesem Tag zur späten Nachmittagsstunde in genau diesen Raum seines Amtssitzes gebeten. Ein Raum ohne Fenster mit abhördichten Decken und Wänden, die installierten elektronischen Systeme ohne jede Vernetzung zur Außenwelt. Ein kommunikativer Hochsicherheitstrakt. Zuletzt wurde der Raum, von den Mitarbeitern im Weißen Haus lax „die Kammer“ genannt, während der Planungen des zweiten Golfkrieges genutzt, jedoch auch da nur zu ganz besonders geheimen Themen. Allein der mit anwesende Berater des Präsidenten, zuständig für Probleme der internationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik, Carl Treater kannte den Raum aus dieser Zeit von innen. Damals führte noch Bush jun. das Land. Selbst der Präsident, seit 2009 im Amt, befand sich nun das erste Mal in der „Kammer“. Neben dem Präsidenten und dem bereits erwähnten langjährigen Wirtschafts- und Finanzberater saßen im Raum der Vizepräsident Edward Snow, die Ministerin für Energiewirtschaft Anne Douglas, der Verteidigungsminister Max Harford, der Chef des Stabes Will Sucken, der Direktor des CIA Dirk Clapton sowie der Außenminister und engste Vertraute des Präsidenten, Harry Westphal.

Auf der riesigen Videowand flimmerte in einer Endlosschleife ein kurzer Videoclip. Zu sehen war ein Roboterarm, dessen Greifer eine Flagge in den sandigen Boden pflanzte. Eine russische Flagge und ganz offensichtlich unter Wasser. Neben der Videowand warf ein Beamer ein Diagramm an die Wand, darauf zu sehen zwei Linien, welche mit zunehmender Zeitachse allmählich aufeinander zustrebten. Die grüne Linie, welche die derzeit bekannten weltweiten Ölvorräte anzeigte und eine rote, die den durchschnittlichen Jahresverbrauch des Öls markierte. Die grüne Linie verlief waagerecht relativ gleichmäßig im oberen Bereich der Grafik, die rote im unteren Bereich, allerdings leicht ansteigend. Zwischen beiden Linien bestand noch ein erheblicher Abstand, doch war selbst für Unkundige problemlos zu erkennen, dass es bei adäquatem Weiterverlauf beider Linien irgendwo rechts außerhalb des Diagramms zu einem Treffpunkt der Linien kommen musste. Der Punkt, an welchem die bekannten Ölvorräte der Welt unwiderruflich und ein für allemal aufgebraucht sein würden.

Der Präsident verharrte an seinem Platz und starrte ausdruckslos, das offensichtliche ungeduldige Räuspern und Scharren einiger seiner engeren Mitarbeiter geflissentlich überhörend, auf die Performance. Seit zwei Jahren war er nun im Amt, hatte sich nach den Mühen der politischen Mühlen als Senatsmitglied und Junior-Senator in Alabama einigermaßen eingerichtet; Ehefrau und Töchter genossen weidlich das Leben in den Räumen ihres neuen Domizils, Nun konnte er endlich daran gehen, die seinem Wahlvolk unter dem Schlachtruf „Ja, wir schaffen es. Gemeinsam!“ in Aussicht gestellten Ziele seiner Politik mit aller Kraft und gegen alle Widerstände umzusetzen. Daran glaubte er fest, jedenfalls bis vor einer Woche. Zu diesem Zeitpunkt befand er sich noch im Urlaub, war mitsamt Familie auf der Rückreise von der Ranch in der bergigen Wildnis. Als er am frühen Morgen des ersten Arbeitstages wieder das Oval Office bezog, ging er sogleich daran, sich die Übersicht über die Schwerpunkte der nächsten Tage und Wochen zu verschaffen. Stabschef Sucken hatte ihn bereits kurz instruiert. Auf dem schweren Eichentisch befanden sich fein säuberlich geordnet die in Folder gehefteten wichtigsten Dokumente, obenauf wie stets der knappe Report des Außenministers zur internationalen Lage. Gegen Mittag hatte sich der Präsident nahezu im wesentlichen mit fast allen Dokumenten vertraut gemacht. Arbeit en masse ja, aber nicht ungewöhnlich und schon gar nicht bedrohlich. Es verblieb der Bericht des Energieministeriums. Den hatte er sich bewusst für den Schluss aufgespart, denn sein bisherigen Erfahrungen besagten, dass in aller Regel die sehr sauberen und übersichtlichen Tabellen und Diagramme der dafür zuständigen, höchst attraktiven Ministerin für den die Ordnung und Knappheit liebenden Präsidenten rein formell zwar immer wieder wie die Verfasserin selbst eine Augenweide darstellten, inhaltlich aber angesichts anderer Probleme eher banal daherkamen. Der Bericht umfasste auch diesmal nur wenige Seiten, darin eingeschlossen eine tabellarische Übersicht und ein schlichtes Diagramm. Eben das Diagramm, welches nunmehr vor ihm an der Wand der „Kammer“ zu sehen war. Bereits nach der ersten Seite vergaß der Präsident sein Mittagessen, nach der letzten rief er den Chef des Stabes zu sich und reichte ihm den Folder.

„Schon gesehen, Will?“

Sucken blätterte kurz durch die Seiten und verneinte.

„Okay, dann machen wir jetzt folgendes: Kopien des Folders gehen umgehend an folgende Leute“, der Präsident benannte die jetzt vor ihm in der „Kammer“ Sitzenden und führte weiterhin aus: „Die Angelegenheit ist ab sofort als ‚top-high-secret‘ einzustufen, auszuhändigen ausschließlich an den eben benannten Personenkreis. Am nächsten Donnerstag 17 Uhr findet dazu in der „Kammer“ ein Meeting statt. Ich erwarte, dass sich jeder der Benannten mit dem Material, soweit es die Kürze der Zeit zulässt, vertraut macht und in der Lage ist, dazu einen Standpunkt gemäß seines Verantwortungsbereiches einzubringen. Letztgenanntes entfällt natürlich für Anne. Soweit klar?“

Sucken hatte schon beim Eintritt ins Oval Office anhand der Miene des Präsidenten erkannt, dass Ungeheuerliches in der Luft lag. Ein Eindruck, welcher sich nach seiner schnellen Einsichtnahme in den Folder immens verstärkte, und mithin jeglichen Verweis auf eventuelle dienstliche oder private Abwesenheit der Betroffenen, abgesehen von Krankheitsfällen, ins Land der absoluten Unmöglichkeit verwies.

Heute nun sah sich der Präsident seiner Weisung gemäß konfrontiert mit seinen engsten Mitarbeitern und diese sich mit der von ihm veranlassten Performance. Unablässig pflanzte vor ihnen auf der Videowand der Roboterarm des russischen U-Bootes die weiß-blau-rote Flagge der Russischen Föderation in den Meeresboden, daneben die bedenkliche Öl-Grafik, vor jedem von ihnen der inhaltsschwere Folder der Ministerin für Energie.

„Lady und Gentlemen“, eröffnete der Präsident die Beratung, „danke für Ihr Erscheinen. Machen wir’s wie immer kurz: Das Thema ist bekannt, die Geheimhaltungsstufe ebenfalls, kein Wort der Beratung verlässt vorerst den Raum. Ziel des Meetings ist es, erste Maßnahmen zu definieren, welche die Sicherung der energetischen Ressourcen zum Erhalt der Lebensniveaus in den Vereinigten Staaten in den nächsten wenigstens fünf Jahrzehnten zum Inhalt haben. Zum Einstieg und besseren Verständnis der Sachlage wird uns die Ministerin für Energie ein komprimiertes Statement geben, bitte Anne.“

Anne Douglas erhob sich, strich das elegante, knapp sitzende, ihre Körperformen optimal präsentierende Kostüm straff, trat vor die Versammelten und zeigte auf das Diagramm.

„Was Sie hier sehen, meine ...“

„Sir, wenn ich bitten darf“, fiel ihr Max Harford, der Verteidigungsminister, sich an den Präsidenten wendend ins Wort. Der so Angesprochene zog verwundert eine Braue hoch und schaute Harford fragend an: „Was soll das, Max? Wo tut’s denn weh?“

Er kannte Harford schon aus den Zeiten seiner Arbeit als Junior-Senator in Alabama. Harford hätte gut und gern der Vater des Präsidenten sein können, im Senat übte er dem jetzigen Präsidenten so etwas wie die Rolle eines wohlmeinenden Mentors aus. Daraus entstand späterhin eine echte Freundschaft, die Familien verkehrten miteinander nicht nur zu den jährlichen Festtagen und Feierlichkeiten. Der Präsident schätze Harford ungemein und verzieh ihm, dem altgedienten ehemaligen Generalmajor der Panzertruppen, deshalb auch diese und jene Schnoddrigkeit. So auch diesmal. Die Energieministerin hingegen ging mit Harfords ruppigen Benehmen eher nicht konform und verzog ungehalten die Mundwinkel, was der Präsident übersah.

„Ehm, yeh, Sir, könnte wir bitte erst einmal diesen Lappen da ausblenden“, grunzte Harford, wobei er mit seiner fleischigen linken Hand auf die fortwährende Verpflanzung der russischen Flagge in der Endlosschleife der Videowand verwies, „und wie sieht’s denn zweitens aus mit Feuer frei?“

Der Präsident betätigte wortlos die Fernbedienung, worauf die Videowand erlosch. Der Umstand, dass sie sich in einem fensterlosen Raum aufhielten, erleichterte ihm, den begeisterten Freizeitsportler und Gesund-Lebenden, die zweite Bitte des Verteidigungsministers abschlägig zu beantworten, was dieser freilich wieder mit einem Grunzen zur Kenntnis nahm. Anne Douglas hingegen vernahm es mit Genugtuung und setzte fort:

„Also noch mal, Gentlemen, was Sie da eben noch als Videoclip sahen, war das Absetzen einer russischen Flagge durch ein russisches U-Boot unter dem Eis punktgenau auf dem Nordpol. Der Clip dürfte aber für jeden von Ihnen eigentlich nichts Neues sein. Was Sie immer noch sehen, ist die Zusammenfassung meines Ihnen vorliegenden Skripts auf einem Blick. Lassen Sie es mich kurz so formulieren: Das Verhältnis des alljährlichen weltweiten Verbrauch an Erdöl zum derzeit geschätzten Weltvorrat, bekannte Ölschieferlagerstätten darin eingeschlossen, beläuft sich auf rund 2 Prozent. Daraus lässt sich leicht schlussfolgern, dass uns in spätestens 50 Jahren, so kein Wunder geschieht, das Licht ausgeht, und das im Wortsinn.“

Sie unterbrach kurz und blickte in die Runde, was das Gewicht ihrer Ausführungen unterstreichen sollte.

„Ergänzend und die aufgezeigte Problematik gleichzeitig verschärfend muss ich Sie darüber hinaus darauf hinweisen, dass sich zum einen der Ölverbrauch eher mehr denn weniger als prognostiziert entwickeln wird, denken wir dabei nur an den Energiehunger der BRICS-Staaten. Zum anderen müssen wir die durch die OPEC-Länder angezeigten Vorräte mit aller gebotenen Vorsicht bewerten. Ich verweise hierbei auf die in den 80ern des vergangenen Jahrhunderts nach den Turbulenzen in den 70ern getroffene Vereinbarung dieser Länder, die Förderquoten auch auf der Basis der noch vorhandenen Vorräte festzulegen. Sie verstehen sicherlich sofort, dass sich die OPEC-Staaten mit dem Pushen ihrer Vorräte Vorteile hinsichtlich der zugelassenen Fördermengen erzielen ließen. So erstaunt es auch nicht besonders, dass sich unmittelbar nach dieser Entscheidung der OPEC die Weltvorräte urplötzlich auf wundersame Weise vermehrten. Bei allen Erörterungen sollten wir uns deshalb davon leiten lassen, die im Diagramm dargestellte grüne Linie der geschätzten Vorräte deutlich tiefer und die rote des jährlichen Verbrauchs etwas höher anzusetzen. Was uns mit mathematischer Konsequenz zu einem wesentlich früheren Schnittpunkt beider Linien führt. Das aber heißt schlichtweg, wir sollten, statt von 50 besser von 30 bis 40 Jahren bis zum Burndown ausgehen. Wobei, und das sollte uns ein erhebliches Maß an Denkarbeit wert sein, ich hinzufügen muss, dass die immensen Vorräte, welche vermutlich unter dem Eis der Arktis liegen, derzeit nur zu einem Bruchteil bekannt und folglich nicht Bestandteil der Grafik sind. Die Russen dürften freilich über die Lage und Größe der Vorkommen ziemlich genaue Vorstellungen haben. Ich denke, wir sollten ihnen im höchsteigenen Interesses aber das Feld nicht kampflos überlassen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.“

Anne Douglas schritt , sich ihrer Ausstrahlung bewusst, zu ihrem Platz zurück, begehrlich verfolgt von sechs Augenpaaren. Der Präsident bemühte sich, den Blick auf dem Diagramm zu halten.

Der Präsident war nie ein Mann der großen Bühne und als solcher sein eigener Darsteller. Sein Führungsstil bestand eher darin, erst einmal die Meinung anderer einzuholen, danach die eingeholten Meinungen zu sortieren und letztendlich abzuwägen. So wusste er sich zumindest moralisch im Falle einer Fehlentscheidung auf der sicheren Seite: Seine Entscheidung ruhte stets auch auf den Schultern anderer, theoretisch wenigstens. Ganz in diesem Sinne verfuhr er auch heute.

„Soweit, so schlecht“, ließ er hören, lehnte sich zurück und blickte zu Dirk Clapton, den Chef der CIA. Der nahm das Heft in die Hand, erhob sich und sprach:

„Unsere Analysen haben ergeben, dass wir es in zunehmendem Maße mit Aktivitäten der Russen in der Arktis zu tun haben. Vorerst alles Aktivitäten freilich, die völkerrechtlich auch gedeckt sind, also immer in Übereinstimmung mit geschlossenen Verträgen und Vereinbarungen. Es zeichnet sich aber nicht nur eine wesentlich verstärkte wirtschaftliche Tätigkeit der Russen im arktischen Bereich selbst beziehungsweise mit Bezug auf diesen ab, dazu gehört zum Beispiel der Bau mehrerer schiffsgestützter Atommeiler zur Energiebereitstellung unter arktischen Bedingungen, sondern auch eine deutlich verstärkte militärische Präsenz, als da die Stationierung extreme Kälte vertragender schwerer Technik wären und so weiter. Aber wie ich schon sagte: Das alles im völkerrechtlichen Rahmen. Beschwerden bezüglich eines mutmaßlichen Bedrohungsszenariums zum Beispiel, die wir in der Verbindungsgruppe der Russen zur NATO hinterlegen könnten, sind nutzlos, da sowohl wir als auch die Kanadier in der arktischen Region mit gleicher oder ähnlicher Technik aufwarten. Zu denken gibt die Entwicklung allerdings schon. Und die uns anfänglich so nachdrücklich vor Augen geführte Einpflanzung des Lappens, wie es Max vorhin gerade so trefflich auszudrücken pflegte, ist technologisch zwar wahrlich kein Meisterstück mehr, seit schon zu Zeiten des kalten Krieges U-Boote beider Seiten wechselseitig den Pol unterquerten und sich dabei sogar begegneten. Aber wir sollten es schon als das betrachten, was es auch zeigen soll: Ein Ausrufezeichen im Sinne von „Hier bin ich, und ich erhebe Anspruch!“ Clapton nickte seine Worte damit unterstreichend und setzte sich.

Der Präsident begab sich zu Vizepräsident Edward Snow und wechselte mit ihm leise ein paar Worte, worauf sich Snow erhob und mit seinem nicht zu leugnenden irischen Akzent sprach: „Houston, wir haben da ein Problem. Seit Auflösung des Ostblocks mitsamt Comecon und Warschauer Pakt gilt zumindest theoretisch die Philosophie der weiteren schrittweisen Näherung zwischen den einstigen Gegnern. Das betrifft im Kern freilich nur die ehemalige Sowjetunion, da sich die anderen einstigen Satellitenstaaten ganz von selbst und mehr freiwillig als uns manchmal lieb sein konnte in NATO und EU drängten, aus welchen Motiven heraus auch immer. So bleibt das von uns fälschlicherweise tot geglaubte Russland und erscheint nun allmählich wieder wie Phönix aus der Asche. Nur eben nicht mehr als Konkurrent in Sachen Ideologie sondern, und das scheint mir unter den eben gehörten Umständen in hohem Grade maßgeblicher, in Sachen Ressourcen. Und erhebt zudem, auch wie eben vernommen, Ansprüche. Ansprüche, die wir nicht ohne weiteres vom Tisch fegen können, nicht mit Argumenten, mit Waffen schon gar nicht. An den gegebenen Umständen können wir auch nichts ändern, alle aktuellen Verträge der Russen vornehmlich mit der EU, aber auch mit anderen Ländern und Regionen haben langfristigen Charakter, daran lässt sich nichts rütteln, wollen wir wenigstens einigermaßen glaubhaft bleiben. Dies zumal in den Augen unserer europäischen Verbündeten, unabhängig wie miserabel wir deren Position und Haltung auch gegenwärtig einschätzen. Wo ich aber Möglichkeiten sehe und auch dringlichst Aktivitäten anrate, sind Maßnahmen, welche den Russen ihren offenbar beabsichtigten Zugriff auf die arktischen Ressourcen erschweren oder im günstigsten Falle ganz zunichte machen. Ich sehe da vordergründig Maßnahmen finanzpolitischer Natur, aber auch Sanktionen und Liefersperren für alle Güter und Dienstleistungen, welche sowohl der Ausbeutung der Ressourcen im arktischen Raum als auch dem militärischen Schutz solcher Wirtschaftstätigkeit nützlich sein könnten, Das allerdings wird nicht von heute auf morgen gehen, wir brauchen dazu einen längeren Atem. Auch muss damit gerechnet werden, dass die Russen nicht klein beigeben und ihre uns bereits so augenscheinlich demonstrierten Ansprüche auf die Arktis ohne weiteres abtreten werden. Spannungen nicht unerheblicher Art sind folglich vorprogrammiert. Der ganze Plot im Interesse der Erhaltung der Lebensweise der Vereinigten Staaten, und nur darum geht es hier, muss klug vorbereitet und so die Umstände es erlauben, sehr weise umgesetzt werden. Dies dann auch natürlich nur in weitgehend vollständiger Übereinstimmung mit all den Ländern, welche wir im weitesten Sinne zu den westlichen zählen.“

Nachdem sich der Vize wieder gesetzt hatte, bedankte sich der Präsident bei ihm für seine Beitrag und fasste das Meeting mit einigen abschließenden Worten zusammen:

„Wir alle haben in den vergangen Stunden unsere heutigen Beratung den Ernst und die Problematik gesehen und verstanden. Solange es keine anderen verlässlichen und nachhaltigen Energiesysteme gibt, sind wir auf die Ressource Öl mit Gedeih und Verderb ausgeliefert. Die sichere Bereitstellung dieser Ressource im Interesse unserer Bürger ist eine der Hauptaufgaben einer jeden unserer Regierungen. Die Menschen im Land werden das heute so noch nicht sehen. Wer aber von uns wird ihnen, wenn morgen die Stromnetze zusammenbrechen und die Tankstellen geschlossen haben, vor die Augen treten mögen und eingestehen, dass wir, die von ihnen Gewählten und mithin die Verantwortung Tragenden, heute die strategische Versorgung mit energetischen Ressourcen achtlos vernachlässigt haben? Ich frage Sie noch einmal: Wer?“ Der Präsident hielt inne.

In der „Kammer“ herrschte atemlose Stille, nicht das leiseste Knistern war zu hören. Nach ein paar weiteren Augenblicken fuhr der Präsident fort: „ Okay, in media res also. Ich beauftrage Sie hiermit, alle erdenklichen Maßnahmen in Ihrem Verantwortungsbereich zu ersinnen, welche darauf abgezielt sind, die Russen an der Nutzbarmachung der arktischen zu hindern bzw. diese gänzlich zu vereiteln, um statt dessen eigene Aktivitäten direkt oder indirekt zur Abschöpfung dieser Bodenschätze im Interesse des amerikanischen Volkes anzugehen. Das Mindestziel sollte eine Destabilisierung der politischen Verhältnisse und damit Schwächung der ohnehin nicht extrem starken geopolitischen Position von Russland sein. Und ich denke, eine Schlüsselposition unserer diesbezüglichen Bemühungen dürfte es sein, einen zweckdienlichen Keil zwischen Russland und die westeuropäischen Länder zu treiben, wobei mir da vornehmlich sogleich Deutschland einfällt. Bitte bedenken Sie aber unter allen Umständen dabei stets, dass es, solange sich die Weltlage sich nicht gravierend ändert, keinerlei Abstriche an unserer Politik gegenüber den Russen seit dem Zerfall der Sowjetunion geben kann und darf. Die von Ihnen zu erarbeitenden Maßnahmen können und dürfen also erst dann wirksam werden, wenn dafür der politisch optimale Zeitpunkt vorliegt. Erst dann, wenn hinreichend Aussicht darauf besteht, die Russen infolge eines völkerrechtlichen Übertritts, sagen wir mal faux pas, überzeugend weitgehend politisch und wirtschaftlich von der Weltgemeinschaft zu isolieren Und das kann dauern. Ungeachtet der Ungewissheit dieses optimalen Zeitpunktes wäre es jedoch in hohem Maße sträflich, die Dinge auf die lange Bank zu schieben, denn so Gott will, tritt der geopolitisch günstige Zeitpunkt schon morgen ein. Somit weise ich an, dass Sie mir Ihre Vorschläge bis spätestens zum Ende des nächsten Monates übergeben, Zustellung ausschließlich per Sonderkurier versteht sich. Nach der Durcharbeitung Ihrer Gedanken werde ich Ihnen Ort und Zeit unseres nächsten Meetings in dieser Angelegenheit mitteilen. Ich darf Sie abschließend nochmals mit allem gebotenen Nachdruck an die absichtslose Einhaltung der Geheimhaltungsstufe erinnern. Für Ihre Tätigkeit zum Wohl des amerikanischen Volkes wünsche ich Ihnen und uns allen den allerbesten Erfolg. Ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme am Meeting, Ihnen und Ihren Familien einen guten Abend und eine geruhsame Nacht:“

Das geplante zweite Meeting fand Ende November 2011 statt, einen Tag nach Thanksgiving, der Sicherheitsstufe wegen wiederum in der „Kammer“. Hinsichtlich der finanziellen Absicherung der zu planenden Maßnahmen wurde der Kreis der Teilnehmer um den Finanzminister Arthur Mc Hommler erweitert. Entscheidend für die Entscheidungsfindung des Gremiums waren die Beiträge des Wirtschafts- und Finanzberaters des Präsidenten sowie des Außenministers, Harry Westphal.

Carl Treater sah die Achillesferse der Russen nach wie vor in ihrer im Großem und Ganzen auf Rohstoffexport ausgerichteten Volkswirtschaft, wobei dem Erdölexport eine besonders explizite Bedeutung zukam. Er verwies darauf, dass bereits in der Mitte der 80er des letzten Jahrhunderts nach Absprachen zwischen den USA und den Saudis die Saudis ihre Fördermenge derart erhöhten, dass die Ölschwemme auf dem Weltmarkt den Erdölpreis für etliche Monate in den Keller rauschen ließ, was der damaligen Sowjetunion die Devisenverluste um mehr als ein Drittel bescherte. Finanzielle Einbußen dieser Art in dieser Größe konnte die Sowjetunion auf dem Weltmarkt mit ihrer durchgängig ineffizienten Wirtschaft nicht durch andere Produkte oder Dienstleistungen ersetzen. Die Bereiche, welche noch einigermaßen effizient und qualitätsgerecht arbeiteten, gehörten zur Militär-, Luft- und Raumfahrttechnik und damit in die Schattenzone strikter Geheimhaltung, zu Sowjetzeiten also keinesfalls sofort und schon gar nicht ohne weiteres als Devisenbringer einsetzbar. Die Folge des Dilemmas waren unter anderem auch erheblich Abstriche am Rüstungsbudget sowie bei der Unterhaltung der Ostblockländer, was nicht zuletzt ganz erheblich zum teilweisen Abfall dieser und zum Zusammenbruch des Ostblocks letztendlich insgesamt beitrug. So die Recherchen Treaters noch zutrafen und inzwischen nicht gänzlich auf Sand gebaut waren, konnte man weiterhin auf die Waffe „Erdöl“ im Kampf mit den Russen um die Verteilung globaler Ressourcen mit durchaus hinreichender Zuversicht bauen.

Harry Westphal, hilfreich unterstützt dabei vom Direktor der CIA, nahm vor allem Bezug auf die Ereignisse in Georgien im Jahr 2008. Georgien, welches nach dem Einmarsch der Roten Armee 1921 Bestandteil der Sowjetunion wurde, erklärte sich im April 1991 für unabhängig. Das führte in den nördlichen und damit an der russischen Grenze liegenden Provinzen mit deren stark russlandbezogener Bevölkerung Abchasien und Südossetien zu Sezessionskriegen. Bis 2008 schwelte in dem zerrissenen, wirtschaftlich schwachen und durch und durch von Korruption beherrschten Land der Konflikt, gefördert noch durch den „Individual Partnership Action Plan“, ein Abkommen, welches das Land als Beistandsvertrag mit der NATO zum Schutz gegen den übermächtigen Nachbarn im Norden abschloss und welcher von den russlandtreuen Bevölkerungsteilen strikt abgelehnt wurde. Im August 2008 eskalierte der Südossetien-Konflikt erneut, und es kam zum offenen Krieg mit Russland, in dessen Folge Russland nach dem militärischen Einmarsch die Unabhängigkeit Abchasiens und Südossetiens anerkannte. Das ganze führte zu erheblichen Spannungen, wobei Russland auf internationalem Parkett den schwarzen Peter zugeschoben bekam. Die Befindlichkeiten der Russen, die sich zunehmend von NATO und EU eingekreist sahen, spielten in diesem Rahmen keine Rolle. Der Westen hielt sich damals, abgesehen von medialem Zorn und einer Reihe belehrender diplomatischer Noten, in seinen Aktivitäten relativ bedeckt . Es zeigte sich aber, dass die internationale Gemeinschaft aus diversen Motiven heraus ziemlich schnell geneigt war, gegen Russland Stellung zu beziehen, Dies, so der Außenminister, könne man sich, wenn einmal die Dinge ähnlich liegen sollten, zunutze machen. Sollte Russland wieder einmal im Interesse der Erhaltung und Sicherung seines cordon sanitaire die formellen Regeln des Völkerrechts brechen, wäre daraus im Sinne der heutigen Beratung Kapital zu schlagen.

Zum Abschluss des Meetings ordnete der Präsident an, Regulate vorzubereiten, mit denen man unverzüglich nachhaltige finanzielle und wirtschaftliche Sanktionen gegenüber Russland einleiten könnte, wenn Russland sich aus gegebenem Anlass die Blöße gäbe, in irgendeiner Form die Gepflogenheiten des Völkerrechts zu umgehen oder gar eigenmächtig außer Kraft zu setzen. Zum Abschluss der Beratung, die Teilnehmer verließen schon den Raum, rief er den Direktor der CIA zu sich:

“ Auf ein Wort noch bitte, Dirk.“

Der Direktor trat auf ihn zu: „Sir?“

„Drink?“

Clapton nickte, und der Präsident goss den Whiskey in zwei Gläser . Sie prosteten sich kurz zu, dann ging der Präsident zum Thema über:

„Wir wissen beide aus Erfahrung, dass manche Dinge einen Stups benötigen, weil sie nicht wie gewollt in Schwung kommen wollen oder zu früh den Schwung verlieren. Ich würde es zu würdigen wissen, wenn es uns gelingen sollte, bei nächstbester Gelegenheit unserer Angelegenheit einen solchen Stups zu verleihen und dann darauf zu achten, dass die einmal in Gang gesetzte Mühle auch in Bewegung bleibt, möglicherweise sich noch etwas schneller dreht.“

Der Direktor nahm noch einen Schluck aus seinem Glas und kaute den Whiskey geradezu hinunter. Er war ein Genießer. Sein leises Kopfnicken verdeutlichte dem Präsidenten, dass er ihn verstand. So fuhr der fort:

„Wir wissen auch, dass solche Anstöße nicht immer einer tatsächlich gegebenen Faktenlage entsprechen, was nicht heißen soll, dass wir bewusst lügen wollen. Manchmal sind uns bestimmte und nicht unwesentliche Objekte eben zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung nicht bekannt, das ist keinesfalls außergewöhnlich.“

Claptons Kopfnicken bestätigte die Ausführungen des Präsidenten, welcher den Monolog weiter spann:

„Und wir wissen auch, dass infolge, sagen wir einmal, Fehlinterpretation der Ausgangslage auch Maßnahmen festgelegt werden können, welche sich im Nachgang, moderat ausgedrückt, als eher ungünstig herausstellen und jede Menge Ärger nicht nur mit dem Ausland sondern auch im Inneren produzieren. Auch wenn in aller Regel diese Fehleinschätzungen erst Jahre nach der Folgeaktion offenbart werden und sich dann kaum noch, etwas brutal ausgedrückt, ein Schwein daran erinnert. Von einigen ewig misstrauischen, ewig besser wissenden und ewig meckernden Gutmenschen einmal abgesehen. Tonking und Grenada stehen dafür als Beleg.“

Schluck, Kopfnicken, Clapton war mit den soeben genannten Belegen bestens vertraut: Ein Gerangel zwischen US-amerikanischen Marineeinheiten und ein angeblicher Torpedoangriff durch zwei nordvietnamesische Schnellboote im Golf von Tonking lösten im August 1964 das direkte Eingreifen der USA in den seit 1956 andauernden Vietnamkrieg aus und legalisierte nach der Beschlussfassung im US-Kongress alle Kriegsmaßnahmen der USA in Vietnam von 1965 bis 1973. Der rund zehn Jahre währende Konflikt richtete im Land eine ungeheure Verwüstung an und kostete zwei Millionen Vietnamesen und 55 Tausend US-Soldaten das Leben. Clapton wusste natürlich auch, dass es dabei nicht um den läppischen Zwischenfall in der Tonking-Bucht sondern um die Zurückdrängung des kommunistischen Einflusses im Weltmaßstab ging. Der Vorfall selbst wurde offiziell nie aufgeklärt. Am 25. Oktober 1983 starteten die USA mit der Organisation Ostkaribischer Staaten die Operation Urgent Fury, in deren Folge US-Truppen auf der kleinen Karibikinsel anlandeten und die linksorientierte Regierung unter Maurice Bishop gestürzt wurde. Die Operation wurde damit begründet, die Sicherheit US-amerikanischer Staatsbürger auf Grenada zu garantieren und den mit sowjetischer Hilfe vorangetrieben Bau eines Flughafens zu unterbinden. Der Flughafen sollte nach offiziellen Angaben der Regierung Bishop der touristischen Erschließung des Landes dienen, laut US-Propaganda stellte er eine strategische Bedrohung vor der eigenen Haustür dar. Auch dieser Konflikt, dessen war sich Clapton sehr wohl bewusst, fügte sich nahtlos in die US-Operationen während des kalten Krieges ein. Und auch hier musste ein zusammen geschneiderter Anlass herhalten, um die wahren Ursachen zu verhehlen.

„Ich lasse Ihnen, Dirk, völlig freie Hand, aber bitte“, der Präsident hob die Stimme und schaute dem Chef der CIA starr in die Augen, „ich möchte mir und Ihnen und unserem ganzen Land eine nochmalige Peinlichkeit wie Bushs Giftgasgeschichte vor Saddam Husseins Sturz ersparen. Wir wollen den Russen auf gar keinen Fall das arktische Feld überlassen, aber die Sache ist ausgesprochen delikat und verlangt folglich in höchstem Grade Takt und Fingerspitzengefühl. Habe ich mich da deutlich genug ausgedrückt?“

Kopfnicken, letzter Schluck. Clapton stellte das nunmehr leere Glas auf die Anrichte zurück: „Sir, Sie können sich auf mich verlassen!“

„Danke, Dirk. Und grüßen Sie bitte Ihre Frau ganz herzlich.“ Der Direktor war entlassen.

Es sollten fast auf den Tag genau zwei Jahre vergehen, bis die zugespitzten politischen Verhältnisse in der ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine endlich die Möglichkeit boten, den dortigen Ereignissen den nötigen Stups im Interesses der Sicherung us-amerikanischer Interessen zu verleihen.

Das Gebiet der heutigen Ukraine, sprachlich abgeleitet von „Grenzland“, ist uraltes menschliches Siedlungsgebiet. Schon während des Paläolithikums lebten hier Menschen. Fruchtbarer Ackerboden, der dem Gebiet in späteren Jahrhunderten die Bezeichnung „Kornkammer Europas“ einbrachte, weckte Begehrlichkeiten und schürte Aggressionen. Griechen, Hunnen, Bulgaren und Goten hinterließen in der Antike ihre Spuren. Nachdem im frühen Mittelalter Magyaren aus dem Wolgagebiet die Ukraine durchzogen, bildeten Im 9. Jahrhundert ostslawische Stämme unter dem Einfluss skandinavischer Waräger an den Handelswegen von Skandinavien und Nowgorod nach Süden in Richtung Konstantinopel ein lose verfasstes Großreich mit der Hauptstadt Kiew., welches als die „Kiewer Rus“ in die Geschichte einging. Dessen Herrscher Wladimir der Große entschied sich im Jahre 988 für die Annahme des Christentums nach östlichem Ritus. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts fielen die Mongolen, von den hier lebenden Menschen „Tataren“ genannt, in das Land ein und fraßen es kahl, Die Belagerung und Zerstörung von Kiew nach dem zweiten Mongolenfeldzug im Jahr 1240 gilt als das Ende der Kiewer Rus.

In wechselvoller Geschichte und eng verknüpft mit der Geschichte Polens, Litauens und Russlands wurde das Land in den folgenden Jahrhunderten mehrfach unter verschiedene Herrschaftsbereiche aufgeteilt. Nach dem Scheitern eines eigenständigen ukrainischen Kosakenstaates wurde die Ukraine in der Mitte des 17. Jahrhunderts zwischen Polen und Russland geteilt. Im russischen Ostteil der Ukraine begann der Aufstieg der russischen Sprache, während im polnischen Teil die schon lange anhaltende Polonisierung weitergeführt wurde. Nach der dritten Teilung Polens wurde dann auch die westliche Ukraine mit Ausnahme Ost-Galiziens 1795 Russland zugeschlagen. 1796 wurden dann die südlichen und östlichen Gebiete der heutigen Ukraine, die Russland unter Katharina der Großen von den Osmanen erobert hatte, zu einem russischen Gouvernement zusammengefasst, welches für ein paar Jahrzehnte auch unter dem Namen „Neurussland“ fungierte, wo hingegen die Kern-Ukraine als „Kleinrussland“ bezeichnet wurde. Es erfolgte die Gründung der Städte Sewastopol und Simferopol auf der Halbinsel Krim sowie der Hafenstadt Odessa. Insbesondere Sewastopol erlangte als Festung und Marinebasis eine herausragende strategische Bedeutung zur Beherrschung des Schwarzen Meeres. Die bisher fast unbewohnten Steppengebiete im Südosten wurden durch die kluge Politik des durch die Zarin als Verwalter einsetzten Grafen Potemkin urbar gemacht und größtenteils mit Russen, aber auch mit Deutschen bevölkert.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen sich in Kiew Kräfte zu formieren, die eine Unabhängigkeit von Russland einforderten. Während des Ersten Weltkriegs unterstützte das Deutsche Reich diese Separationsbemühungen der Ukrainer zur Schwächung Russlands. Mit der Februarrevolution 1917 in Russland und dem Sturz der Zarenregierung sah man in der Ukraine die Chance für eine eigene, von Russland unabhängige Staats- und Gesellschaftsentwicklung gekommen, welche aber letztlich durch den Einmarsch deutscher Truppen nach dem Abschluss der Friedensvertrages mit Russland in Brest-Litowsk im März 1918 zunichte gemacht wurde. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges 1918 und dem Abzug der deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen herrschte in den Jahren 1919 bis 1920 Bürgerkrieg, den am Ende die Bolschewiki für sich entschieden. Schon 1919 wurde die Ukraine ohne Ost-Galizien zu einer Sowjetrepublik. Ebenso erging es der Volksrepublik Krim, welche sich Ende 1917 zu einer unabhängigen Republik der Krimtataren ausgerufen hatte. Nach dem Krieg zwischen Polen unter Führung von Piłsudski und Sowjetrussland wurde Ost-Galizien polnisch. In der Zentral- und Ostukraine hingegen setzte sich die sowjetische Herrschaft durch. 1922 wurde die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik offiziell Teil der 1922 gegründeten Sowjetunion, nachdem die Rote Armee unter Leo Trotzki die Machno-Bewegung in einem blutigen Kampf besiegt hatte.Im Rahmen der sowjetischen Industrialisierung unter Stalin wurden im Osten der Ukraine in den heutigen Millionenstädten Dnepropetrowsk, Donezk und Charkow innerhalb nur eines Jahrzehnts mit gigantischen Anstrengungen große wirtschaftliche Zentren entwickelt, welche vorwiegend auf die Erzeugung von Stahl und Kohle, aber auch chemischer und maschinenbautechnischer Erzeugnisse ausgerichtet waren und als „das Ruhrgebiet der Ukraine“ in die Geschichte eingingen.

Infolge rigoroser Maßnahmen der Sowjetführung bei der Durchsetzung der Kollektivierung und der „von oben“ verordneten Getreideabgaben kam es im Land Anfang der 30er Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts zu Landflucht und massiven Sabotagehandlungen, worauf die Staatsorgane mit rücksichtsloser Härte reagierten. Hunderttausende von Menschen der Landbevölkerung versuchten, in den Städten ihr Heil zu finden, aus denen sie jedoch wieder vertrieben wurden. Hinzu kamen witterungsbedingte Ernteausfälle in Größenordnungen. Hunger und Elend regierten, bis es der sowjetischen Führung 1934 endlich gelang, wieder einigermaßen geordnete Verhältnisse herzustellen. Im Ergebnis der katastrophalen Zustände ließen nach Schätzungen etwa drei bis vier Millionen Menschen ihr Leben.

Während der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg stand das Land als „Reichskommissariat Ukraine“ zum größeren Teil unter deutscher Zivilverwaltung. Die Ukraine war neben den baltischen Staaten und Weißrussland einer der Hauptschauplätze des Zweiten Weltkrieges. Die Kämpfe von deutschen Wehrmacht- und Waffen-SS-Verbänden mit der Roten Armee und Partisanen verursachten in der Ukraine fünf bis sieben Millionen Tote, die Städte und die Wirtschaft wurden fast völlig zerstört. Da nach Kriegsende die Ukrainischen Nationalisten einen Krieg gegen die Sowjetarmee anzettelten, wurden auf Stalins Befehl rund 300.000 Ukrainer nach Sibirien umgesiedelt.

Nach dem Sieg der Anti-Hitler-Koalition und basierend auf den in Kriegs- und Nachkriegskonferenzen gefassten Beschlüssen der Alliierten wurden von der Sowjetunion bzw. der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik dauerhaft jene westlich und südwestlich ihrer ursprünglichen Grenzen gelegenen Gebiete einbehalten, die zunächst nach Vereinbarungen des Hitler-Stalin-Pakts und dann im Verlauf des Krieges von der Roten Armee militärisch eingenommen worden waren. Die Grenzen der Ukraine wurden damit weit nach Westen und Südwesten vorgeschoben. Das lief parallel zu den sowjetischen Bestrebungen, durch eine hegemoniale Rolle in Ost- und Mitteleuropa eine sowjetfreundliche Orientierung dieser Regionen zu garantieren, um so den sowjetischen Sicherheitsinteressen im Sinne eines cordon sanitaire in hohem Maße gerecht zu werden.

Nachdem Nikita Chruschtschow sowjetischer Parteichef geworden war, wurde die Krim 1954 an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik angegliedert. Anlass war das 300-jährige Jubiläum des Vertrags von Perejaslaw von 1654, in dessen Rahmen sich der von Polen bedrängte ukrainische Kosakenstaat dem Schutz des russischen Zaren unterstellt hatte.

Im Jahre 1986 kam es zu einer atomaren Katastrophe, als eine Explosion nördlich von Kiew im Kernkraftwerk von Tschernobyl große Mengen radioaktiver Stoffe freisetzte, die anschließend durch den Wind über weite Teile Europas verteilt wurden.

In Folge des Augustputsches 1991 in Moskau beschloss der Oberste Sowjet in Kiew 1991 den Austritt aus der Sowjetunion und die Schaffung eines unabhängigen Staates, jedoch beschloss die ukrainische Staatsführung bereits wenig später gemeinsam mit Russland und Weißrussland die Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Seit ihrer Unabhängigkeit kämpfte die Ukraine vor allem in den 1990er Jahren mit starken wirtschaftlichen Problemen und versuchte, außenpolitisch einerseits eine neutrale Rolle sowohl dem Westen als auch Russland gegenüber zu spielen. So wurde zum Beispiel der bisherige Stützpunkt der sowjetischen Schwarzmeerflotte Sewastopol auf der Krim bis zum Jahr 2049 an die Russische Föderation verpachtet. Andererseits bemühte sich die Ukraine um stärkere wirtschaftliche Unabhängigkeit von Russland, wobei sie vornehmlich von den russischen Öl- und Gaslieferungen abhängig war.

Am 14. Januar 1994 unterzeichneten die Präsidenten Russlands, der Ukraine und der Vereinigten Staaten von Amerika das Abkommen über die Vernichtung der auf ukrainischem Staatsgebiet stationierten Atomwaffen, womit der nicht-nukleare Status der Ukraine endgültig bestätigt wurde. Im Gegenzug erhielt die Ukraine Sicherheitsgarantieren von Russland und den USA. Dazu gehörte die Anerkennung ihrer Unabhängigkeit, Souveränität und territorialen Integrität.

Die im Herbst 2004 stattfindenden Präsidentschaftswahlen mündeten in die so genannte Orange Revolution, einem mehrwöchigen friedlichen Protest gegen Wahlfälschungen. Die Wiederholungswahl konnte der Präsidentschaftskandidat Juschtschenko dann für sich entscheiden, welcher politisch eher für eine westliche Ausrichtung der Ukraine eintrat. Gemeinsam mit Georgien trieb Juschtschenko den Beitritt der Ukraine zur NATO voran. Ein NATO-Gipfel lehnte den Antrag jedoch trotz amerikanischer Unterstützung ab. Wirtschaftspolitisch strebte Juschtschenko eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine an, kam aber über einen Beitritt zur sogenannten Östlichen Partnerschaft nicht hinaus. Nach den Präsidentschaftswahlen Anfang 2010 übernahm Viktor Janukowitsch die Amtsgeschäfte als neuer Präsident der Ukraine. Nach seinem Amtsantritt erklärte Janukowitsch, die Ukraine wolle ein blockfreies Land sein und verstehe sich als „eine Brücke zwischen Russland und der EU“. Einer NATO-Mitgliedschaft erteilte er eine klare Absage. Nach monatelangem Tauziehen um das Assoziierungsabkommen mit der EU suspendierte die Ukraine am 21. November 2013 die Unterzeichnung des Abkommens, um die nationalen Sicherheitsinteressen zu wahren, die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland zu beleben und den inneren Markt auf Beziehungen gleicher Augenhöhe mit der EU vorzubereiten. Janukowitsch erklärte hierzu, die Ukraine ändere ihren EU-Kurs nicht, das Land strebe aber danach, dass seine nationalen Interessen berücksichtigt werden. Zurzeit sei die Ukraine zum Abschluss des Assoziierungsabkommens jedoch aus wirtschaftlichen Gründen noch nicht bereit. Dabei hatte der Präsident vor allem die aus vor allem historischen Gründen noch starken wirtschaftlichen Bande, verbunden mit diversen Vergünstigungen, zu Russland vor Augen. Janukowitsch erklärte aber darüber hinaus auch, niemand werde in der Lage sein, die Ukraine vom europäischen Weg abzubringen, nur sei die Zeit für eine konsequente Annäherung an den Westen noch nicht reif genug. Das „Einfrieren“ des Abkommens war Anlass und Auslöser der Demonstrationen und Proteste in der Ukraine, die sich seit Ende November 2013 gegen die Politik der Staatsführung richteten und den Rücktritt von Janukowitsch forderten. Im Zentrum der Demonstrationen stand dabei der „Platz der Unabhängigkeit“ in der Hauptstadt Kiew, kurz genannt auch „Maidan“, wo am 1. Dezember über 100.000 Menschen mit lautem Nachdruck ihren Unmut über die hinhaltende Politik des Präsidenten in dem ohnehin von Korruption und Intrigenwirtschaft gebeutelten Land bekundeten und die umgehende Unterzeichnung des Abkommens mit der Europäischen Union einforderten.

Maidan

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