Читать книгу Geschichten aus einem anderen Land - Joachim Gerlach - Страница 4

Die Wende

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An der Tür, welche von außen aus Sicherheitsvorschriften nicht zu öffnen möglich war, klopfte es heftig. Wird wohl Wunderlich sein, der drängelte nämlich schon sein Tagen, ob das von ihm beantragte Computerprogramm endlich einsatzbereit wäre. Ein Riesenzeitaufwand wäre die gegenwärtig manuell betriebene, permanente Auswertung hunderter Investitionsvorhaben, mit der edv-gestützten Lösung erhoffte man sich geradezu unendliche Freiräume für andere Aufgaben. Zum Beispiel säße ihm schon wieder ein Mitarbeiter von der SED-Bezirksleitung mit einer Vorlage für deren Sekretariat im Nacken: Ergebnisse bei der Senkung des Kraftstoffverbrauches, Diesel und Benzin, im Bezirk, gute und schlechte Erfahrungen galt es dabei herauszufiltern.

Wunderlich, gut zehn Jahre jünger als Holstein, von korpulenter Statur mit deutlichem Bauchansatz, galt als Nachfolgekanditat der Parteikontrollkommission, die sich als sogenannte Parteipolizei um Einheit, Reinheit und Geschlossenheit des Kampfbundes mühte. Im Vorfeld dieser Funktionsaufnahme hatte er sich schon einmal einen Rüffel eingefangen, als er, zu einer ersten Aussprache und Beratung ins Haus der Bezirksleitung gerufen, vor dem Aufzug stehend salopp von sich gab: „Was hier am besten klappt, sind wohl auch nur die Türen der Fahrstühle.“ Der Rüffel konnte ausgebügelt werden, da Wunderlichs Schwager sich einschaltete. Der verfügte als stellvertretender Kreistierarzt über ausgesprochen gute Kontakte zur territorialen Parteispitze. Allerdings verschob sich Wunderlichs Berufung in die Parteipolizei durch den vorlauten Ausrutscher um ein paar Jahre. Als sie ihn im Frühjahr 1990 dann urplötzlich doch wollten, da ihnen alle anderen schon weggelaufen waren, versagte er sich ihnen.

Nun stand er, wie es Holstein schon geahnt hatte, wirklich vor dem Computerarbeitsraum und steckte erst einmal vorsichtig schnuppernd seinen großen Kopf zwischen den Türrahmen. Und Holstein war’s zufrieden, dass es nicht dessen Chef war. Der nämlich, Leiter der Abteilung „Mittelfristige Planung“, ein eigentlich recht mickriger Mittfünfziger, leicht gehbehindert infolge einer Granatsplitterverletzung, die er sich in den letzten Kriegswochen in den eisigen Schmelzwässern inmitten des letzten Aufgebotes von Heldenklaumarschall Schörner an der Oderfront zugezogen hatte, maß den neuartigen elektronischen Rationalisierungsgeräten im Gegensatz zu den meisten seiner Leitungskollegen durchaus praktische Bedeutung zu. Nur hatte er die schlimme Angewohnheit, sich sehr schnell in den Vordergrund zu schieben, auch dann, wenn er tiefer greifend vom Sachprinzip nichts verstand. Die ihm unterstellten Mitarbeiter hatten unter seinem Regime nichts zu lachen: Noch vor Dienstaufnahme nach krankheits- oder urlaubsbedingten Ausfällen verlangte er von ihnen die Hinterlegung aller wesentlichen, während seiner Abwesenheit eingetretenen Probleme. Allesamt sauber aufbereitet auf seinem Schreibtisch abgelegt, in chronologischer Reihenfolge. Am Tage seines Dienstantrittes saß er dann Stunden bevor der erste Mitarbeiter seiner Abteilung eintraf in seinem Dienstzimmer und hatte bereits etliche Stapel Papier verarbeitet. Dann widmete er sich der Auswertung des eben Verarbeiteten. Im halbstündigen Rhythmus defilierten die Abteilungsmitarbeiter durch seinen Dienstraum, Abwäsche folgte auf Abwäsche, Nicht wenige der Gerufenen, zumal der weiblichen Geschlechts, die schon zitternd im Wissen um die Gefahren früh zur Arbeit erschienen und voller Bangen den Rufen folgten, verließen bar jeglicher Hemmungen schluchzend die Höhle des Löwen und waren für den Rest dieses Tages zu keiner Arbeit mehr zu gebrauchen. Andererseits ging beharrlich das Gerücht um, dass die attraktiveren Mitarbeiterinnen von diesen Ärgernissen weitgehend verschont blieben. Eine aus der Schar dieser Auserwählten berichtete Holstein unter dem brüchigen Siegel der Verschwiegenheit, dass er zu einer seiner Audienzen sie auf Knien um ein Schäferstündchen, vielleicht auch weniger, nur ein halbes Stündchen, ein Viertelstündchen, man könne sich ja beeilen, gleich hier im Dienstzimmer, auf dem Schreibtisch, auf dem Drehstuhl, auf dem Ledersofa, gebeten habe. Sie habe widerstanden, müsse sich nunmehr aber die üblen Prozeduren dienstlicher Schurigeleien wie alle anderen gefallen lassen, allerdings nicht allzu übel, denn sie hätte ja noch einen Trumpf dagegen, die Grenzen wären da schon gesteckt.

Wunderlich schnupperte jetzt in den Computerraum.

„Junge, Junge, da drinnen kann man ja wieder die Luft mit dem Messer schneiden! Solltest du nicht ein richtiges Zimmer kriegen, mit Fenster und so? Und wolltest du nicht eigentlich wieder aufhören zu rauchen?“

„Beides. Kommt Zeit, kommt Rat. Manchmal bin ich ganz froh darüber, in dieser Buchte zu arbeiten. Selbst der Ratsvorsitzende müsste anklopfen, um eingelassen zu werden, dank der idiotischen Sicherheitsvorkehrungen. Hab‘ ich meine Ruhe.“

Holstein und Wunderlich hatten am Ende des vergangenen Jahres gemeinsam den Rechner in einem Piratenakt beschafft. Die Bilanzzuteilung, der schriftlich fixierte, staatlich gesicherte Anspruch auf eine Ware oder Dienstleistung im Geschäftsverhältnis zwischen den Betrieben, Einrichtungen und Kombinaten, lag für den Computer schon im September 1985 auf Holsteins Tisch, zum Jahresende war mit seiner Auslieferung zu rechnen.

Gleichzeitig mit dem Auslieferungsbescheid traf kurz vor Weihnachten die Stornierungsmitteilung zum Bilanzentscheid ein, Wunderlich überbrachte beide in der Hand haltend wie die letzten Reste eines Skatblattes und streckte sie Holstein entgegen.

„Zieh, Holstein, aber der Schwarze Peter ist auch dabei.“

Holstein schnappte sich einen der Zettel: Stornierung der Bilanzzuweisung, Verdammter Mist!

Wann mit der nächsten Maschine zu rechnen war, stand in den Sternen. Wahrscheinlich würde es wieder ein ganzes Jahr dauern oder gar noch länger. Das hieß, er müsste weiter trocken programmieren und Einsatzvorbereitung betreiben. Das würde nicht nur den Kollegen auffallen, die jetzt schon neidisch auf ihn guckten, sondern auch seinem Chef. Dann wäre er wieder mit Mode bei den Agitationseinsätzen in den Betrieben und ähnlichem Schwachsinn, und da sei Gott vor und die Preußen!

„Zeig mir doch mal den anderen Wisch her.“

Mitteilung vom VEB Robotron: Personalcomputer A5130, Seriennummer 3436, steht zur Abholung bereit, bitte melden im Außenlager bei Kollegen xyz.

„Was soll das denn?“

„Na, die Linke weiß offensichtlich wieder einmal nicht, was die Rechte tut. Nichts Neues also. Gib mir die Stornierung her, ich halte sie bis morgen erst einmal zurück. Aber sieh zu, dass du die Kiste noch heute herbeiholen kannst. Bevor du dich auf die Socken machst, hier noch einer zum Aufwärmen:

Staatsbürgerkundeunterricht Klasse sieben: Was bedeuten die Symbole des Staatsemblems der DDR? Ingrid? - Der Hammer steht für die Arbeiter. - Richtig. Werner? - Der Ährenkranz für die Bauern. - Prima, auch richtig. Matthias? - Die Ingenieure bedeutet der Zirkel. - Hervorragend Kinder, alles richtig. Fritzchen, was denn noch? - Mein Vater. - Bitte? Wieso dein Vater? Was macht dein Vater? - Parteisekretär. - Und wo steckt der im Emblem? - Na die kleine Niete oben im Zirkel.

He, he, he, ...“

Holstein, Wunderlichs Meckern verhallend im Ohr, hastete zur Tür hinaus und raste zur Fahrbereitschaft, ein Barkas-Transporter mit Pritsche ohne Plane stand noch auf dem Hof.

„Komm Kollege, schnell, wir müssen zu Robotron, einen Comptuter abholen. Hier ist der Fahrauftrag.“

Der als Kollege Angesprochene schaute gelangweilt von seinem Fahrersitz durch die Windschutzscheibe.

„Müssen müssen wir gar nichts“, orakelte er weise. „Nur sterben müssen wir.“

„Ich mach dir gleich Feuer unter deinem Arsch, du Nicht-Müsser“, schnaubte Holstein empört.

Der Fahrdienstleiter lugte ob des einsetzenden Gelärms aus seinem Kabuff. Was ist das denn für ein Rabatz da draußen? Jeden Morgen das gleiche, alle wollen sie ein Auto haben, am Nachmittag stehen die Fahrzeuge dann ungenutzt herum.

Der Kollege Fahrer startete den Motor, Holstein kraxelte in die Kabine, schob einen alten, total mit Öl gesättigten Putzlappen vom Sitz und los ging’s. Im Außenlager von Robotron wiesen sie sich mit der Abholbescheinigung aus, suchten sich unter hunderten dort abgestellter Rechner den ihren heraus und verluden ihn auf den Barkas. Niemand von den dort Beschäftigten ahnte, dass die Bilanzzuteilung inzwischen rückgängig gemacht worden war. Also schnell quittieren und ab, so fix es geht. Keine dummen Fragen stellen, wer dumm fragt, kriegt auch dumme Antworten. Was man einmal hat, kann einem schlecht wieder weggenommen werden. Womöglich fällt in dem allgemeinen Wirrwarr die bilanzwidrige Entnahme des Rechners nicht einmal auf.

Den Erfolg galt’s zu begießen, so verabredeten sich Holstein und Wunderlich nach Dienstschluss auf ein Glas, oder auch zwei, in der neueröffneten Bierstube nahe des Rathauses. Die war als sie kamen schon randgefüllt, von außen sah man die Trauben um den Tresen stehen, kaum ein Durchkommen möglich, die wenigen Tische restlos belegt und von Wartenden umstellt. Anstelle des sonst üblichen Schildes an der Eingangstür „Bitte hier warten, Sie werden plaziert!“ hatte man vorsichtshalber einen Kellner in Livree und mit Parteiabzeichen außen postiert. Der wies jedermann ab, so auch Holstein. Wunderlich hakte nach, er kannte offenbar den Zugangsschlüssel. Das „Sesam – öffne dich“ erwies sich als ein Zwanzigmark-Schein, den Wunderlich andeutungsvoll dem Livrierten in der linken Hand versteckt zeigte. So wurden sie auch eingelassen, nicht bevor jedoch Wunderlich seine linke Hand in die etwas abstehende Jackentasche des Kellners versenkt hatte. Drinnen öffnete er die Hand wieder, neben dem Zwanziger befand sich nunmehr auch ein Fünfziger darinnen. Woher die plötzliche, gar wundersame Mehrung des Geldes in Wunderlichs Linker? Wunderlich klärte auf: „Als ich den Zwanziger in der Kellnertasche fallen lassen wollte, fühlte ich dort Scheine über Scheine. Da hab‘ ich lieber zugegriffen.“ Das brachte nur der Wunderlich fertig, frech wie Rotz. Womit sie die schon einmal die voraussichtlichen Spesen des Abends gedeckt hatten und es nicht einmal zu vermuten steht, dass der genasführte Parteikellner vom klammheimlichen Zugriff etwas bemerkte. Im oberen Raum um den Tresen war freilich nicht daran zu denken, in der nächsten halben Stunde auch nur ein Bier zu ergattern, also trabten sie nach unten und fanden dort in einem winzigen Raum überraschenderweise Platz. Nur vier Tische, einer davon belegt mit vier Damen mittleren Alters und einem Herrn, offensichtlich ein Arbeitskollektiv mit dem Herrn als Chef, eine „After-Work-Party“ wird man dazu in späteren Jahren sagen. Ein Tisch frei, die beiden anderen jeweils einfach besetzt, ein Kahlköpfiger und ein noch recht junger Bursche, beide schon ziemlich vom Alkohol beseelt. Holstein und Wunderlich setzten sich an den freien, bestellten die erste Runde, gleich darauf die zweite, die dritte ließ vorerst auf sich warten. Die Wartezeit vertreibend schauten sie sich im dämmrigen Raum um. Der Kahlköpfige spendierte eine Flasche Sekt für den Tisch der Damen und rückte seinen Stuhl etwas näher daran. Der junge Bursche gestikulierte deutlich mit Daumen und Zeigefinger in Richtung des Fünfer-Tisches, bis Holstein die Finger-Verweise auf sich und Wunderlich bezog, beim ersten flüchtigen Hinschauen aber nichts Bemerkenswertes feststellen konnte, erst beim zweiten. Nun zog der junge Bursche seine Stuhl an Holsteins Tisch und laberte stockend: „Eine Sauerei ist das, wirklich eine Sauerei. Arbeiten alle im Rathaus nebenan, sind fast jeden Tag hier, manchmal auch mittags. Wirklich richtige Schweine.“ Dann legte er eine Geldschein auf seinen Platz und entschwand, noch immer labernd: „Eine Sauerei, eine Sauerei.“ Holstein hatte die Ursache der Empörung inzwischen geortet: Der Verwaltungschef, sein Jacket lässig über die Lehne des Stuhles geworfen, das Parteiabzeichen deutlich sichtbar, saß hemdsärmelig mit zufriedenem Gesichtsausdruck zurückgelehnt, sowohl sein linker als auch sein rechter Arm waren irgendwo zwischen den Schenkeln der zu beiden Seiten neben ihm sitzenden Damen versenkt, beide Hände offensichtlich in Aktion. Die von diesem Treiben Betroffenen schien das aber nicht sonderlich zu berühren, denn sie unterhielten sich nach vorn gebeugt und so sich näher kommend über ganz sachliche Angelegenheiten, wie es den Anschein hatte sogar über dienstliche. Die dritte im Bunde, die an der Stirnseite, gluckste und kicherte ab und zu albern, ohne sichtbaren Anlass allerdings. Der vierten, der mit der mächtigen blonden Löwenmähne, war inzwischen der immerzu sektspendende Kahlkopf dicht auf den Pelz gerückt, seine eine Hand schon weit unter ihren Pulli, deutlich sichtbar einziges Kleidungsstück an ihrem Oberkörper, geschoben, nun setzte er an, auch die andere dorthin zu verbringen, nicht ohne jedoch vorher beim ab und zu vorbeischauenden Kellner eine weitere Flasche Schampus zu ordern. Holstein und Wunderlich hatten mittlerweile ihre Stühle so hingerückt, dass sie dem Treiben am Nachbartische ihre volle und gänzlich unverhohlene Aufmerksamkeit schenken konnten. Das scherte die dort Sitzenden einen feuchten Kehricht, und so erlebten Holstein und Wunderlich etwas, was sie ein paar Jahre später als Live-Show in jeder billigen Absteige hätten erleben können, allerdings diesmal nur auf das Vorspiel bezogen. Der eigentliche, der animalische Schlussakt blieb ihnen jedoch erspart, denn jäh endete das Vergnügen, als der Ehemann der Blondmähnigen den Raum betrat, nach leisem Hüsteln, das Herausfahren der Kahlkopfhände aus dem Pulli seiner Gattin und der Chefhände aus den Schenkeln seiner Tischdamen geflissentlich übersehend, bedeutete, dass er gekommen sei, seine Gemahlin nach Hause zu fahren. So erhoben sich auch die anderen und schickten sich, leicht taumelig schon, an, noch eine der umliegenden Nachtbars heimzusuchen. Die waren in aller Regel wegen Überfüllung kaum zugänglich, doch war es abzusehen, dass es dem männlichen Begleiter der verbleibenden drei Damen gelingen würde, mit Hilfe des Wunderlichen „Sesam - öffne dich“ Einlass zu finden. Vielleicht würde es dessen nicht einmal bedürfen, denn alkoholisch und erotisch solcherart vorbelastete Gäste versprachen, da auf anderweitige Dinge konzentriert, sich nur allzu leicht wie die Weihnachtsgänse ausnehmen zu lassen.

Auf diese Weise verbrachten Holstein und Wunderlich einen durchaus erlebnisreichen Abend, Essen und Trinken zumal gesponsert vom dies nicht ahnenden, den Einlass zur Bierstube regulierenden Kellner mit Parteiabzeichen.

Der im Fachorgan eingesetzte Computer erfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen über alle Maße. Wie üblich standen zwar noch immer einige Kollegen dieser technischen Entwicklung mehr als skeptisch gegenüber, einige, die nicht einmal den längst üblichen Taschenrechnern vertrauten und die ellenlangen Spalten und Zeilen der Planungsmatrizen wie seit Urzeiten gewohnt kopftechnisch summierten und multiplizierten, andere dagegen waren nur mit sanfter Gewalt und unter dem Druck des Einsatzplanes von der neuen Technik weg zu bewegen. Als jämmerlicher Engpass stellte sich mit forcierter Nutzung die Beschaffung des erforderlichen Zubehörs wie Disketten, Druckerpapier und Druckerfarbbänder heraus. Disketten gab’s stückweise und nachweispflichtig per rationierter Zuteilung - gut, wenn man da wie Holstein wenigstens ein, zwei Flaschen Wernesgrüner Bier im Gepäck hatte. Im Frühsommer des Jahres 90, kurz vor Währungsunion und Anschluss, traten Holstein schier die Augen aus den Höhlen, da er zu Besuch bei entfernten Verwandten im Fränkischen weilte und wahrnahm, dass der Hausherr ausgemusterte, aber noch funktionstüchtige Festplatten-Laufwerke als Abstützhilfen für wackelnde Regale in seiner Werkstatt einsetzte. Von Laufwerken dieser Leistungsfähigkeit hätte Holstein zu DDR-Zeiten nicht einmal zu träumen gewagt.

Alles in allem aber war Holstein, nunmehr am Beginn in sein fünftes Lebensjahrzehnt stehend, dienstlich gesehen im Reich der Glückseligen angelengt und hatte seine Seelenbalance mit der neuen Tätigkeit wiedererlangt. Längst - Gott, dem ehernen Naturgesetz oder wem sonst auch immer, sei’s tausendfach gedankt - vergangen waren die nervenaufreibenden Tage, Wochen und Monate, da er hauptamtlich in der SED-Bezirksleitung und danach ehrenamtlich für die Aufklärungsabteilung der Stasi arbeitete.

Sohn Sven, der Pfiffikus, bereitete sich auf den Eintritt in die mathematisch-physikalische Spezialschule vor, die würde ihn direkt nach dem Abitur ohne Zeitverzug in eine der eben ins Leben gerufenen Meisterseminargruppen an einer Universität führen, von dort in eine der Forschungs- und Entwicklungsbereiche in Wissenschaft oder Industrie. Svens beruflicher Weg war klar und eindeutig vorgezeichnet. Über dessen Zukunft brauchte sich Holstein keine Sorgen zu machen, das beruhigte ungemein. Da konnte man über die Zustände im Lande meckern wie man will, berechtigt oder auch nicht, im Gegensatz zum Westen erhielten die Jungs und Mädels hier alle eine Lehrstelle, danach alle auch ohne Abstriche eine berufliche Anstellung, keiner lag auf der Straße und damit den Eltern oder der Gesellschaft auf der Tasche. Wer wollte und das Zeug dazu hatte, besuchte die höheren Bildungseinrichtungen. Dort dauerte das Studium vier, fünf oder höchstens sechs Jahre, nicht sieben, acht, neun, zehn und darüber hinaus. Und auch die Absolventen der Hochschulen und Unis standen mit ihren erfolgreichen Abschlüssen nicht arbeits- und hoffnungslos vor den Schaltern irgendeines Arbeitsamtes. War schon etwas dran am Sozialismus. Zugegeben, die Bäume wuchsen nicht in den Himmel, vor allem nicht gleich und nicht sofort und nicht überall. Die Prozesse brauchten eben ihre Zeit, Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Es würde sich trotz aller Hindernisse und Schwierigkeiten lohnen, sich weiterhin dazu zu bekennen und dafür zu streiten. Die Kaste der Parteioligarchen musste eliminiert, die Fachkompetenz zum alleinigen Sachwalter erhoben werden. Das war der Schlüssel zum Erfolg, darin wussten sich Holstein und Wunderlich einig.

Wie es schien, hatten die sowjetischen Genossen unter ihrem neuen Generalsekretär Gorbatschow in diesem Sinne die Nase dabei vorn, vielleicht konnte man es bald wieder zu Recht verkünden: Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen.

Wie üblich legte Holstein den Heimweg am späten Abend bei trockenem Wetter zu Fuß zurück, das sparte Benzin und verhalf zu klarem Denken.

Tochter Maria, mittlerweile auch schon Schülerin der vierten Klasse und Sohn Sven präsentierten heute ihre Halbjahreszeugnisse, für Sven würde es das entscheidende Sprungbrett zur Spezialschule bedeuten. Holstein musste bei beiden keine Bedenken haben. Dani und er hatten sich immer viel mit den Kindern beschäftigt, auf dass deren Anlagen nicht ungenutzt verfilen oder gar ungesteuert missbraucht wurden. Trotzdem war es kein Geheimniss, dass sich beide Kinder trotz gleichem genetischen Ausgangsmaterials und weitgehend gleicher Begleitumstände beim Aufwachsen im Elternhaus deutlich verschieden in ihrem Charakter zeigten. Während Sven ausgesprochen, manchmal geradezu beängstigend kühl und sachlich seinem schulischen und sonstigen Tagewerk nachging, zeigte sich bei Maria ein deutlicher Hang zum Extravaganten, ja zum Luxus. Diese, von Holstein stirnrunzelnd beobachtete Neigung erfuhr durch Holsteins Mutter noch beachtlichen Vortrieb. Die Oma hatte genug Zeit, hin und wieder, freilich ohne meinen Vater, der hätte diesen ihren Unternehmungen nur hinderlich im Wege gestanden, per Straßenbahn ins Stadtzentrum zufahren, um bei dem dort seit ein paar Jahren vermehrt in den Straßenunterführungen der Innenstadt postierten, wie Mutter Holstein es bezeichnete, „fahrenden Volk aus Polen“ für recht viel Geld recht billigen Tand einzuhandeln und diesen alsdann Maria bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit ins Haar zu stecken, um den Hals zu legen, an Fingern, Ohren und Handgelenken zu befestigen. Holstein nahm die zunehmende Schar der permanent aus Polen einrückenden jungen Männer mit Erstaunen und Unmut wahr: Kerle wie Gardesoldaten mit Händen zum Zupacken verhökerten Kettchen, Armreifen, Anhänger und jede Menge anderen Tinnef, von diesem selbst behangen wie Christbäume. Gab’s denn keine ordentliche Arbeit mehr im polnischen Nachbar- und Bruderland?

Wahlen standen wieder einmal vor der Tür und damit kam auch Holsteins moderne Rechentechnik im Wahleinsatz zum Tragen. Und das war auch gut so, denn es ersparte ihm, da diesmal als Spezialist im eigenen Haus gebraucht, den Einsatz als Wahlhelfer wie zu den letzten Wahlen. Dabei ging es zwar nur um solche im kommunalen Bereich, das Prozedere jedoch war das gleiche: Gegen vier Uhr nachmittags wurden durch den Leiter des Wahlbüros Gruppen von je zwei Mann gebildet, die suchten diejenigen Bürger des Wahlbereiches auf, die bis dahin noch nicht im Wahllokal erschienen waren und forderten sie auf, ihrer patriotischen Pflicht nachzukommen. Holstein hatte Glück, sein Partner, ein älterer Bankangestellter, kannte sich bestens aus in den Gepflogenheiten und Abläufen der Wahlrituale. Noch vor der Aufgabenstellung und Inmarschsetzung durch den Wahlbüroleiter zu den vermeintlich Säumigen nahm er Holstein zur Seite, und sie verkrümelten sich zu einem länger währenden Spaziergang durch die städtischen Parkanlagen. Erst nach Schließung des Wahllokals kehrten sie zurück und nahmen dann an der öffentlichen Auszählung der Stimmen teil. Eine immer wieder vermutete Wahlfälschung konnte Holstein in diesem Wahlbüro nicht feststellen.

Zur diesjährigen Wahl würde er also nicht als Stimmen-Zutreiber fungieren, sondern das tun, was er auch sonst immer tat: den Computer bedienen. In Vorbereitung des qualitativ neuen Rechenverfahrens wurde er vom Vorsitzenden der Wahlkommisssion vergattert: Alles, was im Zusammenhang mit der Erbringung und Zusammenstellung der Wahlergebnisse steht, unterliegt der strengsten Schweigepflicht. Was wird denn das jetzt, fragte sich Holstein? Doch nicht etwa Wahlbetrug!

Was sie jedenfalls bis in die späten Abendstunden mittels Computer als vorläufiges Wahlergebnis für den Bezirk errechneten, fand sich auch so bis auf geringe Abweichungen nach dem Komma in den Tageszeitungen am nächsten Tag wieder. Die in Holsteins Rechner einfließende Zahlen ergaben über alle Kreise und den Bezirk selbst nie weniger als 98,5 Prozent an Ja-Stimmen. Wieso und woher also der stete Verdacht auf Betrug und Fälschung? Holstein vergaß an diesem Abend die vielen Stimmen derjenigen, die im Vorfeld der Wahlen per Briefwahl oder Sonderwahllokal die Chance nutzten, dort ihren Unmut über das Regime und dessen Ablehnung kundzutun. Bei deren Stimmen-Auszählung blieb die Öffentlichkeit fern. Wo aber lag denn das Problem für die Partei- und Staatsführung, einmal zwanzig Prozent unter den angestrebten Hundert zu kassieren? Hätte das nicht auch gereicht? Hätte es nicht. Holstein wurde sich dessen erst viel später bewusst: Einmal in Fahrt gekommen, wäre die Sache nicht zu bremsen gewesen. Zur nächsten Wahl wären vierzig, fünfzig oder gar sechzig Prozent von Hundert abzuzählen gewesen.

Der Herbst zog ins Land, die Wahlen zu den örtlichen Parteiorganen standen auch wieder an. Da gab es jede Menge Agitation in Rundfunk und Fernsehen, wenig aus dem großen Sowjetlande, dafür um so mehr aus dem eigenen Politbüro.

Zur Wahlversammlung in Holsteins Parteiorganisation hörte er die gleichen Töne wie seit Jahr und Tag, Friede, Freude, Eierkuchen. Kein Wort von den Umbrüchen in Ungarn, in Polen, schon gar nicht von Glasnost und Pjerestroika. War die DDR über Nacht autark geworden, politisch, wirtschaftlich und überhaupt?

Holstein, als Diskussionsredner mit dem vorgegebenen Thema „Nutzung der Errungenschaften von Wissenschaft und Technik in der Planungsbehörde“ aufgestellt, sprach nur ganz kurz zu seinen Arbeitsergebnissen. Jetzt, so setzte er nach, möchte er lieber zu einer Frage reden, die ihn mehr berührt und eigentlich auch viel eher Thema von Parteiberatungen sein sollte, als die stereotype Wiederkäuung von Arbeitsinhalten, die bekanntlicherweise ja eigentlich Angelegenheiten dienstlicher Natur seien. Es gänge ihn um den neuen Kurs in der Sowjetunion. Ihm scheine, dass das dortige Herangehen auch engsten Bezug zur Politik der SED haben sollte. Viele der im großen Saal Versammelten senkten die Köpfe, man sah es ihnen geradezu an, dass sie sich am liebsten angstvoll unter den Stuhlreihen verkriechen würden. Der als Gast anwesende Vertreter der SED-Bezirksleitung schaute bei Holsteins Worten immer finsterer, schließlich hielt er sich nicht mehr auf dem Stuhl.

„Stopp! Was uns der Genosse Holstein hier darbietet, steht nicht im geringsten Zusammenhang mit unserer Politik, auch überhaupt nicht mit unserem heutigen thematischen Anliegen. Wenn die Führung der KPdSU der Meinung ist, sie müsse Korrekturen vornehmen, bitte, dann soll sie das tun. Wir sind dieser Meinung nicht. Der Sozialismus auf deutschem Boden entwickelt sich in den Farben der DDR, über seinen Fortgang entscheidet unsere auf der Grundlage wissenschaftlicher Führungstätigkeit arbeitende Parteiführung. Die übergroße Mehrheit der DDR-Bevölkerung steht geschlossen hinter der Politik unserer Parteiführung und stellt sich tagtäglich der Losung: Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden!“ So fügte er, sein eigentliches Redekonzept zur Seite legend, mehrstündig Stein auf Stein. Holstein erhielt durch nicht einen einzigen der anderen Diskussionsredner Unterstützung und Beistand. Das verdross ihn nicht sonderlich, wusste er doch, dass seine Arbeitsstelle im Prinzip nichts anderes war als der verlängerte Arm der Partei. Er kannte die inoffizielle Meinung vieler seiner Kollegen, auch die vieler Genossen und wusste, dass sie sich untereinander trotz der permanenten Gefahr von Denunziationen freimütig zu den aktuellen Themen unterhielten und auch im wesentlichen seine Standpunkte teilten. Nur taten sie dies nicht offiziell in den Versammlungen. Offiziell beteten sie nach wie vor die alte Litanei herunter, die sie gewohnt waren zu beten, und die man so auch gerne hören wollte, zumal auf den mit viel rotem Fahnentuch ausgestatteten Großkampfveranstaltungen.

Holstein zerrte an den Ketten, nicht gegen den Sozialismus sondern dafür. Weg mit den vom Klassenkampf verbrämten alten Zöpfen, raus mit der Ideologie, wo sie nichts zu suchen hat. Als im Folgejahr die Gewerkschaftswahlen ausgetragen wurden, forderte er die neu gewählte Leitung der Abteilungsgewerkschaftsorganisation dazu auf, sich endlich um ihre tatsächlichen Obliegenheiten ihrer Klientel zu kümmern. Nicht die Verteilung von Urlaubsplätzen sei die ihr zugewiesene Aufgabe, schon gar nicht der verlängerter Arm der Parteiorgane beziehungsweise der staatlichen Leitungen bei der Durchsetzung deren Beschlüsse und Anordnungen. Historisch gesehen hat Gewerkschaftsarbeit die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen zum Ziel, dessen gälte es sich zu erinnern. Gesenkte Köpfe, gebeugte Rücken, ganz zaghafter Beifall.

In der anschließenden kleineren Runde nahm ihn sein Vorgesetzter zur Seite. Der war etwa im gleichen Alter, hatte gleichfalls bei der Marine gedient, allerdings nur ein halbes Jahr Reserve bei den rückwärtigen Einrichtungen. Wenn er jedoch von den schier unendlichen Abenteuern und Begebenheiten, traurigen, skurrilen schnurrigen, dieser seiner Dienstzeit erzählte, schien es, als wäre er der langjährig dort Dienende gewesen und Holstein der halbjährige Reservist.

„Hör mal, Gert, sei bitte etwas vorsichtiger. Die Zeit ist noch nicht reif. Ich weiß es aus sicherer Quelle: die Auswechselung der politischen Spitze steht bevor, der Erste unserer Bezirksleitung wird wahrscheinlich zum neuen Führungskorps gehören. Auch der Dresdner. Wahrscheinlich wird Krenz der neue Parteichef. Wäre schade, wenn du dann nicht mehr dabei bist, denn du kennst es doch noch: einmal dabei – für immer dabei, einmal raus – für immer raus. Also, halte dich bereit, aber vorsichtig und diszipliniert. Jetzt machst du dich mit deinem Auftreten zum Sprecher auch solcher, die mit uns wenig oder gar nichts am Hut haben. Das kannst du beobachten, wenn du dich in Versammlungen zu Wort meldest. Die einen ziehen die Köpfe ein, die anderen frohlocken. Achtung, gleich gibt der Holstein wieder Saures!“

Ein wirklich gutgemeinter Rat? Eine ehrliche Warnung? Oder eher eine auf Veranlassung der Leitung sanft umschriebene Drohung? Ein baldiger Wechsel an der Parteispitze? Alles undurchsichtig. Holstein machte weiter wie bisher und nahm kein Blatt mehr vor den Mund.

Das neunundachtziger Jahr brach an, mit ihm gingen einschneidende Restriktionen im Lande daher: Die Vertrieb der beliebten, stets vergriffenen, zunehmend deutlicher mit den Erscheinungsformen des Stalinismus abrechnenden Sowjetzeitschrift „Sputnik“ wurde eingestellt, zahlreiche, selbst international preisgekrönte sowjetische Filme auf den Index gesetzt. Die Parteiführung leugnete weiterhin die offensichtlich notwendigen Parallelen zur sowjetischen Parteipolitik, das ZK-Mitglied Hager befand in aller Öffentlichkeit dazu: Wenn der Nachbar eben einmal gerade die Wohnung tapeziere, müsse man dies ja nicht auch gleich tun. Noch wenige Jahre zuvor wurde jeder noch so laue Pups, der von Osten heranwehte, mit allem Nachdruck und ohne jede Verzögerung kopiert.

In der Bevölkerung aber wuchs rasant der Ausreisedruck in Richtung Westen. Je mehr und je durchsichtiger sich die Partei- und Staatsführung bemühte, Ruhe, Disziplin und Besonnenheit aufrechtzuerhalten, desto mehr schärften sich die politischen Sinne. Im Frühsommer formierten sich vor den ungarischen und tschechischen Botschaften Tausende von Ausreisewilligen. Holstein saß allabendlich vor dem Fernseher und verfolgte mit Entsetzen, wie junge Mütter und Väter ihre Kleinkinder und Säuglinge über die eisernen Botschaftszäune hoben, wie die in die Botschaften Entkommenen unter den extremsten Bedingungen dort über Wochen schon ausharrten, um in den Westen zu gelangen. Waren sie etwa schlecht gekleidet? Nein. Waren sie unterernährt? Auch nicht. Was also trieb sie dann zu solch waghalsigen, völlig unwägbaren Unternehmungen? Von denen nicht zu reden, die sich in lebensbedrohlicher Weise mit Schwimmhilfsmitteln über die Ostsee oder mit selbstgebauten Luftfahrzeugen über die grüne Grenze auf den Weg gen Westen machten? Wir müssen hier einen weiteren Irrtum Holsteins konstatieren, nämlich den, dass er zu diesem Zeitpunkt noch ernsthaft daran glaubte, dass viele der Flüchtlinge wegen fehlender demokratischer und freiheitlicher Grundrechte ihr Vaterland verließen. Heute, ein nahezu anderthalb Jahrzehnt später, ist er sich dessen sicher, dass Demokratie und Freiheit schlechthin leere Worthülsen sind, geeignet, ein einigermaßen prosperierendes Wirtschaftssystem darin einzubinden oder individuell-intellektuelles Denken zu befördern. Im Kern ihres Daseins orientieren sich die Menschen an ihrem Lebenssatndard, dies natürlich im Vergleich zu ihren unmittelbaren Nachbarn, demokratische Grundrechte hin, demokratische Grundrechte her. Wenn die Nachbarn dann zumal auch die Verwandten sind, wiegen die Differenzen um so schwerer. Der ehemals von Holstein geheimdiensthalber kontaktierte Besuch aus Köln ließ grüßen.

Damals jedoch, im Wendejahr 89, sah Holstein in der politischen Starrköpfigkeit der Partei- und Staatsführung die Hauptursachen des menschlichen Aderlasses, meinte die Massenflucht stoppen zu können mit konsequenten Kursänderungen nach russischem Beispiel. Wie gesagt, ein Irrtum. Genau wie die Erwartung, nach der Wende würden die sowjetische Zeitschrift „Sputnik“ und die ebenso der Zensur der politischen Führung anheimgefallenen sowjetischen Filme Hochkonjunktur haben. Weit gefehlt, es wollte sie dann angesichts der Schwemme bunter Blätter und Videobänder aus den Verlagen jenseits der Elbe plötzlich kaum jemand mehr sehen.

Den Sommerurlaub verbrachten die Holsteins wie üblich wieder an der Ostsee. Dort schwammen aus nicht erklärten Gründen am Ufer Millionen toter Marienkäfer im Wasser herum, teilweise bedeckten sie ganze Strände. Holsteins Schwager bemerkte dazu bei einem Spaziergang: Sind gar keine Käfer, schau richtig hin Gert, alles weggeworfenen Parteiabzeichen. Und hatte noch einen weiteren parat:

„Honecker kommt eines Abends vom Staatsbesuch zurück. Am Flugplatz gleißende Helle, aber kein Mensch zur Begrüßung. Auch die Hallen sind in helles Licht getaucht, jedoch auch hier keine Menschenseele, kein Empfangskomitee wie üblich, kein Angestellter, kein Taxi. Also macht er sich zu Fuß auf die Socken in den Regierungspalast, jedoch überall das gleiche Bild: viel Licht, kein Mensch zu sehen, so auch im Palast. Da schwant ihm Böses: der Klassenfeind! Auf zur Mauer! Auch dort aber nur sehr, sehr viel Licht, kein Mensch, keine Grenzer, kein Zoll, keine Stasi. Statt dessen ein großes Loch mitten in der Mauer. Erich hastet hinzu und entdeckt neben dem Loch einen Zettel, darauf steht in flüchtiger Schrift: Erich, mach das Licht aus, du bist der Letzte.“

Des Volkes Worte. Wie schnell sie sich noch in diesem Jahr bewahrheiten würden, hätte Holstein nicht möglich gehalten.

Der noch hochsommerliche September trieb unablässig weitere DDR-Bürger in die BRD-Botschaften der mit der DDR verbündeten Staaten und Holstein machte in der monatlichen Parteiversammlung offen Front gegen die dafür an den Haaren herbeigezogenen Begründungen in Presse, Funk und Fernsehen. Gleichermaßen stellte er die gebetsmühlenartig gepriesene Wirtschafts- und Sozialpolitik der Parteiführung hochgradig in Zweifel.

„Was ist eine Wirtschaftspolitik wert, die gegen jegliche ökonomische Vernunft, ja selbst gegen von den Klassikern des Sozialismus formulierte ökonomische Gesetze verstößt? Was ist eine Sozialpolitik wert, die soziale Zuwendungen aus einer Streusandbüchse verteilt, unbesehen von tatsächlicher Bedürftigkeit? Was ist daran ökonomisch oder sozial, wenn man jahrelange Mietschuldner bei einem lächerlichen Mietbetrag von hundert, allerhöchstens hundertfünfzig Mark für eine geräumige Drei-Zimmer-Wohnung mit Balkon inklusive aller Heiz- und Nebenkosten ohne ernsthafte Konsequenzen gewähren läßt, sich statt dessen als Begründung ihrer Schuld noch die freche Aussage sonst fehlender Benzingelder für ihr Auto, in solchen Fällen zumeist kein Trabant sondern eher ein Wartburg oder Lada, bieten lässt? Wie lachhaft ist das Festhalten an Durchhalteparolen aller Art. Mein Arbeitsplatz – mein Kampfplatz für den Frieden. Wer von euch glaubt denn das wirklich, dass Lieschen Müller von solchem Gedankengut beseelt am frühen Morgen erst ihre Kinder zur Krippe bringt und dann vom genannten Motto hochgradig inspiriert mit Enthusiasmus bis spät abends an ihrer Kasse in der Kaufhalle Warenpreise eintippt, oder dass Mäxchen Pfiffig in einem fort an die Erhaltung des Weltfriedens denkend im Walzwerk den rotglühenden Stahl wendet? „

Die Antwort vom anwesenden Sekretariatsmitglied der SED-Bezirksleitung erfolgte prompt, scharf und in persönliche Beleidigungen mündend. Holstein wies die Argumente als Beispiele der Entmündigung und der Arroganz zurück und stand hinfort seit genau diesem Tag wieder unter der direkten Beobachtung der SED-Bezirksleitung. Holsteins Parteisekretär kabelte wöchentlich, wenige Tage später sogar täglich, der zentralen Parteileitung über die Stimmungs- und Meinungslage Bericht, darin stets eingebunden der Sonderabschnitt „Holstein“, die zentrale Parteileitung telegrafierte darüber zu dem in Berlin mit anderen Genossen der Parteispitze den 40. Jahrestages der DDR vorbereitenden Ersten Sekretär. Der erinnerte sich nur äußerst ungern seines einstigen Mitarbeiters, der ihm nun erneut Ärger verschaffte. Ärgeren allerdings, viel ärgeren als damals. Da wäre er lieber wieder zu mitternächtlicher Stunde wegen eines Trunkenheitsdelikts aus dem Schlaf gerissen worden.

Sie warfen Holstein in vereinter Front fehlenden Klassenstandpunkt vor, und der konnte es tags darauf im Organ des ZK der SED „Neues Deutschland“ nachlesen, was er unter diesem Klassenstandpunkt zu verstehen hatte:

Es gilt, stand da zu lesen, dass sich die Mitglieder der Partei wieder intensiver mit den Beschlüssen des ZK befassen müssen, um die neuen Anforderungen richtig verstehen zu können und konsequent danach zu handeln. Revolutionärer Klassenstandpunkt bedeutet nichts anderes als fest und in unverbrüchlicher Treue zum ZK und seinem Politbüro zu stehen. Wer einmal der Partei sein Wort gegeben habe, tat dies auf Lebenszeit!

Ja, so hätten sie es wohl gerne, und da glichen sie den Machthabern in aller Welt: blinde Ergebenheit und unverbrüchliche Treue!

Holstein hatte in der Folgezeit eine schweren Stand in seiner Abteilung, nicht bei den Kollegen, abgesehen von denen, die ihm anonyme telefonische Anrufe bedrohlichen Inhalts zuteil werden ließen, wohl aber bei seinem neuen Leiter. Den bisherigen hatte man auf eigenen Wunsch, möglicherweise spielte dabei auch dessen Hang zum Alkohol und zu verheirateten Frauen eine nicht unbeträchtliche Rolle, in eine ihm besser gelegene Funktion außerhalb des Staatsapparates versetzt, der neue, Genosse Setzer, übte bis dahin das Amt des Ratsvorsitzenden eines Kreises im Erzgebirge aus. Als seine erste und vordringlichste Aufgabe im neuen Amt sah er es offenbar an, Holstein ideologisch wieder auf Vordermann zu bringen. So bestellte er ihn zu sich und überlud ihn dann sogleich stundenlang mit den Vorzügen des Sozialismus, dass Holstein die Ohren sausten und der Kopf schmerzte.

Wenn nur ein Viertel, so Setzer, aller Parteimitglieder die Parteipolitik tagtäglich mit allerhöchstem Eifer in ihrer Arbeit umgesetzt hätte, wäre der derzeitig desolate Zustand in der DDR sicher zu vermeiden gewesen. Auch wäre eine gewisse Unmäßigkeit in den Forderungen der Bürger festzustellen, ein Beispiel nur: Als Ratsvorsitzender habe er mit unzähligen Eingaben in Fragen Wohnraumversorgung zu tun gehabt. Einer siebenköpfigen Familie habe er dazu verholfen, außer der Reihe aus ihrer dem Zusammenbruch geweihten Altbausubstanz aus der Zeit des mittelalterlichen Silberbergbaus in eine Neubauwohnung umziehen zu können, mit Bad, Innentoilette, vier Zimmern, einer geräumigen Küche. Aber anstelle des erwarteten Dankschreibens wäre ihm zwei Wochen nach dem Einzug von dieser Familie die nächste Eingabe auf seinen Tisch geflattert: Es gibt keine Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe der Wohnung, auch keine Gaststätte. Ja zum Kuckuck, wo leben wir denn? Etwa schon im Schlaraffenland? Unmäßig, völlig unmäßig!

Der 40.Jahrestag der Gründung der DDR stand ins Haus. Wie seit Jahrzehnten gewohnt mit der obligatorischen Militärparade und dem abendlichen Fackelzug der aus allen Teilen der Republik herangekarrten Jugendlichen in den blauen Hemden und Blusen der FDJ, in hohem Grade erinnernd an die Aufmärsche der Heiligen Inquisition, des Ku Klux Klan und der Nazis. Parallel dazu die Bekundungen der Andersdenkenden, mehrheitlich noch formiert unter Rosa Luxemburgs Freiheitsanspruch. Erwartungsgemäß kam es zu Auseinandersetzungen mit den Sicherheitsorganen, so auch an diesem Tag in Leipzig und anderen Städten, so auch in Holsteins Heimatstadt. Noch allerdings war die Zahl der öffentlich Aufmüpfigen klein, unüberhörbar zwar, aber doch bescheiden. Für den nachfolgenden Montag hatte das Neue Forum in Leipzig zu einer Massendemonstration aufgerufen. Polizei und Armee standen in Bereitschaft, es drohte der offene Konflikt, ein Bürgerkrieg. Trotz seiner unbegrenzten Sympathie mit den Demonstranten und ihren Forderungen konnte sich Holstein nicht dazu entschließen, sich selbst an den Demonstrationen zu beteiligen. Nicht aus Angst, nein, Holstein umging Massenaufläufe welcher Art auch immer, außerdem hoffte er darauf, dass die Parteigenossen der Basis sich endlich an die Spitze stellen und die Wende herbeiführen würden. Doch die Genossen der Basis waren entweder gelähmt oder marschierten selbst schon in den Demonstrationen des Neuen Forums. Tausende Parteimitglieder hatten ihr Mitgliedsbuch bereits zurückgegeben, die Marienkäfer am Ostseestrand tanzten vor Holsteins Augen. Er wusste sich in einer geschichtlichen Situation von außergewöhnlicher Tragweite und sah seine Partei darin in Agonie, die, die immerfort bisher vollmundig verkündete, ein für alle mal die historische Wahrheit gepachtet zu haben. Da half ihm nicht mehr Lenins „Was tun?“, Lenin selbst auch nicht. Nur der alberne Witz erhielt plötzlich reales Gewicht, in dem Lenin, von einem Wunderdoktor aus dem Todesschlaf erweckt, helfen soll, die Probleme des Sowjetlandes zu lösen. Nach etlichen Tagen finden die Genossen dort, wo sie ihn nebst aktuellen Zeitdokumenten alleine zurück ließen, nicht ihn selbst sondern nur seine Nachricht vor: Bin auf der Aurora, die Scheiße geht von vorne los! Also, was tun? Alle Kennzeichen und Signale im Land deuteten in Richtung einer sozialen Revolution. Die Herrschenden können nicht mehr und die Beherrschten wollen nicht mehr, so sagte es Marx. Noch aber schienen sich die Herrschenden ihrer Sache sicher zu sein.

Im Oktober begann der alle zwei Jahre stattfindende Lehrgang für die Mitarbeiter Holsteins Fachorgans. Fachliche und politische Vorträge und Seminare wechselten sich ab, in der Eröffnungsansprache hörte Holstein das alte Lied vom Sieg des Sozialismus, jetzt in den Farben schwarz-rot-gold, von der Überlegenheit der sozialistischen Planwirtschaft, von der wahrhaft demokratischen Gesellschaftsordnung in der DDR, von den Erfolgen der Sowjetunion beim Aufbau des Sozialismus-Kommunismus bis 1985 (danach schien es damit vorbei zu sein)...und die Flüchtlingswelle rollte derweil weiter, unaufhaltsam, westwärts.

Für den wie gewöhnlich anberaumten militär-politischen Vortrag hatte man einen Oberstleutnant aus dem hiesigen Wehrbezirkskommando gewonnen, ein ehemaliger Divisions-Planungsoffizier einer brandenburgischen motorisierten Schützeneinheit, gerade und von dort frisch versetzt. Seine Darlegungen veranlassten Holstein zum radikalen und endgültigen Bruch mit den gegebenen Herrschaftsstrukturen.

Der Offizier dozierte über die unter Gorbatschow neu erarbeitete Militärdoktrin des Warschauer Paktes, nicht mehr Angriff und Zerschlagung der gegnerischen Truppen auf deren eigenem Territorium sei jetzt angesagt, sondern nur noch Auffangen des Angriffs und Zurückdrängung der feindlichen Kräfte bis zur eigenen Landesgrenze. Während die restlichen Hörer mehr oder weniger mit sich selbst beschäftigt waren und vor sich hindösten, verfolgte Holstein, der langjährig Gediente, den Vortrag mit gespannter Aufmerksamkeit und erkannte einen Widerspruch. In der Pause trat er an den Oberstleutnant heran.

„Das mit der neuen Verteidigungsdoktrin musst du mir bitte noch einmal etwas deutlicher erklären.“

„Auf einen Nenner gebracht: Zu Breshnews Zeiten galt, der militär-politisch günstigste Zeitpunkt ist Schlagzeit für den präventiven Angriff des Warschauer Paktes. Mittels mehrerer Atomschläge werden drei, vier oder fünf Schneisen durch Westeuropa zum Atlantik getrieben, darin rollt nachsetzend die Masse unserer Panzerkräfte. Das gilt jetzt so nicht mehr.“

Holstein wurde es speiübel. Diese Schweine, diese elenden Schweine! Auch wenn es nur halbwegs stimmte, was ihm der Oberstleutnant gerade unter dem Mäntelchen der Verschwiegenheit offenbarte, verheizt hätte sie sie, schonungslos und schamlos verheizt für ihre hirnrissigen und aberwitzigen und zugleich militanten Weltbefreiungs- und -beglückungsideen. Plötzlich war es ihm bewusst, warum sie zu seinen Dienstzeiten bei der Marine mit dem Schnellboot Stunden über Stunden schweißüberströmt in voller Schutzmontur fahren mussten, obgleich sie mit ihren Booten den radioaktiven Wolken leicht hätten ausweichen können. Plötzlich war ihm klar, warum der Warschauer Vertrag über solch massive Panzerarmeen verfügte. Und plötzlich sah Holstein seinen Sohn vor sich, der jetzt so alt war wie er damals, und es presste ihm den Brustkorb zusammen. Schluss, Schluss und weg mit diesen verdammten Schweinen! Und er konnte in seiner grenzenlosen Übelkeit und ohnmächtigen Wut keinen anderen Gedanken mehr fassen.

Der Lehrgang wurde, bedingt durch die sich im Lande zuspitzende politische Situation, vorzeitig abgesetzt, die Mitarbeiter an ihre Arbeitsplätze zurückverwiesen. Der in der Folgewoche anberaumte nächste Durchgang fand überhaupt nicht mehr statt.

Als Holstein am letzten Tag des Lehrgangs zu Hause eintraf, fand er ein Blatt Papier vor im Briefkasten, ein blassgelber, schon leicht zerknitterter Ormigabzug. Den handgeschriebenen Schriftzügen lagen die Zielstellungen der noch immer um ihre Zulassung ringenden Bürgerrechtsbewegung Neues Forum zugrunde. Holstein erkannte darin weder konterrevolutionäre Absichten noch sonst irgendwelche Formulierungen, die den Sozialismus in Frage stellten. Freie Meinungsäußerung, Freiheit der Medien, demokratische Wahlen, alles das waren Forderungen, die er selbst aufwerfen könnte.

Neben den Forderungen waren Ansprechpartner aufgeführt, Namen, Adressen, Telefonnummern. Holstein beschloss, den Kontakt zu suchen, er wollte mehr über die Zielstellungen des Neuen Forum und dessen Sprecher in Erfahrung bringen. Nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es ihm endlich, sich mit einer der auf dem Zettel Genannten zu vereinbaren. Er suchte sie in ihrer Wohnung auf und stellte schon an der Hauseingangstür des großen Mietshauses fest, dass die Frau, eine Künstlerin, observiert wurde: eine außergewöhnlich überdimensionierte Hauslaterne warf jedem Ankömmling ihr gleißendes Licht entgegen, genug, um aus dem Gebäude auf der Gegenseite jede den Hauseingang passierende Person auch in nächtlicher Dunkelheit ausreichend identifizieren zu können. Holstein sah keinen Sinn im Versteckspiel mit seinen ehemaligen Bundesgenossen, in diesem Kampf half nur das völlig offenen Visier, jegliche Geheimniskrämerei würde von Nachteil sein und konnte gegen die Reformkräfte verwandt werden. So schritt er gelassen durch die Tür und stattete der auf dem Ormigabzug genannten Ansprechpartnerin seinen angekündigten Besuch ab. Die kam gerade von einem dreiwöchigen Urlaub aus Ungarn zurück, wusste wenig auf Holsteins Fragen zu antworten und verwies ihn deshalb an ein anderes Mitglied ihrer Organisation. Holstein stellte alsbald mit Erschrecken fest, sie zählten nur ein paar Leute. Ein Arzt, einige Künstler, kein einziger Arbeiter. Sie verfügten über keine Organisationsstrukturen, keine sicheren Kommunikationskanäle, sie waren untereinander nicht erreichbar und das schlimmste von allem: sie wussten zwar, was sie alles nicht mehr wollten im gesellschaftlichen Leben der DDR, aber was an dessen Stelle treten sollte, das wussten sie nicht. Sie hatten kein Wirtschaftskonzept und keine außenpolitische Plattform. Sie hatten nur vage Vorstellungen von den neu zu gestaltenden innenpolitischen Zuständen. Ihre formulierten Zielstellungen beruhten auf ihren persönlichen Erfahrungen, die waren von keiner homogenen Gesellschaftstheorie getragen. Damit, das war Holstein sofort klar, konnten das Neue Forum wohl der Initiator des allgemeinen Volksaufbegehrens sein, niemals aber wirklich der die allgemeine Erhebung kanalisierende Hegemon.

Da keine andere Kraft aber momentan in Sichtweite war, die sich so rigoros und selbstlos vor den Karren aller spannte wie eben das Neue Forum, sah Holstein nur den einen Weg: so schnell wie möglich war der Bogen zu spannen von den jetzt noch voranreitenden Forumsleuten zu den noch in den Startlöchern hockenden SED-Genossen aus den Basisorganisationen. So könnte der Bewegung Strategie und Taktik verschafft und die drohende Abgleitung in Anarchie und möglichem Bürgerkrieg oder auch in den Anschluss an die Bundesrepublik vermieden werden.

Wir wissen längst, dass Holsteins Engagement in dieser Sache nichts brachte, nicht einmal in seinem lächerlich kleinen Umfeld und Wirkungskreis. Die Forum-Leute wollten mit den SED-Leuten nichts zu tun haben, die meisten der SED-Leute nichts mit dem Neuen Forum. Neben dem Neuen Forum traten zudem schnell andere Oppositionsgruppen und –parteien auf die politische Tagesordnung, und der Tanz um die Macht nach dem sich abzeichnenden desaströsen Abgesang der SED setzte ein. Die Tanzfläche als Sieger verließ letztendlich einer, der sich dies in den Tagen, da noch nichts entschieden war, da noch Millionen bewaffneter Kräfte in der DDR unter sozialistischer Befehlsgebung standen, da Holstein mit geradezu irrsinniger Wut und furchtbarer Angst gegen die Festung Stalinismus anrannte, nicht hätte träumen lassen: der mit Beginn des Nachwendejahres 1990 D-Mark, Freizügigkeit und blühende Landschaften ohne Ende versprechende Bundeskanzler Helmut Kohl.

Folgen wir jetzt dem weiteren Verlauf der Geschehnisse an Hand der Aufzeichnungen aus Holsteins Tagebuch, welche er in den entscheidenden Tagen und Wochen der Wende anfertigte.

Freitag, 20. Oktober 1989

Nach dem Sturz Honeckers keimen auch im Fachorgan Planung zaghafte demokratische Anfänge Formen. Die bisher ausschließlich den Propagandisten von Partei und Gewerkschaft vorbehaltene Wandzeitung wurde freigegeben für „vorwärtsweisende“ Stimmungen und Meinungen aller Mitarbeiter. Nach Abstimmung mit den Kollegen seiner Abteilung heftete Holstein heute morgen seinen Standpunkt daran. Seine erste Forderung lautet: Sofortige Einstellung aller Arbeiten und Tätigkeiten, die rein politisch-ideologischen Charakter haben oder von der Bezirksleitung der SED angeordnet sind.

Vor der sonst kaum wahrgenommenen Wandzeitung ballten sich nun die Kollegen zuhauf, heftig erregten sich die Gemüter, Zustimmung und Ablehnung hielten sich die Waage. Gegen Mittag war Holsteins Zettel wieder entfernt, so weit sollte die demokratische Öffnung wohl nicht verstanden werden. In den Büroräumen wurde indes darüber heftig weiter diskutiert.

Nach dem Abendessen fuhr er noch einmal in das Stadtzentrum. Das war weiträumig von Verkehrspolizisten abgesperrt. Von anderen Sicherungskräften weit und breit keine Spur, auch nicht in den Nebenstraßen. Eine tausendköpfige Menge war auf den Straßen und Plätzen versammelt, ungeordnet aber diszipliniert. Sprechchöre erschallten, Holstein hörte christliche Gesänge, daneben aber auch die „Internationale“. Auf teilweise riesigen Bannern und Transparenten wurden freie Wahlen, Demokratie, moderner Sozialismus – kein Stalinismus gefordert. Ein Plakat trug die Aufschrift „Schnitzler in die Muppet-Show“, eines forderte „Keine Lügen mehr“. Von provisorischen Rednerplätzen sprachen Vertreter der gleich Pilzen aus dem Boden schießenden politischen Gruppierungen. Viele der versammelten Menschen hielten brennende Kerzen in ihren Händen. Wo waren die Genossen der Partei-Basisorganisationen?

Montag, 23. Oktober 1989

Auf der am Nachmittag stattfindenden Rechenschaftslegung der staatlichen Leitung zum Rahmenkollektivvertrag mit der Gewerkschaft forderte Holstein die Streichung sämtlicher finanzieller Zuwendungen aus dem Kultur- und Sozialfonds für die Betriebskampfgruppe, die betrieblich organisierte Gesellschaft für Sport und Technik sowie die Betriebsparteiorganisation. Das reichte wieder zum Eklat und zum Disziplinierungsversuch durch die Versammlungsleitung. Allerdings haben die meisten der Anwesenden zu seinen Forderungen auch diesmal wieder zurückhaltend geschwiegen.

Gegen achtzehn Uhr war die Rechenschaftslegung zu Ende. Als Holstein aus dem Gebäude trat, sammelten sich bereits wieder Demonstranten. Sie stellten brennende Kerzen auf dem Sockel des Karl-Marx-Monuments nieder. Es waren schon wieder viele Hunderte.

Von der Kreuzung her näherte sich dann ein kleiner Trupp, ihm voran ein Trommler, vorbei am Haus der SED-Bezirksleitung. „Neues Forum – schließt euch an!“, gellte es durch die Straßenschlucht. Die bis dahin noch den Straßenrand Säumenden, als hätten sie nur auf dieses Signal gewartet, folgten dem Ruf und formierten sich zum Demonstrationszug in Richtung Rathausplatz.

Holstein lief ein Stück nebenher, sah die ihm schon bekannten Losungen wieder, auch neue darunter jetzt: „Stasi in die Produktion – nur für Arbeit gibt es Lohn!“, stand da auf einem Spruchband zu lesen. Zunehmend lauter aber erhob sich ein einziger Ruf „Wir sind das Volk, wir sind das Volk!“ Am Haus der Bezirksleitung der SED vorbeiziehend erklang der Sprechchor „SED – das tut weh!“

Aus dem Strom der neben Holstein auf der Straße herziehenden Massen vernahm er plötzlich seinen Namen und staunte nicht schlecht: drei seiner Arbeitskollegen im Zug. Nun trat auch er in den Demonstrationszug ein, zögerlich jedoch, denn Holstein setzte immer noch auf die befreiende Kraft der Genossen von der Basis, von denen er annahm, dass sie dachten wie er.

Den aus ihren Fenstern zuschauenden Bürgern wurde zugerufen „Auf die Straße! Schließt euch an!“, den den Verkehr regelnden Volkspolizisten „Zieht euch um und schließt euch an!“ und immer wieder „Wir sind das Volk! Demokratie –jetzt oder nie!“

Trotz der ihn umfassenden euphorischen Erregung fühlte sich Holstein unwohl. Einerseits empfand er nun deutlich: Sein Platz war hier, hier unter dem Volk, welches aufbegehrte gegen den alleinigen Weisheits- und Machtanspruch einer Clique, die stets vorgab, ausschließlich im Sinne eben dieses Volkes zu handeln. Andererseits verlangte es ihn nach einer die Richtung vorgebenden Kraft. So heterogen die vom Demonstrationszug ausstrahlenden Losungen oder Sprechchöre waren, so heterogen war auch dessen Zusammensetzung, so heterogen waren auch die Interessen seiner Teilnehmer. Ohne eine einheitliche, die Vorstellungen aller auf einen Nenner bringende Orientierung sah er die Gefahr anarchischer Zustände und blutiger Auseinandersetzungen.

Später fuhr Holstein noch kurz bei seinen Eltern vorbei, die Mutter mokierte sich über den ätzend nach fauligen Kartoffeln und Möhren riechenden Gestank in der Kaufhalle und hat Angst, die Nazis kämen mit den Unruhen auf die Straßen zurück. Sein Vater, als nun Fünfundsiebzigjähriger aller Ämter und Posten los und ledig, verfolgte die Demonstrationen mit größter Skepsis. Honeckers Rücktritt war für ihn ein derber Schlag. Er sah in dem Dachdecker stets das, was er sich für Holstein erträumte: den sozialistischen Arbeiterminister.

Sonntag, 29. Oktober 1989

Im Plenarsaal des Rathauses fand neun Uhr morgens eine bürgeroffene Diskussion statt, geleitet von einem Sprecher des Neuen Forums, anwesend auch Vertreter des Sekretariats der SED-Bezirksleitung. Der Saal war brechend voll, die Stimmung überreizt. Vor dem Rathaus standen noch Hunderte und begehrten umsonst Einlass, die drinnen geführte Diskussion wurde per Lautsprecher nach draußen übertragen. Holstein stand eingezwängt in der Masse und verfolgte mit zunehmendem Missmut den Disput. Sie schrien alle wild durcheinander, der Diskussionsleiter wurde überrannt, die beiden anwesenden Sekretariatsmitglieder der SED-Bezirksleitung kamen gar nicht erst zu Wort. Wenn die zum Mikrophon griffen, erhoben sich ein tosendes Pfeifkonzert und kreischende Puh-Rufe. Holstein hatte den Eindruck, dass hier eher lang aufgestauter Dampf abgelassen wurde. Nach zweistündiger, kontroverser und völlig ergebnisloser Debatte, die zunehmend auch im Kreis der Zuhörer selbst mit allem Pro und Kontra ausgetragen wurde, verließ er den Saal und war sich darüber im Klaren: So wird das nichts!

Montag, 30. Oktober 1989

Wunderlich nahm Holstein am Morgen beiseite: In der Betriebskampfgruppe übten sie jetzt unter der Leitung von Polizeioffizieren die gewaltsame Auflösung von Demonstrationen und Versammlungen und erlernten zu diesem Zwecke die Handhabung von Schlagstöcken. Allerdings seien sich die meisten Kampfgruppenmitglieder darin einig, niemals, auch nicht unter Befehl, gegen die derzeit aufbegehrende Bevölkerung vorzugehen. Zum einen teilten sie zumeist selbst deren Anliegen und Forderungen, zum anderen hatten schon zu den Krawallen am siebenten Oktober im Stadtzentrum Väter und Großväter in der Kampfgruppenuniform plötzlich ihren vom Wasserwerfereinsatz pitschnassen Söhnen, Töchtern und Enkeln gegenübergestanden.

Die Zahl der Montagsdemonstranten hatte sich an diesem Abend vehement weiter erhöht. Erstmals wurden neben den vereinzelten roten Fahnen auch DDR-Fahnen mit herausgeschnittenem Emblemen und schwarz-rot-goldene Fahnen ohne Emblem im Zug der Tausenden mitgeführt und auf neuen Transparenten der alleinige Führungsanspruch der SED in Frage gestellt. Rufe nach dem Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung wurden laut.

Dienstag, 31. Oktober 1989

Holstein hatte übers Wochenende in einem offenen Brief seine Vorstellungen zur Gesellschaftsreform in der DDR formuliert und diesen an die Redaktion des „Neuen Deutschland“ gesandt. Der Kern seiner darin niedergelegten Gedanken bestand darin, dass die Führungsrolle der Arbeiterklasse überholt und der verfassungsmäßig diktierte Machtanspruch der SED nicht länger aufrechtzuerhalten sind. Diesen Brief verschickte er gleichsam an die Vorstände der in der Nationalen Front vereinigten Parteien und Massenorganisationen, außerdem an einen Vertreter des Neuen Forum. Holstein verstand dies als seinen Beitrag zu einer Koalition der Vernunft, die sich für die konsequente Überwindung des Stalinismus in der DDR einsetzt, unabhängig von den weltanschaulichen Positionen ihrer Teilhaber. Anstelle der für ihn bis zu diesem Zeitpunkt gültigen Parteidisziplin, der er sich über Jahrzehnte vom Prinzip her stets abtrichslos beugte, setzte er von nun an sein politisches Gewissen.

Die seit seiner Kontaktaufnahme mit dem Neuen Forum durch ihn bereits bemerkten Überwachungen durch die Sicherheitsorgane (sie hatten ihn ja vor Jahren auch diesbezüglich gut ausgebildet) wurden offenbar verstärkt, heute stellte er beim Betreten seines Dienstraumes die Durchsuchung seiner Aktenschränke und seines Schreibtisches fest. Holstein meldete es sofort pro forma dem Verantwortlichen für allgemeine Sicherheit im Hause, wohl wissend, dass der mit denen, welche durchsuchten, unter einer Decke steckte.

Donnerstag, 2. November 1989

In der für den 4. November in Berlin durch den Künstlerverband der DDR geplante Demonstration sah Holstein die größte Chance, vor den Augen der Weltöffentlichkeit den Willen der Bevölkerung der DDR zu bekunden, die größte, kaum wiederkehrende Möglichkeit, in einer völlig gewaltfreien und demokratischen Weise die bestehenden politischen Verhältnisse zu wenden. An eine tatsächliche Wende, wie sie Honecker-Nachfolger Egon Krenz unter der Führung des SED-Politbüros zu vollziehen versprach, glaube er längst nicht mehr.

Nächtelanges Grübeln ließ in ihm einen Plan reifen, den es den ihm bereits bestens bekannten Vertreter des Neuen Forum zu vermitteln galt. Der vereinbarte telefonisch das von Holstein mit aller Dringlichkeit angemahnte Treffen in seinem Haus am Stadtrand. Dort angekommen erkannte Holstein schon von weitem die Beobachtergruppe des MfS, drei Männer, eine Frau, die Männer trotz wolkenlosen Himmels bewaffnet mit Regenschirmen, wahrscheinlich rauchten sie „Club“, ihre Stammmarke.

Der Vertreter des Neuen Forum hörte sich Holsteins Überlegungen aufmerksam an, vorsichtshalber trug Holstein diese ihm in seinem abhörsicheren Garten weit hinter dem Haus vor. Er ging dabei davon aus, dass zur geplanten Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz mindestens eine halbe Million Menschen erscheinen werden. Unter den Augen der Fernsehkameras aus aller Welt sollte nach seinen Vorstellungen Egon Krenz von der versammelten Masse durch permanente Sprechchöre zum Erscheinen gezwungen und ihm dann das Versprechen abgerungen werden, binnen kürzester Frist einen Volksentscheid zur bestehenden Verfassung anzuberaumen. Holstein war der Meinung, dass ein solcher Volksentscheid zur Verfassung, welche in ihren erstem Artikel den Führungsanspruch der SED definiert, den Ansprüchen an Demokratie am besten gerecht wird. Soll der Souverän entscheiden, das Volk. Nicht die SED, nicht das Neue Forum, nicht andere Gruppen und Verbände, sondern das Volk, allein das Volk.

Der Neues-Forum–Vertreter sicherte Holstein die Übermittlung seiner Darlegungen an den Landesvorstand des Neuen Forum zu.

In der darauffolgenden, schlaflosen Nacht wurde Holstein von Krämpfen der Verzweiflung, der Wut und des Zorns geschüttelt. Abgrundtiefer Haß bracht aus ihm heraus, Haß auf diejenigen, die auch ihn mit Lügen und Halbwahrheiten gefüttert, mit pseudowissenschaftlichen Phrasen belogen und betrogen, die mit einer selbstgerechten Arroganz und Ignoranz ohnegleichen sein Land, sein Volk so weit an den Abgrund einer Katastrophe geführt hatten.

Freitag, 3. November 1989

Holstein verzichtete auf seinen für diesen Tag eigentlich geplanten Urlaubstag und beschloss, sich an der Wandzeitung seiner Abteilung in aller Offenheit und mit aller Konsequenz zu offenbaren. Er bekannte sich in seinem Aushang zu den Zielstellungen des Neuen Forum und vermeldete gleichzeitig seine Teilnahme an der Demonstration in Berlin unter dem Motto: Wir sind das Volk – keine Diktatur!

Seinen Standpunkt zur gesellschaftlichen Krise in der DDR , den er bereits dem Neuen Deutschland als offenen Brief zugeschickt habe, befestigte er daneben. Außerdem forderte er die Einberufung der längst überfälligen Parteiversammlung, um endlich klar Schiff zu machen.

Der Aushang ruft einen Menschenauflauf hervor, wie ihn dieses allzeit mit rotem Fahnentuch bespannte Brett wohl noch nie gesehen hat. Rufe werden laut im Tumult, die euphorische Woge rundete sich von abgrundtiefem Haß bis Zustimmung, nur wenige standen dabei, die nichts zu sagen hatten.

Am Abend beteiligte sich Holstein wieder an der Demonstration durch das Stadtzentrum. Zu Hause erwartete ihn ein Kollege von Dani, gerade erst aus einem Auslandseinsatz in Rumänien und Bulgarien zurückgekehrt. Auf der Heimfahrt durch die Slowakei wären sie fast in Österreich gelandet, da sie wie gewohnt dem Strom der mit DDR-Kennzeichen versehenen Fahrzeuge in Richtung Heimat folgten und ihren Irrtum erst kurz vor der Grenze bemerkten. Sie scherten aus der Kolonne aus ernteten bei ihrer Umkehr von den ihre bisherige Route Beibehaltenden erstaunte Minen und lange Hälse. Im Betrieb angelangt führte man sie gleich zuerst in einen eigens dazu eingerichteten Raum, wo Mitglieder der noch amtierenden Betriebsparteileitung die zurückgegebenen Parteiausweise einsammelten und, fein säuberlich nach dem Alphabet sortiert, in Karteikästchen ablegten. Außen neben der Tür zu diesem Raum hing ein Foto von Schalk-Golodkowski, darunter stand „Wanted!“. So kam Bernd ob der unerhörten Geschehnisse rundum aus dem Staunen nicht heraus und suchte die Holsteins abends als erste Anlauf- und Informationsstelle auf. Holstein setzte ihn grob von den Vorgängen in Kenntnis, schilderte ihm auch seine eigenen Anteile am Versuch, demokratische Verhältnisse auf sozialistischer Grundlage im Lande zu schaffen und informierte ihn über seine Absicht, an der Demonstration in Berlin am folgenden Tag teilzunehmen. Spontan sagte Bernd seine Teilnahme zu. Sie schnitten noch an diesem Abend aus einem Bettlaken ein Transparent heraus und beschrieben es mit roter Farbe: „Volksentscheid zur Verfassung“.

Samstag, 4. November 1989

Gegen drei Uhr morgens brachen sie auf. Das Wetter war kalt und regnerisch und beiden nicht wohl. Was wird sie erwarten dort in Berlin? Polizei- und Armeesperren, Panzer, spanische Reiter? Sie wussten es nicht, was sie wussten war: An diesem Tag ging es nicht um Bananen oder Reisefreiheit, es ging um die Wurst, um die Brechung des Machtmonopols der SED-Führung nebst deren Vasallen. Kurz vor Berlin wurden sie von einer Polizeistreife angehalten, wollten sie sie nicht hineinlassen in die Stadt? Alles in Ordnung, die Polizisten gaben nach Angabe des Fahrzieles den Weg wieder frei. Ab und an schauten sie in den Rückspiegel. Nach dem Umsteigen in die S-Bahn am Stadtrand wechselten sie an der dritten Station den Zug. Niemand folgte ihnen, aber Vorbeugen ist besser als auf den Rücken fallen.

Am Alexanderplatz erblickten sie eine unübersehbare Menschenmenge, Holsteins Erwartungen hatten nicht getrogen. Der Demonstrationszug war bereits in Bewegung, uniformierte Sicherheitskräfte oder gar schwer bewaffnete Einheiten nirgendwo zu sehen, abgesehen von den wenigen sperrenden und regelnden Verkehrspolizisten. Entlang der Strecke standen Männer und Frauen mit gelb-grünen Schärpen, versehen mit der Aufschrift: Ohne Gewalt.

Noch erschien ihnen die Stimmung im Demonstrationszug, in den sie sich einreihten, ernst und gedrückt. Ihr Transparent hielten sie mit den Händen zwischen ihnen gespannt, Fahnenstöcke und Reißzwecken waren im Kaufhaus am Alex ausverkauft. Die hinter ihnen Laufenden trugen ein farbenfrohes und breitflächiges Fahnentuch, darauf stand : Asterix ins Politbüro!

Zunehmend kam, unterstützt auch durch die Vielzahl der politischen Karikaturen, Freude und Optimismus auf unter den Demonstranten, die Stimmung wurde ausgesprochen locker, keine Spur von Aggressivität. Ruhig und diszipliniert strebte der endlose Strom nun wieder dem Alexanderplatz entgegen, begleitet von der Musik zahlreicher Liedermacher und Gesangsgruppen, keine der sonst üblichen dumpf-dröhnenden Marschmusik unter der Allmacht roter Fahnen.

Der erste Redner trat ans Pult, jetzt gilt’s! Aber die Forderung nach dem Erscheinen von Egon Krenz blieb aus. Es lief nicht so, wie es Holsteins Plan vorsah, er sah die große Chance vertan. Doch Holstein wurde auf andere Weise entschädigt: Gleich einem roten Faden durchzog eine Forderung fast alle Reden: Schluss mit dem Führungsanspruch der SED! Schon der dritte Redner formulierte sie klar und eindeutig, tosender Beifall branntete auf. Gleich einem Zeichen höherer Gewalt zog sich der bis dahin verhangene Himmel auf und die Sonne tauchte mit ihren Strahlen in die bunte Vielfalt der Demonstranten. Diese Art von Revolution war auch Holstein lieber als eine am Rande der Gewalt balancierende.

Auf der Rückreise trafen sie in der S-Bahn auf zahlreiche andere Demonstrationsteilnehmer, sie kamen ins Gespräch mit Katholiken aus dem Eichsfeld, mit parteilosen Landwirten aus Mecklenburg, die Barrieren der Weltanschauungen schienen überwunden, alle eint das gleiche Ziel: die Errichtung einer menschenwürdigen Demokratie mit sozialistischem Antlitz.

Holstein glaubte, mit der Demonstration hätte die Herbstrevolution ihren Höhepunkt erreicht, der Ministerrat wird zurücktreten und den Weg freimachen für Neuwahlen. Das Volk trug den Sieg davon. Eine Revolution auf höchster Kulturstufe, würdig eines Goethes und Hegels.

Auf der Heimfahrt im Trabi atmete sich die Luft irgendwie leichter und freier als bei der Herfahrt, sie schauen auch nicht mehr in den Rückspiegel, jedenfalls nicht aus dem Grund, Verfolger oder Beobachter zu erspähen.

Sonntag, 5. November 1989

Gleich morgens befestigte Holstein das Transparent, welches er mit Bernd zur Demo in Berlin vor sich her trug, am Balkon seiner Wohnung, dann begab er sich mit Daniela zur Mensa der Technischen Universität, dort sollte im Beisein des Vorsitzenden des Rates des Bezirkes, seines obersten Dienstherrn also, und des Oberbürgermeisters der Stadt eine Diskussionsrunde zu kommunal-politischen Themen stattfinden. In Holstein verstärkte sich zunehmend der Verdacht, dass die an der politischen Führung des Landes Beteiligten versuchten, von den wirklichen Problemen abzulenken und der allgemeinen Spannung im Volk durch Verlagerung der Debatten auf sekundäre Ebenen die Brisanz zu nehmen. In der Mensa seiner einstigen Uni waren weit über tausend Menschen eng aneinander gedrängt versammelt, unzählige standen im Treppenhaus und noch draußen vor der Tür.

Sofort nach Eröffnung der Diskussion ergriff Holstein als erster Diskussionsredner das Mikrophon. Es galt zu verhindern, dass die Thematik von den derzeitigen gesellschaftlichen Hauptfragen, allem voran der der Machtausübung, auf Nebengleise geschoben wird. Nicht kommunale Angelegenheiten waren hier und heute aufzuwerfen sondern Grundüberlegungen zur Demokratisierung und Erneuerung der DDR, so lautete, nachdem sich Holstein vorgestellt hatte, sein erster Satz. Er bekannte sich zur vieljährigen Mitgliedschaft in der SED und zu seinen sozialistischen Idealen, schilderte seine Eindrücke von der gestrigen Demonstration in Berlin, sprach der Arbeiterklasse und der sie angeblich führenden Partei das Recht auf das Machtmonopol ab und forderte einen Volksentscheid zur Verfassung.

„Ja,“ sagte er abschließend, „ich bin Kommunist und werde es auch bleiben. Eben deshalb stehe ich ein für einen demokratischen Sozialismus, nicht für einen Kasernenhofsozialismus preußischer Prägung. Farbenfroh soll mein Sozialismus sein wie die gestrige Demonstration in der Hauptstadt. Inmitten der bunten Farbtupfer aber will ich auch meine rote Fahne nicht vermissen, gleichberechtigt neben den vielen anderen.“ Tosender Beifall.

Nach ihm sprachen noch viele, emotionell erregt die meisten, teilweise auch unsachlich, alle aber von sozialistischem Gedankengut geprägt. Beim Beitrag des letzten Redners, die Uhr zeigte bereits weit nach Mittag, lief Holstein ein eisiger Schauer über den Rücken. Der Redner lehnte sich ganz offensichtlich an seinen, Holsteins, Beitrag an. Weltanschauung sei wie Religion eine Sache des Individuums, ganz egal ob blau, rot oder gelb. Worum es wirklich gehe, das wäre die Errichtung eines modernen Wirtschafts- und Finanzsystems nach den Maßstäben Westeuropas und Amerikas. Welche Farben darin aufträten, sei völlig unbedeutend, wesentlich allein sei die wirtschaftliche Effizienz im Gegensatz zur Mangelwirtschaft des momentan betriebenen Staatssozialismus.

Der Inhalt dieser Rede zielte unter dem Strich klar und unmissverständlich auf nichts anderes als auf die Restauration des Kapitalismus in der DDR, das aber war nicht Holsteins Ziel und auch nicht das der meisten Mitglieder des Neuen Forums, die er kennengelernt hatte. Holsteins Ziel war und blieb eine Gesellschaft welche in ihrer politischen und ökonomischen Substanz die optimale Erzeugung und Verteilung von Gebrauchswerten vor den Tanz ums Goldene Kalb, die Chance auf ein existenziell gesichertes, in Übereinstimmung mit den natürlichen Ressourcen die Bedürfnisse der Menschen immer besser befriedigendes, langfristig plan- und berechenbares Leben für Millionen vor die Chance des Individuums auf den Erwerb von Millionen, Kontinuität und Stabilität der Lebensverhältnisse aller vor den Milliardenerfolg weniger, eine humanistisch-ästhetische Bildung und Erziehung vor die merkantile Nutzbarmachung menschlicher Urtriebe und Instinkte setzte

Am Abend erscheinen bei ihm zu Hause sein Abteilungsleiter und der Parteisekretär seiner Grundorganisation. Sie verlangen von ihm die Entfernung des am Balkon befestigten Transparentes. Dieses Ansinnen aber lehnte Holstein strikt ab.

Manchmal wurde ihm auch grundübel, dann hatte er Angst, höllische Angst. Sie überkam ihn wellenartig bei Tag und vor allem in der Nacht. Sie würgte ihn, presste ihm den Brustkorb zusammen, nahm ihm die Luft. Was, wenn sich die Dinge plötzlich wieder wendeten? Wenn es den dogmatischen Kräften wider Erwarten doch gelänge, erneut Oberwasser zu erlangen? Dann stecken sie ihn wegen des Versuchs zum Hochverrat und Volksverhetzung in den Knast oder wenigstens als Hilfsarbeiter in irgendeine Bude zur Flaschenreinigung oder in die Tierkörperverwertung oder ähnliches. Mit einem Schonplatz im Bereich Konsumgüter wäre dann nicht mehr zu rechnen. Dann wäre es auch aus mit der wissenschaftlichen Laufbahn des Sohnes. Dann wird es auch nichts mit Marias Abitur, dann bleibt auch Daniela nicht ungeschoren. Dann machen sie reinen Tisch. Dann stellen sie Einheit, Reinheit und Geschlossenheit wieder her und zwar mit all ihrer Tatkraft.

Montag, 6. November 1989

Holstein wurde gleich morgens nach Dienstantritt zum Leiter des Fachorgans gerufen. Neben ihm haben an der großen Beratungstafel sein Stellvertreter und der Parteisekretär Platz genommen. Es ging um das Transparent am Balkon seiner Wohnung und um seinen Auftritt in der Mensa der Uni am gestrigen Sonntag. Sie kamen allerdings auf keinen gemeinsamen Nenner, Holsteins Tragbarkeit als Mitarbeiter des Staatsapparates wird in Abrede gestellt, auch wenn er darin nur technischer, kein politischer Angestellter ist. Bei allem Hin und Her des Disputs einte sie lediglich noch der Begriff „Sozialismus“. Holsteins Entlassung aus dem Dienstverhältnis im Staatsapparat schien am Ende eine beschlossene Sache zu sein. Nur überrollten die Ereignisse die Entscheidungsträger.

Nach dem unblutigen Verlauf der Berliner Demonstration am vergangenen Samstag erwartete Holstein für den Abend, dass nun auch in seiner Stadt die montägliche Willenskundgebung sich erheblich verstärken wird. So war es auch. Trotz Kälte und strömenden Eisregens waren Hunderttausende in mehreren Marschblöcken unterwegs. Der Straßenverkehr in der Innenstadt kam zum vollständigen Erliegen. Die Demonstranten setzten sich in mehreren Richtungen in Bewegung, sie durchfluteten die gesamte Innenstadt. Die Menschenmasse, dicht bei dicht, quoll durch die Straßen, es gab kein Zurück, kein Ausweichen, nur vorwärts, vorwärts, dem Monument von Karl Marx entgegen. Dort war eine Rednertribüne errichtet worden. Massive Sprechchöre wanden sich gegen den Führungsanspruch der SED, forderten einen Volksentscheid zur Verfassung, verlangten die sofortige Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit. Und immer wieder erklang im von Herbststürmen gepeitschten kalten Regen der alle vereinende Ruf „Wir sind das Volk!“. Rufe nach dem Ersten Sekretär der Bezirksleitung wurden laut, der erschien auch, Ordner des Neuen Forum um ihn herum zu seinem Schutz vor Übergriffen der erregten Masse. Der Mann war sichtbar um Jahre gealtert, verloren seine sonst so sichere Redeführung, stockend versuchte er sich zu artikulieren und Argumente aufzubauen, umsonst. Er wurde immerzu unterbrochen: „Wir wollen keine Lügen mehr!“, „Zu spät, zu spät!“, „Vierzig Jahre DDR sind genug!“. Pfiffe und Buh-Rufe verhinderten den Fortgang seiner Rede, andere Redner betraten das Podium. Demokratie jetzt, Vereinigte Linke und wie sie alle heißen, die breite Palette der politischen Strömungen stellte sich dar. Obgleich Holstein letzten Endes unter der Leitung des Ersten Sekretärs während seiner Tätigkeit in der SED-Bezirksleitung die bisher mit Abstand schlimmste Phase seines Berufslebens durchgemacht hatte, tat ihm der Erste jetzt leid. Auch auf dem Alexanderplatz hatte Holstein am vierten November Pfiffe und Buh-Rufe gehört, viele bei Schabowski, weniger bei Markus Wolf, nie aber in der Form, dass wie er heute erstmals erlebte eine Argumentation gänzlich verhindert wurde. Das widersprach seinen Vorstellungen von einem sachlichen Disput, wie auch immer sich manche der jetzt derart überzogen Rebellierenden durch die bisherigen Machtausübenden behandelt fühlen mochten.

Auch mehrten sich die Anzeichen dafür, dass die Bürgerbewegung zur Demokratisierung und wirtschaftlichen Konsolidierung der DDR abglitt in das Bestreben nach Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten. Statt der bislang noch mitgeführten DDR-Flaggen und roten Fahnen sah Holstein nun mehrheitlich schwarz-rot-goldene Flagge ohne DDR-Emblem. Särge mit der Aufschift „DDR“ wurden herumgetragen. Am Rande der Kundgebung hielten ein paar zweifelsfrei Angetrunkene ein riesiges Transparent über sich gespannt, worauf geschrieben stand: „Keine Experimente mehr! Probiert euren Sozialismus erst an weißen Mäusen aus.“ Prima, dachte Holstein bei sich, allem Anschein nach auch Vertreter der führenden Klasse. Wenn sie tatsächlich den Kohl als baldigen Chef aller Deutschen sehen sollten, sind solche wie die wohl die Ersten, die nicht nur befreit von Diktatur sondern befreit auch von Arbeit auf der Straße liegen werden.

Dienstag, 14. November 1989

Fast eine Woche nach dem Fall der Berliner Mauer und der Öffnung der Westgrenzen schien das Volk anderen Sinnes zu sein. Statt zur Demonstration für eine wirkliche demokratische Wende in der DDR, die ja beileibe noch nicht vollzogen ist, setzten sie sich mit allen möglichen Fahrwerken in Richtung Westen in Bewegung, um den Duft der freien, weiten Welt zu schnuppern und das Begrüßungsgeld zu kassieren. Manche, so hörte Holstein, seien sogar im Trabi vom fernen Wismar bis nach München gefahren, da soll es zusätzliche Begrüßungsgelder gegeben haben. Mutierte das Volk der DDR, welches gerade erst die wichtigsten Grundlagen der Demokratisierung des Landes erkämpft hatte, jetzt zu Bettlern und Bittstellern? Gab es im Land nicht Wichtigeres zu tun als zu gieren nach ein paar Westgroschen? Die Öffnung der Grenzen betrachtete Holstein als einen folgerichtigen Akt, einer im wahrsten Wortsinn grenzenlosen Euphorie verfiel er deswegen nicht, seine Heimat war die DDR.

Früh am Morgen nahm ihn sein Kollege Schwarzer zur Seite, ein sachlicher und überlegter Mensch. Früher diente der bei den Raketentruppen der NVA als Stabsoffizier. Für die Ziele der Bürgerbewegung hat er sich nie eingesetzt, er gehört aber auch nicht zum Kreis derer, die Holstein der konterrevolutionären Aufwieglung beschuldigen. Schwarzer beobachtete die Geschehnisse von einer höheren Warte ohne eigenes Zutun, weder für noch wider. Gestern machte er vor der nunmehr routinemäßigen Montagsdemonstration beim üblichen Bier nach Dienstschluss in der Stehkneipe an der Ecke eine Entdeckung. Dort standen an die zwanzig Kerle, die offensichtlich von einem in bayrischer Mundart sprechenden Mann bei reichlich Bier und Schnaps instruiert wurden. „Du stehst in der Ecke beim Zeitungskiosk, ihr zwei gleich vor dem Monument, du dort und du dort. Hier sind die Losungen.“ Der mutmaßte Bayer teilte Zettel aus, und die Eingeteilten zogen zu den ihnen zugewiesenen Stellplätzen ab.

Holstein hatte es selbst schon mit Befemden vermerkt, dass sich die versammelten Massen Sprechchören, die eigentlich von ganz wenigen, dafür um so lautstarker und eindringlicher vorgetragen wurden, schnell anschlossen. Massensuggestion. Sollte es nunmehr wirklich eine gezielte Steuerung geben? Möglich war alles. Und warum sollte ausgerechnet der Westen jetzt nicht alles tun, um mit seiner Unterstützung dem Sozialismus auf deutschem Boden ein für alle mal, zumindest für kaum absehbare Zeiten, den Garaus zu machen, eine bessere Chance als zur Zeit wird es dafür kaum geben. Holstein schien, dass man Schwarzers Beobachtungen Glauben schenken durfte, ein Schwätzer war der noch nie. Hatte er nicht selbst erlebt, wie während einer dieser Demonstrationen plötzlich sein Nebenmann, ein rechter Kümmerling eigentlich, dem man es eigentlich kaum zugetraut hätte, wie von Sinnen losbrüllte, dass ihm, Holstein, vor Schreck fast die Zigarette aus dem Mund gefallen wäre:“ Visfrei – bis Hawaii!“ Schon beim wiederholten Mal fielen nahezu alle im Umkreis Marschierenden begeistert in diesen Ruf ein. Massensuggestion eben.

Endlich fand die längst fällige, von Holstein und anderen mit aller Nachhaltigkeit eingeforderte Parteiversammlung statt. Holstein ging nach Lage der Dinge immer noch davon aus, dass nur eine konsequent demokratisch reformierte SED die anstehenden Probleme lösen könnte. Neues Forum, Vereinigte Linke, Demokratie waren allesamt Gruppierungen ohne Rumpf, waren nur Köpfe. Die neugegründete SPD-Ost hatte kaum Zulauf, schon gar nicht von den Massen. Die SED aber verfügt noch immer über Millionen von Mitgliedern, das waren doch nicht bloß lauter Luftblasen, da steckte doch geballtes Wissen und Gewissen dahinter, nur schnell freimachen musste sie sich von allen stalinistischen Inhalten, Erscheinungsformen und Funktionsträgern.

Als Holstein auf der Parteiversammlung dann seine Positionen verteidigte, und das DDR-Wirtschaftssystem als einen Lego-Bausteinkasten bezeichnete, den das Politbüromitglied Mittag offenbar je nach seinen Vorstellungen und Wünschen gebrauchte, entstand heftiger Tumult. Kein Wunder, die vor ihm Sitzenden waren allesamt Wirtschaftsplaner und hatten am Versagen der DDR-Wirtschaft ihren eigenen Anteil, der eine mehr, der andere weniger. Dann legte Holstein entgegen der ihm eigentlich noch immer auferlegten Schweigepflicht offen, dass er es zutiefst bedaure, zeitweilig im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit und damit im engsten Sinne für dieser Partei- und Staatsführung tätig gewesen zu sein. Paulig, schon immer ein besonders eifernder Genosse, sprang wie von einer Tarantel gebissen von seinem Stuhl hoch, dass dieser mit Getöse nach hinten fiel und schrie in höchster Erregung und mit überschnappender Fistelstimme: „Das ist Verrat, das ist Verrat!“. Die stalinistische Fraktion der Versammlung forderte laut durcheinanderschreiend Holsteins sofortigen Parteiausschluss. Besonders hervor taten sich dabei zwei Parteimitglieder, welche schon immer, obgleich ohne dahinterliegendem Karrierestreben, etwas verworrene Positionen vertraten. Zum einen der Leiter der hauseigenen Telefon- und Fernmeldebrigade Schilling, zum anderen Holsteins Holsteins Kollegin und Fast-Nachbarin Dimitreos.

Schilling, das wusste Holstein, war ein rechthaberischer Einfaltspinsel, der zu oft schon mit dummen Bemerkungen auffiel. Erst kürzlich hat er allen Ernstes behauptet, wäre es ungerecht, wenn der Chefchirurg im Krankenhaus mehr verdient als die Putzfrau. Dies mit der Begründung, ohne die vorher den OP-Saal reinigende Putzfrau könne der Chirurg nicht operieren. Zudem war allgemein bekannt, dass Schilling dafür Verantwortung trug, dass zu den alljährlichen Maidemonstrationen der Beifall nicht verebbte. Wenn die auf der Tribüne Stehenden gegen Mittag müde wurden, und der Applaus, den sie der an der Tribüne vorbeimarschierenden Menge spenden, spürbar nachließ, drehte Schilling, der für die ordnungsgemäße Beschallung mit Arbeiter- und Kampflieder zu sorgen hatte, am Regiepult den eingemischten Beifall stärker auf. „Das bringt immer ganz enorm“, so befand er,“ die Flügellahmen wieder auf Trab.“

Kollegin und Fast-Nachbarin Dimitreos hatte vor vielen Jahren einen der Griechen geheiratet, die als kommunistische Partisanen in der ELAS kämpften und danach in die DDR übersiedelten. Manchmal fuhren Holstein und sie nach Arbeitsschluss mit Bus und Bahn zusammen nach Hause. War die Dimitreos auch freundlich, nett, stets hilfsbereit und umsorgend, so war sie andererseits von einer derart frappierenden politischen Naivität und einem solchen missionarischem Fanatismus befangen, dass es Holstein mehrfach die Sprache verschlug. Eines Abends stießen sie einmal nahe Holsteins Wohnung auf einen dort schon geraume Zeit gelbbraune Brühe über den Fußweg sprudelnden Wasserrohrbruch.

„Siehst du Gert, wenn wir einmal den Kommunismus erreicht haben, werden die Bewohner dieses Hause ganz freiwillig und unentgeltlich daran gehen, den Schaden selbst zu beheben.“

Holstein sah sie vor seinem geistigen Auge aus dem Haus treten, Hacken und Spaten geschultert. Den dicken Polizisten Bräuer, den eleganten Hochschullehrer Schuster, die protzige Intershop-Verkäuferin Zwiesel und all die anderen, die er mit Müh‘ und Not wenigstens dem Gesicht nach diesem Haus zuordnen konnte. Aber beim besten Willen gelang es ihm nicht, sich vorzustellen, dass diese Leute mit Fachkompetenz den Wasserrohrbruch beheben könnten Ganz und gar nicht vorstellen konnte er sich, dass sie dies darüber hinaus auch noch gänzlich freiwillig ohne jedwede Bezahlung tun würden.

„Wäre es da nicht ratsamer, wir verbinden unserer Vorstellung von dieser lichten Zukunft damit, dass schnell ein Fachmann zur Hand wäre, wenn man ihn braucht?“, hielt er ihr damals vorsichtig entgegen. Sie hatten nunmehr seinen Hauseingang erreicht, da galt es zu verhindern, dass Kollegin Dimitreos ihn vor seiner Haustür mit der ihr eigenen Lautstärke in einen mit abstrusen Ideen angereicherten Meinungsaustausch verstrickte.

„Nein, euch werde ich nicht das Feld überlassen,“ antwortete Holstein nun in der Versammlung auf das Ansinnen seiner Gegenspieler, „nun gerade nicht.“

Im Verlauf der hitzigen Debatte wählte ihn die Mehrheit der Anwesenden dann in die neue Parteileitung, und Holstein forderte:

Lückenlose Aufdeckung vergangener Parteipolitik, Neufassung von Programm und Statut, Abänderung von Namen und Symbol, radikale Trennung von allen Stalinisten. De facto liefen diese Punkte auf die Auflösung der SED und deren völlige Neukonstituierung hinaus.

Noch vor dem Parteitag aber trat Holstein am 4. Dezember 1989 aus der SED aus, nachdem er die dort gerade aufgenommene Funktion niedergelegt hatte. Er tat dies angesichts der immer offener zu Tage tretenden drastischen Verfehlungen, ja Verbrechen der bisherigen Parteiführung. Mit diesem Parteisystem wollte er nichts mehr gemein haben, schon gar nicht den über und über besudelten Namen.

Der mit all seiner Inkonsequenz im Dezember 89 durchgeführte Parteitag der SED rechtfertigte Holsteins Entschluss. Immer wieder auf die drohende Spaltung der Partei verweisend - die inhaltlich längst vollzogen war - ließ der Parteitag mit seinen Ergebnissen auch den hartgesottenen Stalinisten und ihren Helfershelfern die Möglichkeit des Verbleibs in den Reihen der SED-PDS. Damit blieben die personifizierten Wurzel des Stalinismus erhalten, die Chance für eine wirkliche Erneuerung war vertan.

Genosse Paulig, Holsteins eifernder Widerpart, trat kurz nach Holstein aus der Partei aus und gehörte zu den ersten Mitgliedern des Beamtenbundes in der neu gebildeten Behörde.

Setzer, Holsteins neuer Abteilungsleiter kurz vor der Wende, avancierte bis zum Anschluss an die BRD zum Leiter der örtlichen Niederlassung der Treuhandgesellschaft. Heute führt er kleines Unternehmen, worin er sich mit der Archivierung von Unternehmensunterlagen seine Brötchen verdient.

Schilling, ehemals Leiter des Reservistenkollektives und Stimulator der Beifallsbekundungen zum Ersten Mai, fiel mit Beginn der Umstrukturierung wie die meisten der über eintausendfünfhundert Beschäftigten in die Warteschleife und wurde nicht wieder in die Belegschaft der nun neu gebildeten Behörde übernommen. Er machte sich mit einem kleinen Unternehmen, welches sich dem Verkauf von Büromitteln und Telefonanlagen verschrieb, selbstständig. Die allgemein erbärmliche Ertragslage des Unternehmens, verbunden mit massiven Zahlungsausständen seiner Kundschaft, veranlasste ihn in der Mitte der neunziger Jahre alle seine für die Rente hinterlegten Ersparnisse aufzubrauchen und die Krankenversicherung zu kündigen. 1999 gab er, nachdem er schon seit Monaten weder die Miete für seine Wohnung noch für das kleine Büro mehr bezahlen konnte, ihm sämtliche Konten wegen immenser Überziehungen gesperrt waren, das Unternehmen auf und meldete sich beim Sozialamt. Schilling ist noch heute Mitglied der Linken.

Für die Kollegin Dimitreos, die im herbeigesehnten Kommunismus aus normalen Hausbewohnern freiwillige Reparaturbrigaden rekrutieren wollte, brach mit der Wende eine ganze Welt zusammen. Bald wurde sie auch entlassen und dem sich zunehmend rasch mausernden Heer der Arbeitslosen im Osten Deutschlands zugestellt. Holstein traf sie Jahre später, da arbeitete sie ehrenamtlich für eine kirchliche Hilfsorganisation und wollte sogleich mit allem Eifer auch Holstein dafür gewinnen.

Genosse Wunderlich, der sich einst neben Holstein um den raschen Einsatz Computers verdient machte, verblieb im aus der alten DDR-Behörde hervorgegangenen Regierungspräsidium. Hier erklomm er mit Intelligenz und ideenreicher Anpassung stetig Stufe für Stufe. Zur Volkskammerwahl im März 1990, zu diesem Zeitpunkt noch Mitglied der PDS, wählte Wunderlich die CDU, da er nur dieser Partei kraft ihrer einflussreichen Schwesterpartei im Westen zutraute, das marode Wirtschaftssystem der DDR in angemessenem Zeitraum wieder auf die Beine zu stellen. Zu den Kommunalwahlen wenige Monate darauf gab er seine Stimme den Bündnis-Grünen, weil er sich von denen Ordnung und Sauberkeit in seinem Wohngebiet versprach. Zur Bundestagswahl im Herbst endlich, da inzwischen parteilos, stimmte Wunderlich für die PDS. Er ging hierbei davon aus, dass bei einem möglichen Nichteintritt der PDS in den Bundestag diese viel eher als kriminelle Organisation verunglimpft werden könne, was seiner Karriere im neuen Amt als ehemals langjähriges SED-Mitglied und Angehöriger der DDR-Grenztruppen zumal nicht unbedingt förderlich wäre.

Kommen wir nun die Geschichte abrundend zu Holstein und den Seinen.

Die fortschreitende „Germanisierung“ der Montagsdemonstrationen, wie er die Schwerpunkt-verlagerung der Demonstrantenrufe nach D-Mark und Wiedervereinigung bezeichnete, hielt Holstein schon Wochen vor der Jahreswende 1989 davon ab, sich an diesen Umzügen weiterhin zu beteiligen. Wiedervereinigung war nicht sein Thema.

Zwischen Weihnachten und Silvester des scheidenden Jahres machte sich Holstein nebst Daniela per PKW auf seine erste Reise in Richtung Westen, angestiftet durch Danielas heißes Begehren, auch endlich in den Besitz von Westgeld zu gelangen. Bis dahin wusste Holstein nicht einmal, wie diese Münzen und Scheine aussahen. Mit an Bord auch Vater Holstein, der war von Mutter Holstein beauftragt, sich nach ordentlichem Frischfisch jenseits der Grenze umzuschauen. Sie machten sich gegen Mittag auf die Reise und kamen im nächsten Ort nach der Grenze gegen sieben Uhr am Abend an. Knappe einhundert Kilometer legten sie in knapp sieben Stunden zurück. Diesmal aber lag’s nicht am Fahrzustand der „Soljankaschüssel“, schon vor Plauen gerieten sie auf der Autobahn in den Rückstau.

Holstein, der während seiner Militärdienstzeit an verschieden Ladungsmanövern der Warschauer Vertragsstaaten im Ostseeraum teilnahm und dabei zu Zeiten mehrere hundert, vielleicht sogar tausend Luft-, Wasser- und Landfahrzeuge gleichzeitig im Einsatz sah, konnte es nicht fassen, was er durch die vereisten Scheiben des PKW erblickte: eine nicht übersehbarer Masse von Fahrzeugen mit Kfz-Kennzeichen von Rostock bis Dresden quälten sich bei zunehmend eisiger Winterluft in das Abendrot, aus allen möglichen Richtungen einherkriechend, riesigen Lindwürmern gleich über die sich im fürchterlichen Zustand befindlichen Straßen der kürzlich geöffneten Grenze entgegen.

Holstein bog gleich nach der Grenzdurchbruch auf einen Feldweg seitlich der Autobahn in die nächste Ortschaft ab. Vor dem Gemeindeamt im Talgrund warteten im benzindurchtränkten Abendnebel die noch auf Westgeld erpichten DDR-Bürger mehrfach an die fünfhundert Meter in einer Reihe nebeneinanderstehend mit Geduld auf die ersehnten Geldscheine, begafft dabei von den schaulustigen Altbundesbürgern. Die fuhren in ihren Wagen an der im abendlichen Dunst stehenden Menge vorbei, klotzten ungläubig und überheblich aus dem warmen Inneren ihrer Fahrzeuge auf die Reihen ihrer Brüder und Schwestern aus dem Osten, als wären diese Tiere im Zoo und verpesteten mit ihren Abgasen die Luft noch zusätzlich, so dass das Atmen in der Talsenke immer schwerer fiel. Holstein schämte sich in der Masse eingekeilt seiner selbst und seiner Landsleute wie ein Bettnässer, doch an Umkehr war angesichts Daniela Begehrlichkeiten nicht zu denken. Gegen acht Uhr Abends hatten auch die Holsteins endlich ihr Begrüßungsgeld in der Tasche, an Frischfisch freilich wurde um diese Zeit nicht einmal ein Gedanke mehr verschwendet. Für die Heimfahrt inmitten der unübersehbaren Fahrzeugkolonnen verbrauchten sie wiederum Stunden über Stunden, etwa drei Uhr nachts kamen sie völlig übermüdet und verklammt zu Hause an.

Die Ergebnisse der ersten freien Volkskammerwahlen im März des Jahres 1990 versetzten Holstein einen herben Schlag. Wohl hatte er den deutlichen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung zur Kenntnis genommen, hatte die nur mäßige Resonanz auf Christa Wolfs Aufruf zum Erhalt der DDR mit großer Verdrossenheit vermerkt, hatte vor allem in den Stadtvierteln, wo massiv die Arbeiterschaft zu Hause war, die schier unendlichen Fahnenmeere schwarz-rot-goldener Prägung ohne Emblem gesehen, hatte wohl bemerkt, dass zur Wahlkundgebung der SPD mit Willy Brandt als Gastredner gerade einmal zehntausend Zuhörer gezählt wurden, während zur Veranstaltung der CDU mit Helmut Kohl weit über Zweihunderttausend schon Stunden vor Beginn der Veranstaltung in der eisigen Kälte auf dem Platz fahnenschwenkend und die erste Strophe des Deutschlandliedes singend ausharrten, war sich aber dennoch sicher, dass der Wahlausgang übergewichtig von den linken Kräften, die PDS darin eingeschlossen, getragen werden würde. Er sah sich bitter enttäuscht. Dass die Mehrheit der Arbeiterklasse ihrem ihr zugeschriebenen Führungsanspruch in der sozialistischen Gesellschaft und der ihr zugedachten historischen Mission im Rahmen dieser Wahlen nicht nachkam sondern statt dessen den schnellen Weg zur harten Westwährung vorzog, verwunderte Holstein allerdings nicht, hatten ihn doch seit Jahren schon seine Erfahrungen und Erkenntnisse an diesen Postulaten der Parteiführung fortschreitend die erheblichsten Zweifel aufkommen lassen.

Nun war ihm auch eindeutig klar, es würde in Richtung Anschluss an die alte BRD keine Alternative mehr geben. Entschieden hatte das Volk der DDR, der Souverän, so wie auch er es seit dem stürmischen Herbst des vergangenen Jahres nachhaltig forderte. Das nun vom Volk in freier Entscheidung erbrachte Wahlergebnis, wie immer auch stimuliert und beeinflusst, musste und würde er akzeptieren, so schlimm ihm diese Wahl-Entscheidung auch aufstieß. Jetzt war ihm klar, es würde keine Demokratisierung und wirtschaftliche Konsolidierung der DDR mehr geben. Nach Lage der Dinge würde es die DDR, sein Vaterland, für welches er drei Jahrzehnte gearbeitet, gestritten und gekämpft hatte, schon bald selbst überhaupt nicht mehr geben. Die zahllosen und namenlosen Opfer, die freiwillig getragenen Entbehrung der vielen selbstlos und ehrlich am Menscheitsexperiment Sozialismus Mitwirkenden würden versanden und zeitweilig in Vergessenheit geraden, das Ideal aber wird bleiben. Seit Menschen Geschichte schreiben hat es den Kampf gegeben zwischen den unzähligen und ohnmächtigen Nichtprivilegierten einerseits und den wenigen Privilegierten und ihren Machtorgane auf der anderen Seite. Es wird ihn immer geben, diesen Kampf, den Marx den Kampf der Klassen nennt. In seinen zukünftigen Formen aber werden auch die Erfahrungen und Lehren aus dem ein Drittel der Weltbevölkerung umfassenden Versuch zur Errichtung einer gerechteren Menschenordnung Eingang finden, so kläglich der Versuch am Ende auch scheiterte.

Bereits vor dem Anschluss an die Alt-BRD wurde das Land mit Hasardeuren und Bauernfängern aller Couleur, die in lila oder kleinkarierte Jackets gewandet als Versicherungsvertreter, Finanzdienstleister und anderweitig dubiose Berater daherkamen, überschwemmt, welche die auf diesem Terrain bislang völlig unbeleckten und untrainierten Neubundesbürgern über den Tisch zogen, dass es nur so seine Art hatte, und Holstein überkam ein Gefühl des ohnmächtigen Ekels.

Mit Entsetzen sah Holstein die Bilder, da hochdekorierte NVA-Jagdpiloten, die Ritterkreuzträger der NVA gewissermaßen, ihre MIG-29 auf Flugplätze um Frankfurt am Main und anderswo überführten. Jahre später las er davon, dass eine Besatzung nur aus Offizieren bestehend das modernste Raketenschiff der Volksmarine aus seinem, Holsteins, ehemaligen Standort Dranske über den Atlantik den US-Streitkräften zuführte. Nein, Holstein hatte nicht den Stolz der Truppe aus den Tagen von Scapa Flow erwartet, aber auch nicht demütige Anbiederungen solcher Art.

In der Folgezeit traf er mehrfach in betrieblichen Lehrgängen auf Wissens- und Erkenntnisträger des Altbundeslandes, deren Erkenntnisse, so jedenfalls es den deutschen Osten betraf, mit einem Radius gleich Null zirkulierten, die sich dennoch unbedacht ihrer schlimmen und ganz offensichtlichen Wissenslücken mit einem nicht zu übertreffenden Selbstwertverständnis unverblümt, überheblich und arrogant anmaßten, den aus freier Wahl Angeschlossenen nicht nur Buchhaltung und Kollektivgeist, welch letzteren sie als die wirklichen Deutschen Teamgeist nannten, zu lehren und zu predigen sondern darüber hinaus sogar die Fähigkeiten der Neubundesbürger in Sachen Autofahren, Gebrauch von Messer und Gabel und anderer Zivilisationsgüter als hochgradig entwicklungs- und ausbildungsbedürftig ansahen und dies ihre Zuhörerschaft auch deutlich spüren ließen. Das Wort vom „Besser-Wessi“ machte so Furore und schnell die Runde in ostdeutschen Landen, und Holstein erinnerte sich der Worte Theodor Storms, geschrieben im Jahr 1867, drei Jahre nach dem Preußisch-Dänischen Krieg: Wir können nicht verkennen, dass wir unter Gewalt leben. Das ist desto einschneidender, da sie von denen ausgeht, die wir gegen die vorherige Gewalt zu Hilfe riefen und die uns jetzt, nachdem sie jene zu bewältigen geholfen, wie einen besiegten Stamm behandeln, indem sie die wichtigen Einrichtungen, ohne uns zu fragen, hier über den Haufen werfen und andere dafür oktroyieren.

Und Holstein hörte die ob ihrer Ahnungslosigkeit wegen Geneppten, ob ihrer scheinbaren Bedürftigkeit wegen Bloßgestellten und ob ihrer Überflüssigkeit wegen Arbeitslosen sich gegenseitig mit Bitterkeit befragen: Was ist der Unterschied zwischen Russen und Wessis? - Die Russen sind wir wieder losgeworden. Ja was, um Himmels Willen, hatten sie denn erwartet, die da nach dem Mauerfall in Sprechchören zu Hunderttausenden nach Deutschland einig Vaterland riefen? Brüderliche Hilfe und Unterstützung von denen, die sich mehrheitlich der Gnade des Geburts- oder Wohnortes halber schon immer auf dem eigentlichen, dem eben besseren deutschen Weg wussten? Herbeischaffung moderner Arbeitsplätze anstelle maroder DDR-Betriebe durch diejenigen, die infolge des exponentiellen Rationalisierungsschubs der Siebziger und Achtziger bis auf wenige Ausnahmen über industrielle Kapazitätsüberhänge in Größenordnungen verfügten, Kapazitätsüberhänge, die ausreichten und geradezu darauf warteten, den Bedürftigkeitsgrad der Neubundesbürger abzudecken?

Daniela, Holsteins Ehefrau, gehörte zu den vielen, die schon anfangs der neunziger Jahres aus ihren bisherigen Arbeitsverhältnissen ausgegliedert wurden. Jedoch fand sie beizeiten eine Anstellung, die ihr, wenn auch heute längst in völlig anderer Form, alsbald die Rolle des die Familie wirtschaftlich stabilisierenden Faktors zuschrieb. Ein großes Versicherungsunternehmen nahm sich ihrer Bewerbung wohlwollend an und stellte sie unbesehen ihres Diploms vorerst als Schreibkraft ein. Dank der ihr eigenen Eigenschaften überstand Daniela nicht nur die in den Folgejahren einsetzenden Umstrukturierungsmaßnahmen und Entlassungswellen im Unternehmen sondern erklomm fachlich und funktionell sogar, dies sehr zum Wohle des familiären Finanzhaushaltes, eine pekuniär recht gut ausgestattete Position.

Die mathematisch-naturwissenschaftlich Spezialschule, in welcher Holsteins Sohn Sven mit ausgezeichneten Abschlüssen sein Abitur ablegte, verlor nach der Wende nahezu gänzlich ihre bisherige Bedeutung. Eine gebotene Möglichkeit der Studienaufnahme mittels Sonderstipendium einer bundesweit agierenden Stiftung, angedacht von seiner bisherigen Lehrerschaft und von dieser bei der Stiftung beantragt, konnte Sven nicht ausschöpfen, da er, der sehr kühle, sehr nachdenkliche Kaumredner in den Augen der Bewerter den Anforderungen und Erwartungen im Kreis der vielen, viel besser als er rhetorisch und erscheinungsmäßig gestylten Mitbewerber im Rahmen der Assesmentveranstaltung in keiner Weise entsprach. So studierte Sven nach zehnmonatiger Militärzeit in der Bundeswehr, die sich gegenüber dem Militärdienst seines Vaters eher wie ein Sanatoriumsaufenthalt ausnahm, wie vorgesehen Informatik. Da er nunmehr sein Studium in eigener Regie organisierte, nicht wie einst geplant von staatlicher Fürsorge begleitet, nahm die Studienzeit nicht zehn sondern siebzehn Semester in Anspruch, was naturgemäß auf den Haushaltsetat seiner Eltern nicht unerhebliche Auswirkungen hatte. Sven arbeitet heute, nach dem Platzen der Hich-Tech-Euphorie, als Systementwickler einem Werk bei Frankfurt, Frankfurt am Main versteht sich. Keiner seiner ehemaligen Mitschüler der Spezialschule, die mathematisch-naturwissenschaftliche Elite seines Jahrgangs in der Stadt, beschritt den einstmals vorgedachten beruflichen Weg, einer arbeitet als Streetworker, einer als Diskjockey, einer als Versicherungsvertreter, zwei sind seit langem arbeitslose Sozialhilfeempfänger.

Maria, Holsteins eher zu den angenehmen Dingen des Lebens tendierende Tochter, legte trotz ziemlicher Bedenken und allerhöchster mathematischer Unterstützung Holsteins ein überdurchschnittlich gutes Abitur ab. Exakt in der Schule, in der Holstein dies sechsundzwanzig Jahre vorher tat. Sie studierte anschließend sieben Jahre Jura, legte mit Bravour das erste und danach das zweite Staatsexamen ab, war danach zwei Jahre auf Jobsuche und arbeitet heute als selbständige Anwältin im Sächsischen.

Holstein selbst verblieb noch bis 1992 im neu geschaffenen Regierungspräsidium. Im Frühjahr dieses Jahres, sich schon auf der sicheren Seite wähnend, erfolgte seine fristlose Entlassung aus dem öffentlichen Dienst wegen einstiger inoffiziellen Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Der ihm die Entlassung Aussprechende war das ehemalige Mitglied der SED-Hochschulparteileitung Zweiniger, zuständig damals für Agitation und Propaganda, und jetziger Abteilungsleiter des Bereiches „Wirtschaft“ im Regierungspräsidium, der Holstein zu Studienzeiten einmal mangelndes politisches Bewusstsein vorwarf. Jetzt allerdings auch gewendet als CDU-Mitglied.

Gert Holstein durchlief die Tretmühlen des kapitalistischen Systems bis zur Neige. Nach Jahren der Arbeitslosigkeit, Fortbildung, Kurzbeschäftigungen, Arbeitsbeschaffungs-maßnahmen und einer sehr schnell wieder aufgegebenen Selbständigkeit gelang es ihm erst zu Beginn des Jahres 1997 wieder, nachhaltig beruflich Fuß zu fassen. Für die nächsten neun Jahre war er als EDV-Techniker und –Ausbilder in zwei bundesweit agierenden Firmen tätig. So lernte er im Schnelldurchlauf kennen, was ihm die berühmt-berüchtigten 40 vorherigen Jahre verborgen blieb: den Westen Deutschlands.

Im Alter von 59 Jahren wurde Holstein erneut arbeitslos und verblieb dies bis kurz vor Vollendung seines 62. Lebensjahres. Den Absturz nach Hartz-Vier entging er nur durch den vorzeitigen und rentenpunktreduzierten Eintritt in den Vorruhestand.

Bleibt uns noch, über Vater und Mutter Holstein zu berichten. Vater Holstein erreichte, was er sich anfänglich scherzhaft und sanft belächelt, später allen Ernstes vorgenommen hatte: Er erlebte die Jahrtausendwende. Da war er 86 Jahre alt. Die neue, nachwendige Zeit war ihm jedoch ein Greuel, obgleich er ausgestattet mit einer üppigen Rente darin sehr komfortabel leben konnte. Aber nicht der schnöde Mammon war sein stetes Lebensziel, er hätte auch mit bedeutend weniger auskommen können. Es war das, wie er meinte, wiederholte Versagen der Arbeiterklasse, das ihm schwer im Magen lag. Vater Holstein starb nach einem schweren Schlaganfall kurz vor Weihnachten im Jahr 2000.

Mutter Holstein lebt noch immer. Sie bewohnt eine schmucke, sehr sonnige Zweiraumwohnung in einem dresdener Vorort und erfreut sich, abgesehen vom altersbedingten Zipperlein, einer robusten Gesundheit. Es steht zu erwarten, dass sie auch ihren 90. Geburtstag im Jahr 2016 im Kreise ihrer Lieben verbringen wird.

Geschichten aus einem anderen Land

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